One More Time von ReptarCrane ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Der Kaffee scheint keinerlei Wirkung zu entfalten. Es ist meine dritte Tasse, innerhalb einer Dreiviertelstunde, doch obgleich ich die laut der Karte koffeinhaltigste Variante bestellt habe, fühle ich mich noch immer, als würde ich jeden Augenblick einschlafen. Sicher, Objektiv betrachtet ist das nicht wirklich überraschend. Allgemein trinke ich viel zu viel Kaffee, ist er doch ein häufiger Ersatz für ausreichend Schlaf, mein Körper ist gewöhnt an Koffein, und wach hält es mich bei solchen Mengen schon lange nicht mehr. Gut die Hälfte der Tasse habe ich bereits geleert, und ich weiß, dass ich mir keine weitere werde leisten können. Habe nicht mehr als ein paar Dollar dabei, aber was macht das schon, die Menge, die ich trinken müsste um wach zu werden, hätte wahrscheinlich ganz allgemein reichlich unangenehme Nebenwirkungen. Ein eisiger Schauer durchläuft meinen Körper. Es liegt nicht an eigentlicher Kälte, denn der Wind, der Schneeflocken durch die Straße vor dem Fenster des Cafés treibt, ist hier drin nicht zu spüren, auch wenn mich bei längerer Betrachtung allein der Anblick der dünnen Schneedecke frösteln lässt. Doch ich bin einfach so unglaublich müde. Ich könnte hier und jetzt einschlafen und würde mich wahrscheinlich nicht vom Kommen und Gehen anderer Gäste stören lassen, vollkommen irrelevant, wie unbequem dieser schlecht gepolsterte Stuhl auf Dauer ist. Ich könnte auf einem Brett liegen, momentan wäre es mir egal. Ich weiß nicht einmal, wie lange ich bereits wach bin. Gestern hatte ich bis zum Nachmittag schlafen wollen, doch um halb Neun war ich von der Bohrmaschine unserer Nachbarn geweckt worden, aus einem unruhigen Schlaf gerissen, der mir ohnehin kaum Erholung gebracht hatte. Hatte versucht wieder einzuschlafen, doch ohne Erfolg, und irgendwann war die Müdigkeit eben geschwunden, und spätestens, als mein Freund von der Uni nach Hause kam konnte ich zumindest eine Zeitlang verdrängen, dass ich mich fühlte wie ein Haufen Matsch. An dieser Stelle versuche ich, mich dazu zu zwingen, meine Erinnerungen an den gestrigen Tag und eigentlich auch die folgende Nacht zu unterdrücken. Ohne großen Erfolg. Der Streit, entsprungen aus einer absoluten Nichtigkeit, an die ich mich nicht einmal zu erinnern vermag, wie es so oft der Fall ist in letzter Zeit, viel zu oft. Doch an die Worte kann ich mich erinnern, sowohl an seine als auch an meine eigenen, und beide versetzen mir gleichermaßen schmerzhafte Stiche. Ich weiß, dass ich all diese Dinge nicht wirklich meine, dass ich einfach bloß wütend war, frustriert und verzweifelt. Dass ich nicht wirklich gehen will. Aber bei ihm bin ich mir mit jedem neuen Streit unsicherer, ich weiß nicht, ob es nicht mehr ist als eine Aussage im Affekt, wenn er mir daraufhin zustimmt, mir sagt, dass er sich wünscht, dass ich gehe, dass er mich nicht mehr sehen will, dass ich einfach verschwinden soll. Bisher hat es niemals mehr als eine halbe Stunde gedauert, bis er sich entschuldigt hat. Oder aber ich war derjenige, der auf ihn zuging, denn natürlich war keine dieser Auseinandersetzungen ausschließlich seine Schuld. Jedenfalls wird eine derartige Situation stets recht schnell geklärt, und ich bin mir nicht sicher, ob es gut ist, dass wir immer wieder sofort in alte