Alles was bleibt von Norrsken ([Wieder|holen] | ⚠️ Spoiler für Apollo 3!) ================================================================================ Kapitel 1: Er ist fort ---------------------- Es war Nachmittag als sich alle Bewohner von Camp Half-Blood am großen Lagerfeuer versammelten. Waren es am Vormittag noch milde Temperaturen, während die Erdbeerfelder im Sonnenschein badeten, hatte inzwischen der Wind aufgefrischt und dicke dunkle Wolken bahnten sich über den Horizont heran. Allmählich verdeckten sie die Sonne und tauchten das Camp in einen grauen Schleier. Passend, wie Nico fand. Sicher war das die Absicht von Zeus. Ein Leichentuch wurde gebracht – himmelblau wie seine Augen und golden bestickt mit einem Adler. Aus den Wolken ertönte ein Grollen, als das Tuch den Flammen übergeben wurde. Es verbrannte und ein elektrisierendes Knistern lag in der Luft. Nicos Brust zog sich schmerzhaft zusammen, sodass ihm das Atmen schwerfiel. Zu wissen, dass er fort war, doch das Gefühl, ihn um sich zu haben, glich einer Tortur. Nach den letzten Tagen hatte er geglaubt, zu erschöpft zu sein, um weiter zu trauern. Erst in der Nacht war er aus Camp Jupiter zurückgekehrt, nachdem er dort die Bestattung von Jasons Leichnam betreut hatte. Er war kein römischer Halbgott und nie Teil der Legion gewesen, trotzdem hatte er darauf bestanden diese Aufgabe zu übernehmen. Es ließ ihm keine Ruhe und Reynas Herz war weicher als sein Sturschädel. »Du übernimmst dich«, sagte sie zu ihm vor seinem Abschied. Sie standen allein am Caldecott-Tunnel. Wie immer, wenn Nico sie traf, trug sie ihre Rüstung mit violettem Umhang, die sie als Praetorin der zwölften Legion auszeichnete, und bewahrte Haltung. Normalerweise war ihre stoische Miene schwer zu deuten, doch dieser Tage war ihr Gesicht von Kampf und Verlust gezeichnet. Ihre Augen waren matt, Schatten zeichneten sich auf ihrer Haut ab und ihre Wangen wirkten eingefallen, wodurch ihre Wangenknochen noch stärker hervorgehoben wurden. Wer sie weniger kannte, würde befürchten, sie könnte zerbrechen, aber so anmaßend würde Nico nie sein. Reyna war zäh. Von jedem anderen hätten ihre Worte bei Nico zu einem Schnalzen der Zunge geführt. Er wurde gerne von seinen Mitmenschen unterschätzt. Reyna würde das nie und ihre Sorge war aufrichtig. Ihm blieb nichts außer hilflos die Schultern hochzuziehen. Sie seufzte ergeben und legte die Hand auf seinen Arm. »Pass bitte auf dich auf, Nico.« Er brachte kein Wort zustande und begnügte sich mit einem schwachen Nicken. Behutsam zog sie ihm am Arm zu sich und drückte ihn. Es war ein seltener Moment, in dem Nico eine Umarmung zuließ und Reyna ihre weichere Seite offenlegte. »Ich versuch’s«, murmelte er gegen ihre Schulter. Mehr konnte er nicht versprechen, wenn er kein Lügner sein wollte. Nachdem er zurück in Camp Half-Blood war, warteten bereits die Vorbereitungen für die hiesige Bestattung. Jason war in beiden Camps geachtet, weshalb Chiron entschieden hatten, dass zu Ehren des Jupitersohnes auch im griechischen Lager ein Leichentuch verbrannt werden sollte. Seit Nico fest im Camp lebte, gehörte die ordnungsgemäße Durchführung der Bestattungsriten zu seinen Aufgaben. Er hatte sie sich ausgesucht und kümmerte sich zuverlässig darum. Bisher hatte niemand ihm diese Aufgabe abnehmen wollen, doch als es um Jason ging, ertönten zum ersten Mal zweifelnde Stimmen. »Ihr wart Freunde«, war die Begründung. »Du solltest dich nicht damit quälen.« Nico wusste, dass man mitfühlend sein wollte, aber es machte ihn wütend. Keiner konnte verstehen, dass er das machen musste. Für sich. Die letzte Faser war verbrannt und das Feuer wog gleichmäßig im Wind. Es wirkte friedlich. Zum ersten Mal ließ Nico seinen Blick über die anwesenden Camper schweifen. Die meisten von ihnen kannten Jason aus der Zeit als die Argo II gebaut wurde. Ein halbes Jahr hatten sie mit dem römischen Halbgott zusammen trainiert, gegessen, Lagerfeuerlieder gesungen. Es fiel ihm nicht schwer, sich vorzustellen, dass Jason mit vielen von ihnen mindestens eine lose Freundschaft verband. Er war jemand, der sich immer um andere bemühte – auch um die Götter. Trotz dass er zu den sieben Halbgöttern zählte, die Gaia besiegten, blieb er bescheiden und gönnte sich selbst keine Pause. Nico erinnerte sich an ihr Gespräch über die Schreine und seine Motivation, dass er vorbeugen wollte, damit kein Halbgott mehr zum Spielball einer verdrossenen Gottheit würde. Und während er an diesen Plänen arbeitete, begab er sich auf die Suche nach Leo, an dessen Tod er nicht glaubte. Leo lebte, aber er und Jason hatten sich nicht mehr getroffen. Auf seiner Zunge bildete sich der bittere Geschmack von Eisen. Das ist nicht fair. Die Wolkendecke zog sich dicht zu, sodass kein Sonnenstrahl mehr hindurch kam. Lediglich das Lagerfeuer und ein paar Laternen spendeten weiterhin Licht. Die Aussicht auf einen Wolkenbruch trieb die Camper dazu an, das Lagerfeuer zu verlassen und einen geschützteren Ort aufzusuchen. Als sich die Reihen immer weiter lichteten und das Feuer zu einer Glut zusammenschrumpfte, wandte sich schließlich auch Nico ab. Je weiter er sich vom Lager entfernte, desto schwächer wurde das Ziehen in seiner Brust. An seine Stelle trat ein stetiges dumpfes Pochen, von dem er wusste, dass es ihn länger begleiten würde. Er fühlte diesen Schmerz nicht zum ersten Mal. In der Hades-Hütte begrüßten ihn Dunkelheit und Stille. Selbst der grüne Schein der Fackeln wurde von den Wänden aus massiven Obsidian verschluckt. Nach wie vor war er der einzige Bewohner, wenn Hazel nicht gerade aus Camp Jupiter zu Besuch war. Inzwischen machte er sich wenig Gedanken darüber, aber dieses Mal wusste er nicht, ob ihn das Fehlen von Gesellschaft freuen oder traurig stimmen sollte. Es fiel ihm leicht, sich in der Hütte zu orientieren, und so fand er ohne anecken und Umwege zu seinem Bett. Darauf lag sein gepackter Rucksack, den er nach seiner Rückkehr bloß abgelegt hatte. Nico schaltete das Nachtlicht über seinem Bett ein und öffnete den Verschluss der Tasche. Darin lag das Skizzenbuch für die ganzen Tempel. Bisher hatte er vermieden hineinzusehen. Es graute ihm davor, sein letztes Bisschen Kontrolle zu verlieren. Hazel übergab ihm das Skizzenbuch, als er dabei war seine Tasche zu packen. Ihre Augen waren gerötet. Während der Bestattung weinte sie stumm an Franks Schulter, ohne viel Aufsehen darum zumachen. Sie bedachte Nico mit sorgenvollen Blick. Auch wenn er nicht geweint hatte, gab er kaum ein besseres Bild ab als seine Schwester. »Ich bin immer für dich da, wenn du reden möchtest«, sagte Hazel mit fester Stimme. Nico wusste, das Angebot kam von Herzen. Seine Schwester war viel stärker, als es den Anschein machte. »Danke.« Zum Abschied nahm sie ihn in den Arm. Er war dankbar dafür, dass Hazel da war. Sie würde Bianca nie ersetzen, doch mit ihr fühlte er sich weniger einsam. Für nichts auf der Welt würde er sie hergeben. Abwesend strich Nico über die Kanten des Skizzenbuches. An einigen Stellen war das Leder aufgeplatzt und die Seiten hingen unordentlich heraus. Sicher war kein Blatt mehr weiss und unbenutzt. Es zeigte ihm, wie viele Gedanken Jason sich gemacht hatte. Nun sollte es an Annabeth liegen, diese Ideen in konkrete Pläne umzuwandeln. Man könnte von Glück sprechen, dass alles vorher fertig wurde, sodass die Umsetzung ohne Unterbrechung fortgeführt werden konnte. Aber was Nico empfand, war ein unangenehmes Brennen, dass sich in seinen Bauch fraß. Es machte ihn wütend. Dieses Projekt gehörte Jason. Es sollte nicht ohne ihn problemlos zu verwirklichen sein. Er musste dabei sein. Nie könnte Annabeth ihn ersetzen, so wie Hazel nie Bianca ersetzen konnte. Seine Lippen pressten sich zusammen zu einer schmalen Linie. Als er damals im Asphodeliengrund nach seiner Schwester suchte, fand er Hazel. Durch den grauen Schleier der Unterwelt leuchteten ihm ihre bernsteinfarbenen Augen entgegen und hielten ihn fest. Sie war bereits in den 1940ern gestorben, aber konnte sich als Tochter des Plutos erinnern und er konnte als Sohn des Hades‘ ihr Leben lesen wie ein Buch. Er musste sich konzentrieren, um von den Emotionen, die über ihn hinweggespülten, nicht mitgerissen zu werden. Da war viel Trauer, Schmerz und Einsamkeit in ihrem Leben – wie bei ihm. »Du hast eine zweite Chance verdient«, entschied er und nahm Hazel bei der Hand, um sie zurückzuholen. Von den Toten zurück in die Welt der Lebenden. Nicos Griff um das Skizzenbuch wurde fester, dass seine Knöchel weiss hervortraten. Auch nach Thanatos‘ Rückkehr durfte Hazel bleiben. Sein Vater tolerierte den Regelbruch, den er begangen hatte. Für seine Tochter und seinen Sohn. Damit sie die Möglichkeit bekamen, glücklich zu werden. Als eine Ausnahme. Gewisse Tode mussten passieren, das hatte ihm sein Vater einmal gesagt, aber es war nie die Rede davon, dass die Toten auch tot bleiben mussten. Wenn es etwas Wichtiges gab, dass sie im Leben zu erledigen hatten, dann musste es doch erlaubt sein, noch einmal zurückzukehren. Bei Hazel war sein Vater bereits mit ihm einer Meinung. In den letzten Jahren seit der Schlacht von Manhattan hatte Nico sich den Respekt des Herren der Unterwelt verdient. Er war der Geisterkönig. Sein Urteil über Hazel galt. Wieso sollte es bei Jason anders sein? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)