Move Together von -Red-Karasu ================================================================================ Kapitel 1: Entrée ----------------- Move Together   01. Entrée   Entrée: frz. ‚Eintritt‘ oder ‚Auftritt‘; erster Teil eines Grand Pas, dient dazu, dessen einzelne Tänze vorzustellen; beschreibt außerdem das erste Auftreten der Hauptcharaktere eines Balletts auf der Bühne.   -   „Sehr geehrte Fluggäste, aufgrund eines unvorhergesehenen Wetterumschwungs mit heftigen Windböen und starkem Schneefall ist der Flugbetrieb vorübergehend eingestellt. Bitte wenden Sie sich an den Informationsschalter Ihrer Airline, um Auskünfte zu Ihren nächsten Weiterreisemöglichkeiten oder zur Erstattung Ihres Tickets zu erhalten.“   Mit einem dumpfen Geräusch lande Karyus Rucksack auf dem grauen Flughafenboden.   „Ugh.“   Entnervt schnaubend ließ Karyu selbst sich auf eine der unbequemen Bänke fallen und sackte in sich zusammen. Wenn er diese Ansage noch ein paar Mal hören musste, konnte er für nichts mehr garantieren. Vielleicht würde er einfach anfangen zu schreien oder mit den Füßen stampfen und sich wie ein kleines Kind aus Protest auf den Boden werfen. Irgendwas in der Art. Anfangs hatte er noch mitgezählt, aber mittlerweile hatte er den Überblick darüber verloren, wie oft diese beiden Sätze in den letzten Stunden bereits jeden Winkel des Flughafens beschallt hatten. So hatte er sich seine Heimreise nun wirklich nicht vorgestellt. Er ließ sich auf der Sitzfläche der Bank ein Stück nach unten rutschen, hielt inne, als sein Rücken ein hässliches Knacken von sich gab und streckte resigniert die Beine aus.   Wäre alles nach Plan gelaufen, dann wäre er schon in ein paar wenigen Stunden wieder zu Hause und hätte sich nach zwei Wochen im Hotel endlich einmal wieder in seinem eigenen Bett ausstrecken können. Aber nein, das wäre viel zu einfach. Da machte es doch viel mehr Spaß, wegen eines dummen Wintereinbruchs – der im Dezember im Nordosten der USA natürlich absolut nicht vorauszusehen war – jetzt die Nacht hier verbringen zu dürfen, wo erholsamer Schlaf so wahrscheinlich war, wie wirklich gutes Essen. Er hatte zwar Glück gehabt und sein Ticket auf einen Flug morgen früh umbuchen lassen können, aber ob die Startbahnen dann schon wieder vom Schnee befreit sein würden stand vermutlich auch noch in den Sternen. Zumindest schien das Wetter momentan nicht so, als ob es vorhätte sich in nächster Zeit auch nur ansatzweise zu bessern. Karyu seufzte und zog sein Handy aus der Jackentasche hervor, nur um festzustellen, dass seit dem letzten Mal, das er nachgesehen hatte, keine zwanzig Minuten vergangen waren. Er würde hier noch elendig eingehen vor Langeweile und Übermüdung. Das einzig Gute war, das in dem Gate, von dem er hoffentlich in ein paar Stunden fliegen würde, quasi tote Hose herrschte. Die meisten verprellten Passagiere waren wohl vernünftig genug gewesen, sich ein Zimmer in einem der umliegenden Hotels zu mieten. Aber Vernunft war noch nie seine Stärke gewesen und als sein Flug vor zwei Stunden nach mehreren Planänderungen endgültig gestrichen worden war, war er aus irgendeinem Grund der Meinung gewesen, dass er ja auch hier warten und nachts ein bisschen schlafen konnte. Im Nachhinein hätte er sich für diese brillante Idee ohrfeigen können, aber ändern konnte er an seiner Entscheidung nun auch nichts mehr. Und immerhin hatte er seinen Koffer trotz allem schon einchecken können und musste sich jetzt nicht auch noch damit herumschlagen. Ob das gute Stück letztlich auch da ankommen würde, wo es hingehörte, stand zwar noch einmal auf einem anderen Blatt Papier, aber damit würde er sich beschäftigten, wenn es so weit war. Mit einem weiteren abgrundtiefen