Muster verfallen. Uns nie wirklich aussprechen, immer bloß entschuldigen. Ohne die Ursachen wirklich zu benennen. Und gestern war nicht einmal mehr dafür Zeit. Ich musste zur Arbeit, und die ganze Nacht über kreisten meine Gedanken bloß um diesen Streit, der nicht heftiger gewesen war als andere. Aber alleine die Tatsache, dass ich einfach so gehen musste, sorgte dafür, dass ich mich furchtbar fühlte. Und dennoch sitze ich noch immer hier. Ich kann mich einfach nicht dazu durchringen, aufzustehen und zu gehen, der Gedanke daran, nach Hause zu kommen in eine leere Wohnung – Bis ich da bin, wird mein Freund längst auf dem Weg in die Uni sein – lässt Nervosität in mir aufsteigen. Und auch der Weg, der bis dort noch vor mir liegt, ist alles andere als ermutigend. Ein guter halber Kilometer bis zur Bushaltestelle. Ein Fahrzeug voller Menschen, auf dem Weg zur Arbeit, die dicht gedrängt stehen, so dass kaum Platz zum Atmen bleibt. Und dazu diese verdammte Müdigkeit… Ein weiterer Schluck Kaffee. Dass er mittlerweile kalt ist bemerke ich erst jetzt, ein weiterer Beweis für meine tiefe Erschöpfung, denn normalerweise würde ich kalten Kaffee niemals herunterbekommen. Aber heute ist es okay. Alles ist okay, solange ich hier sitzen kann und nicht nach draußen muss, nach Hause… Wovor habe ich Angst? Es ist Angst, die mich zögern lässt, wenn sie auch unterbewusst lauert, das erkenne ich, aber wovor? Bloß davor, zuhause alleine zu sein? Ich bin oft alleine, jedenfalls einige Tage im Monat, das ist nichts Außergewöhnliches. Ich habe auch nicht wirklich ein Problem damit alleine zu sein, und heute würde ich wahrscheinlich auch einfach sofort einschlafen… also was ist mein Problem? Ohne es wirklich zu merken lasse ich meinen Kopf auf die Tischplatte sinken, vergrabe mein Gesicht hinter meinen Armen. Die Antwort auf diese Frage ist eigentlich klar. Ich habe Angst davor, dass er mich wirklich nicht sehen will. Dieser Streit, diese Worte, die Tatsache, dass nichts davon geklärt wurde, all das lässt mich an die Zeit denken, als ich noch bei meiner Mutter gewohnt habe. Meine Mutter, die mich auch nie wirklich sehen wollte. Die mir immer wieder gesagt hat, was für eine Enttäuschung ich bin, dass ich sie in Ruhe lassen soll, dass sie so froh sein wird, wenn ich endlich ausziehe. Also was, wenn mein Freund genau so denkt? Was, wenn er mich wirklich nicht mehr sehen will? Wenn dieser eine Streit gestern, obgleich nicht schwerwiegender als alle vorherigen, einfach zu viel war? Ein weiterer Schauer durchläuft meinen Körper, lässt mich zittern. Zwar habe ich meine Augen geschlossen und sehe nichts als Schwärze, aber dennoch scheint mit einem Mal alles um mich herum zu schwanken, mein Herz schlägt viel zu schnell und ein Gefühl von Schwindel überkommt mich. Ich habe das Gefühl, jeden Augenblick vom Stuhl zu kippen, will mich irgendwo festhalten, doch bin unfähig, mich zu bewegen… Mein Hals fühlt sich an wie zugeschnürt. Panik steigt in mir auf, derart intensiv wie es schon lange nicht mehr der Fall war, und ich bin einfach nicht in der Lage mich aufzurichten… es gibt nicht genügend Luft, wie denn auch, wenn ich halb auf dem Tisch liege. Ein weiterer Schauer, weiteres Zittern, mein Herz schlägt immer schneller… Ich will schreien, aufspringen, irgendetwas tun, aber mein Körper gehorcht mir einfach nicht, und