61 Tage von Cocos ================================================================================ Kapitel 2: Der Rabe ------------------- Die Tatsache, dass er in Wymacks Haus einbrach, während dieser noch wach und überhaupt da war, war Andrews Zugeständnis an die Schuld, die er trug. Geübt öffnete er die Küchentür und setzte sich auf den Tresen, darauf vertrauend, dass sein Coach auf den Lärm der gegen die Holzschränke schlagenden Fersen in der Küche aufmerksam wurde. Lange musste er nicht warten und Wymack kam in die Küche gepoltert, auf seinem zerfurchten Gesicht ein Ausdruck von unverhohlener Missbilligung. „Was willst du hier?“, blaffte der ältere Mann unfreundlich, ein Testament an die vergangenen 24 Stunden, die Andrew ihm aus dem Weg gegangen war und sich geweigert hatte, über seine Handlungen zu sprechen. „Trinken, rauchen, wieder gehen“, fasste er das zusammen, was unweigerlich kommen würde und die einzige Konstante in dem Chaos war, das immer noch in ihm tobte. Wymack grunzte. „Ich habe keine Lust auf deinen Bullshit, Andrew. Du willst mich verarschen? Dann kannst du gehen. Falls es dir noch nicht entgangen ist, ich bin gerade wirklich nicht gut auf dich zu sprechen, Arschloch.“ Gespielt erstaunt hob Andrew die Augenbraue. „Ach?“ „Veräppel mich nicht, Minyard. Ich habe die Worte des aufgeschlitzten Jungen in Abbys Gästezimmer immer noch in den Ohren.“ Andrew lehnte sich zurück und beobachtete Wymack ausgiebig. Die Erinnerungen an Coach Wymack im Krankenhaus nach Drakes Übergriff waren zwar verschwommen, aber sie waren da. Und nicht nur in seinen Gedanken. „Ich auch“, gab er deswegen auch zu und sein Trainer hob überrascht die Augenbrauen. Es dauerte etwas, dann seufzte er schwer. „Nach Boyd hätte ich gedacht, dass du es besser weißt. Aber nein. Dann hast du Josten unter Drogen gesetzt, weil du glaubtest, dass er eine Gefahr sei. Anstelle dir darüber Gedanken zu machen, ob dein Verhalten vielleicht scheiße und unangebracht gewesen ist, machst du so weiter. Zack, der Nächste und dieses Mal trifft es einen traumatisierten Jungen, der mehr tot als lebendig ist, noch dazu gegen seinen Willen hierhin verschleppt wurde und Angst hat, dass sein verbrecherisches Mafiateam ihn holen kommt. Da kann jeder riechen, dass er keine Gefahr ist.“ Unerfreut zischte Andrew. „Evermore ist…“ „…in Aufruhr, weil Kengo tot ist. Riko Moriyama ist ausgerastet und hat den Jungen, den er anscheinend schon seit Jahren quält, fast zu Tode gefoltert. Aber es könnte ja immer noch ein Komplott sein, um Kevin zurückzuholen. Wie gut er doch seine Angst davor, dass du ihn gegen seinen Willen ficken wirst, einstudiert hat.“ Verächtlich schnaubte Wymack in Andrews mörderischen Blick und ging zur Kaffeemaschine. Er wusste, dass sie beide diese Nacht keinen Schlaf bekommen würden. Er wusste auch, dass sie sich sehr lange anschweigen würden und sehr harte Diskussionen führen würden. Er wusste, dass er auf die Meinung des Mannes hören würde, dessen Herz an diesem zerstörten, dummen Team hing. An jeder einzelnen dieser kaputten Existenzen, egal, wie dumm sie waren. „Ihr seid alle zu gutgläubig.“ Wymack tat zwei Löffel Kaffee zuviel für Andrews Geschmack in den Filter und füllte danach das Wasser auf. Erst, als das alte Monstrum seine bittere, braune Brühe in die vergilbte Kanne kotzte, widmete er sich wieder seinem Gast. „Ich glaube an das Gute im Menschen, insbesondere bei denen, die keinen leichten Start oder grundsätzlich kein leichtes Leben hatten, Andrew.“ Bedeutungsschwanger lagen die braunen Augen auf ihm. „Manche brechen.“ „Und manche pressen sich stundenlang an das Mädchen, das sie aus einem missbräuchlichen Umfeld gerettet hat, weinen und betteln darum, wieder in dieses zurückkehren zu dürfen, weil sie die Gewalt dort ja schon kennen und weil sie dort nicht mehr gefickt werden. Sie betteln solange, bis sie keine Stimme mehr dazu haben.