Lichter über den Trümmern der Welt von _Risa_ (Winterwichteln 2017/2018) ================================================================================ Kapitel 1: Lichter über den Trümmern der Welt --------------------------------------------- Die Erinnerung der Kinder daran wie der Himmel aussah, wie sich Gras, Wind, Regen und wärmende Sonnenstrahlen auf der Haut anfühlten, war verblasst. All das war einer düsteren Stadt unter Kyoto mit matten Lichtquellen gewichen, deren Firmament eine Steinkuppel darstellte. Obwohl die Vampire vor Jahrhunderten bereits Wege gefunden hatten, um sich vor der Sonne mit Schmuck zu schützen, der UV-Strahlen abschirmte, scheuten sie diese. Nicht nur diese. An der Oberfläche hätten die Kinder gigantische Monster erwartet. Unförmig und unproportioniert, sahen sie nicht wirklich real aus. Damals, als alle Erwachsenen innerhalb eines Abends in sich zusammengebrochen waren und tausende Tote auf den Straßen lagen, hatten die Kinder einen Blick auf die Vier Apokalyptischen Reiter erhaschen können. Ein Anblick, der ihnen in Mark und Bein gefahren war. Nur wenige Minuten später waren sie von Vampiren, Gestalten, die davor in den Köpfen der Menschen ebenfalls nur in Märchen und Gruselgeschichten existiert hatten, in eine unterirdische Stadt entführt worden, um dort von fortan als lebende Blutbank ein freudloses Leben zu fristen. So fühlte es sich an, wenn die Welt vor den eigenen Augen unterging und da ihnen alles so unwahrscheinlich und irreal erschien, hofften einige der Kinder immer noch jeden Abend, dass sie in ihren Betten daheim erwachten, wenn sie nachts in den Schlaf fielen und endlich diesem irrsinnigen Albtraum entkamen. Da die Ungeheuer an der Erdoberfläche aussahen, als wären sie einem Horrorfilm entsprungen, hatten die Kinder anfangs jede einzelne dieser Lügen geglaubt; dass man sie nicht bezwingen könnte – die Vampire selbstverständlich erst recht nicht -, dass sie bloß in Sanguinem sicher wären und ein Leben an der Oberfläche nicht mehr möglich war.   Yuuichirou protestierte dagegen und erzählte allen, gleichgültig, ob sie es hören wollten, dass er jeden einzelnen Vampir töten könnte. Unaufhörlich, voller Stolz und Inbrunst. Von Mika und Akane abgesehen, waren die anderen der Hyakuya-Waisen so viel jünger als er und hörten seinen Fantasierein gerne zu. Sie blühten zusammen mit ihm darin auf, schnappten sich umherliegende Gegenstände, meist Kochlöffel und Stöcke, und spielten ihre Fantasien nach. Zuerst hatte Mika protestiert, bis er verstanden hatte, dass die Vorstellung einer besseren und freien Zukunft die Kinder davon abhielt, ebenfalls so gleichgültig und tot wie die bereits vor langem verstorbenen Mythengestalten, in deren Gewalt sie waren, dahinzuvegetieren. Nicht nur den Jüngeren. Es half auch ihm. Und alles, was Yuuichirou dabei half seinen Lebensmut zu behalten, war willkommen. Der Junge glaubte selbst jedes seiner eigenen Worte und irgendwann entschied auch Mika, dass er Recht behalten könnte und er etwas dazu beitragen müsste. Bloß nicht auf Yuuichirous Art und Weise.   