ich kann nichts weiter tun als erstarrt dazuhocken und zu merken, wie Übelkeit und Schwindel immer und immer stärker werden. Die Geräuschkulisse des Cafés nehme ich nicht mehr wahr. Stattdessen ist da ein Schrilles Piepes, untermalt mit einem statischen Rauschen, das mit jeder verstreichenden Sekunde intensiver wird. Selbst der Stuhl, auf dem ich sitze, scheint sich langsam aufzulösen, doch es fühlt sich nicht an als würde ich fallen… nein, es kommt mir vor als würde einfach alles um mich herum verschwinden. Zu zerbrechen, zu schmelzen, ich weiß es nicht. Die Luft erscheint mir mit einem Mal nicht mehr so stickig, das Piepen wird leiser, das Zittern, das meinen Körper erfasst hat, nimmt ab. Mein Herzschlag normalisiert sich. Ich blinzele ein paar Mal, und noch immer ist da nichts als Schwärze, doch nur, weil ich mein Gesicht noch immer in meinen Armen vergraben habe. Und ich kann mich wieder bewegen. Beinahe unnatürlich fühlt es sich an als ich den Kopf hebe, die Augen wieder geschlossen, und meine Arme ein wenig entspanne, mich zurücklehne, bis ich mit dem Rücken gegen etwas hartes, kühles stoße…Ich kann nicht wirklich zuordnen, was es ist. Doch irgendwie wirkt es seltsam fehl am Platz… Durch meine geschlossenen Augenlider kann ich sehen, dass es hell ist, doch nicht so hell wie mir das Café in Erinnerung ist. Irgendetwas scheint hier nicht richtig… Als ich die Augen öffne, blinzelnd da das Licht mich blendet, brauche ich kaum mehr als ein paar Sekunden um zu erkennen, wo ich mich befinde. Und sofort wünsche ich mich zurück, selbst wenn das bedeutet wieder diese Panikattacke durchleben zu müssen, denn das wäre noch immer angenehmer als das hier… Ich weiß, dass ich eingeschlafen bin. Ich weiß, dass das hier ein Traum ist, einmal, weil das das Einzige ist, was Sinn ergibt, und außerdem, weil ich diesen Traum bereits unzählige Male durchlebt habe. Ich weiß, dass man normalerweise aufwacht, wenn man registriert, dass man träumt. Und wenn das nicht der Fall ist, dann ist man zumindest in der Lage, seinen Traum zu beeinflussen. Aber nicht in meinem Fall. Nicht bei diesem Traum. Ich stehe auf, was mir erstaunlich leicht fällt wenn man bedenkt, wie grauenhaft ich mich fühle, und blicke mich um. Ich habe nicht viele Möglichkeiten, das weiß ich. Ich kann hierbleiben und warten, oder ich kann versuchen, hier rauszukommen… Bloß wenn ich es nicht schaffe, wird es schlimmer, als es ohnehin unvermeidlich ist. Es ist ein Traum, ja, doch die Schmerzen spüre ich trotzdem, jedes Mal. Möglicherweise ist es auch mehr als ein Traum, viel mehr wohl ein Trauma, das würde erklären, wieso ich nicht fähig bin, aufzuwachen. Mein Blick bleibt an dem Fenster hängen, über dem vollgeräumten Werkstisch. Es ist geschlossen, und ziemlich schmal, doch wenn ich mir Mühe gebe… Ein lautes Quietschen lässt mich zusammenzucken. Schritte auf den Steinstufen, die näher kommen, so vertraut als hätte ich sie gestern erst gehört. Und sofort fühle ich mich wieder, als wäre ich sechs Jahre alt. Blicke an mir herunter, sehe den türkisen Stoff des Kleides, das eigentlich meiner Schwester gehört. Ich verstehe nie, wodurch die einzelnen Elemente des Traumes beeinflusst werden, aber im Grunde ist das auch gleichgültig. Das Ergebnis ist immer das Gleiche. Ein weiterer Blick zum Fenster, dann wieder auf das Kleid. Tonyas Kleid, das ich damals an meinem sechsten Geburtstag von ihr geliehen hatte. Ich liebe dieses Kleid, aber… Ein weiterer Blick zum Fenster. Dann zur Treppe. …der Stoff ist zu unpraktisch, um damit nach draußen zu kommen. Er würde sich verhaken, das weiß ich, denn ich habe es schon versucht, in einem früheren dieser Träume… Ein husten, heißer und Röchelnd. Der unverhältnismäßig starke Geruch nach Alkohol. Wieso kann ich nicht aufwachen? „Roger?