Fremder Feind von Varlet ================================================================================ Kapitel 1: Erwachen ------------------- Shuichi öffnete die Wagentür und stieg ein. Als Jodie neben ihm Platz nahm, fuhr er mit quietschenden Reifen los. Er sah zu ihr. „Alles in Ordnung? Bist du getroffen?“ „Nur ein Streifschuss“, murmelte Jodie und schnallte sich an. „Wo fahren wir hin?“ „Weg“, antwortete der Agent, aber die Schüsse ertönten immer noch. „Verdammt…die werden nicht Ruhe geben, bis sie uns haben“, murmelte er. „Fahr an den Hafen“, gab Jodie von sich. „Sie haben dort…zwei Lagerräume, die unbewacht sind. Den Code…kennen nur höhere Mitglieder, aber ich hab ihn…mal mitbekommen. Wir können dort den Wagen wechseln und…bestimmt finden wir auch etwas, um unsere Identität zu verschleiern.“ Akai nickte. „Und sie werden nicht auf die Idee kommen, dass wir direkt in ihre Arme fahren“, sprach er. „Du musst deinem Boss Bescheid geben“, kam es von Jodie. „Er muss ebenfalls verschwinden und vorsichtig sein.“ „Das mach ich gleich“, sagte Shuichi ruhig. „Seit zehn Minuten gaben sie keine Schüsse mehr auf uns ab.“ „Vielleicht haben sie uns verloren?“ Jodie sah nach hinten. „Niemand hinter uns.“ „Wir sollten trotzdem aufmerksam bleiben. Sie könnten uns trotzdem hier vermuten.“ Akai bog auf das Hafengelände. „Wo geht’s lang?“ „Du musst erst einmal gerade aus, dann an der zweiten Lagerhalle rechts und an der dritten Halle schließlich links.“ „In Ordnung.“ Akai sah besorgt zu ihr rüber. „Hältst du durch?“ „Klar“, antwortete Jodie. Gerade als Shuichi abbiegen wollte, wurde er von einem Wagen gerammt. Er driftete nach hinten und nahm den Weg geradeaus. Es fielen weitere Schüsse. Einer traf den hinteren Reifen. Shuichi krallte seine Hände ans Lenkrad und versuchte das Auto unter seiner Kontrolle zu halten. Als der zweite Schuss in den Reifen abgefeuert wurde, wurde es immer schwerer für den Agenten. Irgendwann verlor er doch die Kontrolle. Wie in einem schlimmen Traum drehte sich der Wagen auf dem Asphalt und landete letzten Endes auf dem Dach. Der Airbag hatte die Beiden auf ihren Sitz gepresst und fiel Sekunden später in sich zusammen. Allein durch den Sicherheitsgurt hingen sie kopfüber auf ihren Plätzen. Shuichi stöhnte leise auf. „Jodie…?“, fragte er und öffnete seine Augen. Sie reagierte nicht. Akai sah zu Jodie. Ihr Gesicht war kreidebleich. Ein Rinnsal von Blut lief aus ihrem Mund, ihre Augen waren geweitet – schmerzerfüllt. Sofort achtete er auf ihre Atmung. Ihr Brustkorb bewegte sich nicht. Die Angst erfasste ihn. „Jodie“, flüsterte er. „Tu mir…das nicht an…“, flehte er. Unruhig wälzte sich Shuichi in dem Bett des Krankenhauses hin und her. „Mhm…“, gab er murmelnd von sich. „Jo…die…“, wisperte er leise und öffnete seine Augen. Er atmete schnell und sah nach oben an die Decke. Wo war er? Was war geschehen? Wo war Jodie? Langsam vernahm er das Piepen der Maschine, blickte dorthin und sah den Linien seines Herzens zu. Ein EKG. Er war im Krankenhaus! Aber wer hatte ihn hingebracht? Freund oder Feind? Shuichi sah zur Infusion. Kochsalz oder was anderes? Schmerzmittel? Schlafmittel? Dennoch hatte das monotone Tropfen der Flüssigkeit in dem