Götterdämmerung von Skadi91 ================================================================================ Kapitel 3: Berk --------------- Sie war bisher noch nicht auf einem Drachen gesessen und wollte sich mit diesem Wunsch auch nicht aufdrängen, da sie wusste, wie wertvoll die Drachen für ihre neuen Freunde waren. Doch nun sollte der Tag kommen, an dem es endlich soweit war. Am Abend, genau vierzehn Tage nach ihrer Rettung, schlug Hicks beim Essen vor, am nächsten Tag einen Ausflug nach Berk zu machen. „Wir brauchen dringend neue Lebensmittel und Händler Johann hat sich an der Bucht von Berk angekündigt. Vielleicht hat er neue Kräuter für deine Wundsalbe dabei.“ In den zwei Wochen waren ihre Wunden an den Gelenken deutlich besser geworden. An manchen Stellen schienen sich Narben zu bilden, aber das störte Aska nicht. Sie war nur froh, dass die Schmerzen, insbesondere die an den Fußgelenken, nachgelassen hatten. Regelmäßig rührte Fischbein ihr die Salbe an und behandelte damit ihre wunden Stellen. Nur die Wunde zwischen ihren Schulterblättern bereitete ihr besonders in der Nacht, wenn sie sich versehentlich auf den Rücken drehte, noch höllische Schmerzen. Sie selbst kam nur schwer an diese Stelle dran und sie hatte bisher niemandem von dem eingeritzten Symbol erzählt. Sie wusste, dass dieses Mal etwas Schlechtes bedeuten musste und sie wollte ihre Freunde damit nicht verunsichern. Zu groß war die Angst, das neugewonnene Leben, mit all seinen Annehmlichkeiten wegen eines Mals, das einer Verstümmelung glich, aufs Spiel zu setzen. Manchmal betrachtete sie es vor einem Spiegel, den sie sich von Astrid geborgt hatte, um den Wundverlauf zu beobachten. Es war eindeutig entzündet und bedurfte dringender Behandlung. Aber bei ihrem Anblick stellte sie auch fest, dass sie wieder kräftiger wurde. Ihre Silhouette war immer noch sehr schmal und ihre Gliedmaßen zierlich, aber ihr Gesicht wirkte nicht mehr so ausgemergelt und auch die tiefen Augenschatten waren verschwunden. Ihre Haut war nach wie vor sehr bleich und sie musste sich weiterhin mit ihrer Kapuze vor dem hellen Tageslicht schützen, denn ihre Augen hatten sich immer noch nicht daran gewöhnt. Bei genauerem Betrachten stellte sie sogar winzige Sommersprossen auf ihrer Nase fest. Sie war hübsch geworden. Nichts im Vergleich zu Astrid, die strahlende tapfere Kriegerin, aber dennoch recht attraktiv. Nur der melancholische Ausdruck ihrer grauen Augen war geblieben. „Aska, möchtest du mitkommen?“ Hicks Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Sie hatte in den vergangenen Wochen viel über Berk und seine Bewohner gehört. Von Hicks Vater, Grobian, den Ersatzreitern in der Drachenakademie, von der alten Gothi und von Händler Johann, der die Berkianer mit Kostbarkeiten aus fernen Ländern belieferte. Bei dem Gedanken an einen Ausflug mit den Drachen, huschte ihr ein Strahlen über das Gesicht. Begeistert nickte sie und ihre langen Locken hüpften fröhlich auf und ab. In der Nacht konnte sie wie so häufig nicht schlafen. Diesmal nicht einmal wegen ihren düsteren Gedanken, sondern vor Aufregung. Die Reiter hatten eine so tolle Bindung zu ihren Drachen und waren richtige Künstler der Lüfte. Es musste ein großartiges Gefühl sein, ein so mächtiges Wesen unter sich zu fühlen, sein Vertrauen zu gewinnen und Eins mit ihm zu werden. Unter den wachsamen Augen der Besitzer, durfte Aska manchmal die Drachen füttern und sogar streicheln. Sie mochte, wie sich die Haut der jeweiligen Arten unterschied. Sie war rau und schuppig, glatt und geschmeidig, manchmal auch alles zusammen. Kotz und Würg, die zwangsweise Mitglied ihrer