Der eine zählt des anderen Tassen von Encheduanna ================================================================================ Kapitel 4: Des Menschen Hässlichkeit ------------------------------------ Gott sei Dank sah sie den Typen in den nächsten Tagen auch nicht wieder. Diesen Jakob. Diesen … Sein zähnefletschendes Grinsen konnte sie jedoch nicht vergessen, aber es begleitete sie nur dann in ihren Gedanken, wenn sie es zuließ. Wenn sie sich hingegen der Natur anheimgab, auf die Weiden hinauslief, um mit einem Feldstecher bewaffnet, den vielen, vielen Vögeln nachzustellen und in ihrem neuerworbenen Vogelkundlichen Begleiter nachzuschauen, um welche Art es sich handelte, dann vergaß sie all diese Unschicklichkeiten. Keine Frage, das Café mied sie, die Warft ebenfalls, denn sie ahnte, dass dieser Jakob bei der Serviererin Quartier bezogen hatte: so gut, wie sie ihn zu kennen schien. Hatte sie ihn doch recht unverfänglich, fast leger angesprochen. Und er hatte ja auch entsprechend reagiert – jedenfalls nicht so, als würde er fragen wollen, was dieses Duzen zu bedeuten hätte. Obwohl: bekam der überhaupt mit, wenn sich etwas entgegen der Norm verhielt? Egal. Sie war hier auf den Fennen, hockte, ja lag bisweilen sogar auf dem Bauch und sah durch ihren Feldstecher, den ihr der Hausvater geliehen hatte. Ein netter Mensch. Groß, blond, breitschultrig und immer freundlich lächelnd. Als sie ihm am Dienstagabend gesagt hatte, dass sie des Nachts die Milchstraße so überdeutlich gesehen hätte, lachte er nur verhalten und meinte: „Hier herrscht ja auch nicht so eine hohe Lichtverschmutzung wie bei dir in der Stadt.“ Sie nickte und fragte ihn, vom Zauber dieser vielen, vielen funkelnden Sterne am Himmel gepackt, ob es denn neben Bernsteinschleifen und Lichtbildervorträgen am Abend nicht auch eine Sternwanderung hier auf der Hallig gäbe. Das biete sich ja geradezu an. „Ja sicher“, sagte er hierauf, „aber der Mann, der das alljährlich macht, ist gerade wieder gefahren. Aber wenn du möchtest, kannst du meinen Feldstecher haben. Liegt im Auto. Musst ihn dir nur holen.“ Das tat sie dankend und lag in den nächsten Nächten tatsächlich draußen auf der Deichwiese und sah in dieses funkelnde Lichtermeer hinein. Sie glitt dabei von Stern zu Stern und brachte es bei einigen sogar fertig, die Augen zu verengen, so hell strahlten sie selbst aus dieser Entfernung. Sie mochte sich gar nicht vorstellen, wie hell sie tatsächlich waren. „Wahnsinn“, murmelte sie und konnte sich gar nicht sattsehen. Mehr und immer mehr wollte sie erkunden, bis sie bei einer an einen Kleiderbügel erinnernden Sternenkonstellation hängen blieb und vor Überraschung beinahe das Glas hätte fallen lassen. So was? So was Akkurates? Und schon musste sie lächeln und war zugleich so überwältigt, dass sie aufstand, um all das genauer betrachten zu können, bis ihr einfiel, dass es keinen Unterschied machte, ob sie lag oder stand. Nur der nicht unerhebliche Schmerz im Genick mahnte sie, sich wieder hinzulegen. Und das tat sie auch und jagte in dieser und anderen Nächten Sternen und Schnuppen nach. Sich in diesen kosmischen Weiten zu ergehen, sich auf sie überhaupt einlassen zu können – welch wundervolles Geschenk das war. Dazu die Stille, die sie erst nach und nach zu würdigen wusste. Das Schweigen, das nicht Redenmüssen, das Bei-sich-Sein – herrlich, einfach herrlich. Manche Nacht lag sie im Gras, ließ den Feldstecher sinken und sah einfach nur so hoch in den Himmel. Ebenso am Tag, da sie mit ihrem Vogelkundlichen Begleiter in der Tasche über die Fennen kroch und Ringelgans nebst Seeschwalbe im Flug oder beim Fressen beobachtete. Der Schmöker, der eigentlich gelesen werden wollte, geriet mehr und mehr in Vergessenheit. Zu viel gab es auf dieser Hallig zu sehen und zu erleben. Als sie dann noch an einem Erkundungsgang über die Salzwiesen teilnahm und erfuhr, dass sich die eine oder andere Pflanze gut in Salat, Spaghetti-Sauce und Rührei machte, konnte sie nicht an sich halten und eben das auszuprobieren, des Abends in der Küche ihrer Ferienwohnung, deren Tür stets offenstand, da sich Percy, der Kater ihres Wirts mit ihr angefreundet hatte und Einlass begehrte. Und während dieser kleine rote Kerl ihre Wohnung erkundete und schließlich auf einen der Sessel sprang, kochte sie sich ein leckeres Essen. Allein das bescherte ihr ein gutes Gefühl. Was sollte sie bei all dem noch an diesen Typen, diesen Jakob, denken, der ihr jetzt im Nachhinein, wie ein riesiger zerzauster Rabe vorkam. Seine Nase, so wollte sie sich gar nicht erinnern, war lang und raubvogelhaft gebogen. Die Augen saßen tief in den Höhlen seines schmalen Gesichts und hatten so verdammt verrückt auf sie gestarrt. Furchtbar. Nie wieder! Nun, wie das Spiel aber so spielte, hielt dieses Nie wieder! nicht lang, denn auf einer kleinen Hallig wie dieser grenzte es an ein Wunder, wenn man sich als Urlauber nicht wenigstens zweimal über den Weg lief. Und da half es auch nicht, bestimmte Orte zu meiden, an denen sich dieser Jakob aufhalten könnte, ja, da half es noch nicht einmal, einen Ausflug zur Nachbarhallig Gröde, der kleinsten Gemeinde Deutschlands, zu machen, um sich auch einmal andere Luft um die Nase wehen zu lassen und die dortige Kirche nebst Fething zu besichtigen. Nein, das half alles nichts, wenn er sich eben zu dem gleichen Ausflug mit dem Fischkutter, inklusive einer Demonstration des hiesigen Fischfangs, entschieden hatte und, obwohl die ganze Zeit unten am großen Aquarium stehend, ihrer gar nicht gewahr wurde. Er hinderte sie dennoch daran, sich auf sich zu konzentrieren und die Fahrt über die Nordsee zu genießen. Denn anstatt ans Heck des Schiffes zu gehen, um dort Ruhe zu haben, stand sie weiterhin an der Reling neben der Kapitänskabine und sah hinab auf ihn, der mit einem Fotoapparat bewaffnet in die Gegend blickte und ab und an Fotos machte – doch nicht etwa von der Nordsee, sondern stets vom allzu mageren Innenleben des Aquariums. Dazu beugte er sich jedes Mal über das Wasser, schob gleichzeitig seine Hüfte hervor, presste sich mit dem Unterleib an die Scheibe. Sie sah genau, dass er sein linkes Auge zukniff, bisweilen sogar zuhielt, wenn er fotografierte, sah auch, wie sich eine allzu große Falte zwischen seiner Nasenwurzel und dem Stirnansatz bildete. Bemerkte ebenfalls, dass er wohl unter einer Art Hautreizung oder Akne litt – und das vor allem an den Wangen und über den Augenbrauen. Und sie ertappte sich sogar dabei, auf seinem Kopf nach Spuren eines Ausschlags, eines endogenen Ekzems, gar einer Schuppenflechte zu suchen. All das durchs Fernglas – und sie fragte sich keineswegs, was sie hier eigentlich tat. Warum sie ihn beobachtete. Sie tat es