Fremder Feind von Varlet ================================================================================ Kapitel 4: Gespräch mit dem Boss -------------------------------- Vermouth warf erneut einen Blick auf Jodie, anschließend auf Calvados. Er hielt sein Scharfschützengewehr in der rechten Hand und beobachtete kritisch die Umgebung. Einige Laternen erhellten den Bereich am Hafen, reichten aber nicht aus, um alles gänzlich zu überblicken. Solange die Schauspielerin nicht wusste, ob Calvados mit dem Boss oder mit anderen Mitgliedern der Organisation über ihre Pläne sprach, konnte sie sich keine Lügen leisten. Zumindest keine Großen. Hatte sie sich tatsächlich in Calvados geirrt? War er zum Verräter geworden und nur auf seinen eigenen Aufstieg erpicht? Dabei hatte sie doch im Gefühl, dass auch er sich an Dai rächen wollte. Dai war viel besser als die drei Scharfschützen der Organisation, sodass diese immer an dessen Fähigkeiten gemessen und dazu aufgefordert wurden immer härter zu trainieren. Die Freizeit der drei Anderen ging nahezu gegen Null, während Dai immer weitere Privilegien genoss. Außerdem hatte sie Calvados ein Date mit ihr versprochen. „Selbstverständlich“, begann die Schauspielerin ruhig, als wäre ein Gespräch mit dem Boss das leichteste auf der Welt. „Nachdem Dai Mitglied der Organisation wurde, hegte unsere kleine Jodie starke Zweifel an seiner Aufrichtigkeit.“ „In wie fern?“, unterbrach er sie. „Dai war für den Anfang viel zu gut in allem, was er tat. Wir haben seinen Lebenslauf mehrfach geprüft und uns Auskünfte der entsprechenden Stellen besorgt. Es passte zwar alles und war auch erklärbar, aber manche Gefühle lassen sich nicht abschalten. Daraufhin haben wir Dai während mehrerer Aufträge getestet. Wir wollten sehen, ob er sie tatsächlich alleine hinbekommt, oder ob jemand im Hintergrund die Strippen zieht. Selbst als die Polizei einschritt, zeigte er keine Gefühlsregung. Daher schlossen wir aus, dass es zwischen ihm und der Polizei oder zum Büro für Sicherheit der nationalen Polizeibehörde eine Verbindung gab.“ Die japanische Sicherheitsbehörde setzte sich aus zwei Behörden zusammen: das Büro für Sicherheit, eine Abteilung innerhalb der nationalen Polizeibehörde und das Büro für öffentliche Sicherheit des Polizeihauptquartiers von Tokyo. Die Wahrscheinlichkeit das beide Behörden von der Existenz der Organisation wussten, war groß. Die Polizei hatten sie einfach infiltrieren können, aber die Sicherheitsbehörden legten äußerst viel Wert auf Diskretion – sogar innerhalb ihrer eigenen Abteilungen. Verdeckte Ermittler auf beiden Seiten konnten eben nicht immer ausgeschlossen werden. „Natürlich habe ich ihr von der Möglichkeit, dass Dai zum FBI gehört nicht erzählt und meine eigenen Prüfungen an seinem Lebenslauf durchgeführt.“ Vermouth seufzte gespielt theatralisch. „Ich hätte nie für möglich gehalten, dass sie es tatsächlich schaffen würden uns einen verdeckten Ermittler unterzujubeln. Ich muss mich entschuldigen, Boss, ich habe Jodie einst in die Organisation gebracht und geschworen, dass das FBI sie nicht findet. Allerdings ist jetzt der Tag gekommen, an dem das unausweichliche passiert ist. Dai Moroboshi ist ein FBI Agent und hat ein paar Kollegen mitgebracht.