“ Andrew knirschte mit den Zähnen und läutete die erste Schweigephase ein. Eine sehr lange, sehr ausgiebige Schweigephase. ~~**~~ Abby hatte kein Wort verloren, als sie ihn das nächste Mal hineingelassen hatte, sicherlich bereits vorgewarnt durch Wymack. Ungehindert war er nach oben gegangen und hatte die angelehnte Tür geöffnet, nur um zu sehen, dass der gebrochene Flüchtling schlief. Die Fenster waren geöffnet und ließen ekelhaft frische Luft herein, die Andrew angewidert schaudern ließ. Der Junge lag auf der Seite, die dünne Decke wie einen Schutz über seinen Körper gezogen. Seine Hände hatten versucht, sich in den Stoff zu krallen, waren aber anscheinend an den dicken Verbänden gescheitert, die sich von seinen Fingerspitzen bis hin zu den Ellbogen zogen. Selbst im Schlaf war Moreaus Mimik nicht entspannt, sondern gepeinigt von dem, was ihm sein Hirn an Erinnerungen vorgaukelte. Andrew war versucht, ihn aus eben jenen Alpträumen hochzuschrecken, doch er hatte Renee versprechen müssen, dem Raben nicht noch mehr zuzusetzen. Daher setzte er sich in den Sessel, der neben dem Bett stand, und zog die Beine zu sich. Nachdenklich musterte er den schlafenden Körper. Moreau hatte im Gegensatz zu jetzt eigentlich nicht schlecht ausgesehen mit seinen braunen, halblangen Haaren und grauen, kühlen Augen. Sein ganzer Körper bestand nur aus Muskeln und Andrew hatte ihn durchaus attraktiv gefunden. Die Tatsache, dass Moreau sich wie ein Arschloch verhielt, Moriyamas rechte Hand war und für die Ravens spielte, hatte diese Attraktivität damals gen Null geschmälert. Nun hatte Moreau so oder so wenig Attraktives an sich und es war Josten, der seine ganze Aufmerksamkeit forderte und mit dem er erwiesenermaßen alle monogamen Hände voll zu tun hatte. Der Rabe auf dem Bett gewann an Leben und mit einem Ruck wurde Moreau wach. Nach Luft schnappend fuhr er hoch und ein Laut der Angst entwich den zerschlagenen Lippen. Spannend, dabei hatte er ihn doch noch gar nicht bemerkt. Was Moreau nun aber nachholte, als er hochsah und in der Bewegung erstarrte, die grauen Augen weit aufgerissen, der Körper bereits in der Panik, in die sich der Geist sicherlich auch gleich begeben würde. Ruckartig sah der Raven zur Tür und dann wieder zu ihm, während sich seine Atmung beschleunigte und der nackte Brustkorb sich scheinbar schmerzhaft zusammenzog. Ungelenk rettete er sich in die am Weitesten von seinem unerwarteten Besucher entfernte Ecke des Bettes, die Augen keine Sekunde von ihm lassend. Andrew ließ das unbewegt geschehen und wartete darauf, dass der erste Schock aus den sicherlich unnütz im Kreis laufenden Gedanken wich und Moreau auch in der Lage war, ihm zuzuhören. Es brauchte seine Minuten, dann atmete Andrew betont ruhig aus. „Ich wollte mich dir nicht aufzwingen“, sagte er so eben wie es ihm möglich war. Seine Worte kamen jedoch wie ein Schnarren hervor und eben jenes ließ Moreau zusammenzucken, als hätte er ihn geschlagen. „In der Spritze waren Drogen, die dich zum Reden bringen sollten, weil ich glaube, dass du hier bist, um Kevin mitzunehmen und Moriyama unbedingt seine Hand an etwas legen möchte, das nicht ihm gehört.“ Dass Moreau ihn verstand, sah Andrew. Er war sich nur nicht sicher, ob nicht die Angst und das erlittene Trauma den Anderen davon abhielten, sie auch wirklich zu begreifen. Moreau schluckte zweimal, bevor er mit Mühe Laute hervorpresste, die man mit viel Wohlwollen als Worte klassifizieren konnte. „Riko hat jedes Recht… er ist die Nummer eins… den Moriyamas gehört alles. Der Herr bestimmt.“ Abgehackte, mechanische Worte wie einstudiert und auswendig gelernt. „Wurde das in dich hinein gefoltert und gefickt?