“ Diese Stimme, die ich jetzt schon seit fast zwei Jahren nicht mehr in der Realität gehört habe, die mich aber noch immer erschaudern lässt wie als kleines Kind. Sie klingt rau, irgendwie schwerfällig. Das passt zu dem Geruch. Er ist betrunken. Ich senke meinen Blick zu Boden, weg zum Fenster. Es hätte keinen Sinn es zu versuchen, ich würde es nicht schaffen. Nein, ich würde es nur schlimmer machen. Hocke mich hin, schlinge meine Arme um meine Knie. Ich weiß, dass ich auch in diesem Traum kein Kind mehr bin, aber ich fühle mich so. Hilflos. Wehrlos. Ich habe einige Male versucht, mich zu wehren, doch mein Körper war jedes Mal wie gelähmt, und auch jetzt spüre ich bereits, dass ich kaum noch Kontrolle über meine Muskeln habe. Wie vorhin im Café. Ich wünschte, ich könnte aufwachen… Sehe die Silhouette meines Vaters, die sich um die Ecke der Mauer schiebt, nun bloß noch wenige Stufen vom Boden entfernt. Eine Hand hinter dem Rücken, aber ich weiß genau, was sich darin befindet. Ich kralle meine Finger in den Stoff des Kleides, als würde mir das irgendwie weiterhelfen. Kann nichts weiter tun als zuzusehen wie mein Vater sich weiter nähert… „…Was zur Hölle trägst du da?“ Genau wie als Kind. Genau wie an diesem sechsten Geburtstag. Nun, zumindest fast, nur dass er mich damals noch nicht in den Keller gezerrt hatte um mich zu verprügeln, doch um solche Details scheint dieser Traum sich niemals zu kümmern. Reglos hocke ich da, die kalte Steinwand im Rücken, meinen Vater anstarrend… Ich will irgendetwas sagen. Etwas tun. Ich will nicht bloß hier sitzen und abwarten, ich will mich wehren… aber ich kann nicht. Ich kann absolut gar nichts tun. Wieder seine Stimme, viel lauter als es eigentlich der Fall sein sollte, doch was ergibt in diesem Traum schon groß Sinn… „Was ist bloß los mit dir? Was stimmt nicht mit dir?“ Wie lange ich mich das gefragt habe. Ich habe nie eine Antwort gefunden, habe nie verstanden wieso es falsch sein sollte wie ich war… Wie gerne würde ich ihm das sagen, auch wenn ich weiß, dass ihn das bloß noch wütender machen würde. Ich will mehr tun als bloß stumm dazusitzen und zu warten, ich will mich nicht so verdammt schwach fühlen… Und doch sehe ich einfach bloß zu, wie mein Vater seine Hand hinter seinem Rücken hervorzieht. Starre auf den dunklen Ledergürtel, den er umklammert hält und der mir so bekannt vorkommt… Ich will schreien, aufspringen, weglaufen, mich wehren, irgendwas. Aber das habe ich damals nicht gekonnt, und so kann ich es auch jetzt nicht. Es ist bloß ein Traum, und doch weiß ich dass es wehtun wird, und dass ich nichts dagegen tun kann. Dass ich einfach nicht aufwachen kann. Er kommt näher, während er eine Seite des Gürtels langsam aus seiner Hand gleiten lässt. Sein Gesicht kann ich nicht erkennen, so wie es jedes Mal der Fall ist wenn ich diesen Traum habe, doch ich kann mir vorstellen, welchen Ausdruck es zeigt. Denselben wie damals, wenn er mich als Kind in den Keller gezerrt hat. Wie später, als ich bei ihm gewohnt habe und er das nicht mehr für nötig hielt, weil er ohnehin wusste dass ich nicht schreien würde. Wie an dem Abend als ich ihm erzählt habe, dass ich seit ein paar Monaten mit meinem Freund zusammen war. Wut. Enttäuschung. Eine seltsame Mischung aus allen möglichen Emotionen. „Was stimmt nicht mit dir?