Move Together von -Red-Karasu ================================================================================ Kapitel 3: Attitude ------------------- 03. Attitude   Attitude: frz. „Haltung“; eine Pose, in der der Tänzer auf einem Bein steht, während das andere nach hinten, zur Seite oder nach vorne gehoben wird und das Knie des Spielbeins gebeugt ist.   -   Mit einem unterdrückten Gähnen ließ Karyu sich auf den erstbesten freien Platz sinken, den er in der Bahn finden konnte, lehnte seinen Kopf gegen die kalte Fensterscheibe und zwang sich weiter dazu seine Augen offenzuhalten. Ganz offensichtlich trug er seine Kontaktlinsen heute schon zu lang oder war einfach zu übernächtigt, als dass er sie gerade gut vertragen würde. Aber eine Weile musste er das jetzt einfach noch aushalten, so unangenehm es auch war. Allein schon, weil er sich nicht vorstellen konnte, dass es gutgehen würde, beim Tanzen eine Brille zu tragen – erst recht nicht, wenn man zwei so linke Füße hatte, wie es bei ihm anscheinend chronisch der Fall war. Der Gedanke ließ ihn innerlich lächeln, brachte er doch die Erinnerung an das letzte Wochenende zurück und damit an die Zeit, in der Zero versucht hatte in diesem Club doch noch einen Tänzer aus ihm zu machen. Aber selbst der andere hatte irgendwann einsehen müssen, dass ihm dieses Talent offensichtlich einfach nicht in die Wiege gelegt worden war. Und trotzdem: Er hatte in dieser Nacht mehr Spaß gehabt, als er es zu Beginn für möglich gehalten hatte. Nicht, dass er wirklich darüber nachdenken musste, warum das der Fall war. Dass er sich von Zero angezogen fühlte, hatte er schließlich, wenn er ehrlich war, schon in Chicago gemerkt. Allerdings hatte er sich da noch an die Hoffnung klammern können, dass er diesen Fremden und sein irgendwie herausforderndes Lächeln nie wieder sehen würde. Das zufällige Treffen am Wochenende hatte ihm dahingehend nun einen dicken Strich durch die Rechnung gemacht, zumal er sich trotz seiner nicht vorhandenen tänzerischen Fähigkeiten in Zeros Gegenwart einfach nur wohlgefühlt hatte. Und das Ergebnis war jetzt, dass er weit häufiger an seinen neuen Bekannten dachte, als ihm eigentlich lieb war. Zumal es momentan ganz andere Dinge gab, über die er sich Gedanken hätte machen sollen, allem voran die Klausuren, durch die er bis zum Ende des Jahres noch irgendwie durch musste.   Aber auch all diese Überlegungen hatten nicht davon abgehalten, Zero am Sonntag, nachdem er irgendwann gegen Mittag aufgewacht war zu schreiben, um ihn zu fragen, ob er gut Zuhause angekommen war. Seitdem hatten sie zwar nicht ständig Kontakt, schickten sich aber im Laufe der Tage immer wieder Nachrichten und mit jedem Kommentar des anderen, der auf seinem Handy ankam, wuchs Karyus Vorfreude auf den nächsten. Wenn er nicht aufpasste, würde das zu einem echten Problem werden. Allein schon, weil er nicht einschätzen konnte, ob das Interesse, das er noch zu verdrängen versuchte, erwidert wurde, oder ob Zero einfach immer so zugänglich war, wie ihm gegenüber. Aber selbst über diesen Punkt wollte er, wenn er ehrlich war, eigentlich nicht weiter nachgrübeln. Vermutlich konnte er schon zufrieden sein, wenn ihre Bekanntschaft länger anhielt und nicht nach ein paar Wochen, in denen sie sich nicht sahen, einfach im Sande verlief.   Müde blinzelte er nach oben in Richtung Streckenplan, stellte erleichtert fest, dass er sein Ziel bald erreicht haben würde und zog dann sein Handy aus der Tasche. Auch wenn er es versuchte, den kleinen Hüpfer, den sein Herz machte, als er eine neue Nachricht von Zero sah, konnte er nicht vollkommen ignorieren. Er entsperrte sein Telefon, musste unwillkürlich schmunzeln, als er den kurzen Text las:   »Ich dachte, dass ich für heute fertig bin und jetzt muss ich für einen Kollegen einspringen. Adieu freier Nachmittag! Das Leben ist grausam!!!«   Dahinter befand sich gleich eine ganze Reihe von verschiedenen weinenden Emojis, die ihn dazu brachte mit dem Tippen einer Antwort zu beginnen, ohne großartig darüber nachzudenken.   »Das Leben muss dich wirklich hassen. Aber falls es dich tröstet: Ich komme gerade erst von der Uni und kann auch noch nicht aufs Sofa. Und das nur, weil ich anscheinend zu nett bin.«   Vielleicht hätte er darüber nachgedacht welcher Smiley für diese Antwort der angemessene wäre – eine Tatsache, die ihm auch schon wieder zu denken geben sollte, die er aber vorerst zu ignorieren versuchte – aber dann fuhr der Zug tatsächlich schon in die Haltestelle ein, an der er aussteigen musste. Mit einem Ruck erhob er sich, fädelte sich in die Menschenmenge ein, die ebenfalls den Weg nach draußen suchte und ließ sich vom Strom der Pendler mitreißen.   Wie schon die ersten Male, die er hier ausgestiegen war, bog er beinahe in Richtung des falschen Ausgangs ab, bemerkte seinen Fehler gerade noch so bevor er durch die Ticketschranken ging. Kopfschüttelnd blieb er einen Moment stehen, drehte sich dann um, um sich zurück durch die ihm entgegenkommenden Passagiere zu kämpfen. Auch wenn ihm sein Fehler unangenehm war, das hier war immer noch besser, als draußen einen riesigen Umweg in Kauf nehmen zu müssen. Vielleicht würde er sich ja irgendwann noch merken, welcher Weg der richtige war, denn so wie es aussah würden seine Besuche hier noch eine Weile andauern. Und das alles nur, weil seine Schwester irgendwelche Versprechen, die sie einander als Kinder gegeben hatten, auch als erwachsene Frau noch viel zu ernst nahm.   