Fremder Feind von Varlet ================================================================================ Kapitel 6: neuer Auftrag ------------------------ Vermouth hatte die Arme vor der Brust verschränkt und war stillschweigend 13 Etagen mit dem Aufzug nach oben gefahren. Mit dem rechten Zeigefinger tippte sie ungeduldig auf ihrem linken Oberarm herum. Niemand hätte für möglich gehalten, dass ausgerechnet dieses Gebäude der Organisation gehörte und noch weniger, das sich der Boss mehr als zehn Stunden täglich darin aufhielt. Als sich die Aufzugstür endlich öffnete, schien alles wie immer zu sein. Sie beobachtete jede mögliche Bewegung und schritt langsam aus dem Aufzug. Ein ungutes Gefühl beschlich die Schauspielerin, während sie auf die Bürotür am Ende des Ganges zuging. Aber was hätte sie sonst machen sollen? Flucht? Das war keine Option. Vor vielen Jahren hatte sie es das erste Mal versucht und vor einem Jahr ebenfalls. Doch sie würde der Organisation nie entkommen. Das hatte sie auf bittere Art und Weise gelernt. Mehrmals. Obwohl sie eines der Mitglieder der Organisation war, die die wahre Identität des Bosses kannte, ließ er sich nie in seine Karten schauen und war stets auf Diskretion bedacht. Er war ein furchteinflößender Mann - vor allem wenn er sein dunkles Anliegen mit einem zuckersüßen Lächeln rüber brachte. Sie konnte sich gut vorstellen, dass er auch so mit seinen anderen Mitarbeitern umging, die nicht zur Organisation gehörten. Aber sie hatte sich nie wirklich dafür interessiert. Warum auch? Diese Menschen waren nicht wie sie – sie hatten Familien und noch ein Leben außerhalb. Doch was viel wichtiger war, war die Tatsache, dass der Boss jeden ihrer Schachzüge vorhersehen konnte und sich entsprechend positionierte. Er hatte genügend Spione in seinen Reihen – sogar jene, die sie selbst noch nicht kannte. Und immer noch hatte sie nicht herausgefunden, wer ihren Boss vor einem Jahr über ihre Handlungen am Hafen informierte. Calvados schien tatsächlich unschuldig gewesen zu sein. Das hatte sie vor und nach seiner Bestrafung aus ihm herausgequetscht. Und auch wenn sie versuchte die Schuld jemand Anderem zuzuschieben, wusste der Boss genau was Sache war. Als Vermouth vor der großen Tür stand, seufzte sie leise auf. Es hatte nie etwas Gutes zu bedeuten, wenn sie bei ihm antanzen musste. Doch einen anderen Weg gab es nicht. Vermouth klopfte an die Tür. „Herein.“ Sie hörte die gedämpfte Stimme und öffnete die Tür. Bis auf ihren Boss war keiner im Büro. „Da bin ich, Boss“, sagte sie untergeben. „Setz dich, Vermouth.“ Sie nickte und trat an den Schreibtisch. Direkt davor befanden sich zwei Stühle und sie nahm auf einem Platz. „Wie kann ich behilflich sein?“ Der Boss schnalzte mit der Zunge. „Wie hat sich Jodie seit unserem…nennen wir es kleinem Experiment entwickelt?“, wollte er wissen. Vermouth verengte die Augen. Er kannte doch ganz genau ihren Werdegang. War das wieder ein Test? „Ganz gut“, fing Vermouth an. „Es dauerte am Anfang bis die Pillen eine Wirkung zeigten, aber als wir endlich die richtige Medikation fanden, war der Rest nur ein Kinderspiel.“ Sie schmunzelte gespielt. „Wir haben sie mehreren Tests unterzogen und das Ergebnis ist eindeutig: Ihr fehlt jegliche Erinnerung.