persönlichen Leibgarde waren, trugen sie sogar manchmal spazieren. Den etwas tollpatschigen Drachen mit den zwei Köpfen und den beiden identischen Schwänzen, hatte sie in ihr Herz geschlossen. Er erinnerte sie an seine beiden Reiter, denn auch die Köpfe des Drachen schienen immer wieder Meinungsverschiedenheiten untereinander zu haben. Der Drache schien Aska zu mögen, denn er folgte meist ihrem Weg und Taffnuss und Raffnuss wurden einfach ignoriert. Sturmpfeil war der einzige Drache, den sie bisher noch nicht streicheln durfte. Astrid war unglaublich hilfsbereit und freundlich zu Aska, aber bei ihrem geliebten Drachen machte sie auch bei ihr keine Ausnahme. Die Vorfreude auf den morgigen Tag weckte unter dem silbrigweißen Schopf einen Tatendrang, der sie nicht mehr in ihrem Bett hielt. Aska warf sich einen schwarzen Mantel aus Schafswolle über die Schultern und schlich sich aus der Hütte. Vorsichtig stakste sie auf Fußspitzen durch den Schnee, an den anderen Hütten vorbei, um niemanden zu wecken. Sie wusste, dass sie sich eigentlich nicht unbeaufsichtigt auf der Insel herumtreiben sollte. Aber sie verspürte den Drang, sich an die Klippe zu setzen und den klaren Sternenhimmel zu betrachten. Die Luft roch nach Schnee und salziger Gischt. Aska schob die Kapuze zurück, die sie gegen den beißenden Wind aufgezogen hatte. Es musste Neumond sein, denn nur eine schmale Sichel zeichnete sich schwach am schwarzblauen Horizont ab. „Gag gaag.“ Sie zuckte zusammen und drehte sich in die Richtung, aus der das Gackern kam. Ein Huhn rannte aus einem Gebüsch hervor und verschwand in der Dunkelheit. Sie stieß ein kurzes, leises Lachen aus, denn sie amüsierte sich über ihre eigene Schreckhaftigkeit. Gedankenversunken betrachtete Aska die funkelnden Sterne und die Bucht, in die in dieser Nacht sanfte Wellen rollten. Sie dankte still den Asen für die Erschaffung dieses wunderbaren Flecken Erde. Weiße Wölkchen kräuselten sich bei jedem Atemstoß sanft vor ihrem Gesicht. Es knirschte hinter ihr. Sie wirbelte herum und sah einen zwar noch verschlafenen, aber auch leicht verärgert wirkenden Taffnuss, der das dicke Hühnchen unter seinen linken Arm geklemmt hatte und mit dem anderen eine Faust in die Seite stemmte. „Du bist unvorsichtig!“, sagte er nur in müdem Tonfall. „Ich hätte jetzt auch ein hinterhältiger Drachenjäger sein können und du hast noch nicht mal einen Speer dabei, den du ihm vor …“, sprach er weiter und tätschelte den Kopf des Hühnchens. „Ja, ich weiß. Tut mir leid! Wirklich! Aber ich musste mal alleine raus. Ich konnte nicht schlafen!“, unterbrach ihn Aska schuldbewusst. Tatsächlich stand der Wikinger mit den blonden Strähnen sehr dicht hinter ihr und sie hatte ihn trotz des knirschenden Schnees erst zu spät gehört. „Schon gut! Das kenne ich. Es ist schon manchmal anstrengend, ständig mit jemanden zusammen sein zu müssen. Das fing schon bei uns im Mutterleib an. Nie hatte man seine Ruhe. Ich schätze meine Schwester sehr, aber ihr fischiges Haar kann ich nur schwer ertragen!“ Er schwang sich behände neben sie auf den Rand der Klippe und lies seine Beine baumeln. Er war wohl ziemlich schwindelfrei, denn Aska hatte sich das nicht getraut, immerhin ging es steil und sehr tief hinunter. Das Hühnchen pickte hinter ihnen im Schnee. Schweigend schauten sie eine Weile in den funkelnden Sternenhimmel. „Danke, Taff!“, begann Aska. Der Blonde drehte sich zu ihr. „Danke, dass du mich aus dem Wasser geholt hast. Du hast mir das Leben gerettet!“ Taffnuss lächelte milde. „Keine Ursache. Wir Thorstons sind bekannt für unsere glorreichen Taten. Naja, zumindest erzählt man sich, dass unser Urgroßonkel Hartnuss der Hohle auch schon mal eine Heldentat begangen haben soll.