Er verließ den Bahnhof, hielt nur noch kurz an einem Automaten an, um sich einen Kaffee zu ziehen, der ihn hoffentlich noch eine Weile wachhalten würde. Glücklicherweise musste er jetzt keinen sonderlich weiten Weg mehr in der Kälte zurücklegen, sondern konnte das Ganze einfach hinter sich bringen. Schlechter als die letzten Male konnte es schließlich wirklich nicht mehr laufen und wer wusste schon, ob am Wochenende nicht doch ein kleiner Funken von Zeros tänzerischem Talent auf ihn übergesprungen war.    Mit einem Aufatmen betrat Karyu die Tanzschule, genoss für einige Augenblicke die angenehme Wärme, die hier im Gegensatz zu draußen herrschte, während er die Treppen in die zweite Etage nach oben stieg. Wie mittlerweile üblich war er relativ knapp dran, aber Versprechen hin oder her, er konnte nicht einfach mitten in der Vorlesung gehen, nur um vor seinem ‚geliebten‘ Tanzunterricht mehr Zeit zum Ankommen zu haben. Nachdem er sich kurz die Füße abgetreten hatte, ging er durch den Flur weiter in den Aufenthaltsbereich, wo es neben einer kleinen Bar auch etliche Sitzmöglichkeiten gab. An einem der Tische konnte er auch schon Ayasa erspähen, die ihm ein kurzes Lächeln zuwarf und ihr Handy beiseite legte, als er näherkam.   „Da bist du ja“, begrüßte sie ihn, während er sich aus seiner Jacke schälte, musterte ihn wie so oft ein bisschen kritisch. „Du siehst aus, als hätte dich etwas am Kragen gepackt und hergeschleift“, war schließlich das Urteil, das sie mit einem breiten Grinsen fällte.   „Und du bist bezaubernd wie immer.“ Seufzend fuhr Karyu sich mit beiden Händen durch die Haare, warf einen Blick durch die Glaswand, die sie von einem der vier Trainingsräume trennte, bevor er sie wieder ansah. „Die Vorlesung ging länger“, erklärte er noch, auch wenn sie sich das vermutlich denken konnte, und ließ sich ihr gegenüber auf einen Stuhl fallen.   Wie jedes Mal, wenn sie hier saßen, fragte er sich, warum sie sich das Ganze eigentlich antat. Seine Schwester hatte zwar gesagt, dass Ayasa ihre eigenen Tanzfähigkeiten einfach auch ein bisschen aufpolieren wollte, aber dazu hätte sie sicher auch andere Möglichkeiten gehabt, als sich ausrechnet mit ihm als Tanzpartner herumzuquälen. Vermutlich hatte Kana sie mit irgendetwas bestochen, damit er das hier nicht ganz allein durchstehen musste. Und auch wenn das vielleicht nicht so ganz die nette Tour war, war er seiner Schwester prophylaktisch schon ein bisschen dankbar dafür. Mit einer gänzlich unerfahrenen Partnerin würde er sich vermutlich noch schlechter anstellen, als so schon. Bevor er an dieser Stelle aber noch mehr über sein unfaires Schicksal nachdenken konnte, erschien ihre Tanzlehrerin auch schon im Sitzbereich und lächelte in die Runde.   „Ich würde sagen, wir fangen an, ja?“, sagte sie, führte mit der rechten Hand eine formvollendete Geste in Richtung der Tanzfläche aus, ging dann in deren Richtung voran, während die versammelte Schülerschaft sich unter lautem Stühlerücken anschickte ihr zu folgen. Karyu seinerseits sah ihr für einige Sekunden hinterher, unterdrückte ein Gähnen, als er schließlich ebenfalls aufstand und noch einen letzten Schluck seines Kaffees trank. Aus den Augenwinkeln konnte er sehen, wie auch Ayasa der anderen Frau hinterhersah, allerdings mit einem Gesichtsausdruck, der ihn lächeln ließ.   „Pass auf, dass du nicht sabberst“, neckte er sie, ging dann schnell den anderen Teilnehmern ihres Kurses hinterher.   „Karyu!“ Empörung und auch ein wenig Verlegenheit waren in ihrer Stimme deutlich zu hören, sodass der Ellenbogen, den sie ihm Sekunden später wenig damenhaft in die Seite rammte, nicht gänzlich unerwartet kam.   Allerdings würde er sich davon nicht stören lassen, allein schon, weil die Tatsache, dass seine Freundin ein bisschen in Ataru, ihre Tanzlehrerin, verknallt war, quasi seinen einzigen Lichtschimmer in diesem ganzen Tanzstunden-Horrorszenario darstellte. Nicht, dass er es Ayasa verübeln konnte – die Frau, die jede Woche wieder versuchte ihren Schülern die einfachsten Grundschritte verschiedener Paartänze nahezubringen, war schlicht und ergreifend bildschön und daran gab es nichts zu rütteln.   „Ich freue mich, dass ihr alle wieder da seid. Ich hoffe, ihr habt die letzte Stunde gut überstanden.“ Erneut lächelte sie in die Runde, während Karyu sich am liebsten noch weiter in die hinterste Ecke des Saals zurückgezogen hätte, um möglichst nicht wahrgenommen zu werden. „Leider kann Shun heute nicht hier sein, weil er sich eine Grippe eingefangen hat-“ Sie unterbrach sich selbst, um zur Tür zu sehen, die sich gerade noch einmal öffnete. Ihr Lächeln wurde weiter, als sie fortfuhr. „Aber glücklicherweise hat Michiya sich dazu bereit erklärt, mir heute zu helfen.