“, fragt er noch einmal, und dieses Mal klingt seine Stimme seltsam verzerrt… beinahe undeutlich. Das ist neu. Bisher war all das, was ich in diesen Träumen durchlebte, derart realistisch dass ich einfach bloß auf Grund der Logik wusste, dass es sich nicht um die Realität handeln konnte. Doch nun starre ich meinen Vater an, und er scheint auf merkwürdige Wiese zu verschwimmen… zu verblassen. Wie die Kulisse des Kellers um ihn herum… ich kann mich noch immer nicht bewegen, aber dennoch habe ich das Gefühl, langsam aufzuwachen. Wieso, weiß ich nicht, nichts an diesem Traum war anders, und doch verschwindet langsam alles vor meinen Augen, wird zu einem tiefen, undurchdringlichen Schwarz… noch einmal ist die Stimme meines Vaters zu hören, doch ich kann nicht verstehen, was er sagt. Das Gefühl der kalten Wand in meinem Rücken verschwindet, weicht etwas das sich angenehmer anfühlt, die Lehne des Stuhles in dem Café… das Gefühl der Tischplatte unter meinen Armen. Der Klang von Stimmen, die sich unterhalten. Und dann kann ich spüren, wie mir jemand sanft durch die Haare streicht. Ein weiteres Zittern durchläuft meinen Körper. Reflexartig verkrampfe ich meine Hände, und registriere dabei, dass es mir wieder möglich ist, mich zu bewegen. Ich weiß nicht was passiert ist, wieso ich in der Lage war aufzuwachen, alles ist wirr und meine Gedanken scheinen unfähig, sich zu ordnen. Eher mechanisch als gewollt hebe ich den Kopf, blinzele. Erblicke meine Tasse vor mir. Sie ist umgekippt, der restliche Kaffee über den Tisch gelaufen. Mein erster Impuls ist, nach irgendetwas zu greifen um die Flüssigkeit wegzuwischen, doch dann bin ich wieder abgelenkt von dem leichten Streichen durch meine Haare… „Ist alles in Ordnung?“ Es hätte mich in diesem Moment nicht gewundert, hätte ich die Stimme meines Vaters gehört. Hätte ich gemerkt, dass ich einfach bloß in einem weiteren Traum gelangt wäre, der realistischer wirkt als der vorherige… doch es ist nicht die Stimme meines Vaters. Ich drehe den Kopf, nur ein kleines Stück, denn ich will nicht dass er aufhört mir durch die Haare zu streichen… betrachte meinen Freund einige Sekunden lang, bevor ich zu einer Antwort in der Lage bin. „Was… machst du hier?“ Ich weiß, dass das seine Frage nicht beantwortet, doch ich bin ernsthaft verwirrt; er sollte in der Uni sein, oder zumindest nicht hier… Nachdenklich blickt er mich an, als müsse er überlegen, was er antworten soll. Dann, schließlich, erwidert er: „Ich… hab mir Sorgen gemacht. Du bist nicht an dein Handy gegangen…“ „Der Akku ist leer.“ Noch so eine Sache über die ich mich die ganze Nacht aufgeregt hatte, auch wenn ich ohnehin nicht gewusst hätte, was ich ihm hätte schreiben sollen. Trotzdem verringert diese Antwort meine Verwirrung nur bedingt… als könne er meine Gedanken lesen, fährt mein Freund fort: „Ich hab mir gedacht dass du hier bist… weil du immer hier bist, wenn es dir nicht gut geht.