einfach. Und so geriet der Ausflug zur Gröde zu einem Unterfangen, das nicht anders als mit Observation, gar Stalking zu bezeichnen war. Erst im Nachhinein griff sie sich an den Kopf. Was hatte sie sich dabei nur gedacht, dieser Vogelscheuche im schwarzen Cord so sehr nachzustellen? Konnte man es tatsächlich so sehen, dass sie von seiner augenscheinlich abstoßenden Erscheinung angezogen wurde, ja, dass von seiner Hässlichkeit ein Reiz ausging, der sie fast fiebrig werden ließ? Und dabei blieb sie selbst immer im Verborgenen. Denn auch auf der Gröde achtete sie peinlichst darauf, ihn stets in einem gewissen Abstand vor sich haben, um nötigenfalls reagieren zu können. Zwar gab es weder Baum noch Strauch, doch das Abwenden und so-tun-als-ob galt ihr als Notlösung. Und so folgte sie ihm den Deich hinauf und besichtigte eben Kirche und Fething, während er in sicherer Entfernung auf dem Deich entlangging, den Fotoapparat schussbereit vor der Brust tragend. Aber es blieb natürlich nicht aus, dass er doch einmal in hastigen, ja, geradezu zackig-strengen Schritten auf sie zukam, nämlich, als sie das Boot wieder bestiegen und sie ihn bereits an Bord wähnte, er jedoch wie ein Kistenteufel auf dem Tableau erschien – allerdings ohne ein Zeichen des Erkennens zu geben. Was war sie da erleichtert, dass er an ihr vorbeiging, jedoch und zugleich erregt, weil sie nicht verstand, wie er sie, da sie ihm ja förmlich im Weg stand, übersehen konnte, obwohl er ihr doch genau in die Augen sah. Es war ihr so, als ginge er mitten durch sie hindurch, ja, gerade so, als sei nicht er, sondern sie die Chimäre. Auf der Heimreise postierte sie sich wieder neben der Kapitänskabine und sah hinab auf ihn, der da unten eben an der Reling stand, den Fotoapparat an einem Riemen um die Schulter tragend und diesmal aufs offene Meer blickend, während ihm der Fahrtwind durchs schüttere Haar fuhr und seine zweifelsohne jeden Morgen neu gerichtete Frisur zerzauste und er sich, bald seines strengen Linksscheitels verlustig, ein blaues Basecap aufsetzte. Erst, als sie daheim in ihren sicheren vier Wänden war, beruhigte sie sich ein wenig, auch von dem, was sie an diesem Tag noch erlebt hatte. Dieser Menschen, den sie nach all dem nicht einmal mehr den falschen Geiger, geschweige denn bei seinem Namen nennen konnte, hatte, als der Fischfang eingefahren war, etwas getan, was sie nie würde vergessen können. Sie stand noch immer oben an der Reling, sah hinab, wie der erste Offizier eine vollgefüllte Kiste mit Meeresgetier in das Aquarium entleerte, hörte, wie der Kapitän die Aufforderung an die Kinder gab, jetzt selbst wühlen zu dürfen, bemerkte ihn zwischen all den Kleinen, wie er sich selbst am Aquarium erging. Ab und an hielt er etwas hoch, um es sogleich wieder ins Wasser zu geben. Immer und immer wieder tauchte er seine Hände ins Wasser, suchte, fand, holte heraus, besah es sich, legte es zurück. Wie die Kinder neben ihm auch. Doch plötzlich, ganz plötzlich holte er einen größeren Fisch herauf und aller Augen richteten sich auf ihn. Rufe wurden laut. Und er hielt den nach Luft schnappenden Fisch wie eine Trophäe hoch über den Kopf, während sich das Tier in seiner Hand wandte und krümmte – und ganz augenscheinlich einen Todeskampf focht. Dazu fletschte dieser Kerl wieder die Zähne. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)