“   Karyu fühlte sich wie erstarrt, als er Zero dabei beobachte, wie er, Atarus Lächeln erwidernd, auf sie zuging, sich dann an die versammelten Schüler wandte.   „Ich hoffe, ich kann ein guter Ersatz sein. Ich unterrichte sonst einige der Kinderkurse hier, die hier angeboten werden – ich gehe einfach mal davon aus, dass es bei euch weniger Geschrei nach Elternteilen gibt.“ Für einen Moment ließ sein Grinsen die Grübchen auf Zeros Wangen erscheinen, aber Karyu nahm sie noch nicht einmal wirklich wahr.   Sein Leben musste ihn hassen, wenn es ihn tatsächlich dazu zwingen wollte seine gänzliche Unfähigkeit zum Tanzen ausgerechnet vor seiner neuen Bekanntschaft unter Beweis zu stellen. Schon wieder. Und dieses Mal in einem Rahmen, der mit der lockeren, und ehrlicherweise leicht angetrunkenen, Atmosphäre vom letzten Wochenende rein gar nichts zu tun hatte.   „Karyu, ist alles okay? Du bist ein bisschen blass geworden gerade…“ Ayasas Stimme klang besorgt, brachte ihn dazu sich aus seiner Starre zu lösen und zu ihr umzudrehen. Er biss sich auf unter Unterlippe und schüttelte sacht den Kopf.   „Wir können nicht zufällig gehen, oder?“, wollte er nur halb scherzhaft wissen.   „Ähm, nein. Eigentlich nicht wirklich.“ Sie sah fragend und mit zusammengezogenen Augenbrauen zu ihm hoch, legte beruhigend eine Hand auf seinen Unterarm. Aber bevor sie noch etwas sagen konnte, um zu erfahren, was los war, ertönten die ersten Klänge eines langsamen Liedes.   „Bitte die Herren auf die eine Seite, die Damen auf die andere“, forderte Ataru sie auf, während sie von der Musikanlage zurück in die Mitte des Raumes ging. „Wir wiederholen erst einmal die Schritte der Rumba, die wir in der letzten Woche geübt haben. Denkt daran genau auf den Rhythmus zu hören, das Ganze ist langsamer, als ihr meint. Und immer schön auf den Fußballen bleiben, ich möchte keine Fersenschritte sehen – auch nicht bei den Herren. Ihr habt die Zeit alles richtig auszutanzen.“   Wenn er ehrlich war, war Karyu ja im Moment schon mehr als froh, wenn er überhaupt irgendeinen Schritt hinbekam, egal mit welchem Teil seines Fußes er diesen nun machte. Schließlich war der Rhythmus nicht sein Problem, zumindest nicht im Kopf. Er spielte schon sein halbes Leben lang Gitarre, er war in der Lage dazu Musik richtig zu hören, sich ihr anzupassen. Aber die Verbindung vom Hirn zum Rest seines Körpers war dann eben der Punkt, an dem es haperte. Hauptsächlich, weil es da keine Verbindung zu geben schien. Ganz abgesehen davon, dass seine grauen Zellen nicht in der Lage waren, sich selbst einfache Schrittfolgen zu merken.   Am Ende hatte er so konzentriert versucht auf das zu hören, was Ataru sagte und ihnen vorzählte, dass er nicht bemerkt hatte, wie Zero seinen Platz vor der Reihe der Männer, von dem aus er den Grundschritt gezeigt hatte, verließ. Stattdessen ging er langsam die Reihe entlang, korrigierte den ein oder anderen Kursteilnehmer kurz, bis er schließlich vor Karyu innehielt. Und Karyu wäre nicht er selbst, wenn er sich nicht allein deswegen komplett verhaspelt hätte und letztlich einfach stehen blieb. Zögerlich sah er auf, hasste wie unsicher er sich gerade fühlte – als wäre es eine furchtbare Sache, dass er nicht tanzen konnte. Und auch wenn es das mit Sicherheit nicht war und er damit noch sicherer nicht allein war, jetzt gerade fiel es ihm genau deswegen schwer Zero anzusehen. Der jedoch erwiderte seinen Blick nur mit einem kleinen, warmen Lächeln.   „Ich wusste gar nicht, dass du hier Stunden nimmst“, sagte er statt einer Begrüßung, zählte dann neu an, damit Karyu wieder in die Schritte einsteigen konnte, ohne aus dem Takt zu kommen.   „Wusste nicht, dass du hier arbeitest“, brachte er als Antwort hervor, klang dabei zerknirschter, als er beabsichtigt hatte. Er sah seinem Gegenüber nicht ins Gesicht, versuchte stattdessen einmal mehr mit aller Macht sich zu konzentrieren und die Schrittfolge, die sie gelernt hatten, umzusetzen, so gut er eben konnte. Als er unerwartet die warme Hand des anderen an seinem unteren Rücken spürte, zuckte er zusammen.   „Halte dich ein bisschen gerader. Du bist vollkommen verkrampft.“ Selbst über die Musik hinweg, jagte Zeros ruhige, dunkle Stimme ihm einen Schauer über den Rücken.   „M-hm.“   Er hätte Zero gern erklärt, dass er sich nicht unbedingt entspannen konnte, wenn er versuchte Rumba zu tanzen und der andere ihm dabei so nahe kam, aber dann hätte er sich bei seinem Glück nur wieder in seinen eigenen Füßen verheddert. Vor allem jetzt, wo sich beide Hände seines Bekannten von hinten an seine Hüfte legten, so mit Bestimmtheit seine Bewegungen dirigierten.   „Wenn du dein Gewicht weiter in die Schritte verlagerst, geht es einfacher.“   Dann waren die Hände ebenso plötzlich verschwunden, wie sie ihn berührt hatten und Zero ging zurück in die Mitte des Raumes, wo Ataru gerade die Schüler dazu aufforderte sich paarweise aufzustellen.   ~*~   Obwohl er die Tanzstunde insgesamt besser überstanden hatte, als anfangs befürchtet, war er knappe zwei Stunden später froh, das Gebäude wieder verlassen zu können. Schon jetzt hatte er das Gefühl, jeden Muskel in seinem Körper auf unangenehme Art und Weise zu spüren, was dafür sprach, dass er von diesem Nachmittag wohl noch länger etwas haben würde. Zusammen mit Ayasa stand er an der Kreuzung, von der aus sie in Richtung Bahnhof weitergehen würden, und wartete darauf, dass die Ampel auf Grün umschaltete.   „Meinst du, sie würde mit mir ausgehen?“, fragte seine Begleiterin ihn plötzlich, nachdem kurze Zeit lang Stille zwischen ihnen geherrscht hatte. Erstaunt sah er sie an.   „Was?“   „Denkst du, sie würde mal mit mir ausgehen?“, wiederholte Ayasa ihre Frage, trug einen fast schon gequälten Gesichtsausdruck zur Schau und wirkte insgesamt ungewöhnlich angespannt.   „Meinst du Ataru?“   „Ja, natürlich. Wen denn sonst.“ Geradezu hilflos zuckte sie mit den Schultern, biss sich auf die Unterlippe, als wollte sie das kleine Lächeln unterdrücken, das sich auf ihren Lippen ausbreitete, bevor sie fortfuhr. „Ich würde sie gern fragen. Aber … ich will auch keine Grenzen überschreiten oder so. Weißt du, was ich meine? Schließlich ist sie ja unsere Lehrerin, selbst wenn sie nicht viel älter ist, als wir und wir sind zahlende Kundschaft und mh. Keine Ahnung, das ist doof, irgendwie.“   Karyu runzelte die Stirn, während er sie forschend anschaute.   „Das klingt irgendwie, als hättest du da schon länger drüber nachgedacht.“   „Schon.“ Die Antwort verließ kleinlaut Ayasas Mund und ihre Wangen nahmen ein Rot an, das nicht von der herrschenden Kälte kam. „Ich bekomm sie einfach nicht mehr aus dem Kopf, schon seit der ersten Stunde nicht“, gab sie unumwunden zu.   „Kann ich verstehen.“ Vertraut legte Karyu einen Arm um sie, zog sie leicht an sich und ausnahmsweise protestierte seine Freundin auch nicht, sondern lehnte sich an ihn. „Abgesehen davon, dass sie ganz offensichtlich dein Typ ist – sie sieht toll aus, sie hat Ausstrahlung ohne Ende-“   „Ihr Lächeln ist absolut umwerfend.“   „Das auch. Wie gesagt, absolut nachvollziehbar.“ Er warf einen Blick in den dunklen Himmel, an dem sich schwere Wolken türmten. „Frag sie doch einfach, wenn wir mit dem Kurs fertig sind. Nach der letzten Stunde oder so. Dann ist sie genau genommen nicht mehr unsere Lehrerin und sollte sie dich eiskalt abblitzen lassen, musst du sie danach nicht mehr wiedersehen.“   „Du bist so ein Arsch, Karyu!“ Ayasa versuchte ihn böse anzusehen, musste aber ob seines breiten Grinsens doch lachen. „Aber die Idee ist ausnahmsweise nicht schlecht.“   „Auch ein blindes Huhn findet mal ein Korn oder wie heißt es immer so schön?“ Nun war er es, der mit den Schultern zuckte und gleichzeitig damit begann seine Jackentaschen nach seinem Feuerzeug zu durchforsten. Dann fluchte er leise, als ihm einfiel, dass er es benutzt hatte, um ein Teelicht auf ihrem Tisch in der Tanzschule anzuzünden. Vielleicht hatte seine Mutter früher doch recht gehabt und er würde tatsächlich noch irgendwann seinen Kopf vergessen, wäre der nicht angewachsen. Und natürlich wurde die Fußgängerampel gerade jetzt grün.   „Geh ruhig schon mal vor, Ayasa“, seufzte er. „Ich muss nochmal zurück, hab was liegen lassen. Wir sehen uns morgen an der Uni?“   Theatralisch verdrehte sie die Augen, umarmte ihn aber für einen Moment.   „Na klar. Zumindest, wenn du den Weg dahin dann noch findest.“ Mit einem letzten Grinsen drehte sie sich um und lief über die Straße davon, während Karyu ihr hinterhersah.    Er verharrte neben der Ampel, bis Ayasa die Straße überquert hatte und in Richtung Bahnhof aus seinem Blickfeld verschwunden war. Erst dann gab er sich einen Ruck und ging den kurzen Weg zurück zu dem Gebäude, das er erst vor wenigen Minuten verlassen hatte. Ihm wäre es zwar wesentlich lieber bereits auf dem Weg nach Hause zu sein, aber wenn er nicht jetzt noch einmal nach seinem Feuerzeug suchte, würde er es vermutlich nie wieder finden. Was einerseits prinzipiell sehr schade wäre und zum anderen würde Tatsurou, der ihm das gravierte Zippo zum Geburtstag geschenkt hatte, vermutlich auf ewig beleidigt sein.   Im Versuch sich zu beeilen, nahm Karyu immer zwei Treppenstufen auf einmal, wurde aber schon auf dem ersten Absatz von seiner Beinmuskulatur nachdrücklich darauf hingewiesen, dass er deutlich mehr trainieren müsste, um das nach einer Tanzstunde noch tun zu können. Mit schmerzhaft verzogenem Gesicht erklomm er den Rest der Treppe deutlich langsamer, bis er wieder vor der Eingangstür des Studios stand. Und zu seinem Glück war sie noch nicht abgesperrt. Vorsichtig betrat er die Räumlichkeiten wieder. Irgendwo spielte leise eine seichte Popballade, aber zu sehen war für den Moment niemand, weswegen er einfach direkt weiter in den Sitzbereich ging. Zu seiner Enttäuschung lag sein Feuerzeug allerdings nicht abholbereit auf dem Tisch, an dem er vorhin mit Ayasa gesessen hatte. Mit einem Seufzen stellte er seine Tasche ab und ging in die Knie, um auf dem Boden danach zu suchen, tastete erst unter den Stühlen, dann unter der Sitzbank am Nebentisch blind nach seiner Beute. Schließlich stieß er einen leisen aber triumphierenden Laut aus, als seine Fingerspitzen etwas Metallenes berührten – mit einiger Anstrengung streckte er sich noch etwas mehr, bis er seine Hand um den Gegenstand schließen konnte, der sich tatsächlich als Tatsurous Geschenk herausstellte. Karyu schickte ein stummes Stoßgebet gen Himmel, dankte welchem Gott er auch immer dieses kleine Quäntchen Glück zu verdanken hatte und kam dann auf den Knien zum Sitzen. Und erst jetzt bemerkte er, dass er nicht allein war.   