“ Amüsiert zog Aska eine Augenbraue hoch. „Du bist für mich auf jeden Fall wirklich ein Held!“, sagte sie nachdrücklich. „Oh, nett dass du das sagst. Meistens höre ich nur Worte wie Hirni, Schafskopf, Trottel usw. Und natürlich auch Brüderchen.“, er seufzte. Aska hatte mitbekommen, dass diese Worte des Öfteren fielen, aber meist in Situationen, in denen das Handeln der Zwillinge einfach keine andere Bezeichnung zuließ. Sie schaute ihn ein wenig peinlich berührt an. „Ich bin mir sicher, dass ihr beiden noch mehr auf dem Kasten habt, außer Streiche und Streitereien. Ich meine, äh, ihr heckt immerhin sehr kreative Streiche aus und eurer Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Und außerdem scheint ihr sehr waghalsig … also äh, schmerzfrei… ich meine mutig, ja genau, sehr mutig zu sein.“, sagte das Mädchen mit den, im Sternenglanz funkelnden Haaren, hastig. Taffnuss schaute sie etwas skeptisch an, als befürchtete er, sie würde sich über ihn lustig machen wollen. Sie wandte sich von seinem Blick ab und sah zurück aufs Meer. „Du bist wirklich mutig. Und ja, eure Streiche nerven oft, aber … du hast dein Herz am rechten Fleck. Deine Schwester auch. Ihr seid so ungestüm und denkt über euer Handeln nicht immer nach, aber ihr würdet alles für einander und eure Freunde tun. Ihr habt irrsinnige Ideen, aber viele von ihnen sind tatsächlich brauchbar. Eure Erfindung mit der Seilrutsche zum Beispiel. Ich meine, Hicks ist ein furchtbar schlauer Kopf, aber er wirkt manchmal einfach zu festgebohrt, zu strukturiert. Es braucht Leute wie euch, die einfach die Grenzen des Möglichen überschreiten, denn sonst würde man nie erfahren, ob es da nicht noch etwas anderes geben kann.“ Sie sah wieder zu ihm. Im fahlen Sternenlicht konnte sie nur einen Hauch rosigen Schimmerns auf seinen Wangen erahnen, aber Taff schien gerührt zu sein. So hatte ihn noch nie jemand gesehen, noch nicht mal er sich selbst. Aska legte ihre Hand auf seine hageren Finger. „Manchmal braucht es eben eine große Portion Verrücktheit und Wahnsinn in dieser verrückten und wahnsinnigen Welt!“ Sie sahen sich einen Moment schweigend in die Augen. Taffs Lippen zitterten und dann fiel er ihr um den Hals. „Das ist wirklich das Netteste was jemals jemand zu mir gesagt hat.“, schluchzte er. Aska konnte für einen Moment kaum Luft holen, so fest umarmte der schlaksige Junge sie. Dann schoss ihr ein brennender Schmerz in den Rücken und sie zuckte heftig zusammen. „OH, bitte entschuldige. Ich wollte dir nicht alle Knochen brechen!“, schniefte Taffnuss und wischte sich dabei eine Träne mit der geballten Hand aus dem Auge, wie ein kleines Kind. Das Mädchen schüttelte den Kopf, immer noch mit schmerzverzehrtem Gesicht. „Nein, es ist … es ist nicht wegen dir.“ Sie versuchte ihn aufmunternd anzulächeln, was ihr wohl nur halbherzig gelang, denn Taffnuss setzte eine besorgte Miene auf. Sie überlegte kurz, aber in Anbetracht der heftigen Schmerzen musste sie sich endlich jemandem anvertrauen. „Kannst du ein Geheimnis bewahren?“, fragte sie ihn und blickte ihm tief in die Augen. „Ein Geheimnis? Na klar! Ich mag Geheimnisse!“ Aska schaute ihn durchdringend an. „Ich möchte wissen, ob du es für dich behalten kannst?“ Taff legte feierlich die linke Hand auf seine Brust und hob die Rechte. „Thorston-Ehrenwort!“, schwor er. „Gag gaahg!“, schrie das Hühnchen, als ob es ebenfalls ein Geheimnis bewahren wollte. „Dann komm mit! Ich muss dir etwas zeigen!