“ „Mhm…“, gab der Boss von sich. „Mit dem Mittel hatten wir bezweckt bestimmte Ereignisse aus den Köpfen der Menschen zu löschen, allerdings ist ein kompletter Erinnerungsverlust auch nicht gerade vom Nachteil.“ Vermouth nickte verstehend. „Dennoch ist der Zustand nicht von Dauer. Wenn sie länger als 24 Stunden keine weitere Pille genommen hat, lässt die Wirkung langsam nach. Aber das haben wir in den Griff bekommen. Ich hab ihr einfach erzählt, dass sie die einzige Überlebende des Anschlags auf ihre Familie ist und eine ziemlich starke Kopfverletzung davon getragen hat.“ Die Schauspielerin kicherte. „Daher verwundert es sie nicht, dass sie einmal täglich das Schmerzmittelchen nehmen muss. Und falls sie es doch mal vergisst, ist einer unserer Leute immer in ihrer Nähe. Was mir nur Sorgen macht, ist die Dauer der Abstände. Noch sind wir bei etwas mehr als 24 Stunden. Laut unseren Ärzten könnte irgendwann ein Gewöhnungseffekt auftreten, sodass sie die Pille pro Tag häufiger nehmen muss. Aber es besteht auch die Gefahr, dass die Pille irgendwann gar nicht mehr wirkt.“ „Das habe ich einkalkuliert“, entgegnete der Boss. „Was ist mit dem FBI?“ „Hat sich seitdem nicht mehr blicken lassen. Ich nehme an, sie halten sie für tot. Und das sollen sie ruhig auch.“ Sie lächelte. „Die Feiglinge haben sich wenige Tage nach den Ereignissen am Hafen in die Staaten zurück gezogen. Ich glaube nicht, dass sie so schnell zurück nach Japan kommen.“ „Selbst wenn das nicht ihr Plan ist, sie sind uns wieder auf die Spur gekommen“, begann er ruhig. „Dieses Mal näher als beim letzten Mal. Mein Gefühl sagt mir, dass sie es nicht auf sich beruhen lassen werden. Und der FBI Agent ist immer noch am Leben.“ Vermouth nickte. „Dieser Akai macht uns mehr Schwierigkeiten als gedacht. Da wir in den Staaten nicht einfach so zuschlagen können, sind alle Anschläge in die Hose gegangen.“ Sie biss sich auf die Unterlippe. „Ich bin mir sicher, dass sie auch nach einem Jahr mitbekommen, wenn ich wieder ins Land einreisen will und dann erst Recht auf der Hut sein werden. Also kommt es nicht infrage, dass ich mich um ihn kümmer. Ich könnte zwar mit einer Verkleidung einreisen, aber…“ „Aber das führt auch nicht zum Ziel“, fügte der Boss an. „Die Sicherheitsmaßnahmen am Flughafen sind mittlerweile ziemlich verstärkt worden. Außerdem brauchen wir dich hier.“ Sie nickte ein weiteres Mal. „Dann müssen wir schauen, wie wir ihn unter die Erde bringen.“ Er lächelte verwegen. „Boss?“ „Wir wissen zwar noch nicht wann die Wirkung der Pille nachlässt und auch nicht, ob es überhaupt passiert, aber sie sollte vorher noch einen letzten Test bestehen.“ „Ein letzter Test…“, wiederholte die Schauspielerin. Sie weitete die Augen. „Sie soll…?“ „Wir schicken sie in die Staaten. Sie soll Akai erledigen.“ Er beobachtete Vermouth. „Oder passt dir das nicht?“ „Mhm? Doch, das ist kein Problem. Ich verstehe nur nicht, warum sie ausgerechnet jetzt dorthin soll.“ „Findest du nicht auch, dass es wichtig ist, herauszufinden, ob die Pille auch noch dann wirkt, wenn man einer Person aus der Vergangenheit mit enormem Einfluss auf einen selbst gegenüber steht? Sie mag hier zwar bereits auf dich getroffen sein, aber da du sie von Anfang an manipuliert hast, können wir nicht mit Sicherheit sagen wie es sich bei jemand Anderem verhält.