Seufzen streckte er sich kurz, raffte sich dann so weit auf, dass er seinen Rucksack, der natürlich umgekippt war, zu sich heranziehen und an die Bank lehnen konnte. Dann griff er wieder nach der Tüte, die er bei seiner Rückkehr hierher achtlos neben sich abgestellt hatte. Er hatte das braune Papier kaum auseinandergezogen, als ihm auch schon der Geruch von Fastfood entgegenschlug, seinen Magen lautstark knurren ließ. Immerhin hungern musste er vorerst nicht, auch wenn er so langsam wirklich keine Burger mehr sehen konnte. Er hätte nie gedacht, dass er sich irgendwann in seinem Leben mal nach schnöden Onigiri sehnen würde, und sei es nur die 100-Yen-Variante aus dem nächsten Konbini. Aber da würde er sich wohl noch etwas länger gedulden müssen, wie es aussah.   Mit Mühe unterdrückte er ein herzhaftes Gähnen, machte sich lieber daran seinen Cheeseburger auszupacken und wollte gerade den ersten Bissen davon nehmen, als die relative Stille ‚seines‘ Gates durch eine Gruppe junger Leute unterbrochen wurde, die es sich gerade, ebenfalls mit diversem Essen beladen, ein paar Sitzgruppen weiter bequem machte. Soweit er mit einem hoffentlich halbwegs unauffälligen Blick sagen konnte, waren es drei junge Frauen und zwei Männer, allerdings waren sie allesamt in so weite und warme Kleidung gehüllt, sodass das tatsächlich nur eine grobe Vermutung war. Angesichts des Schneesturms, der draußen noch immer tobte, war das andererseits wenig verwunderlich. Eine angenehmere Überraschung war dann allerdings, dass sie sich auf Japanisch unterhielten und für einen Moment überlegte Karyu, ob sie wohl wie so viele andere durch einen Zwischenstopp hier gestrandet waren oder sie den Heimweg wie er direkt von Chicago aus hatten antreten wollen.   Einer der Neuankömmlinge hatte anscheinend bemerkt, dass er sie beobachtete, schenkte ihm ein kurzes Lächeln, bevor er sich wieder an seine Begleiter wandte. Auch gut. Wenn er ehrlich war, hatte er im Moment nicht wirklich das Bedürfnis sich zu unterhalten oder neue Bekanntschaften zu schließen. Stattdessen sah er wieder auf sein Essen hinunter, nahm nun endlich den einen herzhaften Bissen, um seinen Magen ein wenig zu besänftigen, während er überlegte, ob er seinen Mitbewohner vielleicht dazu würde überreden können, seine Rückkehr nach Japan in einem Ramen-Restaurant zu feiern.   ~*~   Irgendwann in der Nacht hatte er den Versuch noch einzuschlafen endgültig aufgegeben, lag stattdessen mit seinem Rucksack als Kopfkissen auf der Bank, auf der er früher am Abend noch gesessen hatte und starrte nach oben an die Decke, während die beliebige Musik irgendeiner Radiostation in seinen Kopfhörern dudelte. Selbst wenn er allein gewesen wäre oder die kleine Gruppe, mit der er sich das Gate teilte, nicht so viel geredet hätte, hätte er keine Ruhe gefunden. Er hasste diese Warterei so unendlich. Jede Stunde schien sich wie Kaugummi hinzuziehen und machte die Unruhe in seinem Inneren immer schwerer erträglich. Karyu griff nach seinem Handy und ließ den Bildschirm aufleuchten, nur um feststellen zu müssen, dass die Zeit mit jedem Blick, den er darauf warf, nur noch langsamer zu vergehen schien. Und jetzt war es gerade einmal kurz nach halb drei Uhr nachts. Sein Flug würde frühestens gegen zehn Uhr starten und bisher war noch nicht abzusehen, ob das tatsächlich der Fall sein würde. Er hob den Kopf etwas, um durch die Panorama-Fenster nach draußen zu sehen, aber das Bild, das sich ihm bot, war unverändert: Schneetreiben, das kein Ende zu nehmen schien.   