“ Vermouth sah ein weiteres Mal auf Jodie. „Von der ganzen Verkettung haben wir nur zufällig erfahren. Nun ja, eigentlich hat Jodie es herausgefunden und es vor uns verschwiegen. Tja…was soll ich sagen…“, murmelte sie. „Jodie fiel auf ihn herein und glaubte seinen Worten. Ich habe leider erst davon erfahren, als es fast zu spät war. Es gab ein Treffen mit Black, welches ich erfolgreich sabotiert habe. Unglücklicherweise konnten sie fliehen.“ „Du hast sie entkommen lassen, Vermouth.“ „Nein, so war das nicht, Boss ich…“ „Widersprichst du mir etwa?“ Vermouth zischte leise. „Das muss ich an dieser Stelle, Boss. Auf ihrer Flucht gelang es mir Jodie zu verletzen. Wir haben sie mit dem Wagen bis zum Hafen verfolgen können. Den Wagen haben wir erfolgreich gestoppt. Es ist nicht spurlos an Jodie vorbei gegangen. Was Dai angeht…“ Sie sah zu Calvados. „Er ist entkommen. Ich habe sofort Calvados auf die Suche geschickt, aber er konnte ihn nicht finden. Aber weit kann Dai – sofern das sein richtiger Name ist – nicht gekommen sein.“ „Das FBI hat uns jetzt im Visier“, gab der Boss von sich. „Wenn sie bereits in Japan sind, können sie dir gefolgt sein und wissen jetzt, wo unser Lagerhaus steht.“ „Das kann sein“, antwortete die Schauspielerin. „Ich werde unverzüglich damit beginnen alle Spuren zu beseitigen. Wir fangen am Lagerhaus an und werden parallel den Unglückswagen wegschaffen. Spätestens wenn die Sonne auf geht, wird hier nichts mehr auf den Unfall hinweisen.“ „Ist das alles was du tun willst?“, fragte er. „Ich…nein, natürlich nicht“, fing sie an. „Ich nehme an, dass das FBI versuchen wird Dai so schnell wie möglich außer Landes zu schaffen. Das werde ich verhindern. Er muss auch verletzt sein. Wir werden sofort alle Krankenhäuser, Hotels, Bahnhöfe, alle Herbergen, Ärzte… absuchen und ihn finden.“ „Du darfst nicht zu lassen, dass er wohlbehalten aus der Organisation verschwinden kann. Wenn das passiert, werden die Anderen Fragen stellen. Und ich hoffe, du weißt, was dann passiert.“ Sie schluckte. „Ich werde die Schuld auf mich nehmen“, murmelte sie leise. „Natürlich wirst du das, Vermouth“, zischte der Boss. Er ist sauer, ging der Schauspielerin durch den Kopf. Das kann ja noch heiter werden. Und wer durfte alles ausbaden? Sie selbst. Und das nur weil sich Jodie unbedingt verlieben musste. Sie schnalzte mit der Zunge. „Was glaubst du eigentlich, was ich den ganzen Tag mache, Vermouth?“ „Sie arbeiten“, sagte sie leise. „Und überwachen das Geschehen.“ „Ganz genau. Ich überwache euch. Glaubst du tatsächlich, dass ihr die Einzigen wart, die Dai für einen Verräter hielten?“ Er schmunzelte. „Ein junger Mann mit so viel Talent ist kein Zufall. Er wurde auf unserem Weg positioniert, sodass wir nicht anders konnten als zuzuschlagen.“ „Sie hatten…“ Vermouth schluckte. Aber warum hatte er ihr nichts davon erzählte? Vertraute er ihr nicht mehr? Oder hatte er gewusst, dass sie insgeheim eigene Interessen vertrat? „Das war mir nicht bekannt.“ „Natürlich war es dir nicht bekannt. Ich habe meine Vermutungen nur sehr gezielt eingesetzt und wollte nicht, dass zu publik wird.“ Gezielt eingesetzt?, fragte sich die Schauspielerin. Hatte ihr Boss von Anfang an einen anderen Plan verfolgt? Hatte er sie absichtlich ins offene Messer laufen lassen? Hatte sie einen Fehler gemacht, weswegen er ihr nicht mehr vertraute? „Oh“, stieß sie unbewusst aus. Der Boss lächelte. „Ich habe schon länger den Verdacht, dass wir Ungeziefer in unseren Reihen haben“, erklärte er. „Aus diesem Grund habe ich alle möglichen Verdächtigen durch unsere Mitglieder mit den gleichen Informationen versorgt. Jeder hatte erfahren, dass es einen Maulwurf gibt und dass dieser noch unbekannt ist. Verstehst du jetzt, was mein Plan war?