“ Vermouth verschränkte die Arme. „Sie könnte uns wieder verraten“, warf die Schauspielerin ein. Der Boss lächelte selbstsicher. „Das ist kein Problem. Wenn sie es wieder tun will, erledigen wir sie und Akai. Und dieses Mal wird nichts schief gehen.“ Der Boss sah sie an. „Zur Sicherheit wird Bourbon sie nach New York begleiten.“ „Bourbon? Aber warum ausgerechnet er?“ „Obwohl er Japaner ist, spricht sein Aussehen eine ganz andere Sprache. Seine Anwesenheit wird keiner in den Staaten infrage stellen. Außerdem ist mir zu Ohren gekommen, dass er sich für uns nützlich machen will. Ist das ein Problem für dich, Vermouth?“ Sie schluckte. „Nein“, log sie. Ohne die Kontrolle von Jodie würde es schwer für sie werden. Jodie kannte Details, die die Geschichte vor einem Jahr in einem anderen Licht spiegelte und würde sie Bourbon die Wahrheit erzählen, gebe es nur eine Flucht: den Tod. „Und was soll mein Part in der Geschichte werden? Ich nehme an, dass ich nicht nur zum Plaudern herkommen sollte.“ „Du wirst Jodie vorbereiten“, fing er an. „Sie darf ruhig wissen wohin es geht und was ihr Auftrag ist. Sag ihr ruhig, dass er derjenige ist, der ihre Familie auf dem Gewissen hat. In zwei Tagen geht der Flur. Bourbon wurde bereits in Kenntnis gesetzt.“ Bourbon lehnte sich gegen die Mauer und verschränkte die Arme vor der Brust. Er schloss die Augen und ließ seinen Gedanken freien Lauf. Es war nun knapp zwei Jahre her, dass er und sein bester Freund Scotch die verdeckten Ermittlungen gegen die Organisation aufnahmen. Sie kannten sich bereits aus ihrer Jugendzeit und waren gemeinsam den harten Weg auf der Karriereleiter bei der Polizei gegangen. Danach wurden sie zwar in verschiedenen Abteilungen der japanischen Sicherheitspolizei tätig, aber den Kontakt brachen sie nie ab. Schließlich trafen sie sich bei ihrem verdeckten Einsatz wieder. Die Situation war beinahe komisch, würde nicht eine enorme Wichtigkeit von ihr ausgehen. Der Auftrag war eindeutig: Die Organisation musste fallen, egal wie. Die Sicherheitspolizei stellte ihnen Immunität auf ihrem harten Weg in der Organisation sicher. Egal was sie taten oder tun würden, es war zum Wohle der Menschheit. Für jede noch so kleine Information hatten sie freie Handhabe in der Wahl ihrer Mittel. Es war alles erlaubt. Sie durften selbst ihre Menschlichkeit abschalten. Als schließlich die Gerüchte um einen Verräter in den eigenen Reihen auftauchten, waren sie in der Bredouille und überlegten, wer wen verraten würde. Beide hätten sich für den jeweils anderen und den gemeinsamen Auftrag geopfert. Aber es gab noch eine dritte Möglichkeit: Ein Sündenbock musste her. Ihnen war schnell klar, wer am besten dafür geeignet war: Dai Moroboshi. Er war neu in der Organisation und machte sich durch sein Handeln und seine Auffassungsgabe schnell einen Namen. Er würde die logischste Schlussfolgerung sein und nachdem sie ein einziges Mal mit ihm zusammenarbeiten konnten, ahnte sie die Wahrheit. Aber egal wie tief sie Gruben, sie stießen an ihre Grenze. Dennoch mussten sie ihn zur Strecke bringen und ihre eigene Haut retten. Doch dann lief alles aus dem Ruder. Bourbon öffnete die Augen und nieste. „Gesundheit.