In der Mitte des Tanzsaales, den er durch die Glaswand sehen konnte, stand Zero gesenktem Kopf, als würde er sich auf etwas konzentrieren. Und auch wenn er es nicht sicher sagen konnte, weil das brünette Haar des anderen ihm die Sicht auf seine Gesichtszüge verdeckte, hätte Karyu beinahe wetten können, dass seine Augen geschlossen waren. Vielleicht hätte er einfach so leise wie möglich aufstehen und gehen sollen, dem anderen die Ruhe geben, die er zu brauchen schien, aber gleichzeitig konnte er nicht anders, als einfach wie erstarrt sitzen zu bleiben und ihn anzusehen. Statt der dunklen, eher förmlichen Kleidung von vorhin trug Zero nun weit geschnittene, hellgraue Jogginghosen, die ihm bis knapp unter die Knie reichten und ein schlichtes weißes Tanktop. Auf Schuhe hatte er ganz verzichtet, sodass Karyu sehen konnte, wie sich seine Fußzehen hin und wieder leicht regten, als würden sie bereits ihre nächsten Schritte planen. Noch während er den anderen so betrachtete, wechselte die Musik. Der Popsong verstummte und ein langsamerer Beat setzte ein, begleitet von einem Instrument, das er nicht ganz zuordnen konnte. Es klang wie ein Klavier und gleichzeitig wie etwas anderes. Doch ehe er wirklich darüber nachdenken konnte, begann eine sanfte, weich und verträumt wirkende Stimme zu singen und Zero begann sich zu bewegen.   Die ersten Regungen waren verhalten, wirkten beinahe mehr gedacht, als tatsächlich ausgeführt und fesselten dennoch seine Blicke. Selbst als der andere den Kopf hob, schien er ihn nicht zu bemerken, sondern war stattdessen vollkommen auf sein Spiegelbild konzentriert. Dem Rhythmus des Liedes folgend machte er einige Schritte nach hinten, verharrte auch jetzt wieder mit geschlossenen Augen für einige Herzschläge in einer Pose, die in ihrer Stille etwas geradezu Lauerndes hatte. Noch bevor Karyu dies auch nur ansatzweise hinterfragen konnte, setzte der Refrain ein und die Bewegungen, die Zero bisher zurückgehalten hatte, schienen geradezu aus ihm hervorzubrechen.   Er erinnerte sich daran, wie Zero ihm davon erzählt hatte, dass er sein ganzes Leben mit Tanzen verbracht hatte und auch wenn er sich vermutlich keinerlei Urteil darüber erlauben konnte, was gutes oder schlechtes Ballett war – das, was er hier gerade sah, war unglaublich. Er wusste nicht wie, aber Zeros Bewegungen waren gleichzeitig voller Kraft und von einer Leichtigkeit, die eigentlich nicht miteinander zu vereinbaren sein sollten. Wenn er ehrlich war, war ihm nicht bewusst gewesen, dass sich Menschen sich so bewegen konnten. Es war, als würde die Schwerkraft nicht existieren, Zeros nackte Füße schienen den Boden kaum zu berühren – selbst als die Musik wieder ruhiger wurde, das Tempo für einen Moment abnahm. Jede einzelne Bewegung, jede Geste, die Zero machte, sprach von absoluter Präzision und war doch vollkommen im Fluss. Jeder Sprung, jede Drehung schien eine komplexe Sprache zu sprechen, die er zwar nicht verstand, aber umso mehr bewunderte und in die er so eintauchte, dass er regelrecht zusammenzuckte, als Zeros braune Augen auf einmal unerwartet und mit unglaublicher Intensität auf ihm lagen. Der Blickkontakt hielt nur einen Sekundenbruchteil an und trotzdem hätte Karyu das Gefühl, das er in ihm auslöste, nicht in Worte fassen können. Am ehesten wäre vielleicht Ehrfurcht zutreffend und der unglaublich starke Drang Zero berühren zu wollen. Nur um sicherzugehen, dass der Tänzer tatsächlich ein Mensch aus Fleisch und Blut und keine bloße Erscheinung war, die sich seine Fantasie zusammengesponnen hatte. Er war versucht aufzustehen und in den Tanzsaal zu gehen, aber zumindest im Moment ließ der andere sich nicht von seiner Anwesenheit stören. Im Gegenteil, er wirkte sofort wieder in seiner Choreographie und der Musik versunken, als wäre dies seine ganz eigene Welt, in der er ungestört war. Erst als das Lied sich dem Ende zuneigte, die letzten Töne verklangen, verharrte er wieder in einer ähnlichen Pose wie zu Beginn: Einen Fuß mit der Spitze hinter den anderen gesetzt, ein Arm über den Kopf erhoben, den anderen seitlich von sich gestreckt. Selbst von seiner knienden Position aus konnte Karyu sehen, wie schwer er atmete und folgte mit Blicken ein, zwei kleinen Schweißperlen, die ihm über die Schläfe rollten.   Erst als er aus Reflex durchatmete, sobald Zero seine Haltung auflöste, wurde ihm klar, dass er unbewusst die Luft angehalten hatte.   