Cliff Jumper von 2amshadows (Liebe eines Sommers, Liebe eines Lebens.) ================================================================================ Kapitel 1: Weil wir morgen tot sein könnten. -------------------------------------------- // REIS POV. 2. August Rei erwachte in diesem komischen leeren Zimmer in diesem neuen, noch ganz leeren Haus. Sie war nun den zweiten Tag hier, und hatte sich noch kein bisschen eingewöhnt. Rei und ihr Vater hatten eine lange Reise hinter sich. Gerade eben waren sie den weiten Weg von Tokio hergezogen. Sie setzte sich auf, in dem alten Holzbett, das nun ihres war. Aber unendlich unbequem. Sie stieg aus besagtem Bett und trottete zum Fenster. Was ihre Augen dort draußen vernahmen, war ein ungewohntes Bild. Alles, was sie von Tokio kannte waren Straßen, Hochhäuser und unendlich viele Menschen. Alles, was sie hier zu Gesicht bekam, waren Felder und Wiesen und Bäume und ab und zu kleine wilde Tiere, die sich in die Nähe ihres neuen Zu Hauses gewagt hatten. Reis Vater und ihre Mutter hatten sich gerade scheiden lassen. Rei wäre lieber bei ihrer Mutter geblieben, doch diese wollte sie nicht haben. Auch ihr Vater wollte Rei nicht, zumindest nicht so, wie sie war. Er hatte sich immer einen Sohn gewünscht, weswegen Reis Haare kurz und ihre Klamotten burschikos waren. Sie hatte immer versucht, so zu sein, wie ihr Vater sie haben wollte, doch am Ende eines jeden Tages ging sie doch als Mädchen schlafen, und wachte am Tag darauf als Mädchen wieder auf. Sie war groß und dünn, und sah mit den kurzen Haaren beinahe wirklich wie ein Junge aus. Sie war nun vierzehn, aber fühlte sich oft viel älter, weil sie von der Gelassenheit eines Teenagers nicht wirklich etwas in sich trug. Rei war nie wirklich glücklich gewesen, weil sie sich nie richtig geliebt und akzeptiert gefühlt hatte. Auch Freunde hatte sie in Tokio nur sehr schwer gefunden, doch vielleicht würde hier in Amerika alles ganz anders werden. So zog sie sich ein T-Shirt und ein zerrissenes Paar Jeans über, und dann trottete sie nach unten, wo ihr Vater schon lange am Esstisch saß und eine Amerikanische Zeitung studierte. "Rei, was tust du denn noch hier?", fragte der Mann und sah seine Tochter dabei mit strengem Blick durch seine viereckigen Brillengläser an. "Du solltest draußen sein. Spielen. Die Landschaft erkunden." Reis Vater mochte es nicht, wenn seine Tochte ihre Zeit mit Nichts-Tun verbrachte. Er sagte immer, man konnte jede einzelne Minute nutzen. "Was soll ich hier denn tun? Wir leben hier mitten im Nirgendwo. Die Stadt ist meilenweit entfernt. Wir haben nicht mal Nachbarn." Rei seufzte. Sie wusste, dass ihr Vater vor dem Trennungsschmerz davonlief. Und ein Haus mitten in der Pampa schien ihm dafür die richtige Lösung gewesen zu sein. "Du wirst schon irgendwas finden. Nun geh. Aber verlauf dich nicht.", forderte er sein Kind auf. Rei griff sich einen Apfel aus der Obstschale, die auf dem Tisch stand, und dann verließ sie ohne weitere Worte das Haus. Wie sollte sie es nur jemals schaffen, an diesem Ort Freunde zu finden? Sie hatte einen langen, einsamen Sommer vor sich, bis die Schule anfangen würde und sie Menschen in ihrem Alter kennenlernen würde. So dachte sie zumindest. Sie trug alte Chucks, auf die sie starrte, als sie durch die Wiesen und Weiden trottete. Ein sanfter Wind streichelte ihre Haut, blies durch ihr kurzes, schwarzes Haar. Mit jedem Schritt entfernte sie sich weiter von ihrem neuen Haus, und fand sich irgendwann umringt von Bäumen und Sträuchern. Diese Umgebung erinnerte sie an all die Liebesfilme, wo die Paare über ein Feld oder eine Blumenwiese sich einander in die Arme laufen. Die Mädchen trugen immer wunderschöne Kleider und hatte lange, wallende Haare. Wie gerne wäre sie auch ein solches Mädchen. Doch sie wusste, dass sie das niemals sein würde. Stunden vergingen, und irgendwann fand sie sich an einem Ort, der wirkte wie der Himmel und das Ende der Welt zugleich. Eine unendlich hohe Klippe, die das Blut in ihren Adern gefrieren ließ. Hunderte Meter unter ihren Füßen erstreckte sich meilenweit nur Wasser. Und obwohl der Ausblick atemberaubend war, trat Rei einen Schritt