“, fragte Andrew entsprechend verächtlich nach und gepeinigt wimmerte Moreau zuckte ein weiteres Mal körperlich vor dem zurück, was ihm aufgetischt wurde. „Es ist so. Es gibt keine andere Wahrheit.“ „Deswegen hast du Josten auch gesagt, dass er nicht unterschreiben soll. Weil es so ist und Riko alles bestimmt?“ Der andere Junge schwieg verängstigt. „Bist du hier, um den Weg für Kevins Entführung zu ebnen?“, fragte Andrew konkret in das Schweigen hinein und beobachtete jede einzelne Regung des Raben, dessen Lippen sich schlussendlich zu einem ätzenden, verächtlichen Krächzen teilten. Unter Mühen zog Moreau das Laken hoch, als wäre das eine Antwort auf seine Frage. „Ich bin nicht freiwillig hier und schon gar nicht, um das Arschloch zurückzubringen.“ Andrew brummte amüsiert. „Du willst zurück?“ Die durch Schnitte und Prellungen entstellte Mimik verzog sich vor Schmerzen. Sie wurde feindselig und der kurze Moment der Offenheit war vorbei, das konnte Andrew nur zu deutlich sehen. „Was interessiert es dich?“, zischte der verwundete Junge und starrte ihm hasserfüllt in die Augen. „Ich kann Dinge möglich machen.“ „Renee wird das nicht zulassen.“ „Ist Renee gerade hier?“, fragte Andrew mit einem schmalen, freudlosen Lächeln. „Nein. Aber das ist auch nicht, was du willst, nicht wahr, kleiner Rabe mit den gebrochenen Flügeln und dem gerupften Gefieder. Du möchtest, dass sie dir nicht mehr wehtun mit ihren Messern und Zigaretten und Schwänzen. Du möchtest, dass sie dich belohnen und nicht bestrafen, dafür, dass du zurückgekehrt bist. Nicht wahr? Der arme, kleine, aus dem Nest gefallene Rabe ohne seinen Partner, so ganz alleine auf der großen, bösen, weiten Welt. Spoiler: sie werden genau da weitermachen, wo sie aufgehört haben. Riko wird dich dafür belohnen, dass du wiederkommst? Nein. Er wird dir auch noch die restlichen Haare ausreißen und dir das Fleisch von den Knochen schneiden, kurz bevor er dich mit dem Bunsenbrenner rösten wird wie ein fettes Hähnchen am Spieß.“ Moreau schauderte angeekelt. „Und selbst wenn, was interessiert es dich?“, zischte er dann. Ob er wohl bemerkte, wie er sich unwillkürlich kleiner machte um sich zu schützen, Andrew dabei nicht aus den Augen lassend? „Warum sollte ich dir überhaupt auch nur ein Wort von dem glauben, was dein Scheißmaul verlässt?“ „Weil Renee dir in eurem Liebesgeflüster sicherlich schon das eine oder andere Mal erzählt haben wird, dass ich nicht lüge. Und dass ich deinen Arsch nicht anrühren werde. Das kannst du ihr ruhig glauben.“ Seine Worte verursachten Moreau körperliche Übelkeit und der andere Junge würgte für einen Moment, bevor er die Augen fest zusammenpresste und sich anscheinend soweit unter Kontrolle brachte, dass er ihm nicht seinen gesamten Mageninhalt vor die Füße kotzte. Viel würde es nicht sein können, denn wie Abby ihm erzählt hatte, aß dieser Berg von einem Exysklaven wenig bis gar nichts, selbst Suppe rührte er nicht an. Nicht, dass es Andrew sonderlich interessierte. Wieder wartete er und zählte die Schatten der Blätter, die auf Moreau und das Bett fielen und einzelne Blumen auf der Decke hervorhoben. Das machte sie nicht hübscher, aber erträglicher. „Ich kann nicht hierbleiben. Der Herr wird es nicht zulassen und seine Leute schicken“, sagte Moreau schließlich leise. „Niemand weiß, dass du hier bist.“ „Denkst du wirklich, das hält ihn auf? Denkst du, er wird nicht wissen, dass Renee mich zu ihrer eigenen Krankenschwester bringt?“ Moreau schnaubte verächtlich. „Es ist ein Wunder, dass sie noch nicht hier sind und ein Zeugnis davon, dass sie erwarten, dass ich wieder zurückkehre.“ „Mit oder ohne Kevin?“ „Ich scheiß auf Kevin. Soll er bei euch verrotten.