“ Vermouth schluckte. „J…ja…Sie wollten, dass sich die Mitglieder gegenseitig misstrauen, damit einer einen Fehler macht. Außerdem wollten Sie, dass sich die Verräter gegenseitig aufhalten und eliminieren.“ „Menschen suchen sich immer einen Sündenbock oder versuchen schnell in ihren Positionen aufzusteigen. Und wenn sie einen anderen Verräter enttarnen können, nur um selbst aufzusteigen, minimiert das dennoch ihre Anzahl. Irgendwann kriegt jeder das, was er verdient hat. Es ist wirklich schade, dass Dai entkommen ist.“ „Wir…wir werden uns schleunigst auf die Suche nach ihm machen.“ „Ach Vermouth…hast du dir mal selbst zugehört? Du hast mir heute Nacht so viel versprochen. Wann willst du das alles tun?“ Sie biss sich auf die Unterlippe. „Sie haben Recht. Ich kann nur eine Sache zur gleichen Zeit machen. Aber ich kann dafür sorgen, dass ich Unterstützung bekomme. Ich bin mir sicher, dass wir dann die Arbeit schnell erledigt haben.“ Vermouth sah zu Jodie. „Und was Jodie angeht…“ „Was hast du mit ihr vor?“, wollte der Boss wissen. Sie sah ihr in die Augen. „Zuerst wollte ich ja, dass sie zusieht, wie ihr Geliebter stirbt. Aber jetzt sieht mein Plan vor, sie sofort zu erschießen.“ „Mhm…“, gab der Boss nachdenklich von sich. „Ich habe da eine bessere Idee.“ Vermouth verengte die Augen. Eine bessere Idee als der Tod? „Was genau meinen Sie?“, fragte die Schauspielerin. „Hast du mal wieder in unseren Laboren vorbeigeschaut und dich nach dem aktuellen Stand der Forschungen erkundigt?“ Sie schluckte. Konnte das sein? Sollte die Organisation ein neues Mittel entwickelt haben? Und wenn ja, wollten sie es Jodie geben? Chris erinnerte sich nur zu gut an jenen Tag. Ihr Boss hatte die Organisation vor mehreren Jahren gegründet und eigentlich ganz noble Ziele gehabt. Aber dann… Er veränderte sich und warf alles über den Haufen. Dennoch tat sie alles um ihm zu gefallen. Sie, die blonde Frau in Schwarz. Ein Engel der Dunkelheit. Sie war sein Aushängeschild, sein Liebling und mit der Zeit konnte sie tun und lassen was sie wollte. Fast alles. Auf eine Familie und Kontakt zu Freunden musste sie verzichten. Stattdessen lebte sie in der Einsamkeit. Nach Jahren fühlte sie sich nicht mehr attraktiv und entgegnete den optischen Veränderungen mit Schminke. Sie gab sich selbst das jugendliche Gesicht wieder zurück. Aber im Inneren war sie bereits verrottet. Und dann hielt sie es nicht mehr aus. Ihr Leben war bereits zerstört, aber ihre Seele sollte nicht mehr der Organisation gehören. Es gab nur eine Möglichkeit um allen ein Ende zu machen. Heimlich schlich sie sich damals in eines der Laboratorien, flirtete mit einem der Forscher und durfte sich in Ruhe – und was am wichtigsten war: alleine – im Labor umsehen. Der Wissenschaftler machte in der Zwischenzeit seine Pause und würde abstreiten, sie je gesehen zu haben. Nur das ruhige Rotieren der Zentrifugen ertönte monoton. Sharon hatte nicht viel Zeit gehabt und ging sofort zu dem Trockenschrank. Er war noch heiß, aber das war kein Problem. Sie öffnete den Schrank und blickte hinein. Mit einer Zange – die immer rechts davon lag - zog sie das kleine Becherglas heraus und stellte es auf den Tisch. „APTX-RV“, las sie auf dem Becherglas. Es war die Rohversion des jetzigen APTX4869 und das letzte, was