Beutel eine beruhigende Wirkung auf ihn, sodass er wieder in den Dämmerzustand driftete. Als der erste Schuss fiel, blieb Akai stehen. Der Schuss hallte in seinem Kopf nach und seine Augen waren geweitet. Er machte sich sofort auf den Weg zurück. Als er dem Unfallort immer näher kam, wurde er langsamer. Auch wenn seine Sorge um Jodie groß war, musste er sich an den Feind heranpirschen und nicht überstürzt handeln. Akai zog seine Waffe heraus. Der Lauf war durch den Unfall etwas gebogen, doch es stellte kein Problem dar, wenn er den neuen Flugwinkel der Kugel miteinkalkulierte. Dann würde seine Waffe ihren Dienst nicht versagen. Für Shuichi verging eine gefühlte Ewigkeit, ehe er am Unfallort wieder ankam. Er drückte sich gegen die Wand des Lagerhauses und sah den beiden Frauen zu. Der erste Schuss hatte Jodie verfehlt, dennoch verlor sie beinahe das Gleichgewicht und taumelte. Shuichi machte einen Schritt nach vorne, stoppte dann aber und hielt nach Calvados Ausschau. Dann sah er den roten Punkt auf Jodies Brust. Calvados. Akai biss sich auf die Unterlippe. Gerade als er seine letzten Reserven mobilisierte, fiel der zweite Schuss und Jodie ging zu Boden. Shuichi sah dem Szenario geschockt zu. Es lief wie in Zeitlupe ab und er hatte das Gefühl, sich nicht bewegen zu können. Akai atmete schwer. Im nächsten Moment spürte er eine Hand auf seinem Mund und jemand schlug ihm in den Nacken. Er fühlte die Benommenheit, hielt sich aber noch auf den Beinen. Doch je mehr Zeit verstrich, desto schwerer wurde es für ihn und schließlich hatte er keine andere Wahl als nachzugeben. Shuichi spürte, wie er vom Ort des Geschehens weggeschleift wurde. „N…nein…“, murmelte er. Er wurde auf die Rückbank eines fremden Wagens gelegt und realisierte erst dann, wer ihn soeben aus der misslichen Lage befreit hatte. Ihn - nicht sie. Sie kümmerten sich nicht um Jodie. Sofort ergriff ihn die Angst, doch sein Körper hatte nicht mehr die Kraft um darauf zu reagieren. Er bewegte sich nicht. „Jo…jo…die…?“ James Black sah betroffen drein. Er schüttelte den Kopf. „Wir kamen zeitgleich mit Ihnen am Unfallort an und haben nur gesehen, wie Miss Sta…Saintemillion niedergeschossen wurde“, fing James an. „Ein Eingreifen in dieser Lage wäre für uns kein Vorteil“, fügte Camel hinzu. „Wir…wir müssen der Wahrheit ins Auge sehen.“ Black sah auf den Boden. „Wir können leider nichts mehr für sie tun. Ich glaube nicht, dass sie…dass sie…“ Seine Stimme versagte, aber Akai wusste genau, wie der Satz enden sollte: …dass sie den Schusswechsel überlebt hat… Shuichi schloss die Augen und schüttelte den Kopf. „Jo…die…“, sagte er noch ein letztes Mal, ehe er bewusstlos wurde. Akai schreckte hoch. Er schwitzte, atmete schnell und unruhig. Sein Gesicht war kreidebleich. Albtraum. Es musste ein Albtraum gewesen sein. Das war die einzige Erklärung! Shuichi wischte sich den Schweiß weg und sah sich im Raum um: Vier weiße Wände, ein Nachttisch, zwei Stühle in der Ecke und ein Fenster. Mehr gab der Raum nicht her. Er war nicht in seinem Schlafzimmer und er war auch nicht bei Jodie. Aber wo…? Krankenhaus! Er erinnerte sich an sein letztes Aufwachen und sah nach rechts. Die Maschine und die Infusion waren weg. Wie lange hatte er geschlafen? Stunden? Tage? Oder gar Wochen? War jemand Zimmer? Und wenn ja, wer? Die Tür ging auf und Agent Black kam hinein. „Guten Morgen“, sagte er und schob einen Stuhl an das Krankenbett. Er setzte sich. „Wie geht es Ihnen?“ Shuichi krallte seine Hände in die Bettdecke. Es war kein Albtraum. Sein Körper bebte. Sie hatten ihn gerettet und Jodie der Organisation zum Fraße vorgeworfen. Es war ihre Schuld. Nein. Es war deine Schuld. Akai sah nach unten. Du hättest sie mitnehmen sollen. Tragen, wenn sie nicht selbst laufen konnte. Du hättest sie dort nie allein lassen dürfen. Er machte sich Vorwürfe. Du hättest schneller zurück kommen müssen. Du hättest eingreifen müssen, das Feuer eröffnen…handeln… Er schämte sich, weil er entkommen war. Er schämte sich, weil sie sie zurück gelassen hatten. Er schämte sich, weil er sein Versprechen gebrochen hatte. „Warum?“, fragte Akai leise. „Warum haben Sie mich…?“ Agent Black sah betroffen drein. „Agent Akai“, begann er ruhig. „Wir haben getan, was wir konnten. Die Situation ist außer Kontrolle geraten. Hätten wir versucht Miss Saintemillion zu retten…wären wir alle jetzt nicht hier. Ich weiß, dies ist kein Trost für Sie, aber…“ Akai verengte die Augen. „Stattdessen haben Sie mich gerettet“, murmelte er. „Woher wussten Sie eigentlich wo wir sind? Und woher weiß ich, dass Sie der echte Agent Black sind?“ Black atmete tief durch. „Sie werden mir schon vertrauen müssen, Junge“, fing er an. „Falls nicht, haben wir ein großes Problem. Sie können selbstverständlich an meinem Gesicht herumzerren und prüfen, ob ich eine Maske trage.“ Black räusperte sich. „Aber ich denke, dass das nicht nötig sind wird. Ich werde Ihnen jetzt alle Fragen beantworten. Wie Sie ja wissen, wurde Agent Camel nicht nur als Ihr Kontaktmann hierher geschickt, sondern auch als Beobachter. Er sollte immer ein Auge auf Sie und Miss Saintemillion haben. Nun ja, auch an jenem verhängnisvollen Tag hat er Sie zwei nicht aus den Augen gelassen. Er ist Ihnen gefolgt und hatte mich in das Restaurant kommen sehen. Agent Camel wusste natürlich, dass das Treffen verschoben wurde, weswegen er mich geistesgegenwärtig kontaktierte. Unverzüglich wussten wir, dass Sie in eine Falle gelockt wurden. Ich machte mich sofort auf den Weg, aber in der Zwischenzeit flohen Sie mit Miss Saintemillion. Agent Camel fuhr Ihnen und der Organisation nach. Nachdem er mich einsammelte, sind wir jedes erdenkliche Szenario durchgegangen und schmiedeten Pläne, wie wir Sie aus der Situation herausholen würden. Selbstverständlich achteten wir darauf, nicht bemerkt zu werden. Als wir allerdings am Hafen ankamen, war es fast zu spät. Sie kamen auf uns zugelaufen, aber als der erste Schuss fiel, kehrten Sie wieder um. Um Schlimmeres zu verhindern, liefen wir Ihnen nach.“ Shuichi schluckte. „Sie waren nicht schnell genug“, schlussfolgerte er. „Das hätte in dieser Situation niemand sein können. Sie waren verletzt und wir mussten Sie in Sicherheit bringen. Es tut mir wirklich leid, aber hätten wir zugelassen, dass Sie zum Tatort laufen, wäre es auch Ihr Ende gewesen. Der Scharfschütze hatte sich auf dem Dach verschanzt und nur auf eine solche Gelegenheit gewartet.“ Akai schluckte. Seine Hände zitterten. „Also haben Sie mich niedergeschlagen…und in Ihren Wagen gelegt. Sind Sie…zurück gefahren?“ „Wir haben Sie zunächst ins Krankenhaus gebracht und sowohl die Ärzte als auch die Schwestern um Stillschweigen gebeten. Als wir Sie in Sicherheit wussten, fuhren wir zurück an den Hafen. Die Organisation hat alle Spuren des Unfalls beseitigt. Ihr Wagen ist weg, es gibt kein Blut auf dem Boden…und wir haben keine Möglichkeit den Unfall…nein, den Anschlag zu beweisen. Nichts weist auf das Geschehen von vor einigen Tagen mehr hin. Da es relativ spät war, gibt es auch keine Zeugen.“ „Ich verstehe“, wisperte der Agent. Shuichi wusste, dass die Organisation Jodie nicht ein weiteres Mal am Leben lassen würde. „Moment!“ Er wurde hellhörig. „Sagten Sie, vor einigen Tagen?“ Agent Black nickte. „Seit dem Anschlag sind drei Tage vergangen“, erklärte er. „Ihre Genesung hatte höchste Priorität. Sie hatten wirklich viel Glück gehabt, ein paar Schürfwunden im Gesicht und an den Armen, sowie eine Platzwunde am Hinterkopf und eine leichte Gehirnerschütterung. Es war ein Wunder, dass Sie nach dem Unfall überhaupt so schnell laufen konnten. Allerdings ist unter dem Einfluss von Adrenalin alles möglich. Sie haben im Wagen sehr schnell das Bewusstsein verloren und mussten sich erst erholen.“ „Was…was haben Sie mir gegeben, damit ich so lange schlafe?“ James seufzte leise auf. „Agent Akai, Sie waren sehr unruhig und haben immer wieder nach Miss Saintemillion gefragt. Damit Sie überhaupt behandelt werden konnten, wurde Ihnen ein leichtes Schlafmittel gegeben. Wir hatten vor allem nachts Sorge, dass Sie sich auf den Weg zum Hafen machen könnten und ließen Ihnen das Schlafmittel durch die Infusion zu kommen. Sie waren erschöpft und Ihr Körper brauchte die Ruhe um sich zu erholen. Ich kann verstehen, dass Sie wütend auf uns sind, aber wenn Sie darüber nachdenken, kommen Sie zu dem Schluss, dass es keine andere Möglichkeit gab. Sie hätten genau so gehandelt, wenn Sie nicht persönlich involviert gewesen wären. Denken Sie darüber nach“, bat er. „Verstehe“, sagte Akai. „Wann kann ich aufstehen?“, wollte er wissen. „Wenn Sie sich fit fühlen, können Sie jetzt erste Schritte machen. Wahrscheinlich wird Ihnen noch etwas schwindlig werden. Sie sollten sich aber nicht überanstrengen.“ „Geht schon.“ „Agent Akai“, fing Black an. Akai schüttelte den Kopf. „Ich weiß, was ich mir zutrauen kann und was nicht“, sagte er und schwang seine Beine über das Bett. „Wann werde ich entlassen?“, wollte er wissen. „Mindestens noch eine Woche. Der Arzt hält es für ratsam, Ihren Zustand weiterhin zu beobachten.“ „Eine Woche?“, wiederholte Akai. „Das geht nicht.“ „Darüber möchte ich keine Diskussion hören, Agent Akai.“ Shuichi sah seinen Vorgesetzten an. „Ich möchte zum Hafen.“ „Agent Akai“, sagte Black erneut. „Bitte, ich muss mir den Ort ansehen. Wenn Sie wollen, dass ich meinen Frieden finde, müssen Sie mir diesen Wunsch gewähren. Danach kehre ich ins Krankenhaus zurück.“ James seufzte. „In Ordnung. Ich rufe Agent Camel an. Er wird Sie fahren.“ Shuichi nickte und blickte zum Fenster. Es tut mir leid, Jodie. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)