Er sah zu, wie der andere mit einer Hand nach dem Saum seines Oberteils griff, den weißen Stoff dazu benutzte sein Gesicht abzutrocknen, bevor er sich selbst aufrappelte. Wenn er schon so unhöflich war und hier bei einer ganz sicher nicht öffentlichen Trainingseinheit zuschaute, sollte er sich schließlich zumindest entschuldigen. Als er die Tür zum Saal öffnete, sah Zero auf, warf ihm ein schiefes Grinsen zu, nur um sich dann mühelos bodentief vor ihm zu verbeugen.   „Ich … wollte nicht stören oder so“, begann Karyu zögerlich, hielt vermutlich vollkommen unnötigerweise sein Feuerzeug hoch, das er noch immer in der Hand hatte. „Ich hatte das hier nur vergessen und wollte es noch schnell holen.“   „Alles gut“, winkte der andere ab. Mit langsamen Schritten ging Zero zur Fensterfront, von der aus man auf die Straße sehen konnte, griff nach seiner Wasserflasche. „Wie du siehst, hab ich mich ja nicht unterbrechen lassen“, meinte er noch, bevor er einige tiefe Züge nahm.   „Sorry. Vermutlich sollte ich dich einfach in Ruhe weitermachen lassen…“ Er wusste nicht warum, aber diese ganze Situation war ihm mit einem Mal einfach nur furchtbar unangenehm und er hatte sich schon umgedreht, um die Tanzschule endgültig zu verlassen, als Zeros Stimme erneut ertönte.   „Du kannst ruhig bleiben, wenn du möchtest.“   Das Lächeln, dass er ihm zuwarf, als er noch einmal zurücksah, hätte vermutlich auch einen Eisberg schmelzen lassen. Und so, wie Zero gerade ans Fensterbrett gelehnt dastand, äußerlich vollkommen entspannt, aber verschwitzt und mit zerzaustem Haar, konnte er gar nicht anders, als seine Tasche neben der Tür abzustellen und sich ihm langsam zu nähern.   „Das … sah toll aus eben.“   Zeros Lächeln wurde noch eine Spur breiter.   „Danke. Steckt auch viel Arbeit dahinter“, gab er dann zu, während er Karyu dabei beobachtete, wie er den Saal durchquerte, ihn einmal mehr an diesem Tag so intensiv musterte, dass ihm eine heftige Gänsehaut über den Rücken jagte. „Du kannst deine Jacke ruhig ausziehen, wenn du nicht gerade auf der Flucht bist“, fügte er dann hinzu. Und obwohl dieser Satz an und für sich eine vollkommen normale Aussage war, ließ er in Karyus Magen eine wahre Armee von Schmetterlingen aufstieben, als er ganz automatisch begann sich aus seinem Mantel zu schälen. Wann hatte er eigentlich damit angefangen einfach alles zu tun, was Zero sagte?   „Ist das hier das, was du eigentlich machst?“, gab Karyu seiner Neugier nach und versuchte gleichzeitig sich mit der Frage von seinen Gedanken abzulenken.   „Manchmal. Früher ja. Aber anders.“ Zero zog die Augenbrauen zusammen, schüttelte dann, offensichtlich über sich selbst den Kopf und begann noch einmal von vorn. „Als ich im Ballett der Akademie getanzt habe, war das quasi alles, was ich gemacht habe. Aber mit klassischem Ballett hab ich jetzt nicht mehr wirklich viel zu tun. Das hier gerade war eher … ein bisschen von allem, wenn man das so sagen kann.“   „Warum tanzt du nicht mehr im Ballett?“ Sobald die Worte Karyus Mund verlassen hatten, wurde ihm klar, dass er hier vielleicht ein unliebsames Thema angesprochen oder einen wunden Punkt getroffen hatte – aber ehe er sich entschuldigen konnte, zuckte sein Gegenüber scheinbar ungerührt mit den Schultern, während seine Finger mit dem Verschluss seiner Wasserflasche spielten.   „Ich wollte auch noch so etwas wie ein Leben haben“, erklärte er dann schlicht.   „Das klingt hart.“   „Ist es auch. Aber wenn ich mit Anfang zwanzig ständig nur Schmerzen habe und eine einzige Verletzung mein Karriere-Aus bedeuten könnte, ist das mindestens genauso hart.“ Da war keine Bitterkeit in Zeros Stimme, nur vielleicht ein bisschen Wehmut, die noch stärker wurde, als er weitersprach. „Ich liebe das Tanzen und das wird sich auch nie ändern. Ich liebe das Ballett. Aber deswegen will ich es auch noch möglichst lang machen können und nicht mit spätestens Ende dreißig einfach aussortiert werden.“ Er hielt inne, sah hinunter auf die Flasche in seinen Händen.   Dann schien er sich einen Ruck zu geben, stellte sie beiseite und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Karyu, der mit einem mulmigen Gefühl das schelmische Funkeln in Zeros Augen bemerkte. Und seine Befürchtungen schienen sich zu bestätigen, als er erneut ansetzte.   „Und apropos Tanzen: Ich muss gestehen, dass ich selten jemanden gesehen habe, der ein so gutes Rhythmusgefühl, aber so sensationell wenig Koordination besitzt, wie es bei dir der Fall ist. Ich weiß wirklich nicht, wie das überhaupt funktioniert.“   „Na danke auch.“ Karyu verzog das Gesicht, was den anderen anscheinend nur noch mehr amüsierte. Zero machte rückwärts einen, dann noch einen Schritt in die Mitte der Tanzfläche ohne die Augen von ihm zu nehmen und verschränkte die Arme vor der Brust.   „Meine Theorie ist im Moment ja, dass du dir einfach selbst im Weg stehst.“   „Oooder – und das ist nur so eine Idee als persönlich Betroffener – ich bin einfach absolut talentfrei, was Bewegung zu Musik angeht.“ Seine Selbstironie ließ Zeros Lippen zucken, als hätte er am liebsten laut losgelacht.   „Glaub ich nicht. Jeder Mensch kann tanzen.“   Zero tat einen weiteren Schritt nach hinten und ohne darüber nachzudenken, war Karyu ihm genau diesen einen Schritt gefolgt.   „Vielleicht bin ich die berühmte Ausnahme von der Regel“, vermutete er dann, spiegelte die Haltung seines Gegenübers, indem er ebenfalls die Arme verschränkte, nur um von einem schlichten „Quark.“ in die Schranken gewiesen zu werden.   „Ich mein das ernst.“   „Ich auch. Und ich kann es dir beweisen.“   Karyu hätte gern eine schlagfertige Antwort gegeben, aber abgesehen von einem überaus kindischen ‚kannst du gar nicht‘ fiel ihm gerade tatsächlich nichts ein, also hielt er lieber den Mund. Und auch, wenn es ganz sicher nicht so gemeint war, deutete der andere sein momentanes Schweigen anscheinend als irgendeine Art von Zustimmung, denn er ließ ihn kommentarlos mitten im Raum stehen und ging zur Musikanlage, die nach dem Ende des letzten Liedes nichts als Stille verbreitet hatte. Mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck begann Zero sich durch eine ganze Reihe von CDs zu wühlen, als wüsste er genau, was er gerade suchte – und das wiederum konnte für ihn selbst nichts Gutes bedeuten. Allein schon, weil er ihm, wenn er ihre letzten Interaktionen im Nachhinein so betrachtete, anscheinend nicht wirklich etwas abschlagen konnte. Ganz abgesehen von dem, was sich in den letzten Minuten so zugetragen hatte.   „Ich glaube“, begann Zero da erneut, hielt eine der unzähligen CDs in die Höhe. „Dass du einfach nur verkrampft bist. Da kann sich ja nichts anständig bewegen, wenn alle deine Muskeln total angespannt sind.“   Auch hierauf wusste er nichts zu antworten, sah dem anderen also nur stumm mit einem vermutlich sehr skeptischen Gesichtsausdruck dabei zu, wie der sich an der Anlage zu schaffen machte, bis schließlich leise, weiche Klänge den Raum erfüllten.   „Ist das Entspannungsmusik?“, wollte Karyu wissen und auch seine Tonlage machte nun deutlich, wie wenig überzeugt er von der Theorie war, die ihm hier unterbreitet wurde.   „Klar. Stört nicht, ist aber besser als Stille. Und vielleicht entspannt es dich ja tatsächlich ein bisschen.“ Mit wenigen Schritten, die er auch gedanklich nicht anders als ‚tänzelnd‘ beschreiben konnte, kam Zero wieder auf ihn zu, hielt plötzlich inne, als ihm etwas einzufallen schien. „Es sei denn, ich halte dich hier gerade von irgendetwas super Wichtigem ab?“, wollte er wissen, wirkte von einem Moment auf den anderen so ehrlich besorgt, dass es Karyu ein Lächeln entlockte.   „Nein, keine Angst, das hätte ich schon gesagt. Nicht, dass das heißt, dass ich deiner Theorie in irgendeiner Weise Glauben schenken würde.“   „Dann ist ja gut.“ Zero trat einen Schritt zurück und vollführte mit der linken Hand eine ausladende Geste. „Zieh deine Schuhe aus.“   „Äh, was?“   „Schuhe ausziehen. Die brauchst du jetzt nicht.“ Wie um das zu beweisen wackelte Zero mit den eigenen Fußzehen. „Es geht besser, wenn du den Boden spüren kannst.“   „Ich hoffe du weißt, wie esoterisch das klingt“, neckte er den Kleineren, machte sich aber ohne weitere Proteste daran, aus seinen Schuhen zu schlüpfen.   „Socken auch, sonst rutschst du nur“, überging Zero seinen Einwurf vollkommen, auch wenn er die Belustigung in seiner Stimme hören konnte.   Karyu wünschte sich, dass ihn diese weitere Forderung überrascht hätte oder er in sich auch nur ansatzweise den Willen gefunden hätte, zu widersprechen, aber zu seinem Leidwesen war keines von beidem der Fall. Er konnte nur hoffen, dass sein privater Tanzlehrer davon nichts mitbekam. Also zog er sich ohne weitere Widerworte auch noch seine Strümpfe aus, stopfte sie in die Schuhe und stellte beides beiseite, ehe er barfuß wieder zu Zero trottete, dessen wache Augen auch jetzt auf ihm ruhten.   „Wieso machst du das eigentlich? Den Kurs, meine ich?“, wollte er wissen, begann ihn dann langsam zu umrunden und Karyu konnte nicht umhin sich ein bisschen zu fühlen wie das sprichwörtliche Kaninchen vor der Schlange – nur dass die Schlange in diesem Fall ein äußerst attraktiver und unendlich begabter Tänzer war.   „Äh, na ja…“, begann er seine Antwort entsprechend eloquent, zog unwillkürlich die Schultern ein Stück nach oben. „Meine Zwillingsschwester heiratet nächstes Jahr und ich hab ihr als Kind mal versprochen, dass ich auf ihrer Hochzeit mit ihr tanzen würde, wenn wir groß sind und … jetzt haben wir quasi den Salat, weil sie sich davon auf Biegen und Brechen nicht abbringen lässt.“   „Ich verstehe…“ Es war Wärme in Zeros Worten, mehr als er erwartet hatte, aber ehe er noch hätte darüber nachdenken können, was sie bedeutete, stand der andere wieder vor ihm und fuhr fort: „Dann ist das nur ein Grund mehr, dir dabei unter die Arme zu greifen, würde ich sagen.“ Seine Blicke schweifen kurz über Karyus Körper, bevor er wieder Augenkontakt herstellte. „Zuerst einmal müssen wir an deiner Haltung arbeiten, das tut mir ja schon vom Zusehen weh.“   „Okay? Ich stehe doch einfach nur da?“   „Ja, aber wie du dastehst!“ Es wirkte fast, als wollte Zero sich vor gespielter oder auch echter Verzweiflung die Haare raufen, während Karyu immer noch nicht wirklich verstand, wo das Problem war.   Er kam etwas näher, hob jetzt beide Hände.   „Ich korrigiere dich kurz, dann wirst du merken was ich meine, okay?“   Er konnte nur nicken, spürte jetzt aber sogar selbst, wie er sich allein beim Gedanken daran, dass der andere ihn berühren würde, noch mehr verspannte. Aber – und er war sich nicht sicher, ob er darüber glücklich oder traurig sein sollte – zunächst legten sich nur zwei warme Hände auf seine Schultern und drückten sie sanft nach unten.   „Wenn du die Schultern so nach oben ziehst, machst du dich kleiner als du bist“, erklärte Zero ruhig, berührte mit den Fingersitzen einer Hand flüchtig die Mitte seines Brustkorbs. „Du machst im Solarplexus zu und stehst schon dadurch vollkommen krumm da. Versuch dich hier bewusst zu entspannen.“ Auch jetzt begann Zero wieder langsam um ihn herumzugehen, griff nun von hinten nach seinen Schultern, um sie mit etwas Nachdruck zu sich zu ziehen, während Karyu das Gefühl hatte ein Kribbeln an jeder Stelle zu spüren, an der die Hände des anderen gelegen hatten.   „Das fühlt sich so nicht wirklich entspannter an“, gab er leise zu bedenken, erntete dafür ein amüsiertes Schnauben.   „Weil du es nicht gewohnt bist. Lass die Arme ganz locker hängen.“ Die warmen Hände tasteten sich langsam seinen Rücken nach unten, hinterließen Gänsehaut auf ihrem Weg, bis sie schließlich seitlich an seinen Hüften verharrten. „Mach dein Becken gerade.“ Auch jetzt übte Zero leichten Druck aus, dirigierte ihn vorsichtig aber bestimmt in die Position, die er für richtig hielt, während Karyu gerade vollkommen damit beschäftigt war, seinen mittlerweile rasenden Puls unter Kontrolle zu bringen.   „Wie ist das eigentlich“, fragte er deswegen vollkommen zusammenhanglos, während Zero seine Runde beendete und schließlich wieder vor ihm stand. „Es gibt doch dieses komische Sprichwort von wegen ‚Tanzen ist der vertikale Ausdruck eines horizontalen Verlangens‘ und so. Ist da was dran?“   Es war ein schlechter Scherz, das wusste er, aber es war das Einzige, was ihm gerade einfiel. Mit einem definitiv dreisten Grinsen und den Worten „Wieso, machst du dir Sorgen?“ als Antwort hatte er allerdings nicht gerechnet. Er war versucht sich aus Reflex irgendwie zu verteidigen, aber Zero sprach weiter, ohne darauf zu achten.   „Wenn ich mit jedem Menschen schlafen würde, mit dem ich tanze, wäre ich echt ziemlich ausgelastet“, lachte er, verzog dann das Gesicht. „Von den Ensemble-Stücken mal ganz abgesehen. Das wär vielleicht ein logistischer Aufwand…“ Er zuckte mit den Schultern, hob dann Karyus linken Arm so an, dass Schulter und Ellenbogen auf einer Höhe waren. „Aber klar, es passiert, dass sich relativ schnell … Konstellationen bilden.“ Während er sprach, brachte er den anderen Arm in die gleiche alberne Position, trat dann noch einen Schritt an Karyu heran. „Wenn man sich ständig körperlich nah ist und viel Zeit miteinander verbringt.“   „Uh…“   „Und voilà, damit hätten wir eine ganz passable Standard-Tanzhaltung.“ Er zog Karyus rechte Hand an sich, bis der verstand, dass er sie auf Zeros Rücken legen sollte und griff gleichzeitig nach seiner Linken. Für einen Moment war Karyu viel zu perplex, um irgendwie zu reagieren, brauchte tatsächlich ein, zwei Atemzüge, bis er sich an die plötzliche Nähe gewöhnt hatte.   „Und jetzt?“   „Jetzt? Jetzt steht einem locker geschwungenen Tanzbein quasi nichts mehr im Wege.“   „Du meinst außer den Schritten, die ich immer noch nicht verstanden habe. Und der Koordination, die bei mir immer noch nicht vorhanden ist?“   „Dafür hast du ja jetzt mich, oder?“   ~*~   Am nächsten Morgen klingelte Karyus Handy, um ihn zu wecken und schon als er mit geschlossenen Augen und im Dunkeln danach tastete, fühlte sich irgendetwas nicht richtig an. Mit einem unterdrückten Schmerzenslaut rollte er sich auf den Rücken, kniff seine Augen gegen das helle Display zusammen und brachte seinen Wecker endlich zum Verstummen. Kurz verharrte er so, versuchte dann sich zu strecken, woraufhin jeder Zentimeter seines Körpers zu protestieren begann. Er schaffte es noch, sich aufzusetzen, musste dann aber innehalten und hätte mit dem Kopf geschüttelt, hätte er nicht auch in seinem Nacken jede einzelne Muskelfaser überdeutlich gespürt. In einer routinierten Bewegung entsperrte er sein Telefon, begann langsam mit einer Hand zu tippen, während er sich mit der anderen auf dem Bett abstützte.   »Ich weiß nicht, was du gestern mit mir gemacht hast, aber mir tun Muskeln weh, von denen ich nicht einmal wusste, dass ich sie habe.«   Er drückte auf ‚Senden‘, sah zu seiner Überraschung noch bevor er die Nachrichtenapp schließen konnte, die drei Punkte, die ihm anzeigten, dass Zero gerade antwortete.   »Das ist normal, sorry, da musst du leider durch. Eine lange, heiße Dusche hilft.«   Dahinter ein Zwinkersmiley.   Mit einem ‚Uff‘, das ihm aus tiefster Seele sprach, ließ Karyu sich wieder in die Waagerechte sinken und zog sich seine Bettdecke über den Kopf, verdrängte für den Moment, dass er in rund eineinhalb Stunden in der Uni sein sollte. Er war so was von verloren.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)