“ Aska stand auf und gab Taffnuss ein Zeichen, ihr leise zu folgen. Sie schlichen sich zurück, an den Hütten vorbei, den kurzen Weg entlang zum ehemaligen Lagerhaus, das jetzt Askas Behausung war. Sie streifte sich den warmen Wollmantel von den Schultern, zog den Gürtel aus und schob ihren Pullover den Rücken hoch. Taffnuss hatte zunächst perplex zugesehen, sich dann beschämt umgedreht und stand nun mit verdeckten Augen und mit dem Rücken zu ihr, an der Wand. Da Aska jedoch selbst ihm rücklings zugewandt stand, bemerkte sie das erst einige Augenblicke später. „Was machst du da?“, hörte sie den Jungen hinter verdeckenden Händen hervor nuscheln. „Äh, ich habe da was am Rücken. Ich brauche deine Hilfe!“, forderte sie ihn auf. Taff tastete sich in ihre Richtung, mit einer Hand immer noch die Augen zuhaltend. „Ist ok. Du kannst gucken.“, sagte Aska leicht genervt. „Ouh man. Das sieht ja echt furchtbar aus. Ich meine, ich habe schon den schrecklich behaarten Rücken meiner Schwester gesehen, aber das ist ja echt schaurig.“, stellte er beeindruckt fest. „Hast du eine Idee was das ist?“, fragte Aska. Nun war sie diejenige, der das Ganze furchtbar unangenehm war. „Was das ist? Na auf alle Fälle schlimm entzündet. Das wird ne krasse Narbe geben.“, freute sich Taff, fast schon ein wenig neidisch, nicht selbst eine krasse Narbe zu haben. Aska verdrehte genervt die Augen. „Das weiß ich! Ich meine, hast du eine Ahnung was das für ein Symbol ist?“ Fachmännisch, mit Daumen und Zeigefinger am Kinn, schritt der Blonde hinter ihr auf und ab und analysierte das Gebilde. Nach einem Moment hielt er inne und lies seine Schultern wieder ratlos hängen. „Nein, kein Plan!“, sagte er trocken. Aska seufzte und lies ihren Pullover wieder über den Rücken fallen. „Ich weiß nicht, woher ich das habe und wer dafür verantwortlich ist. Bitte erzähl niemandem etwas über diese Narbe. Ich muss erst herausfinden, was das zu bedeuten hat! Bitte versprich mir das!“ Aska sah ihn flehend an. „Ich habe dir mein Thorston-Ehrenwort gegeben und das werde ich auch halten!“, versprach er. Aska nickte erleichtert. Erleichtert darüber, sich endlich jemandem anvertraut zu haben. Erleichtert über das Ehrenwort von Taff, den sie wirklich mochte. Noch erleichterter war sie allerdings, als Taffnuss ihr anbot, morgen etwas gegen die Schmerzen von Händler Johann zu beschaffen. Sie war dem Wikinger so unglaublich dankbar. Wie sollte sie sich nur jemals für die Rettung und Fürsorge revanchieren? Sie verabschiedete sich mit einem leisen „Danke!“, nachdem er darauf hinwies, dass Astrid sie beide als Ziele für ihre Axtwürfe verwenden wird, wenn sie von ihrem nächtlichen Treffen erfahren würde. Aska lachte zunächst, wurde aber sofort wieder ernst als sie begriff, dass Taff gar keinen Scherz gemacht hatte. „Fischbein? Hast du die Liste?“, fragte Hicks den Dicken. „Alles dabei. Wir sind startklar.“, strahlte Fischbein und streckte einen Daumen hoch. Die Drachenklippe war in das goldene Licht der winterlichen Sonne gehüllt und der Wind war nicht mehr so stark, wie die Tage zuvor. Ein perfekter Tag für einen Ausflug. Die Wikinger hatten ihre Drachen gesattelt und waren aufbruchbereit. Aska sollte bei Astrid mitfliegen. Es war eine Ehre für das Mädchen, das bisher noch nicht einmal die Fütterung von Sturmpfeil übernehmen durfte. Astrid wollte ihr eine Freude machen. Noch mehr jedoch, wollte sie Aska bei ihrem ersten Flug in der Nähe haben. So konnte sie sicher gehen, dass sie nichts anstellen könnte. Obwohl sie das bleiche Mädchen gern hatte, war sie immer noch vorsichtig. Die Vergangenheit hatte sie zu Argwohn erzogen. Unvorsichtigkeit konnte man sich nicht leisten. Sie half Aska hoch auf den Sattel. „Halt dich bloß gut fest.