Reale Vampire, das waren emotions- und regungslose Gestalten, in deren roten, toten Augen keine aufrichtige Regung zu finden war. Sie trugen steril weiße Uniformen und hausten in jener ebenso sterilen, dafür stockfinsteren Untergrundstadt. Selbst, wenn die Kinder dachten, sie hätten sich an den Anblick der Stadt gewöhnt, wachten sie morgens auf den harten Holzböden auf und sahen aus den steinernen Fenstern einen riesigen Komplex aus mittelalterlichen Bauten. Zumindest glichen sie den altertümlichen, europäischen Bauwerken, die die Kinder in den Büchern zu Gesicht bekommen hatten. Yuuichirou hatte kein Wort dafür gefunden, bis Mika den Stil als Gotik bezeichnet und sogar eine Menge darüber zu erzählen gehabt hatte. Vermutlich hatte er die Bezeichnung aus einem der Bücher aufgeschnappt, die man sich in einer Bibliothek ausleihen durfte. „Dann sind die Plagen wenigstens beschäftigt und still“, hatte eine der Garden abwertend gesagt. Wissen ohne praktischen Nutzen empfand Yuuichirou als unnötigen Ballast. All seine Gedanken waren ohnehin bloß auf Flucht und Hass ausgerichtet und solch unnötiges Wissen belastete bloß. Solange er das Gefühl hatte an diesem elendigen Ort zu ersticken, weil diese Monster ihnen die Freiheit und den Mut raubten und ganz langsam neben ihrem Blut ebenfalls alle Menschlichkeit aussaugten, konnte er ohnehin nichts davon aufnehmen.   „Ich will hier weg“, sprach er schließlich, wieder einmal, laut aus. „Draußen gibt es Monster. Hast du darüber schon nachgedacht? Wir haben sie mit eigenen Augen gesehen und wovon sollen wir uns ernähren? Es wird zwar eine Menge verlassener Supermärkte geben. Davon können wir vielleicht leben, aber… die Monster sind bestimmt immer noch da.“ Mika sah sich um, um sich sicherzugehen, dass die anderen Kinder im Haus waren. „Über sowas hab‘ ich noch nie nachgedacht“, musste Yuuichirou eingestehen und stieß ihn beleidigt an, als er in Gelächter verfiel.  „Und trink das“, fügte Mika hinzu. „Du wirst nichts anderes bekommen, nur weil du dich querstellst. Nicht damit. Du musst mit ihnen kooperieren.“ „Kooperieren“, wiederholte er und verdrehte die Augen. So eine dumme Aussage. Die wollte Mika ihm bloß mit einem dieser hochgestochenen Wörter schmackhaft machen. „Halt den Mund. Ich will sowas nicht hören.“ Unbeirrt fuhr er fort: „Die interessieren sich nicht dafür, ob du damit einverstanden oder bei Kräften bist. Die werden dir trotzdem regelmäßig dein Blut abzapfen.“ Yuuichirou verzog das Gesicht und quetschte den Beutel in seiner Hand, ehe er ausholte und ihn zu Boden werfen wollte. Ein fester Griff um sein Handgelenk hielt ihn davon ab. „Trink das.“ „Nein.“ „Doch.“ „Nein“, versuchte er lauter seinen Willen durchzubringen. „Du bist dumm.“ „Selbst!“ Er ließ von ihm ab. „Selbst? Das macht doch gar keinen Sinn. Ich hatte vernünftige Argumente.“ „Na und? Außerdem schmeckt mir das nicht“, widersprach er, behielt es aber in der Hand und führte den Beutel trotz allen Protests an seine Lippen. „Sei nicht so kindisch. Das schmeckt keinem von uns.“ Locker legte Mika einen Arm um seine Schultern und rückte etwas näher an ihn heran. Sowohl Mika wie auch Akane taten das öfter und er verstand nicht so recht weshalb. Letztes Mal war er etwas von Akane zurückgewichen, als sie bereits so nah war, dass ihre Haarsträhne an seiner Wange gekitzelt hatte. Berührungen waren ihm zuwider und Menschen, die ihm zu nahekamen, erst recht. Wozu sollte das auch gut sein? Bisher waren es seine eigenen Eltern gewesen, die ihn als Dämonenjungen betitelt und mit einem Messer attackiert hatten. Vor Mika jedoch rückte er nicht ab. „Yuu-chan, du wirst kein einziges Monster töten, wenn du davor zusammenbrichst“, sagte dieser und Yuuichirou lehnte sich ein kleines Stückchen in seine Richtung. Er verfluchte jedes rationale Argument, dem er nichts entgegnen konnte, und nahm angewidert einen weiteren Schluck. Wenn es denn wenigstens ekelhaft geschmeckt hätte. Selbst Wasser, soweit er sich erinnern konnte, besaß einen gewissen Geschmack, aber das…? „Monster kann man töten“, sagte Yuuichirou irgendwann. „Dafür wurden Waffen erfunden. Um sich gegen schlechte Menschen und solche Ungeheuer zu wehren.