“ Das stimmt, und ich hätte mir denken können, dass er das weiß. Aber dennoch überrascht es mich, dass er hier ist… ich widerstehe dem Drang, einfach meine Augen zu schließen und mich der noch immer vorhandenen Müdigkeit zu ergeben. Blicke meinen Freund stattdessen weiter fragend an. „Solltest du… nicht in der Uni sein?“ Einen Augenblick lang blickt er mich beinahe perplex an. Dann lacht er, als habe ich grade einen Witz gemacht. „Scheiß auf Uni! Ich hab fast die ganze Nacht wach gelegen und konnte dich nicht erreichen! Du bist nicht nach Hause gekommen! Ich hab dir gestern Sachen gesagt, die absolut beschissen waren, wie sollte ich da einfach in die Uni gehen?“ Nun bin ich derjenige, der ihn perplex anblickt, in meiner Müdigkeit versuchend, seine Worte zu ordnen. „Es ist…alles in Ordnung…“, bringe ich schließlich hervor, wobei ich selbst merke dass ich alles andere als überzeugend klinge. Nichts ist in Ordnung, oder zumindest war es das bis eben nicht… bis ich aufgewacht bin und gemerkt habe, dass er da ist. Ich will mehr sagen, aber ich kann nicht, starre ihn einfach bloß an während er mir immer noch durchs Haar streicht, seinerseits meinen Blick erwidert… auch er scheint nicht wirklich zu wissen, was er sagen soll. Rückt wortlos ein Stück näher, und ich lasse meinen Kopf auf seine Schulter sinken. Murmele mit leicht zitternder Stimme: „Und hey, ich hab genau so viel Mist gesagt! Ich war sauer, und ich weiß nicht mal mehr, weshalb eigentlich, das ist doch total bescheuert, und ich…“ Ich weiß überhaupt nicht, was ich eigentlich sagen will, doch das spielt auch keine Rolle, denn meine Stimme versagt ohnehin, ich bringe nicht mehr heraus als ein heiseres Krächzen. Senke den Blick, und habe das starke Bedürfnis mich einfach in Luft aufzulösen… Seine Stimme klingt allerdings kaum fester als meine, als er antwortet: „Wir sind wohl einfach beide Idioten. Aber… ich will nicht dass du glaubst, dass ich irgendwas davon ernst gemeint habe! Ich will nicht, dass du glaubst dass ich wirklich will dass du verschwindest! Ich weiß nicht, wieso ich diesen Mist sage, ich weiß es wirklich nicht…“ Er bricht ab, starrt mich wortlos an. Sieht aus, als würde er am liebsten weinen… Seine freie Hand krallt sich in meine Schulter; nicht schmerzhaft, eher angenehm. Ich hebe den Kopf, erwidere seinen Blick. Im Grunde hat er all das gesagt, was ich auch sagen wollte, nur fehlen mir noch immer die Worte, und so streiche ich einfach über seinen Arm. In diesem Moment ist mir vollkommen egal, was gestern war. Mir ist der Traum egal, der in diesem Moment so fern wirkt als wäre er nicht mehr als eine Erinnerung, mir ist alles egal. Das Einzige, was zählt, ist, dass er hier ist. Alleine seine Anwesenheit beruhigt mich, die Berührungen, die Worte. Ich merke kaum, dass meine Gedanken wieder abdriften, ich wieder im Begriff bin, einzuschlafen… Nur der erneute Klang seiner Stimme hält mich davon ab, genau das zu tun. Sie ist nicht laut, doch sorgt dafür dass ich meine Augen wieder öffne: „Du zitterst.“ Irritiert betrachte ich meine Hand, deren Finger sich, ohne dass ich es wirklich bemerkt hätte, in den Stoff der Jacke meines Freundes krallen. Er hat recht, ich zittere; nicht bloß meine Hand oder mein Arm, sondern mein gesamter Körper. Ich kann nicht sagen, weshalb, mir ist nicht wirklich kalt, vielleicht ist es einfach bloß Erschöpfung… „Du solltest dich hinlegen.