“ Andrew ließ das erst einmal im Raum stehen und dachte über den berechtigten Einwand nach, dass diese Verbrecherfamilie sicherlich wusste, wo Moreau sich aufhielt. Nachdenklich runzelte er die Stirn. „Vielleicht bist du unnütz geworden und sie wollen dich nicht mehr?“ Andrew lächelte ein freudloses Lächeln. „Schau dich doch an. Musst du immer noch in einen Nachttopf pinkeln oder schaffst du es schon bis zum Klo? Du riechst auf jeden Fall, als hättest du länger nicht mehr geduscht. Mit den Verletzungen spielen? Unwahrscheinlich. Schon gar nicht den kommenden Abschluss der Saison. Da ist die Nummer drei wohl eine Nullnummer.“ Moreau starrte ihn an, als hätte er ihm das Ende der Welt verkündet und vermutlich war es auch so. Ihr Sport wurde schließlich von international agierenden Yakuza finanziert und die Mannschaft, die der kriminellen Familie am Nächsten war, würde lose Enden mitnichten tolerieren. Moreau war so eins und die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihn umbrachten, durchaus hoch. „Sie werden mich umbringen“, bestätigte der Rabe seine Gedanken und Andrew legte den Kopf schief. „Und du akzeptierst das?“ „Ich gehöre ihnen.“ Kevin hatte am Anfang seines Hierseins ähnlichen Stuss geredet und nur langsam hatte Andrew ihm genau das austreiben können. Ob er die Muße hatte, das bei der erbärmlichen Figur auf dem Bett zu tun, stand in den Sternen. Den wirklich weit Entfernten in einer noch unentdeckten Galaxie. Andrew erhob sich und warf einen Blick auf den zusammengekauerten Körper, der wenig gemein hatte mit dem Raven, der nur zu willens gewesen war, ihnen auf den Banketten das Leben schwer zu machen. „Niemand hier wird dich foltern oder ficken. Niemand hier wird dich gefangen halten. Dir steht es frei zu gehen, falls du in der Lage dazu bist. Was du hier bekommst, ist anscheinend dringend notwendige, medizinische Versorgung, Nahrung, die du verweigerst und Ruhe vor deinem Kapitän.“ Andrew betonte jedes Wort, als würde er mit einem störrischen Kind sprechen und drehte sich zur Tür. Für’s Erste hatte er seine Antworten und er wettete darauf, dass Moreau erneut versuchen würde zu fliehen. ~~**~~ Auf Moreau zu wetten, hieß, reich zu werden. Wenn die anderen Foxes mitgehalten hätten, verstand sich. Hatten sie nicht, der Wetttopf war zu spät eröffnet worden. Erst als Moreau seinen zweiten Versuch, aus Abbys Haus zu entkommen, unternommen hatte. Dummer, dummer Junge. Dummer, dummer, am Küchentisch sitzender Junge. „Du brauchst das, oder?“, mutmaßte Andrew, als er dem zusammengesunkenen Elend in der Küche Gesellschaft leistete. Abby befand sich oben und kümmerte sich um das Krankenzimmer des Raben, mit anscheinend viel Vertrauen darin, dass Moreau sich nicht wieder auf den Weg in die Ferne machte. So bleich und zittrig, wie er war, standen die Chancen eher auf Abbys Seite. Andrew hoffte das, schließlich hatte er mit Renee als Einziger darauf gesetzt, dass der Raven seinen mit Sicherheit kommenden, dritten Fluchtversuch nicht erfolgreich absolvieren würde. Und er hatte darauf gesetzt, dass es keinen Vierten geben würde. Damit war er alleine und der Ertrag daraus würde verdammt gut sein. Moreau hatte die Hände auf seinen Schoß gelegt und bedachte ihn nun mit einem unfokussierten Blick, der von viel zu viel Schmerz sprach. Seine Lippen waren spröde und rissig, die Haut ungesund bleich. Er roch besser als beim letzten Mal und Andrew gewann den Eindruck, dass Moreau so aussah, weil er sich vermutlich gerade geduscht hatte. Ob auf eigenen Wunsch oder auf Drängen der Schwester, das vermochte Andrew nicht zu sagen. „Was?“, krächzte der Rabe und wich so gut es ihm möglich war, vor Andrew zurück und machte sich noch kleiner auf dem Stuhl. „Eine halbherzige Flucht zu versuchen, um bloß wieder eingefangen zu werden, damit du nicht die Entscheidung treffen musst, wieder durch die Türen eures dunklen Schlosses zu treten.