“ Er sah zu Scotch. „Da scheint wohl gerade jemand an dich zu denken.“ „Mhm…kann sein“, murmelte der Andere. „Du bist spät dran.“ „Ich weiß…tschuldige.“ Scotch kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „Ich war am Bahnhof und da war ein alter Mann, der mit seiner Musik etwas Geld verdienen wollte. Da hab ich mich mitreißen lassen.“ „Du bist und bleibst ein Gutmensch“, murmelte Bourbon. „Ich hab einen neuen Auftrag.“ „Ach ja?“, wollte Scotch wissen. „Ist er interessant? Soll ich dich wieder unterstützen?“ „Das wird dieses Mal nicht so einfach werden“, begann Bourbon. „Dieses Mal kannst du nichts machen. Vielleicht auch besser so, sonst kommst du wieder auf die Idee die Amerikanerin zu retten.“ Scotch runzelte die Stirn. „Bist du deswegen immer noch sauer?“ „Das weißt du genau“, gab Bourbon von sich. „Du warst unvorsichtig und hast die Information über Vermouth und Jodie geschickt an den Boss heran gespielt. Vermouth hat noch Wochen später nach dem Informanten gesucht. Sie hätten dich ganz schnell enttarnen können.“ „Tut mir leid…“, murmelte Scotch. „Aber als ich ihren Plan mitbekam, konnte ich nicht einfach tatenlos zusehen. Ich wollte eigentlich, dass wir diesen Akai auf seiner Flucht schnappen und dem Boss ausliefern. Aber irgendwie…ist es irgendwie aus dem Ruder gelaufen. Dort wo ich ihn erwartet habe, ist er nicht aufgetaucht. Und später bekamen wir die Information, dass er wieder in den Staaten ist.“ Amuro seufzte leise auf. „Ich weiß, dein Plan war auch nicht schlecht, aber du hast zu viele Faktoren unbedacht gelassen.“ „Jaja, ich weiß…aber hör auf mit der Belehrung und sag mir lieber, was das für ein Auftrag ist.“ „Die Pille die sie Jodie immer geben und mit der sie hoffen, ihre Anhängerschaft zu vergrößern, soll nun final in den Staaten getestet werden. Sie wird dorthin geschickt um Akai zu töten.“ Scotch schluckte. „Sie soll…Wenn der Boss diesen Weg geht, dann verheißt das nichts Gutes.“ Bourbon nickte. „Es besteht dennoch die Sorge, dass das Mittel nicht mehr wirkt und sie ihn warnt. Deswegen soll ich auf sie aufpassen und im Zweifel alle Beide aus dem Weg räumen.“ „Und…wirst du das tun?“ „Befehl ist Befehl“, antwortete Bourbon. „Es hilft mir weiter aufzusteigen und in der Gunst des Bosses zu stehen.“ „Aber warum schicken sie ausgerechnet dich? Akai ist gefährlich.“ „Ich weiß“, gab Bourbon von sich. „Ich glaube nicht, dass es an meinem Können liegt. Es ist vielmehr mein Äußeres.“ Er ballte die Faust. Auch nach Jahren der Loyalität gegenüber Japan, wurde er immer noch als Ausländer betitelt und hatte es dementsprechend schwer. „Aber das ist mir jetzt egal. Sie können Vermouth nicht schicken, weil es zu auffällig wäre.“ „Mhm…das versteh ich“, entgegnete Scotch ruhig. „Ich weiß noch nicht, wie lange ich weg bin. Pass in meiner Abwesenheit auf dich auf. Ich weiß nicht, was Vermouth als nächstes im Schilde führt, aber wenn du glaubst, dass es sich gegen dich richtet…tauch ab. Du setzt dann unverzüglich unseren Notfallplan um. Hast du verstanden?“ Scotch schluckte. „J…a…“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)