Schwerfällig richtete er sich noch etwas weiter auf, um sich hinzusetzten, spürte seinen Rücken sofort vehement protestieren. Er sah sich um und stellte zu seiner Überraschung fest, dass anscheinend ein bisschen Ruhe eingekehrt war. Nur einer seiner Mit-Wartenden war noch hier, saß zwei Reihen vor ihm im Schneidersitz über ein Laptop oder Tablet gebeugt da. Zumindest vermutete er das. Sehen konnte er nur den Rücken eines dunklen Hoodies und eine Silhouette, die von bläulichem Licht eingerahmt wurde. Und auch wenn das an und für sich keine furchtbar spannende Beobachtung war, die er hier machte, war es immer noch besser als zum gefühlt zehnten Mal die Lampen zu zählen, die das Gate normalerweise unnatürlich hell erleuchten würden, jetzt aber glücklicherweise deutlich gedämpft waren. Außerdem schien der andere wiederum sehr von dem gefesselt zu sein, was er da ansah. Karyu konnte ihn immer wieder einmal kurz zucken oder in Ansätzen gestikulieren sehen, als würde er dem Geschehen auf seinem Bildschirm sehr gespannt folgen. Dann gab es offensichtlich zumindest eine Person hier, die nicht vor Langeweile verging. Auch schön.   Mit den Füßen fischte er unter der Bank für einen Moment nach seinen Schuhen, schlüpfte in die Sneaker, bevor er schließlich aufstand, sich in der gleichen Bewegung kurz streckte. Wenn er sowieso wach war, konnte er sich genauso gut ein bisschen die Beine vertreten, groß genug dazu war dieser Flughafen schließlich. Er setzte sich langsam in Bewegung, ging zwischen den Reihen aus Sitzgelegenheiten hindurch, konnte sich aber nicht davon abhalten zumindest zu versuchen aus den Augenwinkeln einen Blick auf das Laptop zu werfen. Vielleicht war es einfach nur pure Neugier darauf, was für eine Art von Unterhaltung jemanden zu so später Stunde noch so vereinnahmen konnte, gepaart mit dem Wunsch hier irgendetwas Interessantes zu finden. Aber egal, was er sich vielleicht ausgemalt hatte, Karyu hatte definitiv nicht damit gerechnet auf dem Bildschirm nichts, als eine junge Frau zu erspähen, die sich vor einem kargen Hintergrund, der so etwas wie eine Turnhalle vermuten ließ, bewegte. Vermutlich zu Musik, die er nicht hören konnte, weil ein Kabel in der Kopfhörerbuchse des Laptops steckte. Er hatte zwar vorhin mitbekommen, dass sich die Gruppe über Trainingszeiten und ähnliches unterhalten hatte, aber an Tanzen hatte er dabei nicht wirklich gedacht. Und auch jetzt konnte er damit natürlich vollkommen falsch liegen.   Woran er aber ebenfalls nicht gedacht hatte, war, dass der Besitzer des Laptops auch noch anwesend war und er selbst vielleicht ein wenig zu lang in seinen Schritten innegehalten hatte. Jetzt sah er sich mit einem Paar brauner Augen konfrontiert, das ihn unter einem Basecap hervor fragend anschaute, während eine Hand des Fremden automatisch zur Leertaste seines Notebooks gewandert war, um das Video zu pausieren. Doch bevor sein Gegenüber etwas sagen oder seiner offensichtlich vorhandenen Verwirrung Ausdruck verleihen konnte, schüttelte Karyu nur den Kopf und beeilte sich, seinen Weg so schnell fortzusetzen, wie es ihm möglich war, ohne dabei zu riskieren über seine eigenen Füße zu stolpern. Er war einfach souverän, wie eh und je. Manche Dinge änderten sich eben nie. Dabei hatte der andere nicht einmal einen verärgerten Eindruck gemacht, schien einfach nur überrascht zu sein, dass ihm plötzlich jemand über die Schulter sah. Verdammt, er konnte nur hoffen, dass die gesamte Gruppe morgen am anderen Ende des Fliegers sitzen würde. Oder noch besser gleich in einem ganz anderen Flugzeug.   