“, höre ich meinen Freund sagen. Seine Worte klingen irgendwie unwirklich, als wäre das hier wieder bloß ein Traum. Ich will etwas erwidern, doch weiß nicht wirklich, was, er hat recht, ich will wirklich einfach nur ins Bett… Mein Blick fällt auf den Tisch, und die umgekippte Tasse. Dort, wo zuvor noch die Pfütze aus Kaffee gewesen war, liegen nun drei braun verfärbte Papierservierten, und ich habe nicht die geringste Ahnung, wann man Freund oder wer auch immer die Flüssigkeit aufgewischt hat. Offensichtlich bin ich doch eingeschlafen, doch ich habe es nicht bemerkt… „Ich bezahle kurz, und dann gehen wir, okay?“, höre ich wieder meinen Freund fragen. Ich schaue ihn an, und dieses Mal schaffe ich es, zumindest den Teil einer Antwort hervorzubringen: „Mein Geld ist in meiner Tasche, ich habe…“ An diesem Punkt scheinen all meine Gedanken abzubrechen, da ist nichts weiter als Leere; Leere und Erschöpfung. Alles um mich herum wird verschwommen, und es kostet mich all meine verbliebene Kraft, nicht einzuschlafen, irgendwie muss ich es zumindest noch schaffen, nach Hause zu kommen… Spüre, wie mein Freund mich vorsichtig noch näher zu sich zieht, beide Arme um meine Schultern gelegt. „Ist okay, hör auf dir Gedanken zu machen!“, murmelt er, und streicht mir dabei eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Ich hab fast direkt um die Ecke geparkt. Ich hab mir gedacht, dass du müde bist, und zur Not trag ich dich da auch hin, also schlaf ruhig, wenn du willst!“ Trotz meiner wirklich starken Erschöpfung muss ich lachen, und für den Moment wird mein Blick wieder etwas klarer. „Quatsch, das schaff ich schon noch! Aber dass ich nicht in die Bahn muss find ich schon erleichternd…“ Und wieder scheinen meine Gedanken abzubrechen, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Ich richte mich ein wenig auf, obwohl ich am liebsten einfach wieder die Augen schließen würde, und betrachte meinen Freund. Ich zittere noch immer, das merke ich, doch es erscheint mir nicht mehr so stark, alleine seine Anwesenheit scheint mich zu beruhigen, sein Geruch, das Wissen, dass ich nicht alleine bin. Dass ich nicht aufgrund eines banalen Streites alles verloren habe, was mir in den letzten Jahren so wichtig geworden ist. „Wir würden gerne zahlen.“, höre ich ihn sagen, offensichtlich zu der Kellnerin, die ich nur aus den Augenwinkeln sehe. Meine Müdigkeit ist wieder da, überkommt mich wie eine Welle, die mich hinabzieht in unendliche Schwärze… Als ich meine Augen das nächste Mal öffne steht mein Freund neben mir, ist grade im Begriff, mir meinen Mantel überzuziehen. Mit einem leichten Lächeln sieht er mich an, fragt dann: „Ok, bist du wach, oder soll ich dich doch tragen?“ „Wag es nicht, ich kann noch selber laufen!“ Es überrascht mich selbst wie unbekümmert meine Stimme klingt, kaum eine Spur von der starken Müdigkeit, oder der Unsicherheit die ich tief in meinem Inneren noch immer verspüre. Es ist egal. Für den Moment fühle ich mich gut. Ich bin nicht allein, und ich muss mich nicht schuldig fühlen, und zum ersten Mal seit ich Denken kann bin ich aus diesem verdammten Traum aufgewacht, ohne, dass ich darin blutend auf dem Boden lag. Es ist bei Weitem nicht alles gut, und ich hoffe sehr, dass wir es dieses Mal nicht bei dieser Entschuldigung belassen, sondern endlich