“ Das war keine Frage, mit Sicherheit nicht, dennoch wollte er eine Antwort auf das dumme Verhalten. Der Blick, der ihn traf, war durchaus als wütend zu bezeichnen und Andrew wertete das als Fortschritt. Er drehte sich weg und machte sich an der Kaffeemaschine zu schaffen, die ihm in ein paar Minuten Kaffee ausspucken würde. „Was weißt du denn schon von mir, Andrew Doe?“, fragte Moreau mit einem verächtlichen Unterton und der Arroganz, die er auf den Banketten und auf dem Spielfeld zeigte. Andrew drehte sich lächelnd um. Mit amüsiertem Blick starrte er auf Moreau herunter. „Fällt dir immer noch nichts Besseres ein, Nummer drei?“ Langsam kam er zu ihm und umfasste das verprügelte, zerschnittene, stoppelige Kinn. Moreau wollte sich ihm entziehen, aber Andrew ließ ihn nicht und das Lächeln fiel von ihm ab wie Wasser, das an Öl abperlte. Seine Finger bohrten sich in eine der Schnittwunden und Moreau zischte schmerzerfüllt. Angewidert ließ Andrew ihn los und wischte sich das Blut von seinem Finger an dessen T-Shirt ab. „Was ich von dir weiß. Hmmm. Lass mal sehen. Jean Moreau, geboren und aufgewachsen in Marseille. Importiert nach Amerika mit elf Jahren als Begleichung einer Schuld, die deine Mutter bei den Moriyamas hatte. Seitdem Schüler und Student in Evermore und Sklave der Familie Moriyama, hoch lebe der Menschenhandel. Mit zwölf hat Riko angefangen, dich zu schlagen und in eine enge Holzkiste zu sperren, weil du dich zu sehr gewehrt hast. Er hat dir Nahrung verweigert und dich so lange im Stadion trainieren lassen, bis du vor Erschöpfung und Schmerzen das Bewusstsein verloren hast. Mit vierzehn hat er dir zum ersten Mal einen Finger gebrochen, mit fünfzehn hat er entdeckt, dass es viel mehr Spaß macht, wenn du das auf seinen Befehl hin selber tust. Ebenso mit fünfzehn hat Riko zum ersten Mal Handschellen bei dir ausprobiert, damit du dich nicht mehr wehren kannst. Mit sechzehn hat sich zum ersten Mal ein älterer Spieler auf dich draufgelegt und dir seinen Schwanz so tief in den Arsch geschoben, dass du noch eine Woche danach geblutet und gehofft hast, daran zu sterben und drei Wochen danach nicht mehr richtig laufen konntest. Ohne zu sterben, versteht sich. In der Zwischenzeit hat Riko seine Vorliebe für Messer entdeckt und deinen Körper aufgeschnitten wie eine reife, aufplatzende Frucht. Und mit einem Bunsenbrenner bearbeitet, einem Feuerzeug, einem Brotmesser. Einem elektrischen Viehtreiber, den er von einem älteren Raven geschenkt bekommen hat. Sein Onkel hat sich dahingegen mit seinem Stock, einer Gerte oder einer Peitsche begnügt um dich zu züchtigen, wenn du wieder einmal etwas falsch gemacht oder nicht ihren Vorstellungen entsprochen hast. Vergewaltigung Nummer zwei bis fünf folgten, als du siebzehn warst und endeten mit deinem zwanzigsten Geburtstag, der damit zum ersten Mal gefeiert wurde, seitdem du nach Evermore gekommen bist. Wunderschönes Geschenk. Dafür war Waterboarding jetzt in Mode und Treppenstoßen. Überhaupt sind Schläge viel befriedigender als Messer, auch wenn dir Messer mehr Angst gemacht haben. Ganz zu schweigen von seinen sonstigen Ideen, mithilfe derer er seine Launen an dir ausgelassen hat.