Unwillig kniff Karyu die Augen zusammen, als er auf einen der Hauptgänge des O'hare-Flughafens einbog und für den Moment von der hier wesentlich helleren Beleuchtung geblendet wurde. Er blieb stehen, sah sich kurz um und dachte tatsächlich erst jetzt wirklich darüber nach, was er eigentlich machen wollte. Vor allem, weil er seinen Rucksack natürlich im Gate hatte stehen lassen. Er wollte sich gerade nach links wenden, um zu sehen, ob der Coffeeshop, den er früher am Abend entdeckt hatte, wider Erwarten noch geöffnet hatte und das bisschen Kleingeld in seiner Hosentasche vielleicht noch für einen Kaffee reichen könnte, als aus der entgegengesetzten Richtung gänzlich unerwartet Musik an sein Ohr drang. Er hielt automatisch inne, kämpfte einen Moment mit sich selbst, bevor er seiner Neugier nachgab und in die Richtung weiterging aus der die nächtliche Beschallung zu kommen schien, nicht zuletzt, weil der Klang so blechern war, dass in ihm der Verdacht aufkam, dass hier irgendjemand ein Handy als Lautsprecher missbrauchte. Tatsächlich war er sich sogar sicher, dass er das Lied kannte – irgendein amerikanischer Popsong, der zwar so gar nicht seinem eigenen Musikgeschmack entsprach, dem man sich aber einfach nicht entziehen konnte, egal, wie sehr man sich das wünschte oder wo auf der Welt man gerade war. Er würde sich nicht mal wundern, wäre dies eine der Grausamkeiten, von denen man beim Überqueren der Kreuzung in Shibuya beschallt wurde. Bevor seine übermüdeten Gedanken aber noch weiter abschweifen konnten, war er dem Ursprung des plötzlich herrschenden Geräuschpegels nahe genug gekommen, um ihn auch tatsächlich ausmachen zu können. Und wenn er ehrlich war, wunderte er sich nicht einmal wirklich: Die vier verschwundenen Mitglieder der Gruppe, mit der er wartete, hatten sich auf dem Gang mehr oder minder häuslich eingerichtet und versorgten anscheinend vollkommen unbesorgt die Allgemeinheit mit Musik. Drei von ihnen alberten auf den bewegten Fußwegen herum – oder nein, beim zweiten Hinsehen erkannte er, dass sie tatsächlich versuchten zu tanzen, während das ‚Förderband‘ in Bewegung war, während Nummer Vier das ganze mit dem Handy filmte und seine Freunde lautstark anfeuerte. Und offensichtlich war er nicht der einzige, dessen Aufmerksamkeit sie damit auf sich gezogen hatten: Auch einige andere Passagiere, die wohl genau wie er dazu verdammt waren, die Nacht hier zu verbringen, sahen sich das Spektakel mehr oder minder verhohlen an. Immerhin schien die Truppe Spaß zu haben und das war ja auch schon etwas. Vermutlich waren sie damit sogar die einzigen Menschen hier, denen das heute Nacht gelang und wenn sie damit allen anderen noch dazu etwas Ablenkung boten, konnte das so falsch nicht sein.   Karyu ließ seinen Blick noch einige Sekunden länger auf dem Geschehen ruhen, konnte sich ein schiefes Grinsen nicht verkneifen, als eine der Tänzerinnen sich an einer etwas zu schwungvollen Drehung versuchte, aber in der Bewegung das Gleichgewicht verlor und sich an ihren Freunden festhalten musste, um nicht zu fallen. Dem allgemeinen Enthusiasmus der Truppe schien das allerdings keinen Abbruch zu tun, wenn man nach dem weiter anhaltenden Lachen der Vier urteilen konnte. Schließlich gab er sich einen Ruck, ging langsam weiter und ließ die Musik hinter sich, auch wenn er sich nicht dazu bringen konnte die verhältnismäßige Stille, nach der er sich vorhin noch gesehnt hatte, zu genießen. Von Stille hatte er im Moment ehrlich gesagt genug, zumal sie ihn zwar immer noch müder zu machen schien, er aber trotzdem nicht schlafen können würde. Vielleicht gab es hier ja auch eine Apotheke, in der er sich morgen früh noch Schlaftabletten besorgen konnte, die ihn für den Flug ausknockten. Dann würde er von dieser weiteren Tortur immerhin nichts mitbekommen und eventuell sogar halbwegs ausgeruht in Tokyo ankommen.   