zurück. Sie hatte furchtbare Höhenangst. Doch das war nur eins der tausend Dinge, die sie vor ihrem Vater niemals zugeben würde. Sie blickte auf und sah plötzlich eine Person am Rande der Klippe stehen, in nicht allzu großer Distanz. Rei spürte, wie ihr Herz anfing, wie wild zu pochen. "Tu es nicht. Bitte!", rief sie, und rannte auf die Person zu. Diese starrte wie gebannt von der Klippe ins Wasser, bis Reis Stimme offenbar alle Aufmerksamkeit auf sich zog. "Bitte!", rief das Mädchen erneut. Sie war nun endlich bei der anderen Person angekommen. Es war ein Junge. Er blickte zu ihr auf und Rei erstarrte beinah. Er war so wunderschön, dass ihre Knie weich wurden und das Blut in ihren Adern überkochte. Seine Augen waren so türkis wie das Wasser selbst, brünettes Haar schlug Wellen um sein ovales Gesicht. Außerdem hatte er ein Pflaster auf der Stirn, genau über der linken Augenbraue. "Ich wollte nicht springen.", erklärte er ihr. Seine Stimme war rauh und doch ganz sanft. "Du..du wolltest nicht springen...", wiederholte Rei und spürte einen Hauch von Erleichterung. "Tut mir leid, ich...ich dachte, es geht dir nicht gut.", fügte sie hinzu. "Diese Frage sollte ich wohl eher dir stellen. Wie traurig muss man denn selbst sein, um jemanden zu sehen, der nur an einer Klippe hinab sieht, und sofort zu denken, er will sich umbringen." Daraufhin war Rei sprachlos. Sie starrte den Jungen nur an und bemerkte, dass ein paar hellbraune Sommersprossen auf seinem Nasenrücken saßen. Sie mochte seinen ländlichen Dialekt, wenn er sprach. "Ich wollte nicht springen.", wiederholte er, und trat einen Schritt von der Klippe zurück. "Bist du auf Urlaub hier?", fragte der Junge. Rei schüttelte den Kopf. "Nein, ich...ich bin gerade hier her gezogen. Und du?", antwortete sie. "Oh, ich wohne schon immer hier." Die beiden lächelten sich an. Rei war sich sicher, dass der Junge in ihrem Alter war, und sie hoffte, dass sie vielleicht doch schon vor Schulbeginn einen neun Freund haben würde. "Wie heißt du?", fragte sie ihn. Das alleine ließ das Lächeln des Jungen von seinem Gesicht verschwinden. "Oh, frag mich das nicht. Ich wäre heute lieber jemand ganz anderer." Rei legte den Kopf zur Seite. "Na dann sei doch heute jemand anderer. Wer auch immer du willst." Sie lächelte ihn breit an, und er lächelte zurück. Die Idee schien ihm zu gefallen. "Wie heißt du?", fragte sie erneut. "Luke.", sagte der Junge. Rei war klar, dass dies wohl der letzte Name war, der dem Jungen bei der Geburt gegeben worden war. Doch, er gefiel ihr. "Und wie heißt du?", fragte Luke. Rei überlegte einen Moment. Dies war ein Spiel, und es klang aufregend. Für einen ganzen Tag musste sie nicht Rei sein. Sie konnte heute sein wer auch immer sie sein wollte. "Emily. Mein Name ist Emily." "Okay, Emily. Erzähl mir von dir.", sagte Luke. Die beiden fingen an, ziellos durch die Gegend zu laufen, nebeneinander. Rei überlegte. Wer war Emily wohl? Was mochte sie? Was waren ihre Hobbies? Emily konnte alles sein. Alles und jeder. Sie konnte jede Fantasie sein, die Rei immer ausleben wollte, es bisher aber nicht konnte. "Ich bin ein Model.", erklärte sie plötzlich, und lächelte Luke dabei von der Seite an. Ganz tief in ihrem Inneren hatte Rei sich immer gewünscht, so etwas wie ein Model zu sein. Models waren so weiblich und wurden von allen dafür bewundert, wie schön sie waren. Sie waren alle so feminin und modisch. All das, was Rei nie hatte sein dürfen. "Ein Model, hm?", antwortete Luke. Er lächelte zurück. "Und was machst du gerne, Luke?", fragte Emily. Rei wäre dafür zu schüchtern gewesen. Emily, jedoch, war das nicht. Sie war selbstbewusst und sagte immer, was sie dachte. "Ich spiele Fußball.", erklärte Luke. "Schon immer und für immer." "Ich habe früher auch ab und zu Fußball gespielt. Mit meinem Vater.", erklärte Rei, bemerkte dann aber, dass sie nun tatsächlich über sich selbst sprach und nicht über Emily. Sie fragte sich, ob Luke wirklich Fußball spielte. Zumindest sah er sehr sportlich aus. "Dann sollten wir mal ein paar Bälle zusammen kicken.", schlug er vor. Und Reis Herz schlug schneller in ihrer Brust. "Das sollten wir." Sie nickte zustimmend. Am