“, mahnte sie bestimmt. Askas Herz raste vor Freude. Sie saß tatsächlich auf einem Drachen, noch dazu auf Sturmpfeil. Es gab einen kräftigen Ruck und sie hoben ab. Askas Magen wurde nach unten gezogen und ihre Finger wurden kribbelig. Sie krallte sich an dem Sattel fest und versuchte nicht nach unten zu schauen. Allerdings wusste sie genau, dass tief unter ihnen die Wellen gegen die Felsen brausten. Ihr wurde schwindelig und sie vergrub ihr Gesicht in dem weichen Zopf von Astrid. „Alles in Ordnung?“, fragte Astrid besorgt nach hinten. Sie spürte eine Bewegung in ihren Haaren, was sich wie ein langsames Nicken anfühlte. Nach einigen Kurven flogen sie nur noch gerade aus. Der Flügelschlag wurde ruhiger. Aska zog ihr Gesicht vorsichtig aus Astrids Haaren und wagte einen Blick über ihre Schultern. Vor ihnen lag der weite Horizont und die Sonne spiegelte sich auf der Oberfläche des tiefblauen Ozeans. Unter ihnen glitten winzige Felsen vorbei und Ohnezahn flog mit seinem einbeinigen Reiter direkt vor ihnen. Fischbein flatterte mit Fleischklops zu ihrer Linken und Hakenzahn zu ihrer Rechten. Rotzbakke lehnte entspannt in seinem Sattel und hatte heute mal seine mürrische Miene gegen ein zufriedenes Grinsen getauscht. Askas vierköpfige Leibgarde flog dicht hinter ihnen, so dass Sturmpfeil von beiden Seiten von Kotz und Würg flankiert wurde. Die anfängliche Angst war verschwunden und auch das Schwindelgefühl hatte sich gelegt. Sie begann den Flug endlich zu genießen. Sie spürte den starken Körper und die kraftvollen Bewegungen des Drachenweibchens und beobachtete die feinen Signale, die die Reiterin an Sturmpfeil sendete. Der Wind zog ihre Kapuze herunter und zerzauste ihre Haare. Der scharfe Luftstrom brannte in ihren Augen. Aska schloss ihre Lider und eine Träne rollte über ihre Schläfe. Der Wind zischte in ihren, vor Eiseskälte brennenden Ohren. Ihr Herz sprang förmlich vor Freude. Sie fühlte sich schwerelos. Frei. Sie ließ den Sattel mit ihren tauben Fingern los und streckte die Arme in die Luft. Ein Freudenschrei rang sich aus ihrem Hals. Astrid drehte sich zu ihrem Passagier um und musste bei dem Blick in das glückliche Gesicht selbst lachen. Sie wusste noch genau wie sie sich damals fühlte, als sie das erste Mal zusammen mit Hicks auf Ohnezahn geflogen war. Nein! Das waren aufrichtige Emotionen. Hicks hatte Recht behalten. Solche Gefühle konnte man nicht spielen. Aska war ihnen gegenüber die ganze Zeit aufrichtig gewesen. Astrid verspürte einen leichten Stich in ihrem Herzen. Sie hatte ihr Unrecht getan. Die anderen Drachenreiter ließen sich von den Glücksgefühlen anstecken, johlten und flogen kleine Kunststückchen. „Pass ja auf! Das kann süchtig machen!“, rief Hicks zwinkernd. In der Ferne ragte ein riesiger Berg auf, auf den sie geradewegs zusteuerten. „Da vorne ist Berk!“ Hicks deutete auf die Bucht. „Händler Johann scheint bereits angelegt zu haben.“ Beim näher kommen, konnte man die schmalen Planken der Bootsstege erkennen, die im Takt der Wellen auf und ab wippten. Ein Schiff mit roten Segeln schaukelte daneben. Weiter draußen lag ein Fischerboot, in dem zwei Menschen saßen. Der Größere der beiden schien einen Eimer auf dem Kopf zu tragen. Sie flogen in einer scharfen Linkskurve um die Bucht herum und landeten sanft auf einem großen Platz in der Mitte des Dorfes. Ein riesiger, bärtiger Mann stürmte auf die Gruppe zu. „Bei Odins Bart! Hicks, mein Junge! Schön, dass du deinen alten Vater mal wieder besuchst!