Während er so seinen Gedanken nachhing, war er vor dem Coffeeshop angekommen, nur um resigniert feststellen zu müssen, das anscheinend sogar dessen Angestellte irgendwann Feierabend hatten und den Laden dann abschlossen. Einen Versuch war es wert gewesen. Dann konnte er zumindest noch einen Abstecher zur Toilette machen und das Gesicht mit kaltem Wasser waschen. Vielleicht würde ihm das für eine kurze Zeit helfen, halbwegs zurechnungsfähig zu bleiben.   ~*~   Irgendwann hatte er sich einmal mehr auf der unbequemen Bank im Terminal einquartiert, auf der er schon den restlichen Abend verbracht hatte. Einen weiteren Versuch, noch zu etwas Schlaf zu kommen, hatte er allerdings nicht gestartet, dazu hatte sich zu viel nervöse Energie in seinem Körper angestaut. Er schaffte es gerade kaum ruhig dazuliegen, ohne permanent mit einem Bein zu wippen. Die Zeit auf dem Display seines Handys schien sich überhaupt nicht mehr zu verändern und auch der Blick nach draußen zeigte noch immer nicht anderes als tiefschwarze Nacht und Schnee. Und er konnte noch nicht mal zur Ablenkung eine rauchen gehen, weil die Außenbereiche aufgrund des Wetters gesperrt waren.   Möglichst unauffällig warf Karyu einen Blick zur Seite, wo noch immer das Grüppchen kampierte, mit dem er sich das Gate teilte und mittlerweile war sogar dort tatsächlich Ruhe eingekehrt. Anders als er hatten seine Mitreisenden anscheinend kein Problem damit, es sich einfach direkt auf dem Boden bequem zu machen, um sich wenigstens ausstrecken zu können. Vielleicht sollte er das doch auch mal versuchen, aber er wurde die Befürchtung nicht los, dass das auch nicht viel gemütlicher sein würde, als hier auf der Bank. Seufzend streckte er die Beine aus, legte seine Waden auf dem unangenehm kalten Metall der Armlehne ab, nur um sie gleich wieder anzuziehen. Ihm war kalt, er war müde und er wünschte sich gerade einmal mehr in dieser unfassbar langen Nacht nichts sehnlicher, als eine heiße Dusche und ein bequemes Bett. Mit einem Ruck setzte er sich auf, wischte sich mit beiden Händen übers Gesicht und atmete tief durch, um sich selbst zumindest ein Stück weit zu beruhigen. Immerhin war es schon kurz nach vier Uhr, was hieß, dass es nicht mehr allzu lang dauern konnte, bis der Flughafen seinen Tagesbetrieb aufnahm und dann würde er hoffentlich gute Neuigkeiten bekommen. Vielleicht konnte er irgendeinem armen Airline-Angestellten ja sogar einen Lounge-Aufenthalt aus dem Kreuz leiern und so zumindest seinen Traum von einer ausführlichen Dusche erfüllen. Kein besonders hochtrabender Plan, aber besser als gar nichts.   Er sah sich noch einmal kurz um, stand dann möglichst leise auf, zog seine Jacke, die ihm bisher als Deckenersatz gedient hatte, wieder an und zog das weiche Material eng um seine Schultern. Wie schon eher schritt er langsam zwischen den Reihen von Bänken hindurch, verließ aber diesmal nicht das Gate, sondern ging nur um sie herum, um an die Fensterfront treten zu können. Draußen herrschte noch immer Dunkelheit. Vermutlich würde der Sonnenaufgang auch noch einige Zeit auf sich warten lassen, aber zumindest ein bisschen Leben schien hier und da schon wieder einzukehren. Hin und wieder konnte er Bewegungen draußen erahnen – vermutlich Arbeiter, die die Flugzeuge überprüften oder die Enteisungsanlagen für einen späteren Einsatz vorbereiteten – und in der Ferne sah er die gelb-flackernde Beleuchtung eines Räumfahrzeugs. Der Anblick ließ in ihm die Hoffnung aufkeimen, dass er hier heute noch wegkommen würde, zumal nur noch hin und wieder Schneeflocken an den Fenstern vorbeitanzten. Karyu atmete tief durch und schloss einen Moment lang seine brennenden Augen; er musste nachher unbedingt noch daran denken, die Kontaktlinsen gegen seine Brille auszutauschen, im Flugzeug würde es sonst noch unangenehmer werden. Aber er würde hier wegkommen. Er würde später in den Flieger steigen, versuchen zu schlafen und wäre pünktlich zu seinen nächsten Klausuren wieder in Tokyo. Und vielleicht würde er sogar noch Zeit finden, um die Weihnachtszeit zumindest ein bisschen zu genießen und mit seinen Freunden schon mal prophylaktisch ins neue Jahr zu feiern, nachdem seine Schwester ihre Verlobungsparty natürlich ausgerechnet zum Jahreswechsel schmeißen musste. Und das nächste Jahr würde dann einfach nur gut und entspannt werden – wenn er sich das oft genug sagte, glaubte er es vielleicht sogar irgendwann selbst.   Ein leises Rascheln schräg hinter ihm riss ihn aus seinen Gedanken und er zuckte zusammen, als er in die Spiegelung der Fensterfront sah und ihm von dort, nicht nur sein eigenes bleiches Gesicht, sondern auch noch ein weiteres Paar dunkler Augen entgegensah, in denen jetzt gerade der Schalk zu lauern schien.   „Ich wollte dich nicht erschrecken“, sagte einer seiner Mit-Wartenden – der, der vorhin das Video geschaut hatte, wenn er sich recht erinnerte – leise und aus irgendeinem Grund war er davon überrascht wie weich und dunkel seine Stimme klang.   „Alles gut…“ Karyu räusperte sich kurz, zuckte ein wenig ungelenkt mit den Schultern. „War nur in Gedanken woanders.“   „Schon in Tokyo?“   „Huh?“ Der andere ruckte mit dem Kopf in Richtung der Flugzeuge, die draußen standen.   „Dahin soll zumindest der nächste Flug von dem Gate hier gehen.“ Die vollen Lippen des Fremden verzogen sich zu einem amüsierten Lächeln und Karyu war in diesem Moment nicht sicher, ob er einfach nur die Situation belustigend fand oder sich über ihn lustig machte.   „Achso“, antwortete er deshalb ein bisschen verspätet, fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. „Sorry. Übermüdung und so.“   Diesmal zuckte der andere nur mit den Schultern, lehnte sich gegen das Fensterglas und sah für einen Moment nach draußen. Er trug noch immer sein Basecap unter dem jedoch, und das fiel Karyu erst jetzt auf, brünettes, fast schulterlang gewelltes Haar hervorschaute.   „Wir sind in New York losgeflogen. Ich glaube, unserer war einer der letzten Flüge, die noch hier landen konnten…“ Er unterbrach sich selbst, um ausführlich zu gähnen. „Und ich hoffe wirklich sehr, dass das mit dem Flug nachher klappt.“ Das Warum dazu führte er nicht weiter aus, kratzte sich nur nachdenklich im Nacken.   Vielleicht, weil es sonst gerade nichts Interessantes zu sehen gab und weil Karyu zumindest vor sich selbst zugeben musste, dass er seine aktuelle Gesellschaft irgendwie interessant fand, betrachtete er sein Gegenüber näher. Obwohl er vollkommen entspannt dazustehen schien, hatte er sein Körpergewicht auf eine Seite verlagert und ließ die Spitze seines anderes Fußes immer wieder auf den Boden stippen, als würde er einem Rhythmus folgen, den nur er hören konnte und auf seinen Einsatz für irgendetwas warten.   „Deine Freunde scheinen das Problem mit dem Schlafen ja nicht zu haben“, nahm er das Gespräch wieder auf, nachdem sein Blick auf die noch immer friedlich schlummernde Truppe gefallen war. Diesmal huschte ein Grinsen, in dem auch ein gewisser Stolz mitschwang und das kleine Grübchen auf seinen Wangen erscheinen ließ, über das Gesicht seines neuen Bekannten.   „Die haben sich müde gespielt“, erklärte er dann, sah ebenfalls zu ihnen hinüber. „Aber spätestens, wenn sie den ersten Kaffee intus haben, wird es mit dem Frieden vorbei sein.“   „Erfahrungswert?“   Der andere lachte leise und Karyu schob das Kribbeln, das sich dabei plötzlich durch seinen Körper zog, rigoros auf seine Müdigkeit.   „Genau. Die reinsten Duracell-Häschen…“ Er stand noch einen Moment ruhig da, riss dann aber den Blick von seinen Freunden los, um wieder ihn anzusehen. „Aber immerhin bin ich so beschäftigt. Lenkt von der Müdigkeit ab.“   In einer fließenden Bewegung, die für Karyu vollkommen überraschend kam, nahm er die Arme nach oben, erhob sich auf seine Fußballen und streckte seinen Körper zu einer geraden Linie durch. Ohne erkennbare Anstrengung verharrte er einige Sekunden so, schien die Dehnung zu genießen, die er damit in seine Muskeln brachte.   „Es gibt hier auch einen Yoga-Raum“, merkte er leise an, um die Stille zu überbrücken und vielleicht ein bisschen davon abzulenken, dass er seine Blicke nicht von dem anderen nehmen konnte. Dessen Kopf, den er bisher entspannt nach hinten hatte fallen lassen, hob sich und er sah ihn erstaunt an, ohne sonst etwas an seiner Position zu ändern.   „Wirklich?“   „Nur den Gang ‘runter“, Karyu deutete in die dem Coffeeshop entgegengesetzte Richtung, ließ sich jetzt selbst zu einem halben Grinsen hinreißen. „Ich hab heute schon ne Menge Zeit gehabt, mir den Flughafen anzuschauen.“   „Mein Beileid“, die Worte waren auch jetzt von einem leisen Lachen begleitet, aber die dunklen Augen des anderen sahen in die Richtung, in die er gezeigt hatte. „Aber vielleicht ist das keine schlechte Idee, danke.“ Damit entspannte er seine Pose vorerst und rollte ein, zwei Mal mit den Schultern. „Schlafen kann ich heute vermutlich sowieso vergessen. Aber vielleicht klappt es ja bei dir noch.“ Er zwinkerte ihm am Rand seines Basecaps vorbei zu und setzte sich dann tatsächlich in Bewegung, während Karyu selbst ihm nur stumm hinterherschauen konnte. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass das jetzt erst recht nichts mehr werden konnte. ~*~   [LEFT]So entspannt, wie es ihm irgendwie möglich war, ließ er sich gegen die Lehne seines Sitzes sinken, versuchte trotz seiner Müdigkeit das angenehm aufgeregte Gefühl genießen, dass ihn jedes Mal überkam, wenn er in ein Flugzeug stieg. So schwer er sich auch mit Langstreckenflügen tat, das Starten und Landen genoss er jedes Mal wieder und wenn er Glück hatte, würde das auch das Einzige sein, was er von seiner Heimreise mitbekommen würde.[/LEFT] [LEFT]Seine Hände spielten mit der kleinen, rechteckigen Pappschachtel, in der sich die Schlaftabletten befanden, die er tatsächlich noch in der Apotheke hatte kaufen können, während er sich im Inneren des Flugzeugs umsah. Wenn er Glück hatte, würde er schlafen, noch bevor sie ihre Reiseflughöhe erreicht hatten und die Minuten bis zu diesem Zeitpunkt konnten, wenn es nach ihm ging, nicht schnell genug verstreichen.[/LEFT] [LEFT]Karyu hob den Kopf, als der Lautstärkepegel ein wenig anschwoll und war nicht einmal wirklich überrascht, als er eine ihm mittlerweile wohlbekannte Reisegruppe erspähte, die sich den Gang auf der anderen Seite des Flugzeugs entlang weiter nach hinten durchschlängelte. Der Anblick ließ ihn unwillkürlich lächeln – eine Regung, wie ein gutes Stück weiter wurde, als seine Blicke die des jungen Mannes kreuzten, mit dem er sich heute Nacht kurz unterhalten hatte. Auf dem Gesicht des anderes lag ein schiefes Grinsen und er zuckte halbherzig mit den Schultern, während er geduldig darauf wartete, dass seine Freunde vor ihm weitergingen.[/LEFT] [LEFT]Unter anderen Umständen hätte Karyu vielleicht versucht herauszufinden, wo die Gruppe sitzen würde, um später an das nächtliche Gespräch anzuknüpfen. So aber musste er sich wohl oder übel damit begnügen, dass ein paar Stunden Schlaf das Beste sein würden, was ihm auf diesem Flug passieren konnte. Und vielleicht würde er den anderen ja noch einmal sehen, wenn sie in Narita auf ihr Gepäck warteten. Ansonsten würde ihre kurze nächtliche Begegnung wohl die erste und einzige zwischen ihnen bleiben.[/LEFT] Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)