“ Andrew warf einen Blick auf den Messerblock und schlenderte die wenigen Schritte dorthin. Langsam zog er eines der größeren heraus und präsentierte es Moreau, dessen Körper beinahe augenblicklich darauf reagiert. Wo vorher nur ein Zittern war, zuckten die Muskeln nun, als hätte Andrew Moreau bereits angerührt. Weit aufgerissen starrten ihn die grauen Augen an und Andrew lächelte verächtlich. „Und als Kevin sich abgeseilt hat, warst du alleine. Niemand, der nach all der Folter dein Händchen gehalten und dir über die Haare gestrichen hat. Monate alleine in der Gewalt des Psychopathen, der mit jedem Mal gewalttätiger wurde. Aber dann kam Neil Josten und du hast ihn in Kevins Zimmer gesteckt auf Rikos Befehl hin. Er war dein neuer Partner und du hast ihn festgehalten, während Riko ihn geschlagen und aufgeschnitten hat, wieder und wieder und wieder. Du hast ihn festgehalten, während Riko ihn tätowiert hat, glücklich, dass nun jemand da war und nicht mehr alleine warst.“ Mit mehr Wut, als er es erwartet hatte, kamen die letzten Sätze über seine Lippen und Andrew erlaubte sich ein wildes Lächeln. Starr und weit geöffnet hatten sich die Augen des Raven mittlerweile in die Tischplatte gebohrt und Moreau erweckte den Anschein, als würde er gleich ersticken. Doch weit gefehlt, denn schließlich war es ein Lachen, das sich an den rosa getünchten Wänden der Küche brach. Wirr starrte Moreau ihm wieder in die Augen und verzog die blutigen, rissigen Lippen zu etwas, was Andrew als Zähnefletschen bezeichnen würde, während er auf das Messer in seiner Hand reagierte. „Und das von dir, Andrew Minyard, der das Recht aufgegeben hat, den Namen zu tragen, als er seine Mutter umgebracht hat. Aber das ist natürlich nur ein Gerücht, das kann man nicht beweisen, nicht wahr? Oder vielleicht doch? Viel eher zu beweisen ist dein ach so großes Leid in deinen Pflegefamilien. Immer und immer weitergereicht, von Familie zu Familie, die dich alle nicht haben wollten, weil du ein ätzendes, ungeliebtes Kind warst. Mit sieben dann der Erste, der dir endlich Liebe entgegengebracht hat, aber es war die falsche Liebe. Mal zu wenig Liebe, mal zuviel, entscheiden konntest du dich nicht.“ Andrew erinnerte sich nicht, wie er zu Moreau gekommen war. Dass er ihn nun mit dem Rücken auf den Küchentisch gepresst hielt und das Messer an seine Kehle setzte, kam auch für ihn überraschend. Überraschend, aber nicht ungewollt. Andrew drückte warnend zu. „Wage es ja nicht…“ Doch Moreau wagte, der dumme Idiot, in seinem schweren, französischen Akzent, der die Worte bigott melodiös erschienen ließ. „Und dann war da sie, die Mutter, die du immer vermisst hattest. Blöd nur, dass es da einen Jungen gab, stärker als du, wie die anderen gierig darauf, seinen Schwanz in deinen Arsch zu stecken. Einen für’s Team, einen dafür, dass du bei der ach so ahnungslosen Cass bleiben konntest. Aus einem wurden viele Male, solange, bis er den armen, kleinen Aaron bedroht hat. Deswegen der Jugendstrafvollzug. Nur weg, Abstand, du musst ja dein Brüderchen schützen. Dann die glückliche Zeit mit deiner dysfunktionalen, hasserfüllten kleinen Familie, die du nicht besser genutzt hast, als dich als der große Beschützer deines Bruders, Cousins und Kevins aufzuspielen und sie alle mit deiner gewalttätigen und brutalen Nähe zu zerquetschen. Und, als er dann endlich zu euch kam, auch des rothaarigen Idioten. Blöd nur, dass Neil viel zu viel von dir verlangt hat. Ein Essen im Kreis der Familie und da war er wieder. Wie war sein Name?“ Moreau reckte sich nach oben, in das Messer hinein, das Andrew mit größter Selbstbeherrschung an und nicht in seinen Hals presste. „Drake. Auf gute, alte Zeiten, noch einmal, bevor dein Bruder ihn umgebracht hat und du nach Easthaven gekommen und Riko und seinen Plänen direkt in die Arme gelaufen bist. Wie lange Riko doch vorher Zeit damit verbracht hat, den widerlichsten, ekelerregendsten Arzt zu finden, der sich der fragwürdigsten Methoden bedient. Proust hat von jeder Sitzung mit dir Videos gemacht, die er an Riko geschickt hat. Jede einzelne Minute ist darauf zu sehen, wie du dich wehrst, wie du schreist, wie du verzweifelst.