“ Er strahlte über beide Backen. Hicks Vater hatte freundliche Falten um die blitzenden Augen und sehr starke Arme. Kaum zu glauben, dass dieser Koloss mit dem hageren Hicks verwandt sein sollte. Die beiden fielen sich um den Hals. Um sie herum versammelten sich weitere Bewohner von Berk, um die Ankömmlinge willkommen zu heißen. Neugierig beäugten sie die Fremde, die sich versuchte unter ihrer Kapuze zu verstecken. Aska waren die vielen Blicke nicht besonders geheuer. Sie wollte sich eben noch ein Stückchen weiter hinter die anderen Drachenreiter stellen, da wurde sie von Hicks am Arm gepackt und nach vorne gezogen. Vor dem stattlichen Häuptling fühlte sich Aska wie eine Ameise. Eine Ameise die sich gleich in die Hosen machte. „Nanu? Wer bist denn du, mein Kind?“ Freundlich lächelte er auf sie herab, bückte sich zu ihr herunter und schob mit seinem Finger ihre Kapuze aus der Stirn. Sofort kniff sie ihre Augen zusammen. Hicks lachte verlegen und antwortete ihm: „Äh, das haben wir noch nicht so ganz geklärt. Lasst uns in die große Halle gehen. Dann erzählen wir dir alles.“ Hicks trug den Anderen auf, an den Kai zum Handelsschiff hinunter zu gehen und alle Sachen von ihrer Liste zu besorgen. An Fischbein gewandt, sagte er: „Pass bitte auf, dass Rotzbakke und die Zwillinge nicht wieder das ganze Gold für unsinnige Sachen ausgeben.“ Fischbein salutierte. „Ay ay, Chef!“ Dann beeilte er sich, den Anderen, die bereits auf dem Weg waren, hinter her zu kommen. Sanft schob Hicks Aska in Richtung der großen Halle. Auf dem Weg dorthin betrachtete das Mädchen die vorbeikommenden Hütten. Sie hatten Ähnlichkeit mit denen auf der Drachenklippe, wirkten aber um ein Vielfaches größer. Hier lebten ganze Familien unter einem Dach. Der Gedanke daran, mit lieben Eltern und Großeltern, ja, vielleicht sogar mit ein paar Geschwistern in einer gemütlichen Hütte zu leben, löste Wehmut in ihr aus. Auf einer Weide hinter einem Zaun suchte ein zotteliges Yak im gefrorenen Boden nach Wurzeln und eine Herde weißer Schäfchen tat es ihm gleich. Es war sehr idyllisch hier auf Berk. Sie gingen steinerne Stufen hinauf. Der Eingang der Halle war separat überdacht. Mächtige Eichenstämme, in die filigrane Linien und Knoten geschnitzt worden waren, zierten ihn und riesige Steinfiguren wachten daneben. Der Hauptteil der Halle war in einen gigantischen Felsen gehauen worden. Hicks Vater, der sich ihr als Haudrauf vorgestellt hatte, schlug mühelos die schwere doppelflügelige Tür auf, die in starken schmiedeeisernen Scharnieren knarzte. Die große Halle machte ihrem Namen alle Ehre. Ihre Schritte hallten an der hohen Decke wider. Haudrauf bot ihnen einen Platz am vorderen Ende der langen Eichentafel an und wuchtete seinen Körper auf den verzierten Thron, der in der Mitte der Halle stand. An den Wänden hingen prunkvolle Wandteppiche und bemalte Schilde . Auf einem jünger wirkenden Modell erkannte sie Hicks mit seinem stolzen Vater. Im Halbdunkel hinter ihr vernahm Aska ein rasselndes Atemgeräusch und ein sich näherndes hölzernes „Klonk“. Noch bevor sie sich umdrehen konnte, sauste ein Haken an ihrem Ohr vorbei und … servierte ihr einen Becher Met. „Moin ihr Zwei. Mensch Hicks, min Jung, wen haste uns da denn mitgebracht?“ Ein dicker Wikinger mit gelbem Schnauzbart humpelte mit einem Holzstumpf anstelle eines rechten Unterschenkels um den Tisch herum und nahm ihnen gegenüber Platz. „Hey, Grobian. Schön dich zu sehen. Das ist Aska. Wir wollten Vater eben über sie aufklären.“, antwortete Hicks und griff nach seinem Becher. Nachdem er sich den Mund mit seinem Handrücken abgewischt hatte, begann er: „Vor zwei Wochen haben wir sie bewusstlos treibend im Meer gefunden.“ „Die Götter schienen es gut mit dem jungen Ding zu meinen. Zu dieser Zeit möchte ich noch nicht mal meinen kleinen Zeh da rein halten.