versuchen herauszufinden wieso wir uns immer und immer wieder wegen Nichtigkeiten streiten… Aber nicht jetzt. Nicht hier. Im Augenblick fühle ich mich einfach gut. Ich stehe auf und knöpfe meinen Mantel zu. Greife nach meiner Tasche und hänge sie über meine Schulter. Ich merke, wie mein Freund mich beobachtet, und ich habe den Eindruck, dass er noch irgendetwas sagen möchte… doch nicht die richtigen Worte findet. Als ich schließlich fertig bin und mich in Richtung Tür wende, bereit zum Gehen, greift er nach meiner Hand. Zieht mich zu sich heran, legt eine freie Hand auf meine Schulter. Sein Blick lässt wieder einen Schauer durch meinen Körper laufen, doch dieses Mal fühlt er sich alles andere als unangenehm an. Ich will etwas sagen, irgendetwas, auch wenn ich weder weiß was, noch warum, denn der Augenblick is doch eigentlich schön, so wie er ist… am Ende drücke ich einfach bloß schweigend seine Hand. Sehe ihm in die Augen und merke, wie die restliche Nervosität verschwindet, einen Gefühl vollkommener Geborgenheit weicht. Einige Sekunden lang stehen wir einfach bloß da, die Geräuschkulisse des Cafés erscheint fern und unwirklich, als wäre die Umgebung in der wir uns befinden nichts weiter als eine Illusion. Bedeutungslos. Im Moment fühle ich mich, als könnte ich ewig hier, stehen, obgleich ich langsam spüre wie die Müdigkeit mich erneut überkommt… Spüre, wie mein Freund mir wieder durchs Haar streicht, hebe den Kopf… und er beugt sich vor und küsst mich sanft. Es ist ein kurzer Kuss, doch er fühlt sich so gut an, und ich wünschte, er würde länger dauern, doch ich merke auch dass ich schwanke, mich an ihm festhalten muss um nicht umzukippen. Die Geräusche um mich werden langsam wieder deutlicher, doch zumindest ein paar Sekunden lang tue ich nichts weiter als meinen Freund anzuschauen, dabei leicht lächelnd. Er erwidert meinen Blick, lächelt ebenfalls. Alles fühlt sich surreal an, dabei jedoch einfach unglaublich schön. Seine Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern, als er fragt: „Okay, bist du so weit?“ Ich nicke einfach, verstärke noch einmal meinen Griff um seine Hand, als würde mir das zusätzliche Sicherheit geben. Der Weg zum Ausgang erscheint mir unnatürlich lang, und noch immer wirkt alles um mich herum surreal, aber das ist okay, denn das einzig wichtige in diesem Augenblick ist, dass Er da ist. Dass ich ihm nicht egal bin. Dass nicht ein einziger Streit in der Lage ist, alles in sich zusammenstürzen zu lassen wie ein Kartenhaus. Es ist nicht perfekt, das weiß ich, das wissen wir beide. Aber das sind Beziehungen nun einmal nicht, nicht im wahren Leben. Wir haben Probleme, mehr, als wahrscheinlich gut ist, doch ich bin mir sicher, dass wir es schaffen können, damit umzugehen. Solange ich nicht das Gefühl habe, dass es besser wäre, einfach alles hinzuwerfen. Und das habe ich nicht, das ist das Letzte, was ich will. Dessen bin ich mir ganz sicher, und diese Gewissheit steigt noch einmal als ich einen Blick zur Seite auf meinen Freund werfe, während wir nach draußen in die Kühle des angebrochenen Morgens treten. Nein, ich will das hier nicht verlieren. Nicht wegen irgendwelcher banalen Streitigkeiten, und auch wegen sonst nichts. Denn in allen anderen Momenten bin ich glücklich, wenn ich mit ihm zusammen bin. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)