“ Andrew konnte nicht atmen, so angespannt war er und so sehr hielt er sich davon ab, den Hohn durch einen einfachen Schnitt in den Hals hinein zu beenden. Die Erinnerung an das Arschloch nahm ihm seinen Bezug zur Realität und gaukelte ihm Dinge vor, die passiert waren, aber in der Vergangenheit lagen. Die nicht mehr wichtig waren. Wie der Arzt es gewagt hatte, das Sinnbild seiner Selbstbestimmung zu entweihen und seinen Widerstand zu beschmutzen. Jede einzelne Narbe hatte er geküsst, gebissen, darüber geleckt, solange, bis sie nicht mehr ein Zeichen von Überleben, sondern Dreck und Schmutz auf Andrews Haut gewesen waren. Wie er ihn gegen seinen Willen angefasst und gekitzelt hatte, während er selbst den Handlungen des Arztes ans Bett gefesselt hilflos ausgeliefert gewesen war. Wie Andrew die Kraft dazu aufbrachte, ins Hier und Jetzt zurück zu kehren und einen Schritt zurück zu treten, das konnte er nicht sagen. Was zählte, war, dass er Moreau losließ. Er hatte es Wymack versprechen müssen, dass er es wieder gut machte. Das war wichtig. Nichts Anderes. Das Team und seine Familie waren wichtiger als das hasserfüllte Arschloch auf dem Tisch und sein Blut verteilt auf dem Küchenboden. Andrew trat nun noch einen Schritt zurück. So etwas wie Angst flammte auf dem Gesicht des Ravens auf und verzweifelt versuchte dieser sich aufzusetzen, rutschte aber mitsamt der Wachstischdecke zu Boden und blieb dort sitzen wie eine Marionette, der man die Fäden durchgeschnitten hatte. Panisch starrten ihn die grauen Augen an, panisch, aber nicht aus Angst. Wieder öffnete er sein schändliches Maul und Andrews Finger krampften sich um den Griff des Messers. „Und während all dieser Zeit führst du dich auf wie Riko. Du terrorisierst und bedrohst dein Team, ohne Konsequenzen. Du bedrohst sie mit Messern und glaubst, dass du im Recht bist. Du setzt Boyd unter Drogen. Weil du ach so sehr in deiner Aufgabe von Kevins Schutz aufgehst, setzt du gleich auch nochmal Neil unter Drogen, ohne sein Wissen und ohne sein Einverständnis, damit er redet. Mit dem Ergebnis, dass er vor dir wegläuft. Dich darf man nicht anfassen, aber du schlägst um dich, wie du lustig bist, bedrohst mit dem Messer, wen du möchtest, setzt unter Drogen, wen du möchtest und tust, was du möchtest, fasst an, wen du möchtest, ohne ernsthafte Konsequenzen befürchten zu müssen, weil du deine schlimme Vergangenheit vor dir herträgst wie eine Monstranz. Ekelhaft!“ Moreau spie ihm die Worte vor die Füße und Andrew hielt inne. Natürlich trafen sie ihr Ziel. Natürlich hatte er mehrfach darüber nachgedacht, was er getan hatte. Natürlich hatte er eine Begründung dafür gefunden, warum seine Handlungen richtig und wichtig waren, in dem Wissen, dass Neil das anders sehen würde. Natürlich hatte er sich manchmal nicht unter Kontrolle in dem absoluten Bedürfnis, die Seinen zu schützen. Aber seine Vergangenheit trug er nicht vor sich her, niemals tat er das. Niemandem gegenüber hatte er das getan, bis das Arschloch die günstige Gelegenheit eines Revivals im Haus von Nickys Eltern genutzt hatte. Alleine deswegen schon fragte Andrew sich allen Ernstes, ob der Raven tatsächlich so lebensmüde war, ihm das ins Gesicht zu sagen. Ja, das war er, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Genau das war der Sinn dieser ehrlichen und teilweise auch zutreffenden Worte, die ihn mit ihrer verletzenden, höhnischen Wahrheit wütend machen sollten. Moreau hoffte darauf, dass er ihn im Affekt umbrachte. Verwundert sah Andrew von ihm zu dem Messer in seiner Hand und drehte sich weg von ihm. Er ging zum Messerblock und steckte es mit mühevoller Ruhe zurück. Als seine Aufmerksamkeit zu Moreau zurückkehrte, sah er seine These bestätigt. Voller Entsetzen lagen die grauen Augen auf seinen leeren Händen. „Du willst, dass ich dich umbringe, ja?“, fragte Andrew gefährlich leise und kam erneut zu Moreau. Er packte ihn am Saum seines T-Shirts und zog ihn hoch, presste ihn mit eiserner Gewalt auf den Stuhl zurück und hielt seinen kaum verschorften Nacken in einem eisernen Griff gefangen. „Feigling. Wenn du deinem Leben ein Ende bereiten willst, dann mach’s selbst. Rechne nicht mit meiner Hand, die dir am Affekt die Kehle durchschneidet“, zischte er und ließ Moreau abrupt los, als diesem Tränen des Schmerzes in die Augen traten und er sich ihm verzweifelt zuwandte. „Aber du willst es doch! Ich habe es in deinen Augen gesehen! Was brauchst du denn noch mehr dafür? Ich habe jedes dieser Videos gesehen, ich habe jede Sekunde gesehen, die Proust dich erniedrigt hat! Ich habe Josten festgehalten, damit Riko ihn verletzen konnte, mehr als einmal! Ich habe ihn selbst aufgeschnitten und auch nicht aufgehört, als er geschrien und um Gnade gebettelt hat!“ Mit arroganter, aber zum Zerreißen gespannter Ruhe starrte Andrew auf Moreau nieder. „Hast du dir die Videos freiwillig angesehen?“ Der Raven zuckte zusammen, schwieg jedoch. „Antworte mir!“, donnerte Andrew und der andere Junge schüttelte abgehackt und hastig den Kopf. „Nein.“ „Hast du Neil freiwillig festgehalten?“ Dieses Mal kam die Antwort schneller. Resignierter. „Ich…Riko hat es befohlen.“ „Hast du ihn freiwillig verletzt?“ Wieder schüttelte Moreau den Kopf, elendiger als vorher. Seine Tränen glänzten im Licht der hereinfallenden Sonne und Andrew starrte auf das zerschlagene und zerschnittene Gesicht. Auf die Lippen, die Wahrheiten genauso verteilten, wie sie sie einsteckten. Minutenlang maßen sie sich, ihr Schweigen wie eine Mauer zwischen ihnen, bevor Andrew sich umdrehte und wortlos in Abbys Schrank griff. Er holte zwei Tassen heraus und füllte eine bis zum Anschlag mit schwarzem Kaffee, eine weitere nur zur Hälfte, damit er sie mit Milch und fünf Löffeln Zucker auffüllen konnte. Schweigend kehrte er zum Tisch zurück und richtete die heruntergefallene, hässlich-häusliche Tischdecke wieder. Den schwarzen Kaffee stellte er vor Moreau auf den Tisch und verständnislos sah dieser von ihm auf die Tasse. Sekunden lang starrte er darauf, als könne er sich keinen Reim auf die Geste machen. Oder als wüsste nicht, was das ist. Andrew wollte beides nicht ausschließen. „Ich darf das nicht“, wisperte der Rabe schließlich und Andrew schnaubte. „Wer sagt das?“ „Die Krankenschwester.“ Andrew starrte Moreau solange nieder, bis dieser mit zittrigen Händen zur Tasse griff und sie zu sich zog. Er konnte sie nicht heben, also senkte er seinen Kopf soweit in Richtung Tischplatte, dass er von dort aus der Tasse ein paar Schlucke nehmen konnte. Andrew sah sich das Schauspiel zweimal an, dann holte er sich einen der übrigen Stühle und kam zu Moreau. „Nimm dein Gesicht da weg“, scheuchte er den Raben vom Kaffee und ängstlich löste sich Moreau von der Tasse. Andrew schnaubte und nahm sie hoch, hielt sie dem anderen Jungen auffordernd an die Lippen. Vor nicht einmal ganz einer Woche hatte er gesagt, dass er keinen Platz und keine Muße für noch einen Problemfall und noch einen Schützling hatte. Das stimmte auch, aber anscheinend schloss das Findelkinder nicht mit ein, die aus dem Nest gefallenen Vögel, die dazu noch laut und penetrant schrien und ihm auf sein ruhiges, sonniges Gemüt kackten. Unter Moreaus misstrauischem Blick und angespanntem, fluchtbereitem Körper flößte er diesem langsam die ganze Tasse Kaffee ein. Gleichzeitig ignorierte er Abby, die schon seit geraumer Zeit außer Sichtweite im Flur stand und ihnen zusah, klug genug, nicht bei der Vogelfütterung zu stören. ~~~~~~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Hosted by Animexx e.V. 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