von Atsushi Miyanos Forschungen übrig geblieben war. Sie betrachtete die vielen Pillen und nahm eine beiseite. Den restlichen Inhalt kippte sie in den Ausguss und spülte mit viel Wasser nach. Anschließend nahm sie die letzte Pille selbst ein und brach unter der Hitze ihres Körpers zusammen. Leider blieb die Wirkung von APTX-RV aus – ein todbringendes Gift, das immer noch im menschlichen Körper nachweisbar war und noch zwei mögliche Ausgänge mit sich brachte: Man starb oder man überlebte. Als Vermouth wieder zu sich kam, lag sie in einem Bett und sah in die Gesichter mehrere Ärzte. Ihr Boss stand daneben und lächelte glücklich. Vermouth konnte nicht fassen, dass sie zu den wenigen zählte, die überlebten. Aber sie wurde schon bald eines besseren belehrt. Anstatt nur zu überleben, hatte sie ihre jugendliche Schönheit zurück erlangt und musste mehrere Tests über sich ergehen lassen. Ihr Blut diente schließlich zur Erschaffung des neuen APTX-4869. Offiziell sollte diese Pille töten und im Organismus nicht nachweisbar sein. „Ich war lange nicht mehr dort“, antwortete Vermouth gefasst. „Das ist sehr schade, meine Liebe“, gab der Boss von sich. „Wir haben in den letzten Jahren ein paar Fortschritte gemacht. Sherry wurde deswegen auch versetzt und kann sich wieder den wichtigen Arbeiten widmen“, erzählte er. „Sie wollen, dass Jodie als Versuchskaninchen fungiert.“ „Vorher musst du sie aber zu einem Arzt bringen und ihre Wunden versorgen. Schwer verletzt, könnte die neue Pille nicht wirken oder sie umbringen.“ „APTX…“, fing die Schauspielerin an. „Ich bitte dich, Vermouth. Wenn wir sie töten wollen, würden wir das hier und jetzt machen. Dann könnten wir sie gleich als Präsent dem FBI schicken. Unser neues Produkt trägt den Namen Myosotis – Vergissmeinnicht. Ich weiß, der Name ist noch unausgereift, aber wichtig ist das, was die Pille bewirkt. Kannst du dir das schon denken?“ „Vergessen“, murmelte Vermouth. „Schlaues Mädchen. Wir möchten mit der Pille gezielt auf das Erinnerungsvermögen eines Menschen einwirken und bestimmte Ereignisse auslöschen.“ „Das heißt…“ Vermouth sah zu Jodie. „Ich verstehe.“ „Wenn der Test klappt, löschen wir ihre Erinnerungen und können mit ihrer Hilfe Dai anlocken. Wenn er kommt um sie zu retten, statuieren wir ein Exempel an ihm. Und wenn es nicht klappt, bringst du sie um. Hast du das verstanden?“ „Verstanden.“ „Ich zähl auf dich, Vermouth. Mach keinen weiteren Fehler.“ „Natürlich nicht. Sie können sich auf mich verlassen“, antwortete sie und beendete das Gespräch. Vermouth sah zu Jodie. „Sorry, Darling, kleine Planänderung. Ich werde dich hier und jetzt noch nicht töten.“ Jodie weitete die Augen. „Was…was habt…“ Sie hustete. „Hast du versucht uns zu belauschen? Das bringt dir aber leider gar nichts.“ Sie kniete sich zu ihr. „Ich sag dir, was wir jetzt mit dir machen werden. Der Boss will, dass deine Wunden versorgt werden. Und wenn das passiert ist, wirst du wieder schön brav für uns arbeiten.“ „Nie…niemals…“, wisperte Jodie leise. Vermouth drückte mit der Hand gegen ihren Bauch. „Ahh…“, stieß Jodie aus. „Upps“, antwortete die Schauspielerin und sah zu Calvados. „Ich halt die Augen auf, falls sich Dai doch noch in der Nähe befindet. Nimm du Jodie und bring sie in den Wagen. Ich werde sie zu einem Arzt fahren und du räumst das Chaos hier auf.“ „Verstanden“, stammelte Calvados. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)