liebsten hätte Rei vor Freude geschrien, doch Emily blieb ganz cool. "Was würdest du tun, wenn dir heute jemand sagen würde, dass du morgen sterben musst?", fragte Luke dann ganz plötzlich. Rei legte ihre Stirn in Falten. Eine solche Frage hatte sie sich noch nie selbst gestellt. "Ich weiß nicht. Irgendwas Verrücktes. Was, das ich noch nie getan habe.", erklärte sie schließlich. "Und du?" "Ich weiß auch nicht. Vielleicht würde ich tatsächlich von der Klippe springen. Nur um zu sehen, ob ich es überleben würde." Luke schlenderte neben Rei her und berührte immer wieder mit seinen Fingerspitzen die hohen Grashalme, die unter den beiden aus der Erde schossen. "Ich meine, vielleicht sterben wir ja morgen.", gab er zu bekennen und blieb ganz plötzlich stehen. "Lass es uns tun." "Was tun?", fragte Rei voller Verwunderung. "Na, von der Klippe springen." Reis Herz blieb stehen. "Nein. Uh-uh. Niemals. Keine Chance." Sie lachte ganz sarkastisch und panisch zugleich. "Hey, ich dachte, du wolltest verrückt sein." Luke stupste sie spielerisch von der Seite an. "Es gibt noch eine Klippe nicht weit von hier. Die ist bei weitem nicht so hoch. Uns würde nichts passieren. Was sagst du, verrückte Emily?" Verrückte Emily. Das gefiel Rei. Und doch hatte sie immer noch Höhenangst. Wer aber sagte, das Emily Höhenangst hatte? Emily hatte vor gar nichts Angst. Sie holte tief Luft und sagte schlussendlich: "Na gut." Dann führte Luke sie zu der besagten Klippe, die zwar um einiges tiefer zu sein schien, jedoch für Rei fast genauso angsteinflößend war. Es fiel ihr schon schwer, sich nur an den Rand der Klippe zu stellen. Der Gedanke alleine bereitete ihr ganz weiche Knie. "Komm schon. Ich passe schon auf, dass nichts schief geht." Luke streckte ihr seine Hand entgegen. Er stand bereits am direkten Klippenrand und wartete darauf, dass das verrückte Mädchen, das er heute kennengelernt hatte, sich zu ihm gesellte. Rei starrte auf seine Hand und dann in sein Gesicht. Diese türkisen Augen verpassten ihr eine Gänsehaut am ganzen Körper. Sie ergriff seine Hand und fand sich bald neben Luke am Rand der Klippe. Jedoch blickte sie nicht hinab. Sie zitterte ein wenig, weswegen Luke ihre Hand fest drückte. "Nicht nach unten sehen.", flüsterte ihr zu. "Auf drei, ja?" Rei holte tief Luft. Sie schloss ihre Augen und nickte. "Mach es einfach. Es wird nichts passieren.", wiederholte Luke seine Aussage. "Weil wir morgen tot sein könnten." Der Junge holte auch tief Luft. Auch er schien ein wenig nervös zu sein. "1", fing er schließlich zu Zählen an. "2" Reis Herz raste, wie es noch nie zuvor gerast war. "3" Plötzlich machten die beiden einen Schritt nach vorne und befanden sich im freien Fall in das schier unendliche Wasser. Rei schrie aus voller Kehle. Luke lachte. Es war beängstigend und doch befreiend. Für einen Moment fühlte Rei sich, als könne sie fliegen. Sie sah Luke in die Augen. Er lächelte, und sie lächelte zurück. Dann plumpsten die beiden ins Wasser. Es war eiskalt. Rei schloss ihre Augen und hielt sich die Nase zu, als sie ins Wasser eintauchte. Sie hatte es getan. Sie hatte es wirklich getan. Sie war nicht mehr die ängstliche Rei, sondern die verrückte Emily. Als sie wieder auftauchte, holte sie ganz tief Luft, als ob sie nie wieder Luft holen würde. "Das war...der Wahnsinn!", schrie sie beinahe und spritzte Luke Wasser ins Gesicht. Sie lachte. Sie war plötzlich unendlich glücklich. In jenem Moment fehlte ihr Japan kein bisschen. Ihre Mutter fehlte ihr nicht. Nichts und niemand fehlte ihr. "Ich hab gesagt, es passiert nichts." Luke lachte und spritzte Emily auch mit Wasser voll. Sonnenstrahlen fielen auf das gebräunte Gesicht des Jungen. Seine nassen Locken klebten an seiner Haut, umrahmten sein Gesicht. Seine Augen schimmerten durch den Glanz des Wassers. Auf einmal zog Rei ihn an sich und legte ihre Hand auf seine Wange. "Weil wir morgen tot sein könnten.", flüsterte sie ihm zu. Dann neigte sie ihr Gesicht leicht zur Seite und schloss ihre Augen. Zärtlich und doch sehnsüchtig drückte sie ihre Lippen auf seine. Ihr Herz schlug wie ein tobendes Gewitter. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)