“ Sein Blick glitt von dem Beutel zu einer vorbeimarschierenden Garde, die den herumlümmelnden Kindern auf den Stiegen keines Blickes würdigte. Bestimmt interessierte sie sich auch nicht für Fantasierein kleiner Menschen, die aus deren Sicht ohnehin nicht viel mehr als Blutbanken waren. Die strahlend weißen Uniformen der Vampire leuchteten aus der ständigen Finsternis in Sanguinem heraus. Diese und die leuchtenden, roten Augen. Wie Blut. Nachts wurden die Lichter der Straßenlaternen zusätzlich gedämmt, sodass der Komplex aus unheimlichen, doch imposanten, Steinbauten in vollkommener Dunkelheit versank. Dann sah man bloß nur noch ein steriles, bedrohliches Weiß und Rot. Wie Raubtiere, die auf sie hinter jedem Eck lauerten. „Nicht gegen diese. Noch eher gegen die an der Oberfläche und außerdem hilft dir eine Waffe nicht, wenn du nicht geübt darin bist sie zu benutzen.“ „Blödsinn“, keifte er zurück. „Ich kann das lernen und die Monster draußen…“ „Sei nicht so laut. Die anderen sind vielleicht noch wach und hören dich. Außerdem, du weißt, die Wachen. Ich möchte keine Probleme bekommen.“ Nochmals drehte er sich zu beiden Seiten um. Aus der Tür kam keines der Kinder heraus und die Garde war bereits außer Sichtweite und verschwand in den verwinkelten Gassen. Schmale Wege schlängelten sich durch die Distrikte, in denen die Kinder meist zu einem guten Dutzend in spärlich eingerichteten Häusern zusammengepfercht waren. Wenigstens waren einige alte, klobige Straßenlaternen mit schwachem Licht an manchen Ecken und auf Brückenpfeilern aufgestellt. Die Distrikte säumten wiederrum das Schloss der Königin, das mit all seinem Prunk, den Marmorsäulen und pompösen Torbögen, den Kindern aufzeigte, wie machtlos sie waren. Es fühlte sich falsch an diese Ansicht noch zu bestaunen. „Und? Wieso?“ „Das möchte ich nicht. Zuerst müssen wir zusehen, dass wir alles Notwendige besprechen und regeln.“ „Bevor was?“, spornte Yuuichirou ihn an weiterzusprechen. Anstatt ihm zu antworten, zog Mika ihn auf und leitete ihn ins Haus. „Drinnen sag ich‘s dir.“ Der Stein unter seinen nackten Füßen war angenehm kalt. Er war manchmal einer der einzigen Sinneseindrücke, die auf die antriebslosen Kinder einwirkten. Kalte, von Steinen gepflasterte, Wege und harte Holzböden, auf denen man schlief. Zwischen manchen Fugen in den Wänden und Böden wuchs sogar Moos hervor. Es war weich und warm. Mit ein wenig kindlicher Fantasie wurde es zu Gras und rasch führten die Gedanken zu einer grünen Wiese unter warmem Sonnenlicht. In so einigen Ecken fand man Spinnen und anderes Ungeziefer. Die Kinder waren nicht mehr wählerisch, solange sie bloß irgendein anderes Lebewesen sahen, das sie an draußen erinnerte. Was auch immer ihn dort erwarten mochte, alles war besser als ein verschwendetes Leben zwischen Dämmerlicht und Dunkelheit und geschmackloser Flüssigkeit als Nahrung zu fristen. „Was ist?“, fragte Yuuichirou missmutig nach. Mika schloss die schwere, knarrende Tür hinter sich und fühlte sich frei genug, um vor den bereits schlafenden Kindern zu sprechen. „Manchmal bekommen wir zusätzliches Essen.“ „Von wo be…“ „Ich regle das schon.“ Er zog die Schulter ein und der Kragen des ärmellosen, weißen Hemdes, das aussah, als wären sie Insassen eines Gefängnisses, fiel über die zwei nadelähnlichen Einstiche an seinem Nacken. Yuuichirou sah sie bereits zu lange an, sodass er sich nervös darüber rieb und die Hand eine Weile an der Stelle beließ. „Lass das mir über und dann werden wir von hier flüchten. Wir werden uns draußen schon durchzuschlagen wissen. Die Vampire tragen Schwerter und besitzen einige von diesen altmodischen Pistolen. Ich habe welche in der Bibliothek gesehen. Damit können wir auch umzugehen lernen. Doch zuerst müssen wir von hier flüchten und dabei werden wir Waffen mitnehmen.“ Er versuchte Yuuichirou mit einem gewinnenden Lächeln zu überzeugen, was eher selten funktionieren wollte. Diesmal war es an ihm seine Hand wegzuschlagen und sie voller Zorn zu packen. Seine grünen Augen weiteten sich vor Schreck, als er endgültig zu verstehen schien. In seiner Mimik spiegelte sich alles an Zorn und Sorge wieder, was er nicht aussprach und wohl niemals ausgesprochen hätte. Stattdessen stieß er Mika weg und setzte einen Fausthieb hinterher, in dem nicht die gesamte Wut steckte, die er sah.   Mit einem angewiderten Schnauben drehte sich Yuuichirou von ihm weg und ließ ihn stehen, sah nach links und rechts, um zu sehen, ob die anderen Waisen erwacht waren und legte sich für diese Nacht in Koutas Nähe. Neben ihm lag ein offenes Buch, über dem er eingeschlafen war. Der Kleine lernte eben zu lesen, obwohl ohnehin keiner wusste wozu. Zur Hölle, er selbst konnte noch nicht einmal Kanji lesen. Hiragana, die lateinische Schrift und ein wenig Englisch waren ihm genug, denn wichtiger war es kämpfen und überleben zu lernen. Das konnte man gebrauchen. Yuuichirou drehte sich um und sah, dass sich Mika in ein anderes Eck verzogen hatte. Recht so. Er wollte gar nicht darüber nachdenken, was er gesehen hatte. Da griff er schließlich doch nach der Öllampe aus schwarzem Gusseisen, in der noch ein Feuer brannte und entzog Kouta vorsichtig das Buch. Was hatte er schon Besseres zu tun? Gelangweilt blätterte er über die Erklärungen, die in dem viel zu komplizierteren Kanjischriftsystem verfasst waren und der Junge erst recht nicht lesen konnte, bis er zu der Stelle kam, die Kouta mit farbenfrohen Lesezeichen aus zerrissenem Buntpapier versehen hatte. Glanzseiten voller Abbildungen von Landschaften und Naturphänomenen. Wälder, die er sehr lange nicht mehr mit eigenem Auge gesehen hatte, aber glaubte sich daran erinnern zu können wie deren sattes Grün aussah und wie sie nach süß-würzigen Zapfen dufteten. An manchen Tagen hatten seine Eltern tatsächlich Ausflüge mit ihm unternommen. Das waren ihre besseren Tage gewesen, an denen es ihnen geistig wieder gut gegangen war und solche, an denen sie ein normales Kind statt einen Dämonen in ihm sahen. Er versuchte zu vergessen und blätterte weiter in dem Buch vor und zurück. Die Abbildungen machten ihn schließlich vergessen und allmählich verstand er, weshalb Mika und einige der anderen Waisen so oft ihre Nasen in Bücher steckten. Zumindest ein wenig. Der alte, modrige Papiergeruch und das Geräusch des Umblätterns waren ihm ein Graus. Davon hatte er schon genug, von den Gerüchen an Moos, Stein und altes Papier. Etwas schien Kouta besonders zu faszinieren. Seiten voller selbstgebastelter Lesezeichen, die allesamt auf ein Kapitel über Polarlichter gesteckt waren und herausfielen, sobald er die Seiten aufblätterte. „Du machst es kaputt“, hörte er ein verschlafenes Jammern. Yuuichirou sah auf und sammelte die wild umