Move Together von -Red-Karasu ================================================================================ Kapitel 1: Entrée ----------------- Move Together   01. Entrée   Entrée: frz. ‚Eintritt‘ oder ‚Auftritt‘; erster Teil eines Grand Pas, dient dazu, dessen einzelne Tänze vorzustellen; beschreibt außerdem das erste Auftreten der Hauptcharaktere eines Balletts auf der Bühne.   -   „Sehr geehrte Fluggäste, aufgrund eines unvorhergesehenen Wetterumschwungs mit heftigen Windböen und starkem Schneefall ist der Flugbetrieb vorübergehend eingestellt. Bitte wenden Sie sich an den Informationsschalter Ihrer Airline, um Auskünfte zu Ihren nächsten Weiterreisemöglichkeiten oder zur Erstattung Ihres Tickets zu erhalten.“   Mit einem dumpfen Geräusch lande Karyus Rucksack auf dem grauen Flughafenboden.   „Ugh.“   Entnervt schnaubend ließ Karyu selbst sich auf eine der unbequemen Bänke fallen und sackte in sich zusammen. Wenn er diese Ansage noch ein paar Mal hören musste, konnte er für nichts mehr garantieren. Vielleicht würde er einfach anfangen zu schreien oder mit den Füßen stampfen und sich wie ein kleines Kind aus Protest auf den Boden werfen. Irgendwas in der Art. Anfangs hatte er noch mitgezählt, aber mittlerweile hatte er den Überblick darüber verloren, wie oft diese beiden Sätze in den letzten Stunden bereits jeden Winkel des Flughafens beschallt hatten. So hatte er sich seine Heimreise nun wirklich nicht vorgestellt. Er ließ sich auf der Sitzfläche der Bank ein Stück nach unten rutschen, hielt inne, als sein Rücken ein hässliches Knacken von sich gab und streckte resigniert die Beine aus.   Wäre alles nach Plan gelaufen, dann wäre er schon in ein paar wenigen Stunden wieder zu Hause und hätte sich nach zwei Wochen im Hotel endlich einmal wieder in seinem eigenen Bett ausstrecken können. Aber nein, das wäre viel zu einfach. Da machte es doch viel mehr Spaß, wegen eines dummen Wintereinbruchs – der im Dezember im Nordosten der USA natürlich absolut nicht vorauszusehen war – jetzt die Nacht hier verbringen zu dürfen, wo erholsamer Schlaf so wahrscheinlich war, wie wirklich gutes Essen. Er hatte zwar Glück gehabt und sein Ticket auf einen Flug morgen früh umbuchen lassen können, aber ob die Startbahnen dann schon wieder vom Schnee befreit sein würden stand vermutlich auch noch in den Sternen. Zumindest schien das Wetter momentan nicht so, als ob es vorhätte sich in nächster Zeit auch nur ansatzweise zu bessern. Karyu seufzte und zog sein Handy aus der Jackentasche hervor, nur um festzustellen, dass seit dem letzten Mal, das er nachgesehen hatte, keine zwanzig Minuten vergangen waren. Er würde hier noch elendig eingehen vor Langeweile und Übermüdung. Das einzig Gute war, das in dem Gate, von dem er hoffentlich in ein paar Stunden fliegen würde, quasi tote Hose herrschte. Die meisten verprellten Passagiere waren wohl vernünftig genug gewesen, sich ein Zimmer in einem der umliegenden Hotels zu mieten. Aber Vernunft war noch nie seine Stärke gewesen und als sein Flug vor zwei Stunden nach mehreren Planänderungen endgültig gestrichen worden war, war er aus irgendeinem Grund der Meinung gewesen, dass er ja auch hier warten und nachts ein bisschen schlafen konnte. Im Nachhinein hätte er sich für diese brillante Idee ohrfeigen können, aber ändern konnte er an seiner Entscheidung nun auch nichts mehr. Und immerhin hatte er seinen Koffer trotz allem schon einchecken können und musste sich jetzt nicht auch noch damit herumschlagen. Ob das gute Stück letztlich auch da ankommen würde, wo es hingehörte, stand zwar noch einmal auf einem anderen Blatt Papier, aber damit würde er sich beschäftigten, wenn es so weit war. Mit einem weiteren abgrundtiefen Seufzen streckte er sich kurz, raffte sich dann so weit auf, dass er seinen Rucksack, der natürlich umgekippt war, zu sich heranziehen und an die Bank lehnen konnte. Dann griff er wieder nach der Tüte, die er bei seiner Rückkehr hierher achtlos neben sich abgestellt hatte. Er hatte das braune Papier kaum auseinandergezogen, als ihm auch schon der Geruch von Fastfood entgegenschlug, seinen Magen lautstark knurren ließ. Immerhin hungern musste er vorerst nicht, auch wenn er so langsam wirklich keine Burger mehr sehen konnte. Er hätte nie gedacht, dass er sich irgendwann in seinem Leben mal nach schnöden Onigiri sehnen würde, und sei es nur die 100-Yen-Variante aus dem nächsten Konbini. Aber da würde er sich wohl noch etwas länger gedulden müssen, wie es aussah.   Mit Mühe unterdrückte er ein herzhaftes Gähnen, machte sich lieber daran seinen Cheeseburger auszupacken und wollte gerade den ersten Bissen davon nehmen, als die relative Stille ‚seines‘ Gates durch eine Gruppe junger Leute unterbrochen wurde, die es sich gerade, ebenfalls mit diversem Essen beladen, ein paar Sitzgruppen weiter bequem machte. Soweit er mit einem hoffentlich halbwegs unauffälligen Blick sagen konnte, waren es drei junge Frauen und zwei Männer, allerdings waren sie allesamt in so weite und warme Kleidung gehüllt, sodass das tatsächlich nur eine grobe Vermutung war. Angesichts des Schneesturms, der draußen noch immer tobte, war das andererseits wenig verwunderlich. Eine angenehmere Überraschung war dann allerdings, dass sie sich auf Japanisch unterhielten und für einen Moment überlegte Karyu, ob sie wohl wie so viele andere durch einen Zwischenstopp hier gestrandet waren oder sie den Heimweg wie er direkt von Chicago aus hatten antreten wollen.   Einer der Neuankömmlinge hatte anscheinend bemerkt, dass er sie beobachtete, schenkte ihm ein kurzes Lächeln, bevor er sich wieder an seine Begleiter wandte. Auch gut. Wenn er ehrlich war, hatte er im Moment nicht wirklich das Bedürfnis sich zu unterhalten oder neue Bekanntschaften zu schließen. Stattdessen sah er wieder auf sein Essen hinunter, nahm nun endlich den einen herzhaften Bissen, um seinen Magen ein wenig zu besänftigen, während er überlegte, ob er seinen Mitbewohner vielleicht dazu würde überreden können, seine Rückkehr nach Japan in einem Ramen-Restaurant zu feiern.   ~*~   Irgendwann in der Nacht hatte er den Versuch noch einzuschlafen endgültig aufgegeben, lag stattdessen mit seinem Rucksack als Kopfkissen auf der Bank, auf der er früher am Abend noch gesessen hatte und starrte nach oben an die Decke, während die beliebige Musik irgendeiner Radiostation in seinen Kopfhörern dudelte. Selbst wenn er allein gewesen wäre oder die kleine Gruppe, mit der er sich das Gate teilte, nicht so viel geredet hätte, hätte er keine Ruhe gefunden. Er hasste diese Warterei so unendlich. Jede Stunde schien sich wie Kaugummi hinzuziehen und machte die Unruhe in seinem Inneren immer schwerer erträglich. Karyu griff nach seinem Handy und ließ den Bildschirm aufleuchten, nur um feststellen zu müssen, dass die Zeit mit jedem Blick, den er darauf warf, nur noch langsamer zu vergehen schien. Und jetzt war es gerade einmal kurz nach halb drei Uhr nachts. Sein Flug würde frühestens gegen zehn Uhr starten und bisher war noch nicht abzusehen, ob das tatsächlich der Fall sein würde. Er hob den Kopf etwas, um durch die Panorama-Fenster nach draußen zu sehen, aber das Bild, das sich ihm bot, war unverändert: Schneetreiben, das kein Ende zu nehmen schien.   Schwerfällig richtete er sich noch etwas weiter auf, um sich hinzusetzten, spürte seinen Rücken sofort vehement protestieren. Er sah sich um und stellte zu seiner Überraschung fest, dass anscheinend ein bisschen Ruhe eingekehrt war. Nur einer seiner Mit-Wartenden war noch hier, saß zwei Reihen vor ihm im Schneidersitz über ein Laptop oder Tablet gebeugt da. Zumindest vermutete er das. Sehen konnte er nur den Rücken eines dunklen Hoodies und eine Silhouette, die von bläulichem Licht eingerahmt wurde. Und auch wenn das an und für sich keine furchtbar spannende Beobachtung war, die er hier machte, war es immer noch besser als zum gefühlt zehnten Mal die Lampen zu zählen, die das Gate normalerweise unnatürlich hell erleuchten würden, jetzt aber glücklicherweise deutlich gedämpft waren. Außerdem schien der andere wiederum sehr von dem gefesselt zu sein, was er da ansah. Karyu konnte ihn immer wieder einmal kurz zucken oder in Ansätzen gestikulieren sehen, als würde er dem Geschehen auf seinem Bildschirm sehr gespannt folgen. Dann gab es offensichtlich zumindest eine Person hier, die nicht vor Langeweile verging. Auch schön.   Mit den Füßen fischte er unter der Bank für einen Moment nach seinen Schuhen, schlüpfte in die Sneaker, bevor er schließlich aufstand, sich in der gleichen Bewegung kurz streckte. Wenn er sowieso wach war, konnte er sich genauso gut ein bisschen die Beine vertreten, groß genug dazu war dieser Flughafen schließlich. Er setzte sich langsam in Bewegung, ging zwischen den Reihen aus Sitzgelegenheiten hindurch, konnte sich aber nicht davon abhalten zumindest zu versuchen aus den Augenwinkeln einen Blick auf das Laptop zu werfen. Vielleicht war es einfach nur pure Neugier darauf, was für eine Art von Unterhaltung jemanden zu so später Stunde noch so vereinnahmen konnte, gepaart mit dem Wunsch hier irgendetwas Interessantes zu finden. Aber egal, was er sich vielleicht ausgemalt hatte, Karyu hatte definitiv nicht damit gerechnet auf dem Bildschirm nichts, als eine junge Frau zu erspähen, die sich vor einem kargen Hintergrund, der so etwas wie eine Turnhalle vermuten ließ, bewegte. Vermutlich zu Musik, die er nicht hören konnte, weil ein Kabel in der Kopfhörerbuchse des Laptops steckte. Er hatte zwar vorhin mitbekommen, dass sich die Gruppe über Trainingszeiten und ähnliches unterhalten hatte, aber an Tanzen hatte er dabei nicht wirklich gedacht. Und auch jetzt konnte er damit natürlich vollkommen falsch liegen.   Woran er aber ebenfalls nicht gedacht hatte, war, dass der Besitzer des Laptops auch noch anwesend war und er selbst vielleicht ein wenig zu lang in seinen Schritten innegehalten hatte. Jetzt sah er sich mit einem Paar brauner Augen konfrontiert, das ihn unter einem Basecap hervor fragend anschaute, während eine Hand des Fremden automatisch zur Leertaste seines Notebooks gewandert war, um das Video zu pausieren. Doch bevor sein Gegenüber etwas sagen oder seiner offensichtlich vorhandenen Verwirrung Ausdruck verleihen konnte, schüttelte Karyu nur den Kopf und beeilte sich, seinen Weg so schnell fortzusetzen, wie es ihm möglich war, ohne dabei zu riskieren über seine eigenen Füße zu stolpern. Er war einfach souverän, wie eh und je. Manche Dinge änderten sich eben nie. Dabei hatte der andere nicht einmal einen verärgerten Eindruck gemacht, schien einfach nur überrascht zu sein, dass ihm plötzlich jemand über die Schulter sah. Verdammt, er konnte nur hoffen, dass die gesamte Gruppe morgen am anderen Ende des Fliegers sitzen würde. Oder noch besser gleich in einem ganz anderen Flugzeug.   Unwillig kniff Karyu die Augen zusammen, als er auf einen der Hauptgänge des O'hare-Flughafens einbog und für den Moment von der hier wesentlich helleren Beleuchtung geblendet wurde. Er blieb stehen, sah sich kurz um und dachte tatsächlich erst jetzt wirklich darüber nach, was er eigentlich machen wollte. Vor allem, weil er seinen Rucksack natürlich im Gate hatte stehen lassen. Er wollte sich gerade nach links wenden, um zu sehen, ob der Coffeeshop, den er früher am Abend entdeckt hatte, wider Erwarten noch geöffnet hatte und das bisschen Kleingeld in seiner Hosentasche vielleicht noch für einen Kaffee reichen könnte, als aus der entgegengesetzten Richtung gänzlich unerwartet Musik an sein Ohr drang. Er hielt automatisch inne, kämpfte einen Moment mit sich selbst, bevor er seiner Neugier nachgab und in die Richtung weiterging aus der die nächtliche Beschallung zu kommen schien, nicht zuletzt, weil der Klang so blechern war, dass in ihm der Verdacht aufkam, dass hier irgendjemand ein Handy als Lautsprecher missbrauchte. Tatsächlich war er sich sogar sicher, dass er das Lied kannte – irgendein amerikanischer Popsong, der zwar so gar nicht seinem eigenen Musikgeschmack entsprach, dem man sich aber einfach nicht entziehen konnte, egal, wie sehr man sich das wünschte oder wo auf der Welt man gerade war. Er würde sich nicht mal wundern, wäre dies eine der Grausamkeiten, von denen man beim Überqueren der Kreuzung in Shibuya beschallt wurde. Bevor seine übermüdeten Gedanken aber noch weiter abschweifen konnten, war er dem Ursprung des plötzlich herrschenden Geräuschpegels nahe genug gekommen, um ihn auch tatsächlich ausmachen zu können. Und wenn er ehrlich war, wunderte er sich nicht einmal wirklich: Die vier verschwundenen Mitglieder der Gruppe, mit der er wartete, hatten sich auf dem Gang mehr oder minder häuslich eingerichtet und versorgten anscheinend vollkommen unbesorgt die Allgemeinheit mit Musik. Drei von ihnen alberten auf den bewegten Fußwegen herum – oder nein, beim zweiten Hinsehen erkannte er, dass sie tatsächlich versuchten zu tanzen, während das ‚Förderband‘ in Bewegung war, während Nummer Vier das ganze mit dem Handy filmte und seine Freunde lautstark anfeuerte. Und offensichtlich war er nicht der einzige, dessen Aufmerksamkeit sie damit auf sich gezogen hatten: Auch einige andere Passagiere, die wohl genau wie er dazu verdammt waren, die Nacht hier zu verbringen, sahen sich das Spektakel mehr oder minder verhohlen an. Immerhin schien die Truppe Spaß zu haben und das war ja auch schon etwas. Vermutlich waren sie damit sogar die einzigen Menschen hier, denen das heute Nacht gelang und wenn sie damit allen anderen noch dazu etwas Ablenkung boten, konnte das so falsch nicht sein.   Karyu ließ seinen Blick noch einige Sekunden länger auf dem Geschehen ruhen, konnte sich ein schiefes Grinsen nicht verkneifen, als eine der Tänzerinnen sich an einer etwas zu schwungvollen Drehung versuchte, aber in der Bewegung das Gleichgewicht verlor und sich an ihren Freunden festhalten musste, um nicht zu fallen. Dem allgemeinen Enthusiasmus der Truppe schien das allerdings keinen Abbruch zu tun, wenn man nach dem weiter anhaltenden Lachen der Vier urteilen konnte. Schließlich gab er sich einen Ruck, ging langsam weiter und ließ die Musik hinter sich, auch wenn er sich nicht dazu bringen konnte die verhältnismäßige Stille, nach der er sich vorhin noch gesehnt hatte, zu genießen. Von Stille hatte er im Moment ehrlich gesagt genug, zumal sie ihn zwar immer noch müder zu machen schien, er aber trotzdem nicht schlafen können würde. Vielleicht gab es hier ja auch eine Apotheke, in der er sich morgen früh noch Schlaftabletten besorgen konnte, die ihn für den Flug ausknockten. Dann würde er von dieser weiteren Tortur immerhin nichts mitbekommen und eventuell sogar halbwegs ausgeruht in Tokyo ankommen.   Während er so seinen Gedanken nachhing, war er vor dem Coffeeshop angekommen, nur um resigniert feststellen zu müssen, das anscheinend sogar dessen Angestellte irgendwann Feierabend hatten und den Laden dann abschlossen. Einen Versuch war es wert gewesen. Dann konnte er zumindest noch einen Abstecher zur Toilette machen und das Gesicht mit kaltem Wasser waschen. Vielleicht würde ihm das für eine kurze Zeit helfen, halbwegs zurechnungsfähig zu bleiben.   ~*~   Irgendwann hatte er sich einmal mehr auf der unbequemen Bank im Terminal einquartiert, auf der er schon den restlichen Abend verbracht hatte. Einen weiteren Versuch, noch zu etwas Schlaf zu kommen, hatte er allerdings nicht gestartet, dazu hatte sich zu viel nervöse Energie in seinem Körper angestaut. Er schaffte es gerade kaum ruhig dazuliegen, ohne permanent mit einem Bein zu wippen. Die Zeit auf dem Display seines Handys schien sich überhaupt nicht mehr zu verändern und auch der Blick nach draußen zeigte noch immer nicht anderes als tiefschwarze Nacht und Schnee. Und er konnte noch nicht mal zur Ablenkung eine rauchen gehen, weil die Außenbereiche aufgrund des Wetters gesperrt waren.   Möglichst unauffällig warf Karyu einen Blick zur Seite, wo noch immer das Grüppchen kampierte, mit dem er sich das Gate teilte und mittlerweile war sogar dort tatsächlich Ruhe eingekehrt. Anders als er hatten seine Mitreisenden anscheinend kein Problem damit, es sich einfach direkt auf dem Boden bequem zu machen, um sich wenigstens ausstrecken zu können. Vielleicht sollte er das doch auch mal versuchen, aber er wurde die Befürchtung nicht los, dass das auch nicht viel gemütlicher sein würde, als hier auf der Bank. Seufzend streckte er die Beine aus, legte seine Waden auf dem unangenehm kalten Metall der Armlehne ab, nur um sie gleich wieder anzuziehen. Ihm war kalt, er war müde und er wünschte sich gerade einmal mehr in dieser unfassbar langen Nacht nichts sehnlicher, als eine heiße Dusche und ein bequemes Bett. Mit einem Ruck setzte er sich auf, wischte sich mit beiden Händen übers Gesicht und atmete tief durch, um sich selbst zumindest ein Stück weit zu beruhigen. Immerhin war es schon kurz nach vier Uhr, was hieß, dass es nicht mehr allzu lang dauern konnte, bis der Flughafen seinen Tagesbetrieb aufnahm und dann würde er hoffentlich gute Neuigkeiten bekommen. Vielleicht konnte er irgendeinem armen Airline-Angestellten ja sogar einen Lounge-Aufenthalt aus dem Kreuz leiern und so zumindest seinen Traum von einer ausführlichen Dusche erfüllen. Kein besonders hochtrabender Plan, aber besser als gar nichts.   Er sah sich noch einmal kurz um, stand dann möglichst leise auf, zog seine Jacke, die ihm bisher als Deckenersatz gedient hatte, wieder an und zog das weiche Material eng um seine Schultern. Wie schon eher schritt er langsam zwischen den Reihen von Bänken hindurch, verließ aber diesmal nicht das Gate, sondern ging nur um sie herum, um an die Fensterfront treten zu können. Draußen herrschte noch immer Dunkelheit. Vermutlich würde der Sonnenaufgang auch noch einige Zeit auf sich warten lassen, aber zumindest ein bisschen Leben schien hier und da schon wieder einzukehren. Hin und wieder konnte er Bewegungen draußen erahnen – vermutlich Arbeiter, die die Flugzeuge überprüften oder die Enteisungsanlagen für einen späteren Einsatz vorbereiteten – und in der Ferne sah er die gelb-flackernde Beleuchtung eines Räumfahrzeugs. Der Anblick ließ in ihm die Hoffnung aufkeimen, dass er hier heute noch wegkommen würde, zumal nur noch hin und wieder Schneeflocken an den Fenstern vorbeitanzten. Karyu atmete tief durch und schloss einen Moment lang seine brennenden Augen; er musste nachher unbedingt noch daran denken, die Kontaktlinsen gegen seine Brille auszutauschen, im Flugzeug würde es sonst noch unangenehmer werden. Aber er würde hier wegkommen. Er würde später in den Flieger steigen, versuchen zu schlafen und wäre pünktlich zu seinen nächsten Klausuren wieder in Tokyo. Und vielleicht würde er sogar noch Zeit finden, um die Weihnachtszeit zumindest ein bisschen zu genießen und mit seinen Freunden schon mal prophylaktisch ins neue Jahr zu feiern, nachdem seine Schwester ihre Verlobungsparty natürlich ausgerechnet zum Jahreswechsel schmeißen musste. Und das nächste Jahr würde dann einfach nur gut und entspannt werden – wenn er sich das oft genug sagte, glaubte er es vielleicht sogar irgendwann selbst.   Ein leises Rascheln schräg hinter ihm riss ihn aus seinen Gedanken und er zuckte zusammen, als er in die Spiegelung der Fensterfront sah und ihm von dort, nicht nur sein eigenes bleiches Gesicht, sondern auch noch ein weiteres Paar dunkler Augen entgegensah, in denen jetzt gerade der Schalk zu lauern schien.   „Ich wollte dich nicht erschrecken“, sagte einer seiner Mit-Wartenden – der, der vorhin das Video geschaut hatte, wenn er sich recht erinnerte – leise und aus irgendeinem Grund war er davon überrascht wie weich und dunkel seine Stimme klang.   „Alles gut…“ Karyu räusperte sich kurz, zuckte ein wenig ungelenkt mit den Schultern. „War nur in Gedanken woanders.“   „Schon in Tokyo?“   „Huh?“ Der andere ruckte mit dem Kopf in Richtung der Flugzeuge, die draußen standen.   „Dahin soll zumindest der nächste Flug von dem Gate hier gehen.“ Die vollen Lippen des Fremden verzogen sich zu einem amüsierten Lächeln und Karyu war in diesem Moment nicht sicher, ob er einfach nur die Situation belustigend fand oder sich über ihn lustig machte.   „Achso“, antwortete er deshalb ein bisschen verspätet, fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. „Sorry. Übermüdung und so.“   Diesmal zuckte der andere nur mit den Schultern, lehnte sich gegen das Fensterglas und sah für einen Moment nach draußen. Er trug noch immer sein Basecap unter dem jedoch, und das fiel Karyu erst jetzt auf, brünettes, fast schulterlang gewelltes Haar hervorschaute.   „Wir sind in New York losgeflogen. Ich glaube, unserer war einer der letzten Flüge, die noch hier landen konnten…“ Er unterbrach sich selbst, um ausführlich zu gähnen. „Und ich hoffe wirklich sehr, dass das mit dem Flug nachher klappt.“ Das Warum dazu führte er nicht weiter aus, kratzte sich nur nachdenklich im Nacken.   Vielleicht, weil es sonst gerade nichts Interessantes zu sehen gab und weil Karyu zumindest vor sich selbst zugeben musste, dass er seine aktuelle Gesellschaft irgendwie interessant fand, betrachtete er sein Gegenüber näher. Obwohl er vollkommen entspannt dazustehen schien, hatte er sein Körpergewicht auf eine Seite verlagert und ließ die Spitze seines anderes Fußes immer wieder auf den Boden stippen, als würde er einem Rhythmus folgen, den nur er hören konnte und auf seinen Einsatz für irgendetwas warten.   „Deine Freunde scheinen das Problem mit dem Schlafen ja nicht zu haben“, nahm er das Gespräch wieder auf, nachdem sein Blick auf die noch immer friedlich schlummernde Truppe gefallen war. Diesmal huschte ein Grinsen, in dem auch ein gewisser Stolz mitschwang und das kleine Grübchen auf seinen Wangen erscheinen ließ, über das Gesicht seines neuen Bekannten.   „Die haben sich müde gespielt“, erklärte er dann, sah ebenfalls zu ihnen hinüber. „Aber spätestens, wenn sie den ersten Kaffee intus haben, wird es mit dem Frieden vorbei sein.“   „Erfahrungswert?“   Der andere lachte leise und Karyu schob das Kribbeln, das sich dabei plötzlich durch seinen Körper zog, rigoros auf seine Müdigkeit.   „Genau. Die reinsten Duracell-Häschen…“ Er stand noch einen Moment ruhig da, riss dann aber den Blick von seinen Freunden los, um wieder ihn anzusehen. „Aber immerhin bin ich so beschäftigt. Lenkt von der Müdigkeit ab.“   In einer fließenden Bewegung, die für Karyu vollkommen überraschend kam, nahm er die Arme nach oben, erhob sich auf seine Fußballen und streckte seinen Körper zu einer geraden Linie durch. Ohne erkennbare Anstrengung verharrte er einige Sekunden so, schien die Dehnung zu genießen, die er damit in seine Muskeln brachte.   „Es gibt hier auch einen Yoga-Raum“, merkte er leise an, um die Stille zu überbrücken und vielleicht ein bisschen davon abzulenken, dass er seine Blicke nicht von dem anderen nehmen konnte. Dessen Kopf, den er bisher entspannt nach hinten hatte fallen lassen, hob sich und er sah ihn erstaunt an, ohne sonst etwas an seiner Position zu ändern.   „Wirklich?“   „Nur den Gang ‘runter“, Karyu deutete in die dem Coffeeshop entgegengesetzte Richtung, ließ sich jetzt selbst zu einem halben Grinsen hinreißen. „Ich hab heute schon ne Menge Zeit gehabt, mir den Flughafen anzuschauen.“   „Mein Beileid“, die Worte waren auch jetzt von einem leisen Lachen begleitet, aber die dunklen Augen des anderen sahen in die Richtung, in die er gezeigt hatte. „Aber vielleicht ist das keine schlechte Idee, danke.“ Damit entspannte er seine Pose vorerst und rollte ein, zwei Mal mit den Schultern. „Schlafen kann ich heute vermutlich sowieso vergessen. Aber vielleicht klappt es ja bei dir noch.“ Er zwinkerte ihm am Rand seines Basecaps vorbei zu und setzte sich dann tatsächlich in Bewegung, während Karyu selbst ihm nur stumm hinterherschauen konnte. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass das jetzt erst recht nichts mehr werden konnte. ~*~   [LEFT]So entspannt, wie es ihm irgendwie möglich war, ließ er sich gegen die Lehne seines Sitzes sinken, versuchte trotz seiner Müdigkeit das angenehm aufgeregte Gefühl genießen, dass ihn jedes Mal überkam, wenn er in ein Flugzeug stieg. So schwer er sich auch mit Langstreckenflügen tat, das Starten und Landen genoss er jedes Mal wieder und wenn er Glück hatte, würde das auch das Einzige sein, was er von seiner Heimreise mitbekommen würde.[/LEFT] [LEFT]Seine Hände spielten mit der kleinen, rechteckigen Pappschachtel, in der sich die Schlaftabletten befanden, die er tatsächlich noch in der Apotheke hatte kaufen können, während er sich im Inneren des Flugzeugs umsah. Wenn er Glück hatte, würde er schlafen, noch bevor sie ihre Reiseflughöhe erreicht hatten und die Minuten bis zu diesem Zeitpunkt konnten, wenn es nach ihm ging, nicht schnell genug verstreichen.[/LEFT] [LEFT]Karyu hob den Kopf, als der Lautstärkepegel ein wenig anschwoll und war nicht einmal wirklich überrascht, als er eine ihm mittlerweile wohlbekannte Reisegruppe erspähte, die sich den Gang auf der anderen Seite des Flugzeugs entlang weiter nach hinten durchschlängelte. Der Anblick ließ ihn unwillkürlich lächeln – eine Regung, wie ein gutes Stück weiter wurde, als seine Blicke die des jungen Mannes kreuzten, mit dem er sich heute Nacht kurz unterhalten hatte. Auf dem Gesicht des anderes lag ein schiefes Grinsen und er zuckte halbherzig mit den Schultern, während er geduldig darauf wartete, dass seine Freunde vor ihm weitergingen.[/LEFT] [LEFT]Unter anderen Umständen hätte Karyu vielleicht versucht herauszufinden, wo die Gruppe sitzen würde, um später an das nächtliche Gespräch anzuknüpfen. So aber musste er sich wohl oder übel damit begnügen, dass ein paar Stunden Schlaf das Beste sein würden, was ihm auf diesem Flug passieren konnte. Und vielleicht würde er den anderen ja noch einmal sehen, wenn sie in Narita auf ihr Gepäck warteten. Ansonsten würde ihre kurze nächtliche Begegnung wohl die erste und einzige zwischen ihnen bleiben.[/LEFT] Kapitel 2: Aplomb ----------------- 02. Aplomb   Aplomb: frz. „Gleichgewicht“; prägnanter Ausdruck für eine gerade, sichere Haltung, ein selbstsicheres Auftreten, für Gelassenheit bis hin zur Dreistigkeit; bezeichnet im Balletttanz die Fähigkeit zum Abfangen einer Bewegung   -   Mit hochgezogenen Schultern stand Karyu in der Schlange und wünschte sich nichts sehnlicher, als bitte endlich, endlich ins Warme zu dürfen. Abgesehen davon, dass er den Abend ohnehin lieber zuhause verbracht hätte, verbesserte die Tatsache, dass sie hier sicher schon zwanzig Minuten herumstanden, seine Laune nicht unbedingt. An seinem dicken Schal, den er bis zur Nasenspitze hochgezogen hatte, vorbei, warf er einen Blick nach rechts, wo der Eingang lag, aber noch immer schien es dort nicht wirklich voranzugehen oder Bewegung in die Schlange der Wartenden zu kommen.   „Wehe der Club ist diese beschissene Kälte nicht wert“, beschwerte er sich nicht eben leise. Sonst nicht seine Art, aber er hatte mittlerweile das Gefühl in seinen Zehen verloren und ganz ehrlich? Wenn sie den Schuppen hier nicht bald von innen sehen würden, wäre er schnurstracks wieder auf dem Weg in seine wohlig warme Wohnung.   „Reg dich ab. Wird schon gleich weitergehen.“   Im Gegensatz zu ihm lehnte Tatsurou so cool, wie er zu sein glaubte, an der Hausmauer, sah sich immer wieder verstohlen um – als ob Karyu nicht auch so klar war, warum sein Kumpel unbedingt hierher hatte ausgehen wollen. Und das, obwohl sie beide gleichermaßen wenig Talent für alles hatten, was sich auch nur in der Nähe einer Tanzfläche abspielte. Aber kaum hatte der andere gehört, dass seine neueste Obsession hier gern einmal auftauchte, war natürlich er selbst der Leidtragende und wurde einfach mitgeschleppt. Er sollte wirklich seine sozialen Kontakte überdenken, auch wenn die Chance seinen Sandkastenfreund heute noch loszuwerden vermutlich eher gering waren.   Allerdings hatte Tatsurou zumindest einmal in seinem Leben recht behalten, denn nun kam tatsächlich ganz allmählich Bewegung in die Schlange, nachdem die Türsteher wieder draußen aufgetaucht waren. Warum der Einlass überhaupt unterbrochen worden war, wollte er lieber gar nicht wissen, es reichte ihm schon vollkommen, wenn er endlich zahlen und den Laden betreten durfte. Mit kalten Fingerspitzen zupfte er an seinem Schal, während er sich umsah. Zumindest hier war von Yukke – dem Objekt der zweifelhaften Zuneigung seines Freundes – noch nichts zu sehen. Also vielleicht konnte er erst einmal einfach ein, zwei Stündchen an der Bar sitzen und Cocktails trinken. Nicht, dass etwas anderes wirklich infrage kam. Er hing an seiner Gesundheit. Karyu hatte sich gerade noch einmal zu seiner Begleitung umgedreht, um ihn etwas zu fragen, als eine Gruppe von mindestens einem Dutzend Leuten einfach an der Warteschlange vorbei nach vorn lief.   „Was soll der Scheiß denn jetzt bitte?“, beschwerte sich nun Tatsurou ebenso ungehalten, wie er selbst es eben gewesen war, sprach damit aber genau das aus, was er ebenfalls dachte.   Tatsächlich waren sie ganz offensichtlich nicht die einzigen, die vom anscheinend vollkommen selbstverständlichen Vorüberziehen der Neuankömmlinge nicht wirklich begeistert waren, wenn er sich die Gesichter der Umstehenden so ansah. Und die allgemeine Laune wurde nicht besser, als die Security-Mitarbeiter am Eingang begannen die ganze Gruppe einfach durchzuwinken. Gott, er hasste diese Extra-Würste und setzte eben dazu an, das auch kundzutun, als einer der Quasi-Vordrängler seinen genervten Blick auffing, ihn mit einem schiefen Grinsen und einem Schulterzucken beantwortete. Und zumindest Ersteres kam ihm bekannter vor, als es sollte, nicht zuletzt wegen der Grübchen, die hinter dem karierten Schaltuch, das der andere trug, herausschauten.   „Oh nein.“   Die beiden Silben verließen seinen Mund mit einer kleinen Wolke seiner Atemluft und er konnte nur in Schockstarre auf den Rücken des nun nicht mehr ganz so Unbekannten schauen, während er sich von Tatsurou weiter in Richtung Eingang schieben ließ.   Es war ja nicht mal so, dass er seine namenlose Flughafenbekanntschaft nicht wiedersehen wollte oder, dass er in der letzten Woche nicht den ein oder anderen Gedanken an ihn verloren hätte. Ganz im Gegenteil, so ehrlich konnte er mit sich selbst inzwischen sein. Ihn aber ausgerechnet hier wiederzusehen, in einer Umgebung, in der er sich sowieso unwohl fühlte, grenzte schon beinahe an Grausamkeit des Schicksals. Mit einem Seufzen bewegte er sich noch ein Stück weiter in Richtung des Eingangs, der ihm jetzt eher so ein bisschen wie das Tor zu seiner persönlichen Hölle vorkam – mit seinen nicht existenten tänzerischen Fähigkeiten würde er hier definitiv niemanden beeindrucken können. Schon gar nicht jemanden, der sich irgendwie näher mit der Thematik ‚Tanz‘ beschäftigte, wie es bei der Gruppe aus Chicago der Fall zu sein schien. Das hier würde definitiv ein sehr, sehr langer Abend werden, da war er sich sicher.   Während Tatsurou gerade mehr mit seinem Handy als mit ihm beschäftigt zu sein schien, sah Karyu sich sein wenig um, um sich abzulenken, bis sein Blick an einem Plakat hängen blieb, das neben der Tür klebte.   „Sag mal, was hat es eigentlich mit dieser ‚Millenium Party‘ auf sich?“, wollte er wissen, denn irgendwie war ihm das gerade suspekt. Es war nicht so, als ob ihm diese Bezeichnung irgendetwas sagte, zumindest wüsste er nicht woher, aber er hatte das Gefühl das Logo schon einmal gesehen zu haben.   „Keine Ahnung“, kam es in dem Moment etwas verspätet von Tatsurou zurück „Aber auf jeden Fall sieht es aus, als würde es voll werden.“ Vollkommen unnötigerweise reckte sich sein Kumpel ein Stück, um die Schlange der Wartenden besser inspizieren zu können.   „Wir werden Yukke sicher trotzdem finden. Ist ja nicht so, als ob er gerade unauffällig unterwegs wäre, oder?“ Innerlich rollte Karyu mit den Augen. Vielleicht sollte er in Zukunft, immer wenn er dachte, dass er zu leicht durchschaubar war, einfach an Tatsue denken. Im Vergleich zu seinem Freund war er selbst quasi ein Buch mit sieben Siegeln – oder konnte sich das zumindest einbilden.   Vorerst vertagte er die Diskussion darüber, wie mehr oder weniger leicht man einen platinblonden Mann in einem Club voller Menschen finden konnte aber, denn sie waren tatsächlich endlich an der Tür angekommen. Mit einem etwas wackligen Lächeln zeigte er dem Türsteher seinen Ausweis, bezahlte und wurde damit belohnt, dass er mit einem Stempel auf der Hand endlich nach drinnen gehen konnte. Kaum hatten sie den Eingangsbereich hinter sich gelassen, schlugen ihnen wohltuende Wärme und dumpf vibrierende Bässe entgegen, ließen ihn das zweite Mal innerhalb weniger Minuten daran denken, dass das hier eine lange Nacht werden konnte. Und, dass Tatsurou ihm definitiv etwas schuldete. Aber auch das hielt ihn nicht davon ab, erst einmal für ein paar lange Sekunden die angenehmen Temperaturen zu genießen. Er konnte nur hoffen, dass seine Füße auch demnächst wieder aufzutauen gedachten.   „Eigentlich kannst du mir gleich mal was ausgeben, finde ich“, stellte er schließlich laut fest, erntete dafür einen empörten Blick.   „Wir sind noch nicht mal richtig hier und schon fängst du an zu schnorren?“   Karyu zuckte nur mit den Schultern, während er seine Jacke und den dicken Schal in eines der Schließfächer im Garderobenbereich stopfte.   „Wegen wem genau sind wir hier, weil er nicht die Eier hatte allein zu gehen?“   Tatsurous Mund öffnete und schloss sich einige Male, ohne, dass er ein Wort hervorbrachte, bevor er schließlich nur das Gesicht verzog und ohne einen Kommentar vor ihm her in Richtung Treppenhaus ging. Okay, vielleicht war der Spruch ein bisschen zu hart gewesen, aber das bedeutete ja nicht, dass er falsch war. Auf der anderen Seite wollte er ihnen beiden nicht gleich die Stimmung vollkommen verhageln, also ging er zu seinem Kumpel und legte ihm freundschaftlich einen Arm um die Schulter.   „Na komm. Wo sollen wir anfangen?“, fragte er mit einem Blick auf den Etagenplan, der aufzeigte, auf welchem Floor welche Musik laufen würde. „Ist Yukke überhaupt schon da?“   Er spürte Tatsurous Seufzen eher, als das er es hörte, bevor der andere sich einen Ruck gab.   „Ja, er meinte, er ist hier“, sagte er dann, zog aber noch immer ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter.   „Okay. Das ist ja schon mal was. Was denkst du, wo wir ihn am ehesten finden? Hip-Hop? EDM-Gedöns? Diese mysteriöse Millenium Party? Latin-Irgendwas?“   Er legte die Stirn in Falten, als er die Liste noch einmal durchlas. Ihm war tatsächlich nicht klar gewesen, dass dieser Laden hier so groß war. Da lief man ja quasi Gefahr den Weg nach draußen nicht mehr zu finden, wenn man ein Bier zu viel hatte, das sollte er definitiv im Kopf behalten.   „Glaub nicht, dass Hip-Hop so sein Ding ist“, meinte Tatsurou nachdenklich, kratzte sich dabei kurz am Kinn. „Aber die anderen Sachen … keine Ahnung. Vielleicht sollten wir uns einfach von unten nach oben durcharbeiten?“ Der Tonfall, in dem er die Frage stellte, zeigte, wie zweifelhaft er diese Idee anscheinend selbst fand, aber Karyu zuckte nur mit den Schultern. Großartig andere Möglichkeiten fielen ihm auch nicht ein, ohne Yukke direkt zu kontaktieren, was anscheinend nicht das war, was sein Kumpel gerade wollte. Also löste er sich von ihm und begann die Treppe zu erklimmen.   „Immerhin gibt es in der nächsten Etage gleich mal eine Bar, an der wir vorbeigehen können“, stellte er mit einem schiefen Grinsen fest. Denn wenn er an diesem Abend schon Babysitter für einen hormongesteuerten Tatsue spielen musste, dann wollte er sich das Ganze wirklich lieber etwas schöntrinken.   ~*~   Einige Zeit später am Abend stand er allein auf der Dachterrasse, die das Etablissement ihrer Wahl natürlich hatte und schaute nach unten auf die Straße. Hin und wieder zog er an seiner Zigarette, unterdrückte so gut es ging sein Zittern und genoss die relative Ruhe, die hier herrschte. Für eine kleine Pause von der ständigen Beschallung nahm er sogar die eisige Dezemberkälte in Kauf und immerhin war die Terrasse halbwegs windgeschützt. Die Musik aus der Etage unter ihm drang nur gedämpft bis hierher vor und bis auf das ein oder andere Grüppchen, das sich hier ebenfalls seiner Nikotinsucht hingab, war nicht viel los. Für einen Moment schloss Karyu die Augen. Es war ja nicht so, dass er sich nicht für Tatsurou freute, dass dessen Abend so gut lief – sie hatten tatsächlich nicht lange nach Yukke suchen müssen, sondern waren ihm an der Bar quasi direkt in die Arme gelaufen – aber mit der Zeit nagte es dennoch an ihm, permanent das fünfte Rad am Wagen zu sein. Karyu zog noch einmal an seinem Glimmstängel, bevor er die Reste davon nachlässig über die Brüstung schnippte und sein Handy aus der Hosentasche hervorzog. Das Display zeigte gerade mal kurz vor ein Uhr an, was hieß, dass die letzten Bahnen des abends schon lang gefahren waren, es aber noch ewig dauern würde, bis der Morgenbetrieb wieder aufgenommen wurde. Im Zweifelsfall konnte er zwar versuchen ein Taxi zu bekommen, aber allzu prächtig sah sein Kontostand seit seiner Rückkehr aus den USA nicht aus, sodass er das eigentlich vermeiden wollte. Andererseits war laufen auch nicht wirklich eine Option, wenn er nicht unterwegs irgendwo festfrieren und als menschlicher Eiszapfen enden wollte.   „Wusste ich doch, dass du das warst.“ Er konnte das Grinsen quasi in der Stimme hören, was allerdings seine Schreckreaktion, in der er beinahe sein Handy von sich geschmissen hätte, in keinster Weise minderte.   „Was?“, war dementsprechend seine erste Reaktion, als er sich herumdrehte, während ihm das Herz immer noch bis zum Hals schlug.   Dann allerdings sah er vielleicht zwei Meter von sich entfernt seinen bekannten Unbekannten am Geländer lehnen und das gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie dessen Grinsen wuchs, erneut diese unfassbar anziehenden Grübchen entstehen ließ. Der rationale Teil seines Gehirns sagte ihm, dass er die Dreistigkeit, die in diesem Gesichtsausdruck lag, nicht hätte anziehend finden sollen – sein Hormonhaushalt war da aber offensichtlich anderer Meinung. Und so oder so konnte den anderen nur stumm ansehen.   „Ich dachte vorhin schon, dass du das bist, unten am Eingang. Aber dann hab ich dich nicht mehr gesehen.“ In einer fließenden Bewegung stieß er sich von der Brüstung ab, kam mit einer Flasche Bier in der Hand näher. „Lustig, dass wir uns gerade hier über den Weg laufen.“   „Warum das?“, wollte Karyu verdattert wissen, konnte es aber nicht lassen, sein Gegenüber jetzt, wo er sich etwas gefasst hatte, von Kopf bis Fuß zu mustern. Seine Haare waren genauso wellig, wie in der Nacht am Flughafen und er schien selbst beim Ausgehen Wert auf Bequemlichkeit zu legen. Zumindest, wenn man nach den schwarzen Turnschuhen, der lockeren Stoffhose und dem karierten Hemd ging, das er trug.   „Ich bin normalerweise nicht der große Partymensch“, gab er in dem Moment zu, zuckte mit den Schultern und entlockte mit diesem Geständnis nun Karyu ein Lächeln.   „Ich auch nicht. Ehrlich gesagt, bin ich nur einem Kumpel zuliebe hier.“   „Verstehe.“ Dir Mundwinkel des anderen hoben sich leicht, während er ihn einfach nur einen Moment ansah, bevor ihm etwas einzufallen schien. „Wir haben uns am Flughafen nie wirklich vorgestellt, oder?“   „Oh. Stimmt.“ Ihn überkam eine vollkommen grundlose Unsicherheit. „Karyu“, brachte er nach kurzem Stocken schließlich noch die beiden Silben seines Vornamens heraus. Auch das brachte ihm wieder ein Schmunzeln ein.   „Michiya. Aber nenn mich Zero, das tun die meisten.“ Mit einem Zwinkern hob er seine Bierflasche, als wollte er ihm zuprosten und trank einen Schluck. „Freut mich.“   „Warum Zero?“ Die Worte verließen Karyus Mund, ohne, dass er Zeit gehabt hätte darüber nachzudenken, ob diese Frage vielleicht unhöflich war.   „Hat sich durchgesetzt. Ist ein Spitzname aus Kindertagen, den ich nicht mehr loswerde.“ Wirklich zu stören schien es ihn allerdings auch nicht.   Und vielleicht hätte er noch weitergesprochen, aber in dem Moment öffnete sich die Tür, die vom Treppenhaus aufs Dach führte und ließ einen Schwall Musik nach draußen schwappen. Zwei junge Frauen steckten ihre Köpfe nach draußen und sahen sich suchend um, bis sie an Karyus Gesprächspartner hängenblieben.   „Mensch, jetzt komm schon! Es geht los!“, riefen sie kichernd in ihre Richtung, verschwanden dann sogleich wieder nach drinnen.   Neben ihm seufzte Zero leise.   „Duracell-Häschen?“ Die Frage erntete ihm ein Nicken, während er sich automatisch gemeinsam mit dem anderen in Bewegung setzte.   „Eine ganze Herde, frisch aufgeladen.“ Für den Moment schien es, als wollte er dazu noch mehr sagen, sich dann aber eines Besseren besinnen und wechselte das Thema. „Du kannst dir das Drama gern mit ansehen, wenn du willst.“   „Das Drama?“ Karyu sah den anderen skeptisch an und seine Miene wurde nur noch fragender, als der begann sein Hemd im Gehen aufzuknöpfen, kaum dass sie den Club wieder betreten hatten. Darunter kam ein ebenso locker sitzendes Tanktop zum Vorschein, das den Blick auf schlanke aber gut trainierte Arme freigab, während Zero sich das andere Oberteil um die Hüften knotete.   Zero warf einen Blick zurück zu Karyu, während sie sich in Richtung der nächstgelegenen Tanzfläche durch die Menschenmengen schoben.   „Ich bin nicht wirklich gern das Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit. Zumindest nicht in diesem Rahmen“, sagte er.   Sie erreichten den Floor, zu dem sie anscheinend mussten, bevor er noch weitere Erklärungen abgeben konnte. Und ehe Karyu noch etwas hätte fragen können, wurde Zero von den beiden Mädchen, die eben schon nach ihm gesucht hatten und die jetzt plötzlich wieder aus der Menschenmenge auftauchten, an den Händen gepackt und in Richtung des DJ-Pults gezogen, das an der Stirnseite auf einer Art erhöhter Bühne seinen Platz hatte. Schon auf dem Weg dahin ertönten einzelne Anfeuerungsrufe, die er selbst über die Musik hinweg hören konnte und wenn er ehrlich war, wurden die Fragezeichen in seinem Kopf davon nur größer. Für einen Moment sah Karyu sich um, flüchtete sich dann in Richtung Bar, wo er glücklicherweise noch einen Sitzplatz ergattern konnte. So konnte er sich das wie auch immer geartete Drama, das anscheinend folgen sollte, zumindest in Ruhe ansehen.   Und kaum hatte er es sich mit einem frisch bestellten Energydrink in der Hand bequem gemacht, nahm der Lautstärkepegel auch schon ganz neue Ausmaße an – Zero und eine junge Frau, die er bisher noch nicht gesehen hatte, schienen mehr oder minder freiwillig auf die Bühne getrieben worden sein und wurden von der Menge gefeiert, als hätten sie irgendetwas Großes vollbracht. Ganz offensichtlich fehlten Karyu hier einige Informationen, mit denen der Zirkus mehr Sinn gehabt hätte. Allein schon, weil er immer mehr das Gefühl hatte, dass die Leute sich hier alle irgendwie kannten. Bevor er weiter darüber nachdenken konnte, wurde die Musik leiser, blieb nur noch als Hintergrundgeräusch bestehen, durch das man die bebenden Bässe vom Hip-Hop-Floor eine Etage tiefer hören konnte.   „Einen wunderschönen Abend an euch alle!“, ertönte da eine Stimme. Karyu glaubte eines der Duracell-Häschen von vorhin zu kennen, auch wenn er sie vermutlich nicht einmal in Gedanken so bezeichnen sollte. Breit grinsend stand sie auf der Bühne, einen Kopf kleiner als Zero oder die andere Frau, und fuhr sich mit der Hand, die nicht gerade das Mikrofon hielt durch ihr kurzes platinblondes Haar. Er musste ein bisschen in sich hineingrinsen, da sowohl ihre Frisur als auch die Haarfarbe Yukkes Stil erstaunlich ähnlich waren. „Es hat lange gedauert, aber endlich haben wir sie gefunden!“   Ihre Stimme überschlug sich beinahe vor Enthusiasmus und die Menge der Umstehenden tat es ihr gleich, was sie nur noch breiter grinsen ließ.   „Ja ich weiß, ich weiß. Wir sind alle super stolz auf unsere beiden Coaches hier. Einen großen Applaus für Zero und Koharu!“ Und sie bekamen nicht nur Applaus, sondern auch lautstarkes Kreischen und allerhand Gepfeife, während Karyu, mit jeder Sekunde noch ein bisschen verwirrter, nur von einem Ende des Raumes zum anderen sah. Auf die sehnlichst erhoffte Erklärung musste er aber glücklicherweise nicht lange warten, denn während Zero nur mit einem schiefen Lächeln den Kopf schüttelte als Koharu einen Arm um seine Schultern legte, um die Menge ihrerseits noch mehr anzustacheln, setzte die Blonde am Mikrofon zum Weitersprechen an. „Ich wünschte, ihr würdet mich mal so begrüßen“, sagte sie lachend. „Aber darüber beschwere ich mich ein anderes Mal. Heute soll es schließlich um diese beiden hier gehen. Die ersten beiden Mitglieder des Millenium Dance Centers, die als Choreografen zum Urban Dance Camp eingeladen worden sind – wie krass ist das bitte???“   Während das Ganze in Karyus Hirn langsam so etwas wie Sinn zu ergeben versuchte, zumindest in Bezug auf den Namen der Party, rastete die Menge um ihn herum nun vollkommen aus. Anscheinend war diese Einladung tatsächlich eine besondere Leistung, vielleicht war das ja sogar der Grund, warum Zero in New York gewesen war? Er nahm nachdenklich einen Schluck von seinem Energydrink und beobachtete Zero, der zwar lachend auf der Bühne stand, sich dort gerade aber ganz offensichtlich nicht ganz so pudelwohl wie die anderen beiden fühlte. Es machte ihn neugierig darauf, was er vorhin mit ‚nicht in diesem Rahmen‘ gemeint hatte.   „Nach dem, was ich gehört habe, sollen sie sogar nicht komplett versagt haben, wer hätte das gedacht“, dieser Kommentar erntete der Moderatorin von Koharu einen spielerischen Ellenbogenstoß in die Seite, dem sie aber gekonnt mit einem kleinen Ausfallschritt auswich. „Also was meint ihr: wenn sie schon dort waren und sich jetzt von uns feiern lassen, sollten sie uns doch auch zeigen, was sie die ganze Zeit in den USA gemacht haben, oder?“   Auch diesmal war die Antwort des Publikums wieder mehr als enthusiastisch und wenn er ehrlich war, fragte Karyu sich für einen Moment, wo er da eigentlich reingeraten war. Viel Zeit, um darüber nachzudenken, blieb ihm allerdings nicht, als die Menschenmenge sich teilte, um auf der Tanzfläche ausreichend Platz zu schaffen, für das, was da kommen sollte. Nur eine Handvoll junger Leute verblieb in der Mitte, gesellte sich zu Koharu und Zero, die sich neben der kleinen Bühne kurz zu unterhalten schienen, bevor letzterer zuerst in den Ring trat, den die Umstehenden gebildet hatten. Bis auf einzelne Zwischenrufe wurde es für einige Sekunden erstaunlich leise, dann setzte der Beat ein – und zu seinem Erstaunen erkannte Karyu das Lied wieder, zu dem die Gruppe, die mit Zero gereist war, im Flughafen herumgeturnt war.   Während des Intros schien die Gruppe um Zero vollkommen gemächlich ihre Plätze einzunehmen, stachelte das Publikum spielerisch noch mehr an und auch die Körpersprache seines Zufallsbekannten begann sich zu verändern. Mit jedem Takt schien der andere etwas lockerer zu werden, begann sich leicht zu den treibenden Bässen zu bewegen. Karyu sah, wie er kurz die Augen schloss, sich ein Lächeln auf seine Lippen legte, während er die Musik in sich aufzunehmen schien.   Vielleicht hätte Karyu versucht festzustellen, ob die Schritte die gleichen waren, an denen sich Teile der Gruppe mitten in der Nacht in Chicago versucht hatten, aber sobald Zero wirklich begann zu tanzen, beobachtete er in ihm einen Wandel, der es ihm unmöglich machte seinen Blick abzuwenden. Als würde er angezogen werden, wie eine Motte vom Licht. Auch wenn der andere in ihren beiden kurzen Gesprächen etwas Spielerisches an sich gehabt hatte, war da doch immer eine gewisse Zurückhaltung gewesen. Aber sobald die Musik begonnen hatte, schien er gleichzeitig in seine eigene Welt zu versinken und vollkommen aus sich herauszukommen. Jeder seiner Bewegungen wirkte kontrolliert bis in die Haarspitzen, ließ ihn dennoch vollkommen frei wirken. Einfach alles an ihm schien zu sagen, dass er das liebte, was er gerade tat. Das bewies nicht zuletzt das freche Grinsen, das er seinem Publikum hin und wieder zuwarf, wenn dieses ihn mit Zwischenrufen anfeuerte. Und wenn er ehrlich war, konnte sich Karyu sich dem im Lied immer wiederkehrenden ‚Please don't stop the music‘ nur anschließen, denn er hätte zu seinem eigenen Erstaunen nichts dagegen gehabt, Zero noch länger zuzuschauen. Er konnte nicht einmal genau sagen, was ihn gerade so faszinierte, obwohl oder vielleicht gerade weil er vom Tanzen an und für sich keine Ahnung hatte: ob es die Tatsache war, dass sich jemand überhaupt so bewegen konnte oder das, was seine flüchtige Bekanntschaft gerade ausstrahlte. Die Linien, die sein Körper zeichnete, die Kraft, die er offensichtlich besitzen musste, um sich so zu bewegen. Die Leidenschaft, die aus jeder Geste sprach, einfach alles an ihm wirkte so leicht, selbst wenn er den Schweiß auf Zeros Stirn glänzen sehen konnte – er mochte es sich kaum eingestehen, aber selbst das ließ ihn gerade nur noch anziehender wirken.    Aber noch bevor er über diese nicht vollkommen überraschende Erkenntnis nachdenken konnte, veränderte sich die Musik und Zero verschwand mitsamt seinen Tänzern unverhofft  aus seinem Blickfeld, wurde durch Koharu und ein weitere kleine Gruppe ersetzt, während das Publikum einmal mehr in wenigen Minuten in lautstarken Applaus ausbrach.   Er selbst blieb jedoch wie versteinert auf seinem Barhocker sitzen, suchte mit den Augen die Menschenmenge nach Zero ab. Er wusste nicht einmal, was er zu ihm sagen wollte oder wie er auf diesen für ihn vollkommen unerwarteten Umschwung in Zeros Ausstrahlung reagieren sollte. Aber zumindest sich selbst musste er eingestehen, wie sehr es ihm gefallen hatte, den anderen so zu sehen. Diese pure Freude und Leidenschaft hatten ihm einfach zu gut zu Gesicht gestanden und Karyu bekam gerade das Gefühl nicht los, dass ihn dieser Gesichtsausdruck noch länger verfolgen würde, ähnlich wie es mit dem Grinsen gewesen war, das er ihm in Chicago zugeworfen hatte.   Mit einem unterdrückten Seufzen stand er auf und wollte sich nach dem Barkeeper umsehen, um noch ein Bier zu bestellen und sich dann auf die Suche nach Tatsurou zu machen, als sich jemand schwungvoll auf seinen bisherigen Sitzplatz fallen ließ.   „Willst du schon gehen?“   Für eine Sekunde musste Karyu die Augen schließen, um sich nicht dem Schauer zu ergeben, den Zeros Stimme ihm gerade über den Rücken jagte. Er war deutlich hörbar außer Atem, aber selbst in den wenigen Worten schwangen die Endorphine mit, die gerade durch sein Blut schießen mussten. Er schluckte, drehte sich dann mit einem kleinen Lächeln zu dem anderen um, ließ seine Augen nur kurz über das verworrene Haar des anderen schweifen, dass der gerade versuchte mit den Händen ein wenig zu bändigen.   „Wie schon gesagt, das ist alles nicht ganz so mein Ding“, erklärte er schulterzuckend, auch wenn er weniger das Gefühl hatte gehen zu wollen, als viel mehr das, dass er hier einfach nicht hergehörte. „Ich wollte schauen, ob ich meinen Kumpel finde und mich dann auf den Heimweg machen, wenn ich ehrlich bin.“   Es fiel ihm schwer diesen Satz hervorzubringen, ohne über seine eigenen Worte zu stolpern. Zero saß vor ihm, jetzt wieder dieses Lächeln auf den Lippen, dass einen leicht arroganten Zug hatte ohne kalt zu wirken, ihn stattdessen regelrecht zu umgarnen schien. Mit einem Ellenbogen stütze er sich auf der Bar ab, während er sich mit der freien Hand noch ein paar Strähnen seines schweißfeuchten Haars aus dem Gesicht wischte.   „Ach komm, das Schlimmste ist vorbei“, lachte er jetzt, warf einen Blick auf die Menge, die sich nach einem letzten ausgiebigen Applaus mittlerweile schon wieder zur Musik bewegte und sich selbst zu feiern schien. Das Lied, das aktuell lief, hatte einen langsameren, irgendwie verrucht wirkenden Beat und anscheinend sah nicht nur er das so, wenn er sich das Publikum betrachtete. „Auch wenn ich mich fast dafür entschuldigen würde, aber Tänzer sind einfach so – wenn zu viele von uns zusammenkommen eskaliert es irgendwann immer.“   „Na das klingt ja vielversprechend.“ Karyu lehnte sich selbst gegen die Bar, hatte es jetzt zugegebenermaßen nicht mehr ganz so eilig damit zu gehen. „Aber ich schätze, man kann dir zu dieser Choreografen-Sache gratulieren?“   Zero kniff die Augen etwas zusammen und zog die Nase kraus, konnte ein Grinsen aber auch jetzt offensichtlich nicht vollkommen unterdrücken.   „Ich schätze, man könnte“, gab er dann zu. „Das Camp ist eines der größten Programme für Nachwuchstänzer überhaupt und daran mitarbeiten zu können ist definitiv eine Ehre.“ Das Lächeln auf seinen Lippen war weicher geworden, ließ seine braunen Augen noch wärmer wirken. „Ich mag es nur nicht dafür so hervorgehoben zu werden.“   „Und ich hab zwar von nichts, was mit Tanzen zu tun hat auch nur den Hauch einer Ahnung und es ist auch nicht wirklich mein Ding, aber es sah eben schon irgendwie danach aus, als ob du das verdient hast.“   Statt zu antworten, wandte Zero sich an den Barkeeper und gab ihm ein Zeichen, bekam schon wenige Augenblicke später eine Flasche Wasser in die Hand gedrückt. Er richtete sich etwas auf, um sie zu öffnen und Karyu konnte sehen, dass er sich – vielleicht instinktiv oder unbewusst – leicht zur Musik bewegte, während er den Deckel abschraubte und einen langen Zug aus der Flasche nahm. Erst danach sah er Karyu wieder an, schien für einen Moment gedanklich abzuwägen, was er sagen wollte.   „Warum ist Tanzen ‚nicht wirklich dein Ding‘?“, wollte er wissen und allein die Frage löste bei Karyu ein ungutes Gefühl aus.   „Ich hab Musik eher in den Händen als in den Füßen“, gab er zu, sah seine Hoffnung, dass das Thema damit erledigt wäre, aber schwinden, als Zero langsam, in einer fast unmöglich fließenden Bewegung von seinem Barhocker rutschte, ohne dabei auch nur den Bruchteil einer Sekunde die Augen von ihm zu lassen. Jetzt lag etwas eindeutig herausforderndes in seinem Blick.   „Ich hab bisher noch jedem ein bisschen Rhythmusgefühl einprügeln können“, meinte er leichthin und streckte eine Hand nach Karyu aus.   „Das Problem liegt bei mir eher in der Koordination, befürchte ich.“   Das Grinsen seines Gegenübers wurde noch ein Stück weiter, ließ wieder diese unmöglich anziehenden Grübchen entstehen, sodass er sich einen Moment lang ganz darauf konzentrieren musste, keine weichen Knie zu bekommen.   „Ich kann ziemlich gut führen“, meinte Zero schlicht, als würde das alle seine Probleme lösen und griff sich Karyus Unterarm, um ihn hinter sich her in Richtung Tanzfläche zu ziehen.   Und er hätte wirklich, wirklich gern etwas erwidert. Irgendetwas, das Zero klarmachen konnte, dass das hier ein Fehler war, weil er selbst schon auf gerader Strecke genügend Probleme damit hatte nicht über seine eigenen Füße zu stolpern und sich hier nur ungern vor der gefühlt vollständig anwesenden Tanzwelt Tokyos zum Affen machen wollte. Aber Zeros Hand lag so warm und sicher um sein Handgelenk, sein Daumen strich immer wieder so beiläufig über seine Haut, dass er sich gerade nur auf dieses Gefühl konzentrieren konnte, in der Hoffnung, dass er weder sich noch andere verletzen würde.    ~*~   Als er den Club hinter sich ließ, atmete Karyu die kühle Nachtluft tief ein, zog dann automatisch die Schultern hoch, um sich in seinen Schal kuscheln zu können und vergrub die Hände in seinen Jackentaschen, während er sich umsah. Zero war nur wenige Schritte hinter ihm, verabschiedete sich gerade noch von einem der Türsteher. Er betrachtete die Szene, sah dann das erste Mal seit Stunden auf sein Handy. Er konnte wirklich nicht fassen, dass es jetzt tatsächlich schon kurz vor fünf war und er sich trotzdem nicht vollkommen erschlagen fühlte. Zumindest würde er nun kein Problem haben mit dem Zug nach Hause zu kommen.   „Bin da“, unterbrach Zero seine Gedanken, stieß ihn sacht mit der Schulter an und bog dann auf den Fußweg ab.   Einmal mehr an diesem Abend sah Karyu ihm hinterher und fragte sich, in was er da bitte hineingeraten war – nicht, dass er sich beschwerte, je mehr er Zeit er mit dem anderen verbrachte, desto sympathischer war er ihm, aber er war sich immer noch nicht wirklich sicher, wie das eigentlich passiert war. Kopfschüttelnd zog er seine Zigaretten hervor und steckte sich eine davon an. Er würde es zwar später bereuen jetzt auch noch geraucht zu haben, nachdem seine Stimme von den lauten Unterhaltungen der Nacht sowieso schon ziemlich angekratzt war, aber darüber konnte er sich Gedanken machen, wenn es so weit war.   „Du auch?“ Er hielt Zero die Schachtel hin, der aber nur heftig mit dem Kopf schüttelte.   „Ein Gift für heute reicht.“ Auf Karyus fragendes Gesicht hin legte er den Kopf schief. „Ich trinke nur ziemlich selten, da steckt noch zu viel klassisches Ballett in mir.“   „Du bist schon im Dreivierteltakt auf die Welt gekommen, oder?“, lachte Karyu, verschluckte sich beinahe am Zigarettenrauch, während Zero nur das Gesicht verzog.   „Nee, Walzer ist nicht so meins, sorry“, erwiderte er dann grinsend. „Aber ich tanze quasi, seit ich laufen kann und so eine Ausbildung dauert eben ihre Zeit.“   „Das klingt irgendwie nach mehr als einem Sommercamp oder so“, bemerkte er mit hochgezogenen Augenbrauen.   „… durchaus.“ Zero zuckte mit den Schultern, bevor er im Gehen fließend und ohne sichtliche Anstrengung für einen Moment auf die Fußballen wechselte. Geschmeidig tat er einige Schritte, hob dann sein linkes Bein in einer geraden Linie nach hinten an, bevor er es etwas anzog. Karyu wusste nicht genau, wie das funktionierte, was der andere da machte, bewunderte nur das Gleichgewicht, das er so mühelos halten konnte, während er sich um die eigene Achse drehte, bevor er mit ihm zugewandten Gesicht innehielt und einen kleinen, albernen Knicks machte. „Ich hatte Ballettunterricht, seit ich in der Grundschule war und mit dem Wechsel auf die Mittelschule bin ich auf ein Internat für Tänzer gekommen. Von da an lief die Schule an sich eher nebenbei, das Wichtigere war die Ballettausbildung“, erklärte er, während er weiter rückwärts vor Karyu herging.   „Klingt nicht nach viel Freizeit.“   „Stimmt, aber mir kam das damals nicht so vor. Es war hart, aber es war auch das, was ich wollte.“ Er blieb stehen, als sie an eine Kreuzung kamen, lehnte sich mit dem Rücken an den Mast der Fußgängerampel. „Heute ist das was anderes.“   Zu gern hätte Karyu noch mehr nachgehakt, denn wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte Zero gerade auch sein ganzes Leben vor ihm ausbreiten können. Aber wie schon öfter an diesem Abend, hatte er seine Rechnung da ohne seinen Begleiter gemacht.   „Was ist mit dir?“, fragte der nämlich, zog während sie die Straße überquerten ein Basecap aus seiner Umhängetasche, um es sich wieder aufzusetzen.   „Ich fürchte ich bin im Vergleich dazu relativ langweilig.“   „Dann gib dir beim Erzählen Mühe.“ Der Blick, den er Zero zugeworfen hatte, musste wohl geschockter aussehen, als er geplant hatte, denn ein weiteres Mal in wenigen Minuten fing er an zu lachen. Und auch wenn Karyu hier gewissermaßen das Objekt der Belustigung war, konnte er nicht sagen, dass ihn das störte. Dazu gefiel ihm das Gesicht des anderen einfach zu gut. Der Gedanke brachte ihn, nicht zum ersten Mal an diesem Abend, aus dem Konzept, ließ ihn stocken. Er räusperte sich kurz, versuchte sich selbst zu sagen, dass er sich diese Überlegungen am besten gleich aus dem Kopf schlagen sollte.   „Klassisches Zuhause eigentlich“, begann er dann. „Meine Eltern wollen, dass ich irgendwann in die Wirtschaft gehe-“   „Klar, du siehst schon aus, wie so ein Bänker, muss ich sagen. Absolut seriös.“   Diesmal musste Karyu ebenfalls lachen, fuhr sich automatisch durch seine blonden Haare, die bei seinen Eltern so oft der Stein des Anstoßes gewesen waren.   „Absolut, das sag ich auch immer. Wir haben uns jetzt darauf geeinigt, dass ich erst mal irgendwie meinen Abschluss in Internationalem Management mache. Und dann hoffe ich damit irgendwie in die Musikindustrie zu kommen.“ Er zuckte mit den Schultern, während sie die Stufen zur U-Bahn hinunterstiegen. So lang er diesen Plan auch schon hatte, er fühlte sich immer wieder unwohl, wenn er jemandem davon berichtete. Vielleicht, weil er es selbst für unwahrscheinlich hielt, dass das Ganze funktionieren würde und er insgeheim Angst hatte, dass ihm das irgendwann einfach ins Gesicht gesagt wurde.   „Gefällt mir“, meinte Zero stattdessen, lehnte sich im Laufen kurz zu ihm, sodass sich ihre Schultern ein weiteres Mal streiften. „Wenn du dann irgendwann mal ein hohes Tier in irgendeinem Label bist und Tänzer für ein Musikvideo für irgendeine Band brauchst, sag Bescheid.“   Die Worte hingen einige Sekunden lang zwischen ihnen, in denen nur der Lärm einer Bahn, die auf einem anderen Gleis einfuhr, zu hören war. Karyu biss sich auf die Unterlippe, sah den anderen mit einem unsicheren Lächeln an.   „Ich wüsste ja nicht mal, wie ich dich erreiche.“   „Dann sollten wir das schnellstmöglich ändern, würde ich sagen.“ Zero streckte seine Hand in einer Geste aus, die ihn automatisch sein Handy aus der Jackentasche ziehen ließ. „Nicht, dass mich das irgendwann meinen großen Durchbruch kostet.“   Kapitel 3: Attitude ------------------- 03. Attitude   Attitude: frz. „Haltung“; eine Pose, in der der Tänzer auf einem Bein steht, während das andere nach hinten, zur Seite oder nach vorne gehoben wird und das Knie des Spielbeins gebeugt ist.   -   Mit einem unterdrückten Gähnen ließ Karyu sich auf den erstbesten freien Platz sinken, den er in der Bahn finden konnte, lehnte seinen Kopf gegen die kalte Fensterscheibe und zwang sich weiter dazu seine Augen offenzuhalten. Ganz offensichtlich trug er seine Kontaktlinsen heute schon zu lang oder war einfach zu übernächtigt, als dass er sie gerade gut vertragen würde. Aber eine Weile musste er das jetzt einfach noch aushalten, so unangenehm es auch war. Allein schon, weil er sich nicht vorstellen konnte, dass es gutgehen würde, beim Tanzen eine Brille zu tragen – erst recht nicht, wenn man zwei so linke Füße hatte, wie es bei ihm anscheinend chronisch der Fall war. Der Gedanke ließ ihn innerlich lächeln, brachte er doch die Erinnerung an das letzte Wochenende zurück und damit an die Zeit, in der Zero versucht hatte in diesem Club doch noch einen Tänzer aus ihm zu machen. Aber selbst der andere hatte irgendwann einsehen müssen, dass ihm dieses Talent offensichtlich einfach nicht in die Wiege gelegt worden war. Und trotzdem: Er hatte in dieser Nacht mehr Spaß gehabt, als er es zu Beginn für möglich gehalten hatte. Nicht, dass er wirklich darüber nachdenken musste, warum das der Fall war. Dass er sich von Zero angezogen fühlte, hatte er schließlich, wenn er ehrlich war, schon in Chicago gemerkt. Allerdings hatte er sich da noch an die Hoffnung klammern können, dass er diesen Fremden und sein irgendwie herausforderndes Lächeln nie wieder sehen würde. Das zufällige Treffen am Wochenende hatte ihm dahingehend nun einen dicken Strich durch die Rechnung gemacht, zumal er sich trotz seiner nicht vorhandenen tänzerischen Fähigkeiten in Zeros Gegenwart einfach nur wohlgefühlt hatte. Und das Ergebnis war jetzt, dass er weit häufiger an seinen neuen Bekannten dachte, als ihm eigentlich lieb war. Zumal es momentan ganz andere Dinge gab, über die er sich Gedanken hätte machen sollen, allem voran die Klausuren, durch die er bis zum Ende des Jahres noch irgendwie durch musste.   Aber auch all diese Überlegungen hatten nicht davon abgehalten, Zero am Sonntag, nachdem er irgendwann gegen Mittag aufgewacht war zu schreiben, um ihn zu fragen, ob er gut Zuhause angekommen war. Seitdem hatten sie zwar nicht ständig Kontakt, schickten sich aber im Laufe der Tage immer wieder Nachrichten und mit jedem Kommentar des anderen, der auf seinem Handy ankam, wuchs Karyus Vorfreude auf den nächsten. Wenn er nicht aufpasste, würde das zu einem echten Problem werden. Allein schon, weil er nicht einschätzen konnte, ob das Interesse, das er noch zu verdrängen versuchte, erwidert wurde, oder ob Zero einfach immer so zugänglich war, wie ihm gegenüber. Aber selbst über diesen Punkt wollte er, wenn er ehrlich war, eigentlich nicht weiter nachgrübeln. Vermutlich konnte er schon zufrieden sein, wenn ihre Bekanntschaft länger anhielt und nicht nach ein paar Wochen, in denen sie sich nicht sahen, einfach im Sande verlief.   Müde blinzelte er nach oben in Richtung Streckenplan, stellte erleichtert fest, dass er sein Ziel bald erreicht haben würde und zog dann sein Handy aus der Tasche. Auch wenn er es versuchte, den kleinen Hüpfer, den sein Herz machte, als er eine neue Nachricht von Zero sah, konnte er nicht vollkommen ignorieren. Er entsperrte sein Telefon, musste unwillkürlich schmunzeln, als er den kurzen Text las:   »Ich dachte, dass ich für heute fertig bin und jetzt muss ich für einen Kollegen einspringen. Adieu freier Nachmittag! Das Leben ist grausam!!!«   Dahinter befand sich gleich eine ganze Reihe von verschiedenen weinenden Emojis, die ihn dazu brachte mit dem Tippen einer Antwort zu beginnen, ohne großartig darüber nachzudenken.   »Das Leben muss dich wirklich hassen. Aber falls es dich tröstet: Ich komme gerade erst von der Uni und kann auch noch nicht aufs Sofa. Und das nur, weil ich anscheinend zu nett bin.«   Vielleicht hätte er darüber nachgedacht welcher Smiley für diese Antwort der angemessene wäre – eine Tatsache, die ihm auch schon wieder zu denken geben sollte, die er aber vorerst zu ignorieren versuchte – aber dann fuhr der Zug tatsächlich schon in die Haltestelle ein, an der er aussteigen musste. Mit einem Ruck erhob er sich, fädelte sich in die Menschenmenge ein, die ebenfalls den Weg nach draußen suchte und ließ sich vom Strom der Pendler mitreißen.   Wie schon die ersten Male, die er hier ausgestiegen war, bog er beinahe in Richtung des falschen Ausgangs ab, bemerkte seinen Fehler gerade noch so bevor er durch die Ticketschranken ging. Kopfschüttelnd blieb er einen Moment stehen, drehte sich dann um, um sich zurück durch die ihm entgegenkommenden Passagiere zu kämpfen. Auch wenn ihm sein Fehler unangenehm war, das hier war immer noch besser, als draußen einen riesigen Umweg in Kauf nehmen zu müssen. Vielleicht würde er sich ja irgendwann noch merken, welcher Weg der richtige war, denn so wie es aussah würden seine Besuche hier noch eine Weile andauern. Und das alles nur, weil seine Schwester irgendwelche Versprechen, die sie einander als Kinder gegeben hatten, auch als erwachsene Frau noch viel zu ernst nahm.   Er verließ den Bahnhof, hielt nur noch kurz an einem Automaten an, um sich einen Kaffee zu ziehen, der ihn hoffentlich noch eine Weile wachhalten würde. Glücklicherweise musste er jetzt keinen sonderlich weiten Weg mehr in der Kälte zurücklegen, sondern konnte das Ganze einfach hinter sich bringen. Schlechter als die letzten Male konnte es schließlich wirklich nicht mehr laufen und wer wusste schon, ob am Wochenende nicht doch ein kleiner Funken von Zeros tänzerischem Talent auf ihn übergesprungen war.    Mit einem Aufatmen betrat Karyu die Tanzschule, genoss für einige Augenblicke die angenehme Wärme, die hier im Gegensatz zu draußen herrschte, während er die Treppen in die zweite Etage nach oben stieg. Wie mittlerweile üblich war er relativ knapp dran, aber Versprechen hin oder her, er konnte nicht einfach mitten in der Vorlesung gehen, nur um vor seinem ‚geliebten‘ Tanzunterricht mehr Zeit zum Ankommen zu haben. Nachdem er sich kurz die Füße abgetreten hatte, ging er durch den Flur weiter in den Aufenthaltsbereich, wo es neben einer kleinen Bar auch etliche Sitzmöglichkeiten gab. An einem der Tische konnte er auch schon Ayasa erspähen, die ihm ein kurzes Lächeln zuwarf und ihr Handy beiseite legte, als er näherkam.   „Da bist du ja“, begrüßte sie ihn, während er sich aus seiner Jacke schälte, musterte ihn wie so oft ein bisschen kritisch. „Du siehst aus, als hätte dich etwas am Kragen gepackt und hergeschleift“, war schließlich das Urteil, das sie mit einem breiten Grinsen fällte.   „Und du bist bezaubernd wie immer.“ Seufzend fuhr Karyu sich mit beiden Händen durch die Haare, warf einen Blick durch die Glaswand, die sie von einem der vier Trainingsräume trennte, bevor er sie wieder ansah. „Die Vorlesung ging länger“, erklärte er noch, auch wenn sie sich das vermutlich denken konnte, und ließ sich ihr gegenüber auf einen Stuhl fallen.   Wie jedes Mal, wenn sie hier saßen, fragte er sich, warum sie sich das Ganze eigentlich antat. Seine Schwester hatte zwar gesagt, dass Ayasa ihre eigenen Tanzfähigkeiten einfach auch ein bisschen aufpolieren wollte, aber dazu hätte sie sicher auch andere Möglichkeiten gehabt, als sich ausrechnet mit ihm als Tanzpartner herumzuquälen. Vermutlich hatte Kana sie mit irgendetwas bestochen, damit er das hier nicht ganz allein durchstehen musste. Und auch wenn das vielleicht nicht so ganz die nette Tour war, war er seiner Schwester prophylaktisch schon ein bisschen dankbar dafür. Mit einer gänzlich unerfahrenen Partnerin würde er sich vermutlich noch schlechter anstellen, als so schon. Bevor er an dieser Stelle aber noch mehr über sein unfaires Schicksal nachdenken konnte, erschien ihre Tanzlehrerin auch schon im Sitzbereich und lächelte in die Runde.   „Ich würde sagen, wir fangen an, ja?“, sagte sie, führte mit der rechten Hand eine formvollendete Geste in Richtung der Tanzfläche aus, ging dann in deren Richtung voran, während die versammelte Schülerschaft sich unter lautem Stühlerücken anschickte ihr zu folgen. Karyu seinerseits sah ihr für einige Sekunden hinterher, unterdrückte ein Gähnen, als er schließlich ebenfalls aufstand und noch einen letzten Schluck seines Kaffees trank. Aus den Augenwinkeln konnte er sehen, wie auch Ayasa der anderen Frau hinterhersah, allerdings mit einem Gesichtsausdruck, der ihn lächeln ließ.   „Pass auf, dass du nicht sabberst“, neckte er sie, ging dann schnell den anderen Teilnehmern ihres Kurses hinterher.   „Karyu!“ Empörung und auch ein wenig Verlegenheit waren in ihrer Stimme deutlich zu hören, sodass der Ellenbogen, den sie ihm Sekunden später wenig damenhaft in die Seite rammte, nicht gänzlich unerwartet kam.   Allerdings würde er sich davon nicht stören lassen, allein schon, weil die Tatsache, dass seine Freundin ein bisschen in Ataru, ihre Tanzlehrerin, verknallt war, quasi seinen einzigen Lichtschimmer in diesem ganzen Tanzstunden-Horrorszenario darstellte. Nicht, dass er es Ayasa verübeln konnte – die Frau, die jede Woche wieder versuchte ihren Schülern die einfachsten Grundschritte verschiedener Paartänze nahezubringen, war schlicht und ergreifend bildschön und daran gab es nichts zu rütteln.   „Ich freue mich, dass ihr alle wieder da seid. Ich hoffe, ihr habt die letzte Stunde gut überstanden.“ Erneut lächelte sie in die Runde, während Karyu sich am liebsten noch weiter in die hinterste Ecke des Saals zurückgezogen hätte, um möglichst nicht wahrgenommen zu werden. „Leider kann Shun heute nicht hier sein, weil er sich eine Grippe eingefangen hat-“ Sie unterbrach sich selbst, um zur Tür zu sehen, die sich gerade noch einmal öffnete. Ihr Lächeln wurde weiter, als sie fortfuhr. „Aber glücklicherweise hat Michiya sich dazu bereit erklärt, mir heute zu helfen.“   Karyu fühlte sich wie erstarrt, als er Zero dabei beobachte, wie er, Atarus Lächeln erwidernd, auf sie zuging, sich dann an die versammelten Schüler wandte.   „Ich hoffe, ich kann ein guter Ersatz sein. Ich unterrichte sonst einige der Kinderkurse hier, die hier angeboten werden – ich gehe einfach mal davon aus, dass es bei euch weniger Geschrei nach Elternteilen gibt.“ Für einen Moment ließ sein Grinsen die Grübchen auf Zeros Wangen erscheinen, aber Karyu nahm sie noch nicht einmal wirklich wahr.   Sein Leben musste ihn hassen, wenn es ihn tatsächlich dazu zwingen wollte seine gänzliche Unfähigkeit zum Tanzen ausgerechnet vor seiner neuen Bekanntschaft unter Beweis zu stellen. Schon wieder. Und dieses Mal in einem Rahmen, der mit der lockeren, und ehrlicherweise leicht angetrunkenen, Atmosphäre vom letzten Wochenende rein gar nichts zu tun hatte.   „Karyu, ist alles okay? Du bist ein bisschen blass geworden gerade…“ Ayasas Stimme klang besorgt, brachte ihn dazu sich aus seiner Starre zu lösen und zu ihr umzudrehen. Er biss sich auf unter Unterlippe und schüttelte sacht den Kopf.   „Wir können nicht zufällig gehen, oder?“, wollte er nur halb scherzhaft wissen.   „Ähm, nein. Eigentlich nicht wirklich.“ Sie sah fragend und mit zusammengezogenen Augenbrauen zu ihm hoch, legte beruhigend eine Hand auf seinen Unterarm. Aber bevor sie noch etwas sagen konnte, um zu erfahren, was los war, ertönten die ersten Klänge eines langsamen Liedes.   „Bitte die Herren auf die eine Seite, die Damen auf die andere“, forderte Ataru sie auf, während sie von der Musikanlage zurück in die Mitte des Raumes ging. „Wir wiederholen erst einmal die Schritte der Rumba, die wir in der letzten Woche geübt haben. Denkt daran genau auf den Rhythmus zu hören, das Ganze ist langsamer, als ihr meint. Und immer schön auf den Fußballen bleiben, ich möchte keine Fersenschritte sehen – auch nicht bei den Herren. Ihr habt die Zeit alles richtig auszutanzen.“   Wenn er ehrlich war, war Karyu ja im Moment schon mehr als froh, wenn er überhaupt irgendeinen Schritt hinbekam, egal mit welchem Teil seines Fußes er diesen nun machte. Schließlich war der Rhythmus nicht sein Problem, zumindest nicht im Kopf. Er spielte schon sein halbes Leben lang Gitarre, er war in der Lage dazu Musik richtig zu hören, sich ihr anzupassen. Aber die Verbindung vom Hirn zum Rest seines Körpers war dann eben der Punkt, an dem es haperte. Hauptsächlich, weil es da keine Verbindung zu geben schien. Ganz abgesehen davon, dass seine grauen Zellen nicht in der Lage waren, sich selbst einfache Schrittfolgen zu merken.   Am Ende hatte er so konzentriert versucht auf das zu hören, was Ataru sagte und ihnen vorzählte, dass er nicht bemerkt hatte, wie Zero seinen Platz vor der Reihe der Männer, von dem aus er den Grundschritt gezeigt hatte, verließ. Stattdessen ging er langsam die Reihe entlang, korrigierte den ein oder anderen Kursteilnehmer kurz, bis er schließlich vor Karyu innehielt. Und Karyu wäre nicht er selbst, wenn er sich nicht allein deswegen komplett verhaspelt hätte und letztlich einfach stehen blieb. Zögerlich sah er auf, hasste wie unsicher er sich gerade fühlte – als wäre es eine furchtbare Sache, dass er nicht tanzen konnte. Und auch wenn es das mit Sicherheit nicht war und er damit noch sicherer nicht allein war, jetzt gerade fiel es ihm genau deswegen schwer Zero anzusehen. Der jedoch erwiderte seinen Blick nur mit einem kleinen, warmen Lächeln.   „Ich wusste gar nicht, dass du hier Stunden nimmst“, sagte er statt einer Begrüßung, zählte dann neu an, damit Karyu wieder in die Schritte einsteigen konnte, ohne aus dem Takt zu kommen.   „Wusste nicht, dass du hier arbeitest“, brachte er als Antwort hervor, klang dabei zerknirschter, als er beabsichtigt hatte. Er sah seinem Gegenüber nicht ins Gesicht, versuchte stattdessen einmal mehr mit aller Macht sich zu konzentrieren und die Schrittfolge, die sie gelernt hatten, umzusetzen, so gut er eben konnte. Als er unerwartet die warme Hand des anderen an seinem unteren Rücken spürte, zuckte er zusammen.   „Halte dich ein bisschen gerader. Du bist vollkommen verkrampft.“ Selbst über die Musik hinweg, jagte Zeros ruhige, dunkle Stimme ihm einen Schauer über den Rücken.   „M-hm.“   Er hätte Zero gern erklärt, dass er sich nicht unbedingt entspannen konnte, wenn er versuchte Rumba zu tanzen und der andere ihm dabei so nahe kam, aber dann hätte er sich bei seinem Glück nur wieder in seinen eigenen Füßen verheddert. Vor allem jetzt, wo sich beide Hände seines Bekannten von hinten an seine Hüfte legten, so mit Bestimmtheit seine Bewegungen dirigierten.   „Wenn du dein Gewicht weiter in die Schritte verlagerst, geht es einfacher.“   Dann waren die Hände ebenso plötzlich verschwunden, wie sie ihn berührt hatten und Zero ging zurück in die Mitte des Raumes, wo Ataru gerade die Schüler dazu aufforderte sich paarweise aufzustellen.   ~*~   Obwohl er die Tanzstunde insgesamt besser überstanden hatte, als anfangs befürchtet, war er knappe zwei Stunden später froh, das Gebäude wieder verlassen zu können. Schon jetzt hatte er das Gefühl, jeden Muskel in seinem Körper auf unangenehme Art und Weise zu spüren, was dafür sprach, dass er von diesem Nachmittag wohl noch länger etwas haben würde. Zusammen mit Ayasa stand er an der Kreuzung, von der aus sie in Richtung Bahnhof weitergehen würden, und wartete darauf, dass die Ampel auf Grün umschaltete.   „Meinst du, sie würde mit mir ausgehen?“, fragte seine Begleiterin ihn plötzlich, nachdem kurze Zeit lang Stille zwischen ihnen geherrscht hatte. Erstaunt sah er sie an.   „Was?“   „Denkst du, sie würde mal mit mir ausgehen?“, wiederholte Ayasa ihre Frage, trug einen fast schon gequälten Gesichtsausdruck zur Schau und wirkte insgesamt ungewöhnlich angespannt.   „Meinst du Ataru?“   „Ja, natürlich. Wen denn sonst.“ Geradezu hilflos zuckte sie mit den Schultern, biss sich auf die Unterlippe, als wollte sie das kleine Lächeln unterdrücken, das sich auf ihren Lippen ausbreitete, bevor sie fortfuhr. „Ich würde sie gern fragen. Aber … ich will auch keine Grenzen überschreiten oder so. Weißt du, was ich meine? Schließlich ist sie ja unsere Lehrerin, selbst wenn sie nicht viel älter ist, als wir und wir sind zahlende Kundschaft und mh. Keine Ahnung, das ist doof, irgendwie.“   Karyu runzelte die Stirn, während er sie forschend anschaute.   „Das klingt irgendwie, als hättest du da schon länger drüber nachgedacht.“   „Schon.“ Die Antwort verließ kleinlaut Ayasas Mund und ihre Wangen nahmen ein Rot an, das nicht von der herrschenden Kälte kam. „Ich bekomm sie einfach nicht mehr aus dem Kopf, schon seit der ersten Stunde nicht“, gab sie unumwunden zu.   „Kann ich verstehen.“ Vertraut legte Karyu einen Arm um sie, zog sie leicht an sich und ausnahmsweise protestierte seine Freundin auch nicht, sondern lehnte sich an ihn. „Abgesehen davon, dass sie ganz offensichtlich dein Typ ist – sie sieht toll aus, sie hat Ausstrahlung ohne Ende-“   „Ihr Lächeln ist absolut umwerfend.“   „Das auch. Wie gesagt, absolut nachvollziehbar.“ Er warf einen Blick in den dunklen Himmel, an dem sich schwere Wolken türmten. „Frag sie doch einfach, wenn wir mit dem Kurs fertig sind. Nach der letzten Stunde oder so. Dann ist sie genau genommen nicht mehr unsere Lehrerin und sollte sie dich eiskalt abblitzen lassen, musst du sie danach nicht mehr wiedersehen.“   „Du bist so ein Arsch, Karyu!“ Ayasa versuchte ihn böse anzusehen, musste aber ob seines breiten Grinsens doch lachen. „Aber die Idee ist ausnahmsweise nicht schlecht.“   „Auch ein blindes Huhn findet mal ein Korn oder wie heißt es immer so schön?“ Nun war er es, der mit den Schultern zuckte und gleichzeitig damit begann seine Jackentaschen nach seinem Feuerzeug zu durchforsten. Dann fluchte er leise, als ihm einfiel, dass er es benutzt hatte, um ein Teelicht auf ihrem Tisch in der Tanzschule anzuzünden. Vielleicht hatte seine Mutter früher doch recht gehabt und er würde tatsächlich noch irgendwann seinen Kopf vergessen, wäre der nicht angewachsen. Und natürlich wurde die Fußgängerampel gerade jetzt grün.   „Geh ruhig schon mal vor, Ayasa“, seufzte er. „Ich muss nochmal zurück, hab was liegen lassen. Wir sehen uns morgen an der Uni?“   Theatralisch verdrehte sie die Augen, umarmte ihn aber für einen Moment.   „Na klar. Zumindest, wenn du den Weg dahin dann noch findest.“ Mit einem letzten Grinsen drehte sie sich um und lief über die Straße davon, während Karyu ihr hinterhersah.    Er verharrte neben der Ampel, bis Ayasa die Straße überquert hatte und in Richtung Bahnhof aus seinem Blickfeld verschwunden war. Erst dann gab er sich einen Ruck und ging den kurzen Weg zurück zu dem Gebäude, das er erst vor wenigen Minuten verlassen hatte. Ihm wäre es zwar wesentlich lieber bereits auf dem Weg nach Hause zu sein, aber wenn er nicht jetzt noch einmal nach seinem Feuerzeug suchte, würde er es vermutlich nie wieder finden. Was einerseits prinzipiell sehr schade wäre und zum anderen würde Tatsurou, der ihm das gravierte Zippo zum Geburtstag geschenkt hatte, vermutlich auf ewig beleidigt sein.   Im Versuch sich zu beeilen, nahm Karyu immer zwei Treppenstufen auf einmal, wurde aber schon auf dem ersten Absatz von seiner Beinmuskulatur nachdrücklich darauf hingewiesen, dass er deutlich mehr trainieren müsste, um das nach einer Tanzstunde noch tun zu können. Mit schmerzhaft verzogenem Gesicht erklomm er den Rest der Treppe deutlich langsamer, bis er wieder vor der Eingangstür des Studios stand. Und zu seinem Glück war sie noch nicht abgesperrt. Vorsichtig betrat er die Räumlichkeiten wieder. Irgendwo spielte leise eine seichte Popballade, aber zu sehen war für den Moment niemand, weswegen er einfach direkt weiter in den Sitzbereich ging. Zu seiner Enttäuschung lag sein Feuerzeug allerdings nicht abholbereit auf dem Tisch, an dem er vorhin mit Ayasa gesessen hatte. Mit einem Seufzen stellte er seine Tasche ab und ging in die Knie, um auf dem Boden danach zu suchen, tastete erst unter den Stühlen, dann unter der Sitzbank am Nebentisch blind nach seiner Beute. Schließlich stieß er einen leisen aber triumphierenden Laut aus, als seine Fingerspitzen etwas Metallenes berührten – mit einiger Anstrengung streckte er sich noch etwas mehr, bis er seine Hand um den Gegenstand schließen konnte, der sich tatsächlich als Tatsurous Geschenk herausstellte. Karyu schickte ein stummes Stoßgebet gen Himmel, dankte welchem Gott er auch immer dieses kleine Quäntchen Glück zu verdanken hatte und kam dann auf den Knien zum Sitzen. Und erst jetzt bemerkte er, dass er nicht allein war.   In der Mitte des Tanzsaales, den er durch die Glaswand sehen konnte, stand Zero gesenktem Kopf, als würde er sich auf etwas konzentrieren. Und auch wenn er es nicht sicher sagen konnte, weil das brünette Haar des anderen ihm die Sicht auf seine Gesichtszüge verdeckte, hätte Karyu beinahe wetten können, dass seine Augen geschlossen waren. Vielleicht hätte er einfach so leise wie möglich aufstehen und gehen sollen, dem anderen die Ruhe geben, die er zu brauchen schien, aber gleichzeitig konnte er nicht anders, als einfach wie erstarrt sitzen zu bleiben und ihn anzusehen. Statt der dunklen, eher förmlichen Kleidung von vorhin trug Zero nun weit geschnittene, hellgraue Jogginghosen, die ihm bis knapp unter die Knie reichten und ein schlichtes weißes Tanktop. Auf Schuhe hatte er ganz verzichtet, sodass Karyu sehen konnte, wie sich seine Fußzehen hin und wieder leicht regten, als würden sie bereits ihre nächsten Schritte planen. Noch während er den anderen so betrachtete, wechselte die Musik. Der Popsong verstummte und ein langsamerer Beat setzte ein, begleitet von einem Instrument, das er nicht ganz zuordnen konnte. Es klang wie ein Klavier und gleichzeitig wie etwas anderes. Doch ehe er wirklich darüber nachdenken konnte, begann eine sanfte, weich und verträumt wirkende Stimme zu singen und Zero begann sich zu bewegen.   Die ersten Regungen waren verhalten, wirkten beinahe mehr gedacht, als tatsächlich ausgeführt und fesselten dennoch seine Blicke. Selbst als der andere den Kopf hob, schien er ihn nicht zu bemerken, sondern war stattdessen vollkommen auf sein Spiegelbild konzentriert. Dem Rhythmus des Liedes folgend machte er einige Schritte nach hinten, verharrte auch jetzt wieder mit geschlossenen Augen für einige Herzschläge in einer Pose, die in ihrer Stille etwas geradezu Lauerndes hatte. Noch bevor Karyu dies auch nur ansatzweise hinterfragen konnte, setzte der Refrain ein und die Bewegungen, die Zero bisher zurückgehalten hatte, schienen geradezu aus ihm hervorzubrechen.   Er erinnerte sich daran, wie Zero ihm davon erzählt hatte, dass er sein ganzes Leben mit Tanzen verbracht hatte und auch wenn er sich vermutlich keinerlei Urteil darüber erlauben konnte, was gutes oder schlechtes Ballett war – das, was er hier gerade sah, war unglaublich. Er wusste nicht wie, aber Zeros Bewegungen waren gleichzeitig voller Kraft und von einer Leichtigkeit, die eigentlich nicht miteinander zu vereinbaren sein sollten. Wenn er ehrlich war, war ihm nicht bewusst gewesen, dass sich Menschen sich so bewegen konnten. Es war, als würde die Schwerkraft nicht existieren, Zeros nackte Füße schienen den Boden kaum zu berühren – selbst als die Musik wieder ruhiger wurde, das Tempo für einen Moment abnahm. Jede einzelne Bewegung, jede Geste, die Zero machte, sprach von absoluter Präzision und war doch vollkommen im Fluss. Jeder Sprung, jede Drehung schien eine komplexe Sprache zu sprechen, die er zwar nicht verstand, aber umso mehr bewunderte und in die er so eintauchte, dass er regelrecht zusammenzuckte, als Zeros braune Augen auf einmal unerwartet und mit unglaublicher Intensität auf ihm lagen. Der Blickkontakt hielt nur einen Sekundenbruchteil an und trotzdem hätte Karyu das Gefühl, das er in ihm auslöste, nicht in Worte fassen können. Am ehesten wäre vielleicht Ehrfurcht zutreffend und der unglaublich starke Drang Zero berühren zu wollen. Nur um sicherzugehen, dass der Tänzer tatsächlich ein Mensch aus Fleisch und Blut und keine bloße Erscheinung war, die sich seine Fantasie zusammengesponnen hatte. Er war versucht aufzustehen und in den Tanzsaal zu gehen, aber zumindest im Moment ließ der andere sich nicht von seiner Anwesenheit stören. Im Gegenteil, er wirkte sofort wieder in seiner Choreographie und der Musik versunken, als wäre dies seine ganz eigene Welt, in der er ungestört war. Erst als das Lied sich dem Ende zuneigte, die letzten Töne verklangen, verharrte er wieder in einer ähnlichen Pose wie zu Beginn: Einen Fuß mit der Spitze hinter den anderen gesetzt, ein Arm über den Kopf erhoben, den anderen seitlich von sich gestreckt. Selbst von seiner knienden Position aus konnte Karyu sehen, wie schwer er atmete und folgte mit Blicken ein, zwei kleinen Schweißperlen, die ihm über die Schläfe rollten.   Erst als er aus Reflex durchatmete, sobald Zero seine Haltung auflöste, wurde ihm klar, dass er unbewusst die Luft angehalten hatte.   Er sah zu, wie der andere mit einer Hand nach dem Saum seines Oberteils griff, den weißen Stoff dazu benutzte sein Gesicht abzutrocknen, bevor er sich selbst aufrappelte. Wenn er schon so unhöflich war und hier bei einer ganz sicher nicht öffentlichen Trainingseinheit zuschaute, sollte er sich schließlich zumindest entschuldigen. Als er die Tür zum Saal öffnete, sah Zero auf, warf ihm ein schiefes Grinsen zu, nur um sich dann mühelos bodentief vor ihm zu verbeugen.   „Ich … wollte nicht stören oder so“, begann Karyu zögerlich, hielt vermutlich vollkommen unnötigerweise sein Feuerzeug hoch, das er noch immer in der Hand hatte. „Ich hatte das hier nur vergessen und wollte es noch schnell holen.“   „Alles gut“, winkte der andere ab. Mit langsamen Schritten ging Zero zur Fensterfront, von der aus man auf die Straße sehen konnte, griff nach seiner Wasserflasche. „Wie du siehst, hab ich mich ja nicht unterbrechen lassen“, meinte er noch, bevor er einige tiefe Züge nahm.   „Sorry. Vermutlich sollte ich dich einfach in Ruhe weitermachen lassen…“ Er wusste nicht warum, aber diese ganze Situation war ihm mit einem Mal einfach nur furchtbar unangenehm und er hatte sich schon umgedreht, um die Tanzschule endgültig zu verlassen, als Zeros Stimme erneut ertönte.   „Du kannst ruhig bleiben, wenn du möchtest.“   Das Lächeln, dass er ihm zuwarf, als er noch einmal zurücksah, hätte vermutlich auch einen Eisberg schmelzen lassen. Und so, wie Zero gerade ans Fensterbrett gelehnt dastand, äußerlich vollkommen entspannt, aber verschwitzt und mit zerzaustem Haar, konnte er gar nicht anders, als seine Tasche neben der Tür abzustellen und sich ihm langsam zu nähern.   „Das … sah toll aus eben.“   Zeros Lächeln wurde noch eine Spur breiter.   „Danke. Steckt auch viel Arbeit dahinter“, gab er dann zu, während er Karyu dabei beobachtete, wie er den Saal durchquerte, ihn einmal mehr an diesem Tag so intensiv musterte, dass ihm eine heftige Gänsehaut über den Rücken jagte. „Du kannst deine Jacke ruhig ausziehen, wenn du nicht gerade auf der Flucht bist“, fügte er dann hinzu. Und obwohl dieser Satz an und für sich eine vollkommen normale Aussage war, ließ er in Karyus Magen eine wahre Armee von Schmetterlingen aufstieben, als er ganz automatisch begann sich aus seinem Mantel zu schälen. Wann hatte er eigentlich damit angefangen einfach alles zu tun, was Zero sagte?   „Ist das hier das, was du eigentlich machst?“, gab Karyu seiner Neugier nach und versuchte gleichzeitig sich mit der Frage von seinen Gedanken abzulenken.   „Manchmal. Früher ja. Aber anders.“ Zero zog die Augenbrauen zusammen, schüttelte dann, offensichtlich über sich selbst den Kopf und begann noch einmal von vorn. „Als ich im Ballett der Akademie getanzt habe, war das quasi alles, was ich gemacht habe. Aber mit klassischem Ballett hab ich jetzt nicht mehr wirklich viel zu tun. Das hier gerade war eher … ein bisschen von allem, wenn man das so sagen kann.“   „Warum tanzt du nicht mehr im Ballett?“ Sobald die Worte Karyus Mund verlassen hatten, wurde ihm klar, dass er hier vielleicht ein unliebsames Thema angesprochen oder einen wunden Punkt getroffen hatte – aber ehe er sich entschuldigen konnte, zuckte sein Gegenüber scheinbar ungerührt mit den Schultern, während seine Finger mit dem Verschluss seiner Wasserflasche spielten.   „Ich wollte auch noch so etwas wie ein Leben haben“, erklärte er dann schlicht.   „Das klingt hart.“   „Ist es auch. Aber wenn ich mit Anfang zwanzig ständig nur Schmerzen habe und eine einzige Verletzung mein Karriere-Aus bedeuten könnte, ist das mindestens genauso hart.“ Da war keine Bitterkeit in Zeros Stimme, nur vielleicht ein bisschen Wehmut, die noch stärker wurde, als er weitersprach. „Ich liebe das Tanzen und das wird sich auch nie ändern. Ich liebe das Ballett. Aber deswegen will ich es auch noch möglichst lang machen können und nicht mit spätestens Ende dreißig einfach aussortiert werden.“ Er hielt inne, sah hinunter auf die Flasche in seinen Händen.   Dann schien er sich einen Ruck zu geben, stellte sie beiseite und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Karyu, der mit einem mulmigen Gefühl das schelmische Funkeln in Zeros Augen bemerkte. Und seine Befürchtungen schienen sich zu bestätigen, als er erneut ansetzte.   „Und apropos Tanzen: Ich muss gestehen, dass ich selten jemanden gesehen habe, der ein so gutes Rhythmusgefühl, aber so sensationell wenig Koordination besitzt, wie es bei dir der Fall ist. Ich weiß wirklich nicht, wie das überhaupt funktioniert.“   „Na danke auch.“ Karyu verzog das Gesicht, was den anderen anscheinend nur noch mehr amüsierte. Zero machte rückwärts einen, dann noch einen Schritt in die Mitte der Tanzfläche ohne die Augen von ihm zu nehmen und verschränkte die Arme vor der Brust.   „Meine Theorie ist im Moment ja, dass du dir einfach selbst im Weg stehst.“   „Oooder – und das ist nur so eine Idee als persönlich Betroffener – ich bin einfach absolut talentfrei, was Bewegung zu Musik angeht.“ Seine Selbstironie ließ Zeros Lippen zucken, als hätte er am liebsten laut losgelacht.   „Glaub ich nicht. Jeder Mensch kann tanzen.“   Zero tat einen weiteren Schritt nach hinten und ohne darüber nachzudenken, war Karyu ihm genau diesen einen Schritt gefolgt.   „Vielleicht bin ich die berühmte Ausnahme von der Regel“, vermutete er dann, spiegelte die Haltung seines Gegenübers, indem er ebenfalls die Arme verschränkte, nur um von einem schlichten „Quark.“ in die Schranken gewiesen zu werden.   „Ich mein das ernst.“   „Ich auch. Und ich kann es dir beweisen.“   Karyu hätte gern eine schlagfertige Antwort gegeben, aber abgesehen von einem überaus kindischen ‚kannst du gar nicht‘ fiel ihm gerade tatsächlich nichts ein, also hielt er lieber den Mund. Und auch, wenn es ganz sicher nicht so gemeint war, deutete der andere sein momentanes Schweigen anscheinend als irgendeine Art von Zustimmung, denn er ließ ihn kommentarlos mitten im Raum stehen und ging zur Musikanlage, die nach dem Ende des letzten Liedes nichts als Stille verbreitet hatte. Mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck begann Zero sich durch eine ganze Reihe von CDs zu wühlen, als wüsste er genau, was er gerade suchte – und das wiederum konnte für ihn selbst nichts Gutes bedeuten. Allein schon, weil er ihm, wenn er ihre letzten Interaktionen im Nachhinein so betrachtete, anscheinend nicht wirklich etwas abschlagen konnte. Ganz abgesehen von dem, was sich in den letzten Minuten so zugetragen hatte.   „Ich glaube“, begann Zero da erneut, hielt eine der unzähligen CDs in die Höhe. „Dass du einfach nur verkrampft bist. Da kann sich ja nichts anständig bewegen, wenn alle deine Muskeln total angespannt sind.“   Auch hierauf wusste er nichts zu antworten, sah dem anderen also nur stumm mit einem vermutlich sehr skeptischen Gesichtsausdruck dabei zu, wie der sich an der Anlage zu schaffen machte, bis schließlich leise, weiche Klänge den Raum erfüllten.   „Ist das Entspannungsmusik?“, wollte Karyu wissen und auch seine Tonlage machte nun deutlich, wie wenig überzeugt er von der Theorie war, die ihm hier unterbreitet wurde.   „Klar. Stört nicht, ist aber besser als Stille. Und vielleicht entspannt es dich ja tatsächlich ein bisschen.“ Mit wenigen Schritten, die er auch gedanklich nicht anders als ‚tänzelnd‘ beschreiben konnte, kam Zero wieder auf ihn zu, hielt plötzlich inne, als ihm etwas einzufallen schien. „Es sei denn, ich halte dich hier gerade von irgendetwas super Wichtigem ab?“, wollte er wissen, wirkte von einem Moment auf den anderen so ehrlich besorgt, dass es Karyu ein Lächeln entlockte.   „Nein, keine Angst, das hätte ich schon gesagt. Nicht, dass das heißt, dass ich deiner Theorie in irgendeiner Weise Glauben schenken würde.“   „Dann ist ja gut.“ Zero trat einen Schritt zurück und vollführte mit der linken Hand eine ausladende Geste. „Zieh deine Schuhe aus.“   „Äh, was?“   „Schuhe ausziehen. Die brauchst du jetzt nicht.“ Wie um das zu beweisen wackelte Zero mit den eigenen Fußzehen. „Es geht besser, wenn du den Boden spüren kannst.“   „Ich hoffe du weißt, wie esoterisch das klingt“, neckte er den Kleineren, machte sich aber ohne weitere Proteste daran, aus seinen Schuhen zu schlüpfen.   „Socken auch, sonst rutschst du nur“, überging Zero seinen Einwurf vollkommen, auch wenn er die Belustigung in seiner Stimme hören konnte.   Karyu wünschte sich, dass ihn diese weitere Forderung überrascht hätte oder er in sich auch nur ansatzweise den Willen gefunden hätte, zu widersprechen, aber zu seinem Leidwesen war keines von beidem der Fall. Er konnte nur hoffen, dass sein privater Tanzlehrer davon nichts mitbekam. Also zog er sich ohne weitere Widerworte auch noch seine Strümpfe aus, stopfte sie in die Schuhe und stellte beides beiseite, ehe er barfuß wieder zu Zero trottete, dessen wache Augen auch jetzt auf ihm ruhten.   „Wieso machst du das eigentlich? Den Kurs, meine ich?“, wollte er wissen, begann ihn dann langsam zu umrunden und Karyu konnte nicht umhin sich ein bisschen zu fühlen wie das sprichwörtliche Kaninchen vor der Schlange – nur dass die Schlange in diesem Fall ein äußerst attraktiver und unendlich begabter Tänzer war.   „Äh, na ja…“, begann er seine Antwort entsprechend eloquent, zog unwillkürlich die Schultern ein Stück nach oben. „Meine Zwillingsschwester heiratet nächstes Jahr und ich hab ihr als Kind mal versprochen, dass ich auf ihrer Hochzeit mit ihr tanzen würde, wenn wir groß sind und … jetzt haben wir quasi den Salat, weil sie sich davon auf Biegen und Brechen nicht abbringen lässt.“   „Ich verstehe…“ Es war Wärme in Zeros Worten, mehr als er erwartet hatte, aber ehe er noch hätte darüber nachdenken können, was sie bedeutete, stand der andere wieder vor ihm und fuhr fort: „Dann ist das nur ein Grund mehr, dir dabei unter die Arme zu greifen, würde ich sagen.“ Seine Blicke schweifen kurz über Karyus Körper, bevor er wieder Augenkontakt herstellte. „Zuerst einmal müssen wir an deiner Haltung arbeiten, das tut mir ja schon vom Zusehen weh.“   „Okay? Ich stehe doch einfach nur da?“   „Ja, aber wie du dastehst!“ Es wirkte fast, als wollte Zero sich vor gespielter oder auch echter Verzweiflung die Haare raufen, während Karyu immer noch nicht wirklich verstand, wo das Problem war.   Er kam etwas näher, hob jetzt beide Hände.   „Ich korrigiere dich kurz, dann wirst du merken was ich meine, okay?“   Er konnte nur nicken, spürte jetzt aber sogar selbst, wie er sich allein beim Gedanken daran, dass der andere ihn berühren würde, noch mehr verspannte. Aber – und er war sich nicht sicher, ob er darüber glücklich oder traurig sein sollte – zunächst legten sich nur zwei warme Hände auf seine Schultern und drückten sie sanft nach unten.   „Wenn du die Schultern so nach oben ziehst, machst du dich kleiner als du bist“, erklärte Zero ruhig, berührte mit den Fingersitzen einer Hand flüchtig die Mitte seines Brustkorbs. „Du machst im Solarplexus zu und stehst schon dadurch vollkommen krumm da. Versuch dich hier bewusst zu entspannen.“ Auch jetzt begann Zero wieder langsam um ihn herumzugehen, griff nun von hinten nach seinen Schultern, um sie mit etwas Nachdruck zu sich zu ziehen, während Karyu das Gefühl hatte ein Kribbeln an jeder Stelle zu spüren, an der die Hände des anderen gelegen hatten.   „Das fühlt sich so nicht wirklich entspannter an“, gab er leise zu bedenken, erntete dafür ein amüsiertes Schnauben.   „Weil du es nicht gewohnt bist. Lass die Arme ganz locker hängen.“ Die warmen Hände tasteten sich langsam seinen Rücken nach unten, hinterließen Gänsehaut auf ihrem Weg, bis sie schließlich seitlich an seinen Hüften verharrten. „Mach dein Becken gerade.“ Auch jetzt übte Zero leichten Druck aus, dirigierte ihn vorsichtig aber bestimmt in die Position, die er für richtig hielt, während Karyu gerade vollkommen damit beschäftigt war, seinen mittlerweile rasenden Puls unter Kontrolle zu bringen.   „Wie ist das eigentlich“, fragte er deswegen vollkommen zusammenhanglos, während Zero seine Runde beendete und schließlich wieder vor ihm stand. „Es gibt doch dieses komische Sprichwort von wegen ‚Tanzen ist der vertikale Ausdruck eines horizontalen Verlangens‘ und so. Ist da was dran?“   Es war ein schlechter Scherz, das wusste er, aber es war das Einzige, was ihm gerade einfiel. Mit einem definitiv dreisten Grinsen und den Worten „Wieso, machst du dir Sorgen?“ als Antwort hatte er allerdings nicht gerechnet. Er war versucht sich aus Reflex irgendwie zu verteidigen, aber Zero sprach weiter, ohne darauf zu achten.   „Wenn ich mit jedem Menschen schlafen würde, mit dem ich tanze, wäre ich echt ziemlich ausgelastet“, lachte er, verzog dann das Gesicht. „Von den Ensemble-Stücken mal ganz abgesehen. Das wär vielleicht ein logistischer Aufwand…“ Er zuckte mit den Schultern, hob dann Karyus linken Arm so an, dass Schulter und Ellenbogen auf einer Höhe waren. „Aber klar, es passiert, dass sich relativ schnell … Konstellationen bilden.“ Während er sprach, brachte er den anderen Arm in die gleiche alberne Position, trat dann noch einen Schritt an Karyu heran. „Wenn man sich ständig körperlich nah ist und viel Zeit miteinander verbringt.“   „Uh…“   „Und voilà, damit hätten wir eine ganz passable Standard-Tanzhaltung.“ Er zog Karyus rechte Hand an sich, bis der verstand, dass er sie auf Zeros Rücken legen sollte und griff gleichzeitig nach seiner Linken. Für einen Moment war Karyu viel zu perplex, um irgendwie zu reagieren, brauchte tatsächlich ein, zwei Atemzüge, bis er sich an die plötzliche Nähe gewöhnt hatte.   „Und jetzt?“   „Jetzt? Jetzt steht einem locker geschwungenen Tanzbein quasi nichts mehr im Wege.“   „Du meinst außer den Schritten, die ich immer noch nicht verstanden habe. Und der Koordination, die bei mir immer noch nicht vorhanden ist?“   „Dafür hast du ja jetzt mich, oder?“   ~*~   Am nächsten Morgen klingelte Karyus Handy, um ihn zu wecken und schon als er mit geschlossenen Augen und im Dunkeln danach tastete, fühlte sich irgendetwas nicht richtig an. Mit einem unterdrückten Schmerzenslaut rollte er sich auf den Rücken, kniff seine Augen gegen das helle Display zusammen und brachte seinen Wecker endlich zum Verstummen. Kurz verharrte er so, versuchte dann sich zu strecken, woraufhin jeder Zentimeter seines Körpers zu protestieren begann. Er schaffte es noch, sich aufzusetzen, musste dann aber innehalten und hätte mit dem Kopf geschüttelt, hätte er nicht auch in seinem Nacken jede einzelne Muskelfaser überdeutlich gespürt. In einer routinierten Bewegung entsperrte er sein Telefon, begann langsam mit einer Hand zu tippen, während er sich mit der anderen auf dem Bett abstützte.   »Ich weiß nicht, was du gestern mit mir gemacht hast, aber mir tun Muskeln weh, von denen ich nicht einmal wusste, dass ich sie habe.«   Er drückte auf ‚Senden‘, sah zu seiner Überraschung noch bevor er die Nachrichtenapp schließen konnte, die drei Punkte, die ihm anzeigten, dass Zero gerade antwortete.   »Das ist normal, sorry, da musst du leider durch. Eine lange, heiße Dusche hilft.«   Dahinter ein Zwinkersmiley.   Mit einem ‚Uff‘, das ihm aus tiefster Seele sprach, ließ Karyu sich wieder in die Waagerechte sinken und zog sich seine Bettdecke über den Kopf, verdrängte für den Moment, dass er in rund eineinhalb Stunden in der Uni sein sollte. Er war so was von verloren.   Kapitel 4: Changement --------------------- 04. Changement Changement: frz. „Wechsel“, eigentlich ‚changement de pieds‘, also ‚Wechsel der Füße‘ – ein Sprung, seltener ein auch ein Schritt, bei dem sich in der Luft die Position der Füße ändert; beispielsweise wird aus der fünften Position mit dem rechten Fuß vorn abgesprungen und das Bein gewechselt, sodass mit dem linken Fuß vorn gelandet wird. -   Karyu kaute nervös auf seiner Unterlippe herum, während er auf das Display seines Handys schaute, immer wieder halbherzig durch seine Kontaktliste scrollte, nur um letztlich doch bei ein und demselben Namen innezuhalten. Er war mehr als froh, dass ihn gerade niemand beobachtete, denn vermutlich gab er ein absolut armseliges Bild ab, wie er hier zusammengesunken auf dem Sofa saß, und versuchte sich selbst gut zuzureden. Manchmal hatte es doch Vorteile einen Mitbewohner zu haben, der mehr Zeit bei seiner Freundin, als in der eigenen Wohnung verbrachte. Vor allem, weil er nicht gerade darauf erpicht war sich dafür zu rechtfertigen müssen, dass er hier herumhing wie ein sehr nervöser Schluck Wasser in der Kurve. Das eigentliche Problem, das ihm immer deutlicher bewusst wurde, war ja nicht einmal nur, dass er seit einigen Tagen nichts von Zero gehört hatte und allmählich begann sich Sorgen zu machen. Viel schlimmer war, dass er sich mittlerweile selbst eingestehen musste, wie sehr er den anderen mochte und Zeit mit ihm verbringen wollte. Und spätestens nach ihrem letzten unverhofften Treffen wäre es dann auch schön, wenn sie sich ausnahmsweise in einer Situation begegnen würden, in der er sich nicht vollkommen fehl am Platz fühlte. Was dann auch der Grund war, warum er hier seit geschlagenen zehn Minuten saß und mit einem flauen Gefühl im Magen auf sein Handy starrte. Er hätte natürlich auch einfach eine kurze Nachricht verschicken können, aber irgendwie war ihm wohler bei dieser Sache, wenn er Zeros Stimme hören konnte. Oder zumindest bildete er sich das ein.   „Jetzt stell dich nicht an wie ein Kind“, wies Karyu sich selbst zurecht und atmete noch einmal kurz durch. Mit dem Daumen berührte er das Anruf-Symbol und schickte gleichzeitig ein Stoßgebet gen Himmel, dass er sich keine komplette Abfuhr abholen würde. Vielleicht hatte Zero auch einfach nur keine Lust mehr Zeit mit ihm zu verbringen und meldete sich deswegen nicht? Er versuchte diesen äußerst unangenehmen Gedanken zu verdrängen, während die Freitöne ihn geradezu zu verhöhnen schienen, aber kurz bevor er mit einem Seufzen aufgeben wurde, war mit einem Mal eine Verbindung da.   „Hallo?“ Zeros Stimme klang seltsam, selbst in diesen zwei Silben.   „Hey, Karyu hier-“ „Auch hey.“ Kurz herrschte Stille, dann hörte er nur ein entferntes Rascheln, das er nicht weiter deuten konnte. „Uh, du. Ich ruf dich gleich zurück.“ Und damit war die Leitung tot.   Er ließ seine Hand sinken, sah verwirrt hinunter auf das Telefon, das noch immer das Kontakt-Profil des anderen anzeigte. War Zero etwa krank? Seine Stimme hatte seltsam belegt und fast schon ein bisschen nasal geklungen. Das würde zumindest erklären, warum er länger nichts von ihm gehört hatte. Das Seufzen, das er vorhin noch unterdrückt hatte, verließ nun umso bestimmter seinen Mund. Vermutlich hatte er Zero gerade gestört. Oder noch schlimmer aufgeweckt, vielleicht hatte er geschlafen, weil es ihm nicht gut ging? Hatte er überhaupt jemanden, der ein bisschen auf seine Gesundheit achtete? Irgendwie konnte er sich nicht wirklich vorstellen, dass der andere zu längerfristiger Bettruhe fähig war- Als sein Handy begann in seiner Hand zu vibrieren, schrak er aus seinen Gedanken auf, nahm den Anruf rasch an. „Ist bei dir alles okay?“, wollte er wissen, noch bevor Zero ihn hätte begrüßen können und hasste sich im selben Moment ein bisschen dafür, wie besorgt und fast schon übereifrig er klang. Der Klang von Zeros leisem, aber deutlich belustigten Lachen ließ ihn erleichtert aufatmen.   „Nein keine Angst, es ist alles okay.“ Er räusperte sich kurz, dann raschelte es wieder in der Leitung. Vielleicht eine Bettdecke? „Dann ist ja gut, du klangst nur gerade ein bisschen komisch.“ Karyu drehte sich etwas, sodass er sich gegen die Rückenlehne des Sofas sinken lassen konnte und sah an die Decke. „Ich dachte schon, du hast dir die Grippe eingefangen oder so.“ „Soweit kommt’s noch.“ Auch diese Worte wurden wieder von einem leisen Lachen begleitet und als Zero weitersprach, konnte er dessen Lächeln förmlich vor sich sehen. „Ich bin nur ein bisschen nah am Wasser gebaut.“ „Oh. Das … hätte ich nicht wirklich gedacht, muss ich sagen.“ „Wehe du erzählst es irgendwem.“ Jetzt war es Karyu, der lachen musste. „Keine Angst, ich schweige wie ein Grab.“ Er schloss die Augen, stellte sich halb vor, dass sie nebeneinander hier saßen und einfach nur redeten, auch wenn er sich beinahe dafür schämte, wie sehr er den anderen in diesem Moment vermisste.  „Was war denn so traurig?“ Erneut hielt die Stille etwas an, dann hörte er, wie etwas auf einer Glasfläche abgestellt wurde.   „Eigentlich gar nichts. Ich bin an einem Weihnachtsfilm hängen geblieben, den mir Koharu empfohlen hat. So eine richtig kitschige Romanze.“ Dass Zero zwar ein wenig peinlich berührt klang, aber sich trotzdem nicht davor scheute ihm aufrichtig zu antworten, ließ ihn lächeln. Er mochte diese Offenheit, vielleicht weil sie ihm selbst oftmals schwerfiel und er sich mehr aus dem machte, was andere über ihn dachte, als er sollte.   „Oha. Dann kann ich meiner Schwester sagen, dass du demnächst meinen Platz bei ihren Film-Abenden einnimmst, euer Geschmack scheint sich da zu ähneln.“ „Hey, an ein bisschen kitschiger Romantik ist doch nichts falsch, oder?“ Die Wärme in Zeros Stimme ließ Karyu einen angenehmen Schauer über den Rücken rieseln und er sprach den nächsten Satz aus, bevor er darüber nachgedacht hatte:   „Heißt das, man könnte dich mit einer romantischen Geste beeindrucken?“   „ … vielleicht.“ Der warme Tonfall war immer noch da, ließ einmal mehr die Schmetterlinge in seinem Bauch aufflattern und sein Herz für einen Moment schneller schlagen. „Wenn es die richtige Geste ist, schätze ich.“ Er hörte, wie Zero tief durchatmete und bildete sich zumindest ein, dass es zufrieden klang. „ … aber warum hast du eigentlich angerufen?“   Karyu öffnete ruckartig die Augen und setzte sich wieder etwas aufrechter hin, brauchte tatsächlich selbst ein paar Sekunden, um sich daran zu erinnern, was er denn gewollt hatte.   „Ach so. Ich hatte dich eigentlich fragen wollen, ob du Lust heute noch auf einen Kaffee oder so hättest?“   „Es ist Sonntag.“   „Ja?“   „Es schneit.“   „Ich weiß?“ Er ließ ein missglücktes Lachen hören, wodurch er vermutlich noch unsicherer klang, als er tatsächlich war. „Das … waren so die beiden Gründe, warum ich dich fragen wollte“, gab er dann zu.   „Mh.“   Begeisterung klang definitiv anders. Da gab es keine Möglichkeit, durch die er sich diese eindeutige Reaktion irgendwie schönreden konnte, egal wie sehr er sich etwas anderes erhofft hatte.   „Du musst natürlich nicht-“ begann er deswegen hastig, wurde aber gleich unterbrochen.   „Nein, das ist es nicht. Heute ist nur mein einziger freier Tag diese Woche und ich hatte mir fest vorgenommen meine Wohnung nicht zu verlassen. Der Plan war eher einfach nur Zeit mit meinem Sofa zu verbringen und meinem Körper ein bisschen Ruhe zu gönnen.“   „Klingt, als wär gerade alles ziemlich stressig?“ Wie schon vor Beginn seines Anrufs biss Karyu sich auf die Unterlippe, wenn auch diesmal deutlich fester. Er hatte kein Recht darauf enttäuscht zu sein und wollte nicht, dass Zero ihm diese kindische Gefühlslage anmerkte. „Ziemlich … Uh, wart mal kurz.“ Er hörte, wie der anderen das Telefon beiseitelegte und dann erneut das Rascheln einer Decke. „Sorry, musste mich nur kurz ausstrecken, mir tut gerade alles weh.“   „Alles gut.“   „Tut mir leid, dass ich mich diese Woche nicht wirklich bei dir gemeldet hab.“ Die Entschuldigung kam so unerwartet und klang so aufrichtig, dass Karyu nicht gleich wusste, was er darauf erwidern sollte, aber er genoss das angenehm warme Gefühl, das sie in ihm auslöste.   „Ist schon okay“, beruhigte er den anderen schließlich. „Du hattest mir ja erzählt, dass die Zeit bis Weihnachten bei dir ziemlich voll ist.“   „Trotzdem. Die letzten Tage haben nur aus Proben, Essen und Schlafen bestanden und ich hasse es, wenn das passiert.“ Zero gähnte leise, bevor er fortfuhr. „Du kannst dir nicht vorstellen, wie froh ich bin, wenn ich diese Shows hinter mir habe. Wenn ich mich heute mit dir treffen würde, würde ich vermutlich unterwegs einschlafen, Kaffee hin oder her.“ „Das können wir natürlich nicht riskieren.“ Karyu konnte nicht anders, als zu lächeln, als er sich den anderen auf seinem Sofa, eingekuschelt in eine flauschige Decke, vorstellte.   „Sollten wir zumindest nicht. Aber … das hier ist auch schön. Ich hab es vermisst mit dir zu reden.“   „Ich auch.“ Das Eingeständnis schickte einen Adrenalinstoß durch seinen Körper, aber er hätte es nicht zurückhalten können, selbst wenn er gewollt hätte. „Wann hast du das Ganze den hinter dir?“ „Kurz nach Weihnachten. Wir arbeiten uns quasi vom Süden in den Norden durch. Am zwanzigsten fangen wir in Fukuoka an, dann kommen Kyoto und Osaka, am vierundzwanzigsten sind wir in Tokyo und stehen noch Sendai und Sapporo auf dem Plan. Und dann leg ich mich ins Bett und schlaf ne Woche durch, glaub ich.“ „Das wäre auch vollkommen verständlich.“ Allein beim Gedanken an einen derartigen Terminplan wurde Karyu ein bisschen schwindlig. Zugegeben, bei seinen Klausuren sah es nicht unbedingt besser aus, aber immerhin musste er dafür nicht durch das ganze Land reisen. „Ich stell mir das gerade unendlich stressig vor.“   „Ist es auch“, Zero seufzte leise und er konnte nicht umhin sich vorzustellen, dass er andere sich vielleicht entspannt auf seinem Sofa ausgestreckt und die Augen geschlossen hatte, während er weitersprach. „Aber zumindest zu einem Teil ist es guter Stress. Wir haben so lange an diesem Projekt gearbeitet, dass es mich schon ziemlich in den Fingern juckt, es endlich vorzustellen. Und dadurch vielleicht mehr Leute fürs Tanzen zu begeistern oder so. Nur das mit den besinnlichen Weihnachten kann ich dieses Jahr halt komplett vergessen.“   „Hattest du Pläne?“   „Nicht wirklich. Aber vielleicht hätte sich ja spontan was ergeben, oder so.“   ~*~   Nicht eben vorsichtig ließ er seinen Rucksack auf den Tisch fallen, konnte ein Grinsen nicht unterdrücken, als er damit Tatsurou aus einem vermutlich recht angenehmen Dämmerschlaf aufschreckte. Noch ehe der aber etwas sagen konnte, streckte Karyu ihm einen to-go-Becher Kaffee entgegen und setzte sich ebenfalls. Sein Kumpel zog mit einer gesunden Portion Misstrauen im Gesicht die Augenbrauen zusammen.   „Was willst du?“, wollte er wissen, griff aber gleichzeitig nach dem Becher, als würde er befürchten, dass er ihm wieder weggenommen werden könnte.   „Du schuldest mir einen Gefallen.“ Karyu ließ sich auf dem freien Platz neben ihm nieder und setzte das zuckersüßeste Lächeln auf, zu dem er um acht Uhr morgens fähig war.   „Wofür?“   „Dafür, dass ich mit dir in diesen Club gegangen bin, damit du ein Alibi hast, falls Yukke nicht auftaucht?“   Tatsurou legte den Kopf schief, schien abzuwägen, ob die rhetorische Gegenfrage der Wahrheit entsprach, nickte dann aber gnädigerweise, bevor er einen Schluck seines Moccacinos trank. Er würde nie verstehen, wie der andere dieses Zeug quasi literweise in sich hineinschütten konnte.   „Was willst du?“ Die Frage klang genau so berechnend, wie Karyu vermutet hatte, dass es der Fall sein würde. Sie kannten einander lange und vor allem gut genug, dass sie wussten, was ein Gefallen dieser Größenordnung wert war.   „Du musst mich auch begleiten. Zu einer Veranstaltung, bei der dir vermutlich ziemlich langweilig sein wird.“   „Klingt fair.“ Tatsurou stellte den Becher beiseite, verschränkte dann die Finger beider Hände miteinander, um sein Kinn darauf abstützen zu können und ihn mit leicht zusammengekniffenen Augen zu mustern. „Aber ich will wissen, warum“, forderte er. Und auch das hatte Karyu erwartet – oder eher befürchtet, wenn er ehrlich war. Auge um Auge, Zahn um Zahn, peinliches Geständnis um peinliches Geständnis, ein anderes Prinzip schien sein Freund nicht zu kennen. Er fragte sich, ob Tatsue mit seiner noch taufrischen Beziehung zu Yukke auch auf diese Art umging. Und falls ja, wünschte er seinem Auserkorenen viel Geduld für die Zukunft, er würde sie ziemlich sicher nötig haben.   „Weil ich jemanden überraschen will“, antwortete er nach kurzem Überlegen, auch wenn er nicht wirklich damit rechnete, dass diese schlichte Aussage ausreichen würde.   „So, so …“ Ihm schwante Böses, spätestens als Tatsue sich in seinem Stuhl zurücklehnte und ihn an seinem Kaffeebecher vorbei süffisant angrinste. „Überraschen also. Erzähl mir mehr.“   „Da gibt es nichts groß zu erzählen-“   „Komm schon, verarschen kann ich mich allein.“ Mit einem Ruck setzte sein Gegenüber wieder auf, offensichtlich nicht in der Lage mehr als drei Sekunden lang ruhig zu halten und kam ihm so nahe, dass ihre Nasenspitzen nur noch Zentimeter voneinander entfernt waren. „Ich will Details. Wen willst du sehen und warum? Woher kennt ihr euch? Was willst du erreichen?“   „Ich-“   „Ich will euch ja nicht bei eurem Frühstücksdate unterbrechen, ihr beiden, aber wollten wir uns nicht eigentlich zum Lernen treffen?“, unterbrach eine aufgesetzt fröhliche Stimme seine gestotterte Antwort und Karyu hätte schwören können, dass er noch nie in seinem so dankbar für Ayasas Anwesenheit war.   „Wollten wir“, ging er deswegen erleichtert auf ihre Frage ein und begann damit die Sachen, die er für die Vorbereitung seiner Klausur brauchte, aus seinem Rucksack hervorzukramen. „Tatsue wollte nur mal wieder Detektiv spielen und sich in Dinge einmischen, die ihn nichts angehen.“   „Ach, das Übliche also.“ Auf das empörte „Hey“ des Dritten in ihrer Runde hin, warf sie diesem nur ein freches Grinsen zu, bevor sie sich endlich ebenfalls setzte und begann ihre Arbeitsmaterialien auf den Tisch zu stapeln. Erst nachdem sie ihre Schreibutensilien herausgesucht hatte, sah sie Karyu wieder an.   „Bist du am Donnerstag noch gut nach Hause gekommen? Ich hatte gar nichts mehr von dir gehört?“   „Mh, ist nur etwas später geworden.“ Mit mit einem schiefen Lächeln zuckte Karyu die Schultern. Er konnte nicht verhindern, dass sich die Schmetterlinge in seinem Bauch wieder zu regen begannen, als er an die Zeit erinnert wurde, die er allein mit Zero verbracht hatte.   „Oh warum das? Konntest du das Feuerzeug nicht finden?“   „Nein, das-“   „Was? Du hast mein Feuerzeug verloren?“, unterbrach Tatsurou sie mit gewohnt wenig vorhandenem Taktgefühl.   „Reg dich ab.“ Er langte in seine Jackentasche und zog das Zippo hervor. „Ich hab es nur liegen gelassen. War nicht schwer, es wiederzufinden.“   „Dann hättest du doch eigentlich fast eine der nächsten Bahnen schaffen müssen – ich hatte noch ein Stück gewartet.“   „Warum das denn?“ Karyu sah sie ehrlich erstaunt an, aber diesmal war sie es, die mit den Schultern zuckte.    „Ich weiß nicht, wir sind bisher immer zusammen zurückgefahren.“   „Oh.“   „Ja.“ Ein kleines Lächeln umspielte Ayasas Lippen und während sie ihn weiter beobachtete, wurde es zu einem fast schon lauernden Gesichtsausdruck. „Das hatte nicht zufällig etwas mit unserem Aushilfslehrer zu tun?“, fragte sie dann betont unbeteiligt, schaffte es damit natürlich Karyu die Röte in die Wangen zu treiben.   „Würdest du mir glauben, wenn ich ‚Nein‘ sage?“   „Nö.“   Er stieß nur ein leises, gequältes Geräusch aus, während er sich auf seinem Stuhl nach unten rutschen ließ. So hatte er sich das mit dem Lerntreff eigentlich nicht gedacht – ganz davon abgesehen, dass er die Wiederholung für seine Klausur wirklich brauchen konnte, war das hier quasi die größtmögliche Katastrophe auf emotionaler Ebene.   „Was für ein Aushilfslehrer?“, hakte nämlich Tatsurou jetzt ein weiteres Mal in ihre Unterhaltung ein und klang dabei verdächtig interessiert. Er war eindeutig verloren. Am liebsten hätte Karyu sich die Ohren zugehalten, als Ayasa auch gleich ohne jedes Zögern zu einer Erklärung ansetzte.   „In unserem Tanzkurs. Für die Hochzeit, du weißt schon. Unser eigentlicher Tanzlehrer war wohl krank, also ist jemand anderes eingesprungen. Und sobald er den Raum betreten hat, war Karyu noch unkoordinierter als sonst.“   „Du mich auch“, nuschelte er in seinen nicht vorhandenen Bart und verschränkte die Arme auf der Tischplatte vor sich, um sein Gesicht darin zu verstecken. Die einzige Reaktion, die er dafür bekam, war allerdings ein Bleistift, der ihm nicht eben sanft in die Seite gestoßen wurde.   „Stell dich nicht so an Karyu. Ich fand es eben komisch, wie du reagiert hast. Kennt ihr euch irgendwoher?“   „Irgendwie hatte ich mir den Vormittag anders vorgestellt, als von euch beiden verhört zu werden.“   „Sonst erzählst du ja auch nichts.“ Vielleicht hätte die Bemerkung, die Tatsurou so salopp machte, einfach an ihm abprallen sollen. Aber sie kannten sich schon so lange, dass er verbale Tiefchlag sein Ziel mit absoluter Genauigkeit traf.   Denn genau genommen hatte der andere recht. Sie alle drei kannten sich seit der Grundschule und im Gegensatz zu seinen Freunden versuchte alle möglichen Sachen, so gut es ging, zurückzuhalten. Es steckte nicht einmal wirkliche Absicht dahinter, aber wenn immer möglich, vermied er es über sich selbst und die Dinge, die ihn bewegten, zu sprechen, auch wenn es dafür eigentlich keinen Grund gab. Schließlich war es ja nicht so, dass er ihnen nicht vertraute – und auf der anderen Seite erzählten sie ihm so gut wie alles, was sie beschäftigte.   „Okay, ist ja gut“, raffte er sich also auf, klang vermutlich ruppiger, als er beabsichtigt hatte. Seine Haltung behielt Karyu bei, hob aber zumindest den Kopf, um seine Freunde abwechselnd ansehen zu können. „Ich bin einfach nicht gut in so was, okay? Das wisst ihr doch.“   „Deswegen treten wir eben manchmal nach, um überhaupt etwas aus dir herauszubekommen.“ Das Schmunzeln auf Tatsues Gesicht weitete sich, als er seinen Blick erwiderte. „Abgesehen davon hast du ja recht: Du hast mir mit Yukke auch geholfen, also kann ich zumindest versuchen, mich dafür zu revanchieren.“   „Ich hab's verstanden. Ihr meint es nur gut. Auf eure verdrehte Art und Weise.“   „Genau das.“ Diesmal streichelte Ayasa ihm über den Kopf, als wollte sie ihn für seine bahnbrechende Erkenntnis loben. Den Vergleich zu einem Schoßhund verbannte Karyu an dieser Stelle aus seinem Hirn, sonst würde er sich nur wieder aufregen und nie aus dieser Situation herauskommen. „Also?“ Natürlich musste sie noch einmal nachhaken, was hatte er bitte anderes erwartet.   „Ja, wir kennen uns.“   „Und woher?“   „Wir haben uns in Chicago am Flughafen getroffen. Und dann noch einmal auf der Party, auf der ich mit Tatsue war.“   „Ach, deswegen warst du einfach weg?“   „Eher, weil ich keinen Bock hatte, dir und Yukke beim Rummachen zuzuschauen. Es war Zufall, dass wir uns über den Weg gelaufen sind.“   Für ihn gänzlich unerwartet fing Ayasa an zu lachen, konnte auf seinen bösen Blick hin nur den Kopf schütteln.   „Tut mir leid, aber das klingt einfach wie die Handlung zu einem superkitschigen Weihnachtsfilm oder so. Aber das erklärt deine Reaktion im Tanzstudio. Also zumindest, wenn du an ihm interessiert bist.“   Natürlich hätte er versuchen können, eben dieses Interesse zu verleugnen, aber wirklich weit wäre er damit auch nicht gekommen, so wie er seine Freunde und vor allem sich selbst kannte. Also ließ er stattdessen seinen Kopf wieder auf die noch immer verschränkten Arme fallen.   „Ayasa, mein Leben mag vieles sein, aber eine romantische Komödie gehört sicher nicht zu den Dingen, mit denen ich es beschreiben würde.“   „Ich weiß schon“, erneut konnte er ihre schlanken Finger in seinem Haar spüren. „Du siehst dich eher so als den tragischen Helden, aber das wäre vielleicht auch anders, wenn du mal mehr aus dir herauskommen würdest.“   Was sollte er dazu noch großartig sagen? Dass er selbst wusste, dass er in den allermeisten Fällen nicht der kontaktfreudigste Mensch unter der Sonne war? Das war allen Anwesenden ohnehin klar, eben weil sie sich schon so lange kannten. Und schon damals war es sicher nicht er selbst gewesen, der in ihrer Grundschulklasse den Kontakt zu seinen heutigen besten Freunden gesucht hatte. Auf der anderen Seite war das auch gar nicht der Punkt des Gesprächs, das er eigentlich mit Tatsurou angefangen hatte. Was diesem leider gerade auch wieder klar zu werden schien.   „Und was hat das jetzt eigentlich genau mit dem Gefallen zu tun, den ich dir schulde? Mit dieser ominösen Überraschung?“, wollte der nämlich in genau diesem Moment erneut wissen. Dabei war Ayasas Ankunft eine so schöne Ablenkung gewesen.   „Eventuell ist der besagte Aushilfslehrer die Person, die ich überraschen will“, nuschelte er gegen die langen Ärmel seines Pullovers. Immerhin konnte er sich so zumindest für ein paar Sekunden der Illusion hingeben, dass seine Freunde ihn nicht gehört hatten. Oder nicht verstanden.   „Das ist ja schon so ein bisschen niedlich“, fällte Ayasa allerdings sogleich ihr Urteil über sein Leiden, während er Tatsue nur leise glucksend vor sich hin kichern hörte.   Also quasi alles wie immer. Als wäre ihm nicht auch so klar, dass er in allem, was irgendwie mit ‚Dating‘ zu tun hatte, die absolute Niete war. Manchmal fragte er sich tatsächlich, wie er es eigentlich geschafft hatte, überhaupt schon die ein oder andere Beziehung zu führen. Da war jemand wie Zero eigentlich komplett außerhalb der Liga, in der er zu spielen versuchte. Karyu zog sich selbst eine Grimasse und richtete sich in einer ruckartigen Bewegung auf. Er hasste es, wenn er so im Selbstmitleid zerfloss – nicht nur, dass es nichts brachte, es verhagelte ihm auch noch die Laune und dafür hatte er gerade wirklich keine Zeit. Also griff er wieder nach seinem Rucksack und startete erneut den Versuch, seine Aufzeichnungen aus den letzten Vorlesungen zu finden.   „Halt dir einfach den Abend des Vierundzwanzigsten frei“, meinte er noch an Tatsurou gewandt, während er in einer Seitentasche nach einem Kugelschreiber fischte. „Wenn Yukke anscheinend was mit Tanzen am Hut hat, kann er meinetwegen auch mitkommen. Aber gib mir da möglichst bald Bescheid, ich muss die Karten vorher kaufen-“   Er hätte noch mehr gesagt, aber nun erregte sein Handy, das deutlich hörbar auf dem Tisch vibrierte, seine Aufmerksamkeit. Bevor er hätte darüber nachdenken können, hatte er es an sich genommen, um die Nachricht zu lesen, die ihn erreicht hatte. Die Tatsache, dass sie von Zero war, ließ ein leises Lächeln über seine Lippen huschen.   »Update: Mir tut immer noch alles weh. Ich glaube, ich bin masochistischer veranlagt, als ich dachte. Was meinst du, wie viel Eis braucht man, um eine Badewanne voll zu bekommen?«   Karyu ignorierte die Tatsache, dass seine beiden Freunde ihn mit Argusaugen beobachteten und tippte rasch seine Antwort.   »Ich bin versucht Mitleid zu haben, was hast du denn gemacht? Was die Badewanne angeht, würde ich spontan sagen: ziemlich viel.«   Er wollte das Telefon wieder beiseitelegen, aber wie so oft antwortete Zero ihm schneller, als er selbst erwartet hätte. Beinahe, als würde er sich bewusst die Zeit dafür nehmen. Der flüchtige Gedanke ließ Schmetterlinge in seinem Magen flattern, bevor er ihn resolut von sich schob. Darüber konnte er später nachdenken. Die erste neue Nachricht, die er sah, war nur die Vorschau eines Videos, das noch einige Momente zum Laden brauchte, aber die Erklärung folgte dem auf dem Fuße:   »Bin spontan zu einem Workshop von einem ziemlich coolen Choreografen gegangen, weil ich gestern Nachmittag frei hatte und erst jetzt wieder zur Probe muss. Bereue die Entscheidung gerade durchaus, weil aua, aua, aua. Aber ich sage mir jetzt einfach, dass sich das Ergebnis gelohnt hat und lege mich nachher auf Eis. Was meinst du?«   Obwohl er sich dessen bewusst war, dass seine Freunde mittlerweile nicht nur näher gerückt waren, sondern ihm auch vollkommen selbstverständlich und im wahrsten Sinne des Wortes über die Schulter schauten, konnte er nicht anders als das Video auf seinem Handybildschirm auszuwählen. Erneut begann das Gerät zu arbeiten, ein Moment den er nutzte, um die Lautstärke nach unten zu regeln. Schließlich reichte es, wenn er hier Zuschauer hatte, der Rest der Bibliothek musste nicht auch noch mitbekommen, dass sie hier so ziemlich alles taten, außer zu lernen.   Das Video begann dann unverhofft mit dem hohen Gesang einer männlichen Stimme und einem groben Kameraschwenk durch ein Studio, bevor das Bild sich auf eine Gruppe von drei Tänzerinnen fokussierte. Wie so oft, wenn Zero ihn an seiner Welt teilhaben ließ, kannte er das Lied nicht, zu dem die drei sich bewegten, musste allerdings zugeben, dass so ziemlich alles daran das Zeug zu einem gewaltigen Ohrwurm hatte. Er war sich relativ sicher, dass er keine der jungen Frauen schon einmal gesehen hatte und allein deshalb – und weil das Video noch einiges an Laufzeit übrig hatte – sah er sich ihre Performance eher abwartend an. Er fand die Art und Weise, auf die sie sich bewegten beeindruckend, aber das galt in seinem Fall für so ziemlich jeden Menschen, der über ein Mindestmaß an Koordination verfügte. Insofern war das keine wirkliche Überraschung. Was ihn aber beinahe schon etwas neidisch werden ließ, war das Selbstbewusstsein und die Freude, die sie ausstrahlten. Sie schienen sich einfach nur rundherum wohlzufühlen, obwohl sie im wahrsten Sinne des Wortes im Fokus der Aufmerksamkeit standen und Karyu konnte nicht umhin sich zu fragen, ob er einen ähnlichen Punkt auch irgendwann einmal würde erreichen können.   Bevor er sich aber tiefer in diesen Gedanken verstricken konnte, gab es einen Schnitt im Video, mit dem das Lied wieder zu einem früheren Punkt zurücksprang. Statt der Tänzerinnen betraten nun drei junge Männer die Tanzfläche und Karyus Herz machte unversehens einen kleinen Hüpfer, als er auf der rechten Seite Zero erkannte. Wie so oft wirkte der andere auf den ersten Blick in sich gekehrt, konzentrierte sie offensichtlich auf die Musik. Und wie jedes Mal, wenn Karyu ihn bisher hatte tanzen sehen, konnte er seine Augen nicht mehr von ihm nehmen, sobald er begonnen hatte, sich zu bewegen. Dass noch zwei andere Menschen im Video sichtbar waren, war ihm zwar bewusst, aber er schenkte ihnen keinerlei Aufmerksamkeit. Stattdessen folgten seine Blicke jeder Bewegung Zeros, jeder Regung, die er in dessen attraktiven Zügen lesen konnte.   Wie auch die Tänzerinnen vor ihm strahlte er vollkommenes Selbstbewusstsein aus und spätestens, als er beim Tanzen lachen musste, weil sich sein Basecap auf Abwege begab, konnte Karyu nicht anders als ebenfalls zu lächeln. Ihm war klar, dass seine Freunde ihn damit vermutlich den Rest des Tages aufziehen würden, aber es war egal. Diesen Gesichtsausdruck sehen zu können, zu beobachten wie Zero, ohne die Choreografie zu unterbrechen, während des Tanzens sein Cap abnahm und grinsend in Richtung Kamera warf, war es wert. War mehr wert als das, wenn er ehrlich war.   Auf Zeros Gruppe folgten schließlich noch weitere Tänzer, aber Karyu schloss das Video und ließ die Hände sinken, die Eindrücke nachwirken. Er hätte gern etwas gesagt, aber mehr als weiterhin zu lächeln und die kribbelige Wärme in seinem Inneren irgendwie zu genießen, brachte er gerade nicht Zustande, sodass es am Ende Ayasa war, die die kurze Stille unterbrach.   „Okay, wow. Ich schätze, du bist nicht der Einzige, der hier Interesse hat“, lautete ihr Urteil, während sie Karyu mit leicht nach oben gezogenen Augenbrauen ansah.   „Wie meinst du das?“   „Warum sollte er dir sonst so was schicken?“   „ … weil er mir eben von dem Workshop erzählt hat?“   „Oh, bitte“, Ayasa schnaubte und lehnte sich mit verschränkten Armen wieder in ihren Stuhl zurück. „Manchmal bist du wirklich naiv.“   „Und du interpretierst manchmal zu viel in Dinge hinein“, gab Karyu zurück, machte sich gleichzeitig daran eine Antwort an Zero zu tippen.   „Ich finde, sie hat vielleicht nicht ganz unrecht“, schaltete sich nun auch Tatsurou wieder ein. Er nahm einen Schluck von seinem Moccacino, der inzwischen höchstens noch lauwarm sein konnte und zuckte mit den Schultern. „Ich meine, ich will hier keine falschen Hoffnungen schüren, aber so was macht man ja nicht grundlos. Schon gar nicht bei so nem Lied.“   „Was?“   „Ich mein nur, der Text geht ja schon in eine eindeutige Richtung."   "Das Lied ... hat er ja aber nicht ausgesucht", versuchte Karyu es erneut. Er wusste nicht einmal, warum er sich so gegen die Ansichten seiner Freunde wehrte, die ja eigentlich durch und durch positiv waren. Aber irgendwie war ihm das gerade einfach zu viel. Er war für solche Dinge schlicht nicht gemacht.   Zwar konnte er mittlerweile nicht mehr bestreiten, dass sein eigenes Interesse an Zero weit mehr als nur Sympathie war, dass er mehr Zeit mit dem anderen verbringen und ihm näher kommen wollte. Gleichzeitig hatte er aber versucht, sich damit abzufinden, dass diese Schwärmerei ohnehin nur einseitig war. Allein schon, weil jemand wie Zero ganz andere Leute zur Auswahl hatte, als ihn. Und jetzt darüber nachzudenken, dass das vielleicht doch nicht der Fall war, überforderte ihn schlicht und ergreifend. Er unterdrückte ein Seufzen und versuchte angestrengt, sich nicht schon wieder selbst zu bemitleiden und stattdessen endlich seine Antwort fertig zu tippen. Mit einem Blick auf das Display stellte er allerdings fest, dass Zero sich noch einmal gemeldet hatte.   »Sorry übrigens, wenn ich dich mit dem Tanzkram nerve. Ich weiß ja, dass das nicht so dein Ding ist.« Dahinter ein sich entschuldigend verbeugendes Emoji.   Die Worte rissen Karyu aus seiner kleinen Starre. Er konnte nicht anders als den Kopf zu schütteln, selbst, wenn Zero dies logischerweise nicht sehen konnte.   »Quatsch. Meine Freunde haben mich nur abgelenkt. Ich find es super. Nettes Detail mit dem Basecap! Ich hoffe, du überlebst die Probe, ich muss es jetzt leider mal mit Lernen versuchen.«   Er atmete noch einmal tief durch, legte sein Handy dann lautlos gestellt wieder beiseite, während Ayasa und Tatsurou nur einen nachdenklichen Blick wechselten. Aber die Idee, die ihm schon am Wochenende nach seinem Telefonat mit Zero gekommen war, reifte in seinem Kopf allmählich zu einem Plan heran. Kapitel 5: Ballet d’action -------------------------- 05. Ballet d’action   Ballet d‘action: frz. „Handlungsballett“, Choreografien, bei denen die Handlungen, Motive und Gefühle der Charaktere im Mittelpunkt stehen, aber nicht durch Dialoge, sondern durch tänzerischen und körperlichen Ausdruck vermittelt werden   -   Wäre die Situation eine andere, hätte Karyu sie vielleicht als angenehm ruhig oder gar verträumt empfunden. Vielleicht wäre er vollkommen in den Anblick der wenigen Schneeflocken vertieft gewesen, die wie in Zeitlupe durch sein von gelbem Laternenlicht erhelltes Sichtfeld schwebten. Obwohl es nicht wirklich still war – er konnte vereinzelte Gesprächsfetzen von Menschen auf dem Nachhauseweg ebenso hören, wie Geräusche auf der anderen Seite der Tür, vor der er wartete – wirkte die Szenerie auf den ersten Blick fast idyllisch. Oder hätte sie zumindest, bekäme er nicht immer mehr das Gefühl sich beim Warten nicht ganz unwichtige Körperteile abzufrieren. Und wäre ihm nicht geradezu übel vor Nervosität.   Mit einem Seufzen sank er auf der kleinen Mauer, auf der er saß, in sich zusammen. Er legte den Kopf in den Nacken und sah in den dunkel bewölkten Nachthimmel, aus dem ihm weiter vereinzelte Schneeflocken entgegenkamen. Mit einem bewusst tiefen Atemzug schloss er die Augen und versuchte seinen viel zu hektischen Puls zu verlangsamen. Mittlerweile konnte er nicht einmal mehr sagen, ob sein Plan gut oder schlecht war oder ob es besser wäre, einfach zu gehen. Vielleicht war das auch nicht so wichtig. Er war schließlich hier, trotz aller Bedenken, die ihn plagten. Einfach, weil er Zero hatte sehen wollen. Weil er zumindest einen winzig kleinen Moment von Weihnachten mit ihm teilen wollte, egal ob er sich dabei bis auf die Knochen blamierte oder nicht. Und allein, dass er den anderen heute Abend hatte tanzen sehen, war es wert gewesen. Egal was zwischen ihnen noch passieren würde, ob sie Freunde bleiben oder auseinanderdriften würden, es würde keine Rolle spielen. Diese Handvoll Minuten, in denen er bisher hatte sehen können, wie Zero sich zu Musik bewegte, in ihr aufging und ihr Bedeutung verlieh, würden ihn vermutlich nie mehr loslassen.   Selbst Tatsurou schien von dem, was sie heute Abend gesehen hatten, milde beeindruckt zu sein. Das, oder er hatte sich Yukke zuliebe, der sich über die Einladung tatsächlich gefreut hatte, zusammengerissen. Der einzige Wermutstropfen war gewesen, dass Zero selbst nur in zwei Stücken auf der Bühne mitgewirkt hatte. Diese hatten ihn dann allerdings so beeindruckt, dass er auch noch länger darauf gewartet hätte. Schon als die ersten Töne des Liedes erklangen, dessen Choreografie er Zero in der Tanzschule hatte üben sehen, hatte ihn Gänsehaut gepackt. Selbst wenn er sich bewusst gewesen war, dass er sich in einem Raum mit Hunderten von Menschen befand, war es auch diesmal so, als wäre Zero das Einzige, was für ihn in diesem Moment existierte. Er war sich selbst nicht sicher, ob dieser Gedanke unerträglich kitschig oder auf eine gänzlich andere Art und Weise grenzwertig war, aber die Ausstrahlung des anderen nahm ihn immer aufs Neue einfach vollkommen gefangen. Oder vielleicht erst recht jetzt, wo er das Stück in vollkommener Perfektion gesehen hatte, ohne dass es auch nur einen Bruchteil seiner Emotionen eingebüßt hätte.   Schaudernd zog Karyu die Schultern nach oben, nahm dann eine Hand aus seiner Jackentasche, um sich durch die Haare zu fahren. Hätte er sich mehr Gedanken um das Warten an sich gemacht, wäre ihm vielleicht die durchaus kluge Idee gekommen, eine Mütze aufzusetzen. Oder einen Schirm mitzunehmen, der ihn vor den nassen Schneeflocken schützen konnte. Hoffentlich wartete er nicht umsonst. Er hatte sich zwar beeilt, rasch den Saal verlassen und sich nur kurz von Tatsue und Yukke verabschiedet, um zum Hinterausgang zu kommen, aber hier stand er nun schon eine ganze Weile, ohne dass viel passiert wäre. Vielleicht hatte Zero sich ja ebenso beeilt, um zumindest eine Nacht in dieser Woche entspannt in seinem eigenen Bett, statt im Hotel, verbringen zu können. Vielleicht machte er sich hier gerade vollkommen zum Affen und wusste es nur noch nicht. Wäre schließlich nicht das erste Mal in seinem Leben. Dennoch konnte er sich nicht dazu aufraffen einfach zu gehen. Selbst, wenn ihm kalt war und die niedrige Mauer, auf der er saß, nicht eben bequem. Er hatte das Gefühl, dass das hier eine Chance sein könnte, die er so nicht mehr bekommen würde. Und so feige er prinzipiell auch war – er würde sich vermutlich ewig Vorwürfe machen, wenn er es nicht wenigstens versuchte. Mit kalten Fingern zog er sein Handy aus der Jackentasche, um die Uhrzeit zu überprüfen. Und anscheinend war er einmal mehr in seinem Leben lediglich nur zu ungeduldig – er wartete seit knapp zwanzig Minuten. In Anbetracht der Tatsache, dass Zero sich umziehen und seine Sachen packen und vermutlich noch einiges anderes erledigen musste, keine wirklich lange Zeit. Zumal bisher höchstens ein halbes Dutzend Menschen das Gebäude durch diese Tür verlassen hatte. Keiner von ihnen war ihm von der Bühne bekannt vorgekommen, also hatten sie vielleicht nur hinter den Kulissen an der Veranstaltung mitgewirkt. Nicht, dass diese rationale Erklärung irgendetwas dazu beigetragen hätte, dass er ruhiger geworden wäre.   Karyu schüttelte, sich gedanklich rügend, den Kopf, musste einen Schauer unterdrücken, als dadurch die kalte Dezemberluft in seinen Nacken streifte. Erneut nahm er ganz bewusst einen tiefen Atemzug. Er musste einfach noch ein bisschen Geduld haben und hoffen, dass er hier nicht festfror.   Fast ungebeten huschte die Eingebung – die sich irgendwie sehr nach einem von Tatsurous dummen Sprüchen anhörte – durch seinen Kopf, dass er sich ja warme Gedanken machen konnte. Er stieß ein in der relativen Stille deutlich hörbares Schnauben aus. Anscheinend war er mittlerweile also an dem Punkt, an dem sein bester Freund nach all der Zeit, die sie sich kannten, doch noch auf ihn abfärbte. Vermutlich sollte ihm das zu denken geben, hätte er dafür gerade die Kapazitäten gehabt. Aber auch, wenn dies vielleicht nicht die Art von ‚warmen Gedanken‘ war, die die Tatsue-Stimme in seinem Kopf gemeint hatte: Wirklich weg von Zero kam er in seinen Überlegungen nicht. Dazu steckten ihm der Abend und vor allen das letzte Stück der Show noch zu sehr in den Knochen.   Er würde es hoffentlich nie vor jemandem, außer sich selbst, preisgeben müssen, aber dieses Lied, diese Performance hatten ihn irgendwie mitgenommen. Es hatte ihn nicht einfach nur berührt, sondern ihn etwas ungleich Komplexeres fühlen lassen. Selbst in Gedanken fiel es ihm schwer, in Worte zu fassen, was genau das war – abgesehen von einer unwillkommenen Eifersucht, die stärker geworden war, je länger das Lied angedauert hatte. Es war ein wunderschönes Stück, langsam und romantisch und nach dem, was er im Programmheft gelesen hatte, war Zero hier nicht nur Tänzer, sondern auch Choreograf. Allein deshalb hatte er diesem Teil des Abends entgegengefiebert und vielleicht war seine Reaktion auch deswegen so emotional gewesen. Selbst, wenn er versucht hatte, sich nichts anmerken zu lassen.   Zu Beginn war da nur Zero auf der Bühne gewesen, barfuß, gekleidet in helle, über die Knöchel hochgekrempelte Jeans und ein schlichtes T-Shirt, bevor nach wenigen Sekunden seine Partnerin ebenfalls die Bühne betreten hatte. Und wo in dem Solo, das er eher am Abend getanzt hatte, aus jeder Bewegung Stärke und Kraft gesprochen hatten, war dieser Tanz nichts als pure Hingabe. Als Vertrauen und Zärtlichkeit und jede Sekunde davon hatte ihm einen neuen Stich in sein Herz gegeben. Er erinnerte sich noch gut an Zeros scherzhafte Antwort auf seine Frage nach der Nähe zwischen Tänzern, dennoch war es auf den ersten Blick schwer zu glauben, dass ihn und die junge Frau, mit der er tanzte, nichts weiter als diese Choreografie verband. Sie bewegten sich nicht einfach nur zusammen zur Musik, sie wurden zu einer Einheit, die in vollkommener Harmonie existierte. Und auch, wenn ihm bewusst war, dass all das ein Teil der Show war, dass die verträumten Blicke und das Lächeln, das sie einander immer wieder schenkten, schlicht zur Choreografie gehörten, konnte er die aufkeimende Eifersucht in seinem Inneren nicht unterdrücken. Schon allein deswegen war er beinahe erleichtert, als nach und nach weitere Paare die Bühne betraten und die intensive Atmosphäre, die sich vielleicht nur für ihn so anfühlte, durchbrachen. Es war, als könnte er erleichtert aufatmen, selbst wenn es natürlich nichts an der perfekten Harmonie zwischen Zero und seiner Partnerin geändert hatte. Und tatsächlich war ihm erst fast zu spät aufgefallen, dass sich unter den Paaren auch gleichgeschlechtliche befanden, was ihn das erste Mal, seit das Lied begonnen hatte, ehrlich lächeln ließ. Einfach, weil es eine unerwartete und schöne Überraschung war, sich selbst so repräsentiert zu sehen. Wenn nicht als Mensch, der zum Tanzen fähig war, dann doch zumindest als jemand, der nicht der heterosexuellen Norm seines Heimatlandes entsprach.   Auch jetzt schlich sich die verträumte Melodie des Liedes wieder in seinen Kopf, brachte ihn dazu, leise zu seufzen. So, wie er sich kannte, würde sie ihn noch eine ganze Weile nicht loslassen – genauso wenig, wie das geradezu liebevolle Lächeln, das während der gesamten Choreografie Zeros Lippen nicht verlassen hatte. Es fiel ihm schwer, sich nicht zu wünschen, dass der andere irgendwann ihn so ansehen würde, selbst wenn der Gedanke ihn innerlich den Kopf schütteln ließ. Vor sich hinträumen konnte er auch später noch, erst einmal musste er das hier über die Bühne bringen.   Ein weiteres Mal sah Karyu auf die Zeitanzeige seines Handys, bevor er es endgültig wieder in seiner Hosentasche verschwinden ließ und sich vorsichtig von dem Rucksack befreite, den er bisher auf dem Rücken getragen hatte. Seine Hände zitterten leicht, als er den Reißverschluss öffnete und noch konnte er zumindest versuchen sich einzureden, dass das ausschließlich wegen der herrschenden Temperaturen der Fall war. Mit den Fingerspitzen strich er vorsichtig über das Geschenk, das sich im Inneren der Tasche befand. Zu seiner großen Erleichterung schien es den Abend bisher gut überstanden zu haben. Er wollte sich gerade daran machen, alles wieder zu verpacken, als sich die Tür vor ihm erneut öffnete und ein deutlich erschöpfter, aber auch sehr zufrieden wirkender Zero nach draußen trat. Karyus Herz begann sofort schneller zu schlagen. Einen Moment lang sahen sie sich schweigend an, bevor der andere den Kopf leicht schief legte.   „Was machst du denn hier?“, wollte er wissen. Und auch die routinierte Geste, mit der er sich seine Strickmütze über den Kopf zog, konnte das Erstaunen und das Lächeln, das an seinen Mundwinkeln zupfte, nicht verbergen.   „Ich wollte dich überraschen“, gab Karyu zu seinem eigenen Erstaunen unumwunden zu, entlockte Zero damit ein leises Lachen.   „Das hast du geschafft.“ Das heimliche Lächeln von eben wurde zu einem schiefen Grinsen, als sein Gegenüber einige Male auf seinen Fußballen vor und zurück wippte. „Ich hätte nicht gedacht, dass du dir die Show antust.“ „Ich war neugierig.“   „Und?“ Zeros Augenbrauen wanderten fragend ein kleines Stück nach oben, während er sich jetzt an die Wand neben dem Ausgang lehnte und ihn abwartend ansah – selbst nach einem so anstrengenden Abend schien es ihm unmöglich zu sein, stillzustehen.   „Ich würde sagen, es hat sich gelohnt.“ Eine Sekunde lang rang Karyu mit sich selbst, versuchte jedes Quäntchen Mut, das er gerade in sich finden konnte, zusammenzukratzen. Dann griff er erneut vorsichtig in seinen Rucksack und zog eine einzelne, langstielige Blume daraus hervor. „Ich hab mal gehört, dass man das so macht“, brachte er leise hervor und streckte sie Zero entgegen, in dessen Gesicht sich nun ein Ausdruck vollkommener Überraschung abzeichnete.   Ohne seine Augen von den ausladenden dunkelroten Blütenblättern zu nehmen, die sicher hinter einer durchsichtigen Folie verborgen waren, kam er näher, bis er schließlich mit leicht erhobenen Händen verharrte. Selbst im schwachen Laternenschein, der hier herrschte, schienen Zeros Augen geradezu zu leuchten.   „Danke.“ Die beiden Silben waren ungewöhnlich sacht und zurückhaltend ausgesprochen, während sein Blick nun wieder auf ihm ruhte. „Spätestens jetzt ist die Überraschung definitiv gelungen“, fügte er noch hinzu. Und vielleicht bildete Karyu sich das nur ein, aber er klang beinahe ein bisschen heiser.   „Ich hoffe, sie gefällt dir?“, hakte er vorsichtshalber noch einmal nach, bekam seine Antwort ohne Zögern in Form eines kräftigen Nickens.   „Ich mag Amaryllis wirklich gern.“ Ohne, dass er es hätte verhindern können, stieß Karyu ein erleichtertes Lachen aus, während er sich wieder gegen die Mauer sinken ließ. Einfach weil es bequemer war und nicht etwa, weil er gerade weiche Knie bekommen hätte, keinesfalls. Zumindest hätte er sich das gern eingeredet. Und vielleicht hätte es sogar funktioniert, wäre Zero in diesem Moment nicht näher gekommen und hätte seinen freien Arm um Karyus Nacken geschlungen, um ihn an sich zu ziehen. Er hätte liebend gern auf diese gleichermaßen überraschende wie überwältigende Geste reagiert, aber leider schien sich die ohnehin schon schwache Verbindung, die bei ihm zwischen Hirn und Körper herrschte, nun gänzlich in Luft aufgelöst zu haben. Ganz, als wären seine Synapsen mit der plötzlichen Nähe zu Zero vollkommen überfordert, konnte er nur starr dastehen, den angenehm herben Duft seines Parfüms in der Nase, und hoffen, dass jetzt nicht auch noch seine Atmung aussetzte.   „Dankeschön. Wirklich“, hörte er nun die weiche Stimme des anderen so dicht an seinem Ohr, dass jeder Silbe eine Welle aus Gänsehaut auf dem Fuße folgte. Spätestens jetzt war er definitiv froh, dass er sich auf den Mauerabsatz hinter sich stützen konnte.   „Gern. Auch wirklich“, brachte er stockend hervor und war plötzlich unheimlich froh, dass Tatsurou und Yukke nicht gemeinsam mit ihm gewartet hatten. Denn spätestens jetzt hätte sein bester Freund nicht mehr mit Kommentaren über Karyus entrücktes Grinsen hinter dem Berg halten können.   Und trotzdem fiel es ihm nicht schwer, Zero anzusehen, als dieser wieder ein bisschen auf Abstand ging. Für einen Sekundenbruchteil wirkte er ebenfalls etwas verlegen, fing sich aber rasch, als seine Aufmerksamkeit an etwas anderem hängenblieb.   „Ich mag deinen Pin“, kommentierte er scheinbar zusammenhangslos und ließ seinen Daumen über den kleinen pink-lila-blau gestreiften Anstecker streichen, der am Schulterriemen von Karyus Rucksack befestigt war.   Mit Blicken folgte Karyu der Bewegung, fühlte sich jetzt unerklärlicherweise noch ein bisschen erleichterter, als ohnehin schon und wagte es Zero ein kurzes Grinsen zuzuwerfen.   „Danke. Die wenigstens nehmen das Ding überhaupt wahr.“   „Mh … Ich bin eben ein sehr aufmerksamer Mensch.“   Es schien etwas beinahe Nachdenkliches in Zeros Blick zu liegen, als dieser ihn noch einmal eingehend musterte. Schließlich trat er einen Schritt zurück, brachte so mehr Raum zwischen sie und Karyu erschauderte, als er nun wieder vollends der kalten Dezemberluft ausgesetzt war. Sein Herz schlug noch immer viel zu schnell, aber während er sein Gegenüber dabei beobachtete, wie er versonnen die Blume in seiner Hand studierte, konnte er nicht anders als unendlich dankbar dafür zu sein, dass Ayasa ihm mit diesem Teil seines kleinen Vorhabens geholfen hatte.   „Amaryllis stehen für Erfolg, Stärke und Entschlossenheit“, erklärte er leise. „Zumindest hat eine gute Freundin mir das gesagt. Und ich dachte, das passt zu dir.“   „Du scheinst dir viele Gedanken darüber gemacht zu haben.“ Es lag ein Hauch von Erstaunen in dieser Feststellung, aber irgendwie klang sie auch zufrieden. Als wäre diese Tatsache etwas, was Zero freuen würde oder als würde er ihr eine gewisse Bedeutung beimessen.   „Ich mach mir im Zweifelsfall immer mehr Gedanken, als nötig“, wiegelte Karyu automatisch ab. Weniger, weil er keinen falschen Eindruck erwecken wollte, sondern, weil andere seiner bisherigen Erfahrung nach von dieser Eigenschaft oftmals recht schnell überfordert waren.   „Lieber zu viele, als zu wenige, würde ich sagen.“ Zeros Fingerspitzen tanzten an der leise knisternden Folie entlang, die die Blume schützten. Dann schien er zu einem Entschluss zu kommen – und Karyu fand es faszinierend, dass man selbst so etwas an seiner Körpersprache ablesen konnte, wenn man einmal begann, darauf zu achten. Seine Haltung straffte sich und als er wieder zu Karyu aufsah, war da etwas in seinen dunklen Augen, was förmlich danach schrie, dass er es nun war, der einen Plan hatte.   Ehe er danach hätte fragen können, wurde er umstandslos am Handgelenk gefasst, fühlte sich allein durch diese Geste zu dem Abend im Club zurückversetzt, an dem sie sich das erste Mal wiedergesehen hatten.   „Hast du noch ein bisschen Zeit?“, wollte Zero wissen, setzte sich aber in Bewegung, noch bevor er hätte reagieren können. „Ich hab mega Lust auf Süßkram.“   ~*~   Er war nicht sicher, was er erwartet hatte, als Zero von ‚Süßkram‘ gesprochen hatte, aber er hatte zugegebenermaßen nicht damit gerechnet in einem kleinen, unglaublich gemütlichen Café zu landen. Anscheinend war es für den Laden, der versteckt in einer Seitengasse nahe dem Bahnhof lag, nicht ungewöhnlich so spät geöffnet zu haben, da sie bei Weitem nicht die einzigen Gäste waren, die es um diese Zeit hierher verschlagen hatte. Anfangs hatte Karyu noch versucht sich verstohlen umzusehen, aber je länger sie hier waren, desto wohler fühlte er sich und umso mehr Details nahm er wahr. Wie beispielsweise die mindestens sechs, wie selbstverständlich ins allgemeine Dekor eingebrachten Regenbogenflaggen, die er entdeckt hatte und die vielleicht zumindest zu einem Teil dazu beitrugen, dass er sich in der unbekannten Umgebung halbwegs entspannen konnte. Alles andere schrieb er den absolut fantastischen Cupcakes zu, die Zero ihnen bestellt hatte und von denen nun nur noch Krümel auf ihren Tellern zu sehen waren. Abwesend drehte er sein Bierglas zwischen den Fingern hin und her, fand die Kühle, die es ausstrahlte angenehm – anscheinend war er aber so in seine Gedanken und das Betrachten seiner Umgebung abgedriftet, dass er nicht gemerkt hatte, dass er selbst beobachtet wurde.   „Welches Lied spielst du gedanklich?“, unterbrach Zero seine Grübeleien, ließ ihn innehalten und auf seine Hände hinuntersehen.   „Keine Ahnung“, musste er schließlich zugeben, zog die Nase kraus, als sein Gegenüber leise lachte. „Hast du immer eine Choreografie im Kopf?“, stellte er die Gegenfrage.   „Wieso?“   „Na ja, du bist auch unfähig ruhig zu halten.“ Er konnte ein Schmunzeln nicht zurückhalten, als Zero sich ertappt auf die volle Unterlippe biss. Karyu zwang sich dazu, nicht mit Blicken an dieser reizvollen Stelle hängenzubleiben, sondern seine Überlegungen weiterzuführen. „So wie du anscheinend unbewusst immer ein bisschen Tanzen musst, wollen meine Finger eben unbewusst Gitarre spielen.“   „Mh …“ Mit nachdenklich schief gelegtem Kopf stützte Zero sich mit einem Arm auf dem Tisch ab, bettete schließlich sein Kinn in die Handfläche. „Das macht erstaunlich viel Sinn. Stößt mich allerdings auch mal wieder darauf, dass ich dich noch nie habe spielen sehen. Oder hören. Und irgendwie finde ich, dass sich das unbedingt ändern muss.“   „So, findest du?“   „Ja, ganz definitiv.“ Karyu beobachtete, wie der andere sich noch etwas näher zu ihm lehnte, bevor er weitersprach. „Schon allein aus Gerechtigkeitsgründen ist das spätestens nach heute Abend nötig.“   „Na, wenn du das sagst, lohnt es sich vermutlich nicht, da zu diskutieren.“   „Absolut nicht.“ Das Lächeln auf Zeros Lippen hatte mittlerweile einen offen verspielten Zug bekommen. Nicht unbedingt, als wollte der andere sehen, wie weit er gehen konnte – Karyu hatte eher den Eindruck, als wäre es eine Art Einladung und hoffte inständig, dass er hier nicht etwas vollkommen fehlinterpretierte.   „Erwarte aber bitte nicht, mich auf irgendeiner Bühne zu sehen, das wird nämlich unter Garantie nicht passieren“, ließ er sich auf den Gedankengang des anderen ein, der ihm immerhin mehr gemeinsame Zeit zu versprechen schien. „Ich bin eher so der Typ, der zu Hause auf dem Sofa ein bisschen vor sich hin klimpert.“   „Klingt perfekt.“ Das Grinsen, das sich jetzt über Zeros Gesicht zog, ließ einmal mehr seine Grübchen zum Vorschein kommen und gleichzeitig die Schmetterlinge in Karyus Magen aufflattern. „Ein Konzert nur für mich, quasi. Und das, ohne, dass ich irgendwo in der Kälte anstehen muss. Darauf komm ich im neuen Jahr definitiv zurück.“   „Na, wenn du dir da mal nicht zu viel erwartest.“ Karyu musste unwillkürlich lachen, spiegelte dann die Haltung des anderen, indem er sich ebenfalls mit dem Ellenbogen aufstützte. „Aber, sag mal, kann es sein, dass du Winter nicht besonders magst?“   „Winter schon, nur die Kälte nicht“, tat Zero diese Feststellung mit einem Schulterzucken ab. „Aber irgendwas hab ich am Wetter vermutlich immer auszusetzen, wenn ich so darüber nachdenke.“   „So nach dem Motto: Winter zu kalt, Sommer zu warm, Regenzeit zu nass?“   Nun war es Zero, der ein Lachen nicht unterdrücken konnte und heftig nickte.   „Genau so. Und im Frühling hab ich Heuschnupfen, das ist sowieso furchtbar. Also ist eigentlich nur der Herbst irgendwie erträglich und da fällt mir dann auch noch was ein, was ich doof finden kann.“ Sein Blick hing noch einen Moment an Karyu fest, dann griff er nach seinem Handy, das bisher vergessen auf dem Tisch gelegen hatte. „Fuck.“ Er verzog leidend das Gesicht. „Ich hab die Zeit komplett vergessen“, erklärte er mit einem tiefen Seufzen.   „Du musst los?“   „Ja, tut mir leid-“ Ehe hätte weitersprechen können, winkte Karyu ab. Für eine Sekunde wunderte er sich selbst darüber, dass er nicht wirklich enttäuscht war – vielleicht, weil das hier schon mehr war, als er überhaupt erwartet hatte.   „Mach dir keinen Kopf. Ich schätze, du musst morgen früh zeitig wieder los?“, wollte er wissen und sah zu, wie Zero sich in einer fließenden Bewegung erhob und in seine Jacke schlüpfte, ehe er es ihm gleichtat.   „So sieht‘s aus. Unser Zug fährt kurz nach acht Uhr und ich müsste irgendwann auch noch neu packen …“   „Da bist du echt nicht zu beneiden …“   Während sie sprachen, waren sie zum Tresen des Cafés gegangen, um zu bezahlen, aber noch ehe Karyu sein Portemonnaie auch nur aus der Tasche gezogen hatte, winkte Zero ab.   „Lass mal. Du kannst dich bei Gelegenheit revanchieren.“ Und damit wandte er sich an den Kellner, der sie vorhin bedient hatte, schien den Blick, den der andere Mann zwischen ihnen hin und her wandern ließ, nicht zu bemerken. Oder er ignorierte ihn einfach, auch das lag im Bereich des Möglichen.   Karyu auf der anderen Seite war für den Moment tatsächlich ein bisschen sprachlos. Und ein bisschen glücklich. Egal wie Zero es genau gemeint hatte, er hätte nicht viel deutlicher machen können, dass er ihn wiedersehen wollte. Und das nicht nur durch irgendeinen Zufall, sondern tatsächlich und wirklich. Er biss sich auf die Unterlippe, während er dem anderen aus dem Café folgte, wickelte sich im Gehen noch in seinen Schal.   „Musst du zur Bahn?“, wollte Zero wissen, sobald sie auf der Straße standen. Wie vorhin schon hielt der die dunkelrote Amaryllis vorsichtig so, dass die schweren Blüten in seiner Armbeuge ruhen konnten.   „Ja. Du?“ Wenn ihn seine plötzliche Einsilbigkeit verwunderte, ließ er es sich nicht anmerken.   „Ich werd von hier laufen und mir einbilden, dass das irgendwie meinen Muskelkater besser macht.“ Mit dieser Erklärung kam Zero näher, doch bevor er Anstalten machen konnte, Karyu zu umarmen, setzte er noch einmal zum Sprechen an.   „Kann ich dich etwas fragen?“, wollte er wissen und war mit einem Mal so nervös, dass er sich nicht einmal über das Zittern in seiner Stimme aufregen konnte.   „Klar.“ Zero schien ein Gespür dafür zu haben, wie unsicher er gerade war, denn wie schon das ein oder andere Mal zuvor, schlich sich jetzt eine gewisse Wärme in seinen Gesichtsausdruck.   „Hast du … Silvester schon was vor?“   „Nicht wirklich, wieso?“   „Na ja, das … ich hoffe, das kommt jetzt nicht blöd, weil es vielleicht ein komischer Anlass ist, aber ich würde mich total freuen, wenn du mitkommst und-“ Er hielt inne, zwang sich, kurz durchzuatmen, als er der seichten Belustigung gewahr wurde, die von Zero auszugehen schien. Mit einem Räuspern verschaffte er sich eine winzige Gnadenfrist, ehe er weitersprach. „Meine Schwester feiert ihre Verlobung und ich weiß, dass das jetzt total dumm klingt, aber auf der Party werden Unmengen von Menschen sein, die ich auch nicht kenne. Und ich würde eh nur in der Gegend herumstehen, wie bestellt und nicht abgeholt, und da dachte ich, vielleicht hättest du ja Lust mitzukommen?“ Noch während er sprach, konnte er spüren, wie sich Hitze in seinem Gesicht ausbreitete. „Ich glaube, sie haben irgendeinen angeblich supertollen DJ engagiert und es gibt vermutlich ziemlich gutes Essen?“, setzte er noch halb scherzhaft hinterher.   „Na, wenn das Essen mal kein Totschlagargument ist.“ Für einen kurzen Augenblick betrachtete Zero die Amaryllis in seinem Arm, sah ihn dann wieder direkt an. „Du willst mich also als deine Begleitung? Für die Verlobungsfeier deiner Schwester?“, hakte er noch einmal nach.   „Das klingt furchtbar, wenn du das so sagst.“   „Finde ich nicht.“ Selten hatte Karyu sich durch vier Silben so erleichtert gefühlt.   „Ehrlich?“   „Ehrlich.“ Während Karyu noch immer bewegungsunfähig dastand, kam Zero näher, schlang wie schon früher am Abend einen Arm um seinen Nacken, um ihn an sich zu ziehen. „Ich finde, das klingt sogar ziemlich gut.“ Allein die Tatsache, dass der andere die Worte so nah an seinem Ohr sprach, ließ seinen Atem stocken. Als er eine Sekunde später Zeros warme Lippen auf seiner Wange spürte, hatte er das Gefühl, dass sein Herzschlag kurz aussetzte.   Die einzige Reaktion, zu der er fähig war, war ein abgehacktes Nicken, das Zero allerdings zu genügen schien. Als wäre nichts gewesen, brachte er wieder Abstand zwischen sie und warf Karyu ein fröhliches Grinsen zu.   „Sag mir einfach Bescheid, wann ich wo sein muss und ob es einen Dresscode gibt, und ich stehe dir zur vollen Verfügung“, meinte er schlicht, während er sich schon zum Gehen wandte. Mit der freien Hand zog er ein Paar Kopfhörer aus seiner Jackentasche und winkte ihm kurz zu. „Komm gut nach Hause, Karyu.“   Kapitel 6: Pas de deux ---------------------- 06. Pas de deux   Pas de deux: frz. „Schritte für zwei“, der Höhepunkt eines klassischen Balletts, zu dem die Hauptcharaktere ein Duett tanzen. Bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die romantische Form des Pas de deux, in dem sich die Darsteller während des Tanzes auch körperlich näher sind.   -   Karyu war sich sehr sicher, dass er mit Fug und Recht behaupten konnte, noch nie in seinem Leben so nervös gewesen zu sein. Er war beinahe froh, dass er einen Großteil des Tages damit verbracht hatte, seiner Schwester mit den letzten Vorbereitungen für die Party zu helfen, die sie nicht den Hotelangestellten hatte überlassen wollen. So hatte er immerhin keine Zeit dafür gehabt, sich noch mehr in die Panik hineinzusteigern, die schon seit dem Vorabend langsam in ihm aufgestiegen war. Ein Umstand, der natürlich auch Kana nicht entgangen war, die im Laufe des Tages darüber gescherzt hatte, dass Karyu anscheinend nervöser war, als sie selbst und das, obwohl sie es ja war, die heiraten würde. Karyu hatte ihr liebevoll beide Mittelfinger gezeigt, was ihm aber nur ein herzhaftes Lachen von ihrer Seite bescherte. Am Ende war er froh gewesen, als Ayasa und Tatsurou noch weit vor Beginn der Feierlichkeit eingetroffen waren und es Zeit wurde, dass er sich selbst dem Anlass entsprechend in Schale warf. Nicht, dass er sich in dem schmal geschnittenen Anzug, auf den seine Schwester bestanden hatte, sonderlich wohlfühlte, aber immerhin hatte er etwas zu tun. Und so lange Ayasa sich damit beschäftigen konnte, seine hellen Haare Strähne für Strähne in die richtige Position zu zupfen, kam sie wenigstens nicht auf dumme Gedanken. Es reichte schließlich, dass nicht nur seine beiden besten Freunde, sondern auch Kana schon neugieriger auf Zero waren, als ihm lieb war. Denn natürlich hatte er erklären müssen, warum genau er so kurzfristig noch jemanden auf die Gästeliste hatte setzen wollen – selbst wenn es seiner Meinung nach bei fast einhundertfünfzig Gästen auf einen mehr oder weniger nun wirklich nicht ankam. Als Gastgeberin sah seine Schwester das aber offensichtlich anders und wenn er in den letzten Monaten eines gelernt hatte, dann war es, dass das alte „die Braut hat immer recht“-Klischee definitiv auch in diesem Fall zutraf. Was tat man nicht alles für seine Lieblingsgeschwister, vor allem, wenn sie die einzigen waren, die man hatte.   Mit einem Seufzen legte Karyu den Kopf in den Nacken, startete einen weiteren Versuch, sich zu beruhigen, der ebenso kläglich scheiterte, wie das letzte dutzend. Er zwang sich dazu, nicht schon wieder auf sein Handy zu schauen – Zero hatte ihm gesagt, dass er erst etwas später zur Feier hinzustoßen konnte, weil er vorher noch seine eigene Familie besuchte. Und er würde nicht schneller hier sein, nur weil er ein weiteres Mal nachsah, wie spät es war. Stattdessen zupfte er mit den Fingerspitzen unruhig an seiner in einem dunklen Violett gehaltenen Krawatte herum. Auch die hatte ihm seine Schwester aufgedrückt und jetzt gerade hatte er das Gefühl, dass ihn dieses Stück Stoff langsam aber sicher zu erwürgen versuchte. Durch die bodentiefen Fenster am anderen Ende der Hotellobby sah er nach draußen, verlor sich ungewollt im Anblick der nächtlichen Großstadtkulisse. Aber so konnte er zumindest für ein paar lange Momente das geschäftige Treiben um sich herum ausblenden.   Erst, als er Schritte hinter sich hörte, riss er sich aus seinen dahintreibenden Gedanken. Karyu drehte sich automatisch um, um zu sehen, ob er vielleicht gebraucht wurde, nur um gleich darauf abrupt stehen zu bleiben. Wenn er ehrlich war, brauchte es einige Anstrengung, um genau das zumindest nicht mit offenem Mund zu tun.   „Ich hoffe, ich bin nicht zu spät?“, wollte Zero wissen. Das halb versteckte Lächeln, das über sein Gesicht huschte, machte deutlich, dass er sich Karyus Reaktion nicht nur bewusst war, sondern diese anscheinend auch genoss.   Aber wie hätte er anders reagieren können? Er war ja schon froh, dass sein Herz – und seine Knie – nicht hier und jetzt ihren Dienst quittierten und ihn vollkommen im Stich ließen. Zero stand in einem dunkelroten Jackett vor ihm, das es irgendwie schaffte, seine Augen noch wärmer wirken zu lassen, das Revers mit einem kleinen grünen Sträußchen geschmückt. Darunter trug er ein helles Hemd und eine Weste, die ebenso schwarz war, wie seine Hose.   „Und wenn, wäre es das Warten wert gewesen.“ Die Worte verließen leicht krächzend Karyus Mund, ohne, dass er etwas hätte dagegen tun können.   Diesmal war Zeros Grinsen deutlicher und er biss sich auf die Unterlippe. Vielleicht um sich so selbst einen Kommentar zu verkneifen.   „So darfst du mich gern immer begrüßen“, meinte er schließlich, bevor er den Abstand zu Karyu überbrückte und sich umstandslos bei ihm unterhakte. „Ich bin ja doch ziemlich gespannt auf heute Abend, muss ich sagen.“   „Da bist du nicht der Einzige.“ Anscheinend hatte er es nicht geschafft, das unterschwellige Seufzen in seiner Stimme zu verbergen. Zumindest, wenn er nach dem fragenden Blick ging, den Zero ihm auf den Satz hin zuwarf. Sie betraten den Aufzug, aus dem der andere gerade erst gekommen war, wieder und Karyu zuckte mit den Schultern, während er den Knopf für die oberste Etage drückte. „Meine besten Freunde und meine Schwester sind sehr neugierig darauf dich kennenzulernen“, erklärte er dann.   Das flaue Gefühl, dass sich bei den Worten in seinem Magen ausbreitete, schob er vorerst konsequent auf den Fahrstuhl, auch wenn dieser sich beinahe unmerklich bewegte. Er hatte nicht wirklich erwartet, dass diese Aussage Zero verunsichern würde, zumindest nicht so, dass er es sich anmerken ließ. Aber damit, dass seine Begleitung sich lässig gegen die Fahrstuhlwand lehnte und ihn lediglich noch einmal ausgiebig musterte, hätte er auf der anderen Seite auch nicht gerechnet.   „Schätze, dann sollte ich mich heute Abend von meiner besten Seite zeigen, mh?“, meinte er nur leichthin. Und offensichtlich konnte Karyu sein Unwohlsein nicht halb so gut vor ihm verbergen, wie er gehofft hatte, denn als die Fahrstuhltüren sich öffneten, fügte er hinzu: „Ich werde es mir verkneifen auf irgendwelchen Tischen zu tanzen, okay?“   Karyu konnte nicht anders, als zu lachen, fühlte sich zumindest in diesem Augenblick einfach nur unendlich erleichtert. Selbst wenn er nicht in Worte fassen konnte, warum genau.   ~*~   „Was ist das eigentlich mit dir und Dachterrassen?“, fragte Zero in die relative Stille hinein, in der sie bisher nebeneinander am Geländer gestanden hatten.   „Ich mag den Abstand, denke ich.“ Karyu drehte sich zu ihm um, drückte gleichzeitig seine nur halb aufgerauchte Zigarette im Aschenbecher aus. „Mir werden solche Menschenaufläufe schnell zu viel. Und, hey, der Blick hier lohnt sich doch definitiv, oder?“   Mit seiner jetzt freien Hand gestikulierte er auf das Stadtpanorama vor sich, das er bisher betrachtet hatte.   „ … da muss ich zustimmen. Kaum zu glauben, dass wir quasi auf einer Höhe mit dem Tokyo Tower sind …“ Jetzt war es Zero, der einen Arm über die Brüstung ausstreckte, als wollte er spielerisch nach der beleuchteten Spitze des Funkturms greifen.   Die Lichter spiegelten sich in seinen dunklen Augen und ließen die Wellen seines Haars glänzen. Der Anblick verursachte ein beinahe schmerzhaftes Ziehen in Karyus Magen. Es fühlte sich an, als müsste er sich mit aller Gewalt davon abhalten, den anderen zu berühren. Alles in ihm schrie förmlich danach, Zero diese eine Haarsträhne hinters Ohr zu streichen, die ihm immer wieder vom Wind ins Gesicht geweht wurde.   „Ist dir eigentlich nicht kalt?“, fragte er, wechselte so das Thema, vielleicht um einmal mehr von sich abzulenken. Oder sich selbst von seinen Gedanken. Aber Zero stand hier ohne Jacke und mit hochgekrempelten Hemdsärmeln in der Dezemberkälte. Und bis auf die leichte Gänsehaut, die seine Unterarme bedeckte, gab es keine Anzeichen dafür, dass ihn dies irgendwie störte.   „Geht.“ Er warf ihm ein abschätzendes Lächeln zu. „Es sei denn, du möchtest mich wärmen. Dann friere ich gerade furchtbar.“   Karyu war sich ziemlich sicher, dass es in seinem Hirn gerade zu einem Kurzschluss gekommen war.   „Was?“, fragte er deswegen nur, beobachtete stumm, wie Zero sich ihm etwas weiter zuwandte und ihn offen ansah.   „Ich meine nur. Ich hätte nichts dagegen oder so. Das heißt, wenn du nichts dagegen hast.“   Wie eben schon, streckte Zero eine Hand aus, diesmal allerdings nach ihm, streifte nur sacht mit den Fingerspitzen seinen Handrücken. Und Karyu selbst konnte nicht anders, drehte auf diese lockende Geste hin automatisch seine eigene Hand um, um ihre Finger zittrig miteinander zu verschränken.   „Hab ich nicht“, brachte er schließlich hervor.   Die Worte hatten kaum seinen Mund verlassen, da trat Zero auch schon näher, ließ den Abstand zwischen ihnen schmelzen. Irgendwie schaffte er es mit einer halben Drehung, sich Karyus Arm um die Schultern zu legen und sich gegen ihn zu lehnen, ohne ihre Hände voneinander zu lösen. Wenn Karyu ehrlich war, wusste er gerade weder, was er tun, noch, was er sagen sollte. Stattdessen fühlte er sich tatsächlich ziemlich damit überfordert, Zeros Nähe und Körperwärme plötzlich so deutlich spüren zu können.   „Ist alles okay?“ Zeros Frage klang ehrlich besorgt, ließ ihn trotz des Chaos, das in ihm tobte, lächeln.   „Ja.“ Er sah auf Zero hinunter, der sich an ihn lehnte, als sei es das Selbstverständlichste der Welt, und zuckte unbeholfen mit den Schultern. „Sehr okay sogar. Ich glaub, ich muss das nur kurz verarbeiten.“   „Was?“   „… dass du … mit mir flirtest?“ Er formulierte die Erklärung unwillkürlich als Frage.   Allerdings schien er den anderen damit sehr zu amüsieren, denn Zero fing nur an zu lachen und verbarg für einen Moment sein Gesicht an Karyus Schulter. Als er ihn wieder ansah, lag ein breites Grinsen auf seinen Lippen, sodass Karyus Blicke automatisch zu den Grübchen wanderten, die sich dadurch zeigten.   „Das tue ich, seit wir uns in Tokyo wiedergesehen haben, aber schön, dass es dir aufgefallen ist.“   „Du … was?“ Hatte er eben das Gefühl von Sprachlosigkeit verspürt, so fühlte er sich jetzt wie ein Fisch auf dem Trockenen.   Ein Fisch, der gerade verglühte, wenn er nach dem Brennen ging, das sich auf seinen Wangen ausbreitete. Die Art und Weise, auf die Zero ihn mit hochgezogenen Augenbrauen ansah, machte es dann auch nicht wirklich besser.   „Karyu. Ernsthaft?“ Zero schüttelte angedeutet den Kopf, ehe er sich wieder gegen ihn lehnte. „Ich hätte nie gedacht, dass wir uns nach Chicago überhaupt wiedersehen. Natürlich nutze ich da meine Chance, wenn wir uns noch mal über den Weg laufen. Zumal du nicht wirklich abgeneigt gewirkt hast?“ Diesmal war er es, der eine Aussage zur Frage umformulierte, auch wenn Karyu den Eindruck hatte, dass dies weniger mit seiner eigenen Unsicherheit zu tun hatte, als mehr damit, dass er sicher sein wollte, ihn nicht zu überfordern.   „Ich bin definitiv nicht abgeneigt“, gab er deswegen zu, konnte nun mit unendlicher Erleichterung Zeros Lächeln erwidern. „Ich bin nur katastrophal schlecht in diesen Dingen … wie ich eben eindrücklich bewiesen haben sollte.“   „… ich denke, damit kann ich leben.“ Langsam löste Zero sich jetzt wieder aus Karyus Armen und sah ihn einfach nur an, wirkte dabei ebenso gelöst, wie Karyu selbst sich fühlte. „Komm mit, ich will dir etwas zeigen“, sagte er dann und ging ein paar Schritte rückwärts, um ihn mit sich zu ziehen.   Und was hätte er anderes tun sollen, als ihm mit einem vermutlich ziemlich vernebelten Lächeln auf den Lippen zu folgen? Da war es ihm, wenn er ehrlich war, sogar egal, wohin sie gingen oder was genau Zero ihm zeigen sollte. Seine Gedanken kreisten immer noch glückselig um den einzig wichtigen Punkt: Zero mochte ihn! Zero hatte mit ihm geflirtet und Zero hielt noch immer seine Hand in seiner eigenen, die trotz der winterlichen Temperaturen angenehm warm war.   Nur allzu willig ließ er sich deswegen mitziehen, erschauderte kurz, als sie durch die Glastüren hindurch den Innenraum betraten und ihm die warme Luft des Saals entgegenschlug. Auch, wenn er versuchte darauf zu achten, wohin sie gingen, seine Augen wanderten immer wieder zu ihren verbundenen Händen und weiter an Zeros Armen entlang. Er hätte nie gedacht, dass er jemals Unterarme als attraktiv bezeichnen würde, aber jetzt gerade konnte er nicht anders. Genauer gesagt würde er zu gern seine Finger daran nach oben wandern lassen, bis sie unter den umgekrempelten Hemdsärmeln verschwand. Einfach, um zu sehen, ob Zeros Haut genauso weich war, wie sie wirkte. Und auch davon abgesehen hatte er nicht das Gefühl sich gerade an seinem Begleiter sattsehen zu können. Die schwarze Weste, die Zero anders als seine Jacke auch jetzt noch trug, betonte seine Figur auf eine geradezu unfaire Weise. Aber gleichzeitig konnte Karyu nicht anders, als auf eine verdrehte Weise stolz darauf zu sein, dass der andere sich für ihn so zurechtgemacht hatte.   Karyu war einmal mehr so in seine Gedanken abgedriftet, dass er beinahe stolperte, als Zero plötzlich stehen blieb. Mit einem Blinzeln sah er sich um. Für einen Moment fing er Kanas Blicke auf, als diese am Arm ihres Verlobten in Richtung Tanzfläche ging, aber noch genug Zeit hatte ihm grinsend zwei enthusiastische Daumen nach oben zu zeigen. Die Geste ließ ihn unwillkürlich lachen und bevor er Angst davor bekommen konnte, dass er gerade viel zu glücklich war, drehte Zero sich wieder zu ihm um. In seinen Fingern hielt er den kleinen grünen Zweig, der bisher das Revers seiner Jacke geziert hatte.   „Erinnerst du dich an dieses Telefonat vor einer Weile, als du etwas von wegen romantischer Gesten gesagt hast?“, wollte er wissen, klang zum ersten Mal an diesem Abend nicht mehr vollkommen selbstsicher.   „Natürlich. Wieso?“   „Na ja …“ Er biss sich für eine Sekunde auf die Unterlippe, vielleicht, um Zeit zu haben, sich die richtigen Worte zurechtzulegen, während sich Karyus Aufmerksamkeit auf ihn fokussierte. „Das mit der Amaryllis war dahingehend … ziemlich perfekt, muss ich zugeben“, begann er dann von Neuem. „Und deswegen dachte ich, dass ich mich da irgendwie revanchieren sollte.“ Für einen Moment betrachtete er das Zweiglein in seiner Hand, bevor er sich mit einem schiefen Lächeln streckte, sodass er es über ihre Köpfe halten konnte. „Weihnachten ist zwar vorbei, aber ich glaube, unter einem Mistelzweig muss man sich trotzdem küssen, oder?“   „… ein Mistelzweig?“ Karyu sah nach oben und jetzt wo er es wusste, könnte es tatsächlich genau das sein, auch wenn er darauf nie von allein gekommen wäre.   Zeros freie Hand lag warm an seinem Oberarm, vielleicht um ihm mit der Balance zu helfen, und er konnte die Blicke des anderen spüren, als er den Kopf wieder senkte.   „Ich schätze, mit so einer Tradition sollte man lieber nicht brechen, oder?“   „.Absolut. Nur, um sicher zu gehen. Man weiß ja nie.“   Er war sich nicht sicher wie, aber während dieser letzten Worte, waren sie sich noch ein Stück näher gekommen, war seine eigene Hand ganz von allein an Zeros Wange gewandert. Mit einem Lächeln strich er ihm die Strähne seines weichen Haars aus dem Gesicht, die schon eher so widerspenstig gewesen war. Mit klopfendem Herzen warf er Zero noch einen kurzen Blick zu, der lächelnd erwidert wurde, bevor er die letzten Zentimeter zwischen ihnen überwand und seine Lippen vorsichtig auf Zeros legte. Karyu musste sich beherrschen, um nicht in diesen federleichten Kuss zu seufzen, legte stattdessen seine linke Hand an Zeros Taille, um ihn noch näher an sich zu ziehen. Die Lippen des anderen waren warm, ein wenig rau und neckten ihn auf eine Art und Weise, die ihm einmal mehr die Knie weich werden ließ. Er hätte gelogen, hätte er behauptet, dass er diesen Kuss nur mit einer großen Portion Widerwillen wieder aufgab. Aber Zero hatte, vielleicht unbewusst, begonnen sich langsam im Rhythmus der Musik zu bewegen, und wäre er nicht ohnehin schon vollkommen von seinen Gefühlen übermannt gewesen, hätte Karyu sich spätestens jetzt noch mehr in ihn verliebt.   „Stillhalten kannst du wirklich nicht, oder?“, murmelte er deswegen leise amüsiert.   „Nicht wirklich. Aber das Lied passt ja auch, oder?“, erklärte Zero, formte mit den Lippen lautlos die Worte ‚I‘m yours‘, die der Sänger des Liedes zum wiederholten Male von sich gab. Karyu konnte nicht anders, als zu lachen.   „Du bist unglaublich.“   „Dito.“ Mit diesen zwei Silben ließ er den kleinen Mistelzweig achtlos fallen, um beide Arme um Karyus Nacken legen zu können. „Und du kannst schon mal anfangen, dich daran zu gewöhnen, dass ich dir das bei jeder Gelegenheit sagen werde.“   Selbst, wenn Karyu gewusst hätte, was er zu dieser Feststellung hätte sagen sollen, er hätte keine Gelegenheit dazu gehabt. Denn ohne sich auf Diskussionen einzulassen, zog Zero ihn erneut an sich, verwickelte ihn mit spielerischer Leichtigkeit in einen Kuss, der zwar ebenso süß war, wie der erste, aber schnell wesentlich weniger brav. Nicht, dass er etwas dagegen gehabt hätte. Ganz im Gegenteil – gedanklich legte Karyu in diesem Moment fest, dass er von jetzt an bitte jedes Silvester so verbringen wollte. Wenn schon nicht auf einer protzigen Feier, dann doch zumindest mit diesem unglaublichen Mann in seinen Armen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)