“, sagte Grobian erstaunt und schüttelte sich. „Ja, es grenzt an ein Wunder!“, pflichtete Hicks ihm bei. „Allerdings hat sie keine Erinnerungen mehr!“, fügte der hagere Junge bedauernd hinzu. Aska starrte die ganze Zeit auf den Becher Met, den sie mit den Fingern umklammert hielt. Sie mochte es nicht, wenn man sie anstarrte. „Armes Kind! Du weißt also nicht was dir wiederfahren ist und wo du her kommst?“ fragte Haudrauf direkt an das weißhaarige Mädchen gerichtet. Sie blickte ihn mit angespannter Miene an. Sie kam sich vor wie ein Kind in der Schule, das zuvor fleißig gelernt hatte, aber bei der Prüfung nicht eine korrekte Antwort geben konnte, obwohl sie ihr auf der Zunge zu liegen schien. Wieder senkte sie den Blick und schüttelte schweigend ihr Haupt. „Allerdings haben wir einige Anhaltspunkte!“, antwortete Hicks rasch, denn er spürte ihr Unbehagen. Die bärtigen Männer und auch Aska sahen ihn fragend an. „Wir wissen nicht genau was passiert ist, aber sie muss eine Gefangene gewesen sein. Sie hatte relativ frische Fesselspuren an ihren Hand- und Fußgelenken. Auch ihre Kleidung, die sie zu diesem Zeitpunkt trug, deutet auf den Stand einer Sklavin hin.“ Aska erinnerte sich an den schmutzigen und feuchten Fetzen, den sie wie eine alte Haut von ihrem dürren Körper gestreift hatte. „Außerdem war sie bis auf die Knochen abgemagert.“ Eine Sklavin. Aska hatte sich in ihren schlaflosen Nächten viele Gedanken über ihre Herkunft gemacht, aber darauf war sie tatsächlich noch nicht gekommen. „Sie scheint etwas lichtempfindlich zu sein und hat wohl noch nie eine Waffe in der Hand gehabt. Und sie hat noch nie einen Drachen zuvor gesehen!“, zählte Hicks seine Fakten auf. Grobian und Haudrauf hatten beide verwundert die Augenbrauen hochgezogen. Noch nie einen Drachen gesehen? Das war auf diesem Teil der Erde doch gar nicht möglich. „Ouha! Dann musst du ja von sehr weit weg her kommen!“ Grobian kratzte sich am stoppeligen Kinn und drehte die Augen zur Decke, in der er eine Antwort darauf zu suchen schien. „Mh hm mhmm.“, brummte er nachdenklich. „Jo, ich habe – meine ich – schon von fahrenden Händlern gehört, die sogar bis weit über die Grenzen segelten und das ewige Eis erblickt haben. Es soll dort weiße Bären und sogar weiße Wale geben. Warum nicht auch weißhaarige Menschen?“ Nun schaute Aska hoffnungsvoll zu dem buckeligen Mann auf, der sie mit seinem gelben Bart an ein blondes Walross erinnerte. „Johann! Wir könnten Händler Johann fragen!“ Hicks sprang aufgeregt auf. „Komm, Aska!“ Vor lauter Aufregung stieß sie beim Aufstehen ihren noch vollen Becher um und rannte dem Einbeinigen hinterher. Goldener Met lief wie ein klarer Fluss über die polierte Tafel und tropfte am Ende auf den Felsboden herunter. Sie ließen die beiden Männer in der großen Halle zurück. Haudrauf strich sich mit der Hand stirnrunzelnd über den Bart. „Grobian? Was hältst du davon, wenn wir Gothi befragen?“ Grobian duckte sich mit einem „Gnh“ bei der Erwähnung der Alten. Noch immer schmerzte ihn sein vorhandenes Schienbein von der letzten Begegnung mit ihr. Sie landeten auf der Reling, des sanft in den Wogen wippenden Bootes. Bei dem Verlassen der großen Halle hatte Hicks auf beiden Fingern gepfiffen und Ohnezahn kam freudig hüpfend auf sie zu. Der Flug des Nachtschatten unterschied sich von dem des Tödlichen Nadders. Man nahm den Flügelschlag kaum wahr, stattdessen schien der schwarze Drache schwerelos in der Luft zu gleiten. „Meister Hicks!“ Ein kleiner krummnasiger Mann mit schwarzem Ziegenbart kam erfreut auf sie zu. Hinter ihm konnte man die Zwillinge erkennen, die nun unbeobachtet versuchten, einige Gegenstände heimlich in ihren Westen zu verstauen. Doch sie kamen nicht weit. Astrid stand mit verschränkten Armen und wütendem Blick vor ihnen. Ertappt ließen die beiden einige Gegenstände wieder fallen. Rotzbakke betrachtete verliebt eine goldene Axt. Vielleicht himmelte er auch sein glänzendes Spiegelbild darin an und Fischbein hakte akribisch alle Dinge auf seiner Liste ab, die er bereits zusammengetragen hatte. „Meister Hicks. Schön sie noch einmal vor der Wintersonnwende zu sehen. Ich hoffe, Sie finden alles was Sie benötigen, um über den Winter zu kommen. Sobald das Meer gefriert, werde ich nicht mehr kommen können. Erst wieder im Frühjahr!“ Der kleine Mann lies sehnsüchtig seinen Blick über den Horizont schweifen, dann stutzte er. Jetzt erst bemerkte er die zierliche Gestalt hinter dem jungen Wikinger. „Danke Johann. Ich denke wir werden alles finden, was wir brauchen.“, antwortete Hicks zuversichtlich. „Was ich dich allerdings fragen wollte. Du bist doch auf deinen Handelsrouten schon weit gereist, oder? Bist du jemals über die nördlichste Grenze bis zum ewigen Eis gereist?“ Der Händler sah Hicks verdutzt an, als hätte dieser eine besonders absurde Frage gestellt. „Das ewige Eis? Was soll man denn da wollen? Da gibt es weit und breit nichts. Gar nichts.“ Aska, die eben noch erwartungsvoll auf den hakennasigen Mann geblickt hatte, spürte ein Gefühl der Enttäuschung aufkommen. „Hast du vielleicht davon gehört, dass es dort Menschen geben soll? Menschen mit weißen Haaren?“, fragte Hicks, der sich mit „Nichts“ nicht zufrieden geben wollte. Johann musterte das junge Mädchen hinter dem Häuptlingssohn. „Nun. Man munkelt, es gäbe dort eine unterirdische Festung, in denen die uralten Eisriesen, die Erben Ymirs, der von Odin erschlagen wurde, sich verstecken sollen. Aber wenn man mich fragt, ist das nur ein Mythos. Ein Ammenmärchen.“ Ernüchtert von der Aussage des Händlers drehte sich Hicks zu Aska um, die ihre Enttäuschung kaum in ihrem Gesicht verbergen konnte. Er seufzte. „Ein Versuch war es wert gewesen.“ Johann hatte sich von den beiden abgewandt und versuchte nun, dem feilschenden Rotzbakke doch noch ein paar Silberlinge mehr abzuknüpfen. Hicks ging zu Fischbein, der eben Fleischklops ein großes Paket unter den Bauch schnallte. Ohnezahn hatte sich während der Unterhaltung ein paar Fische von der Reling aus geschnappt und gurrte zufrieden. „Und hast du was herausgefunden?“, fragte Fischbein den Hünen. „Leider nein!“ Die beiden schauten mitleidig zu dem Mädchen rüber, das gedankenverloren an der Reling stand und seinen weißgelockten Kopf in die Hände stützte. Rotzbakke sprang auf den Bootssteg und schwang stolz seine neue, goldene Axt. „Ich glaube wir haben alles.“ Astrid und die Zwillinge kamen zu den drei jungen Männern, Sturmpfeil und den Wahnsinnigen Zipper im Schlepptau, der einen langen Stock in seinen zwei Mäulern trug, an dem ein schweres Bündel baumelte. „Ja, wir sollten aufbrechen. Dann kommen wir noch vor der Dämmerung auf der Klippe an.“, stellte Fischbein fest. Aska hatte die Aufbruchstimmung bemerkt und schloss zur Gruppe auf. Dass sie gleich wieder einen wunderbaren Flug genießen konnte, tröstete sie ein wenig über die Enttäuschung hinweg. Sie wollten gerade aufsitzen, als Grobian auf einem schläfrigen, einem grauen Salamander ähnelnden Drachen, vor ihnen landete. „Wartet! Hicks, dein Vater möchte noch einmal euren Gast sprechen.“ Er nickte zu Aska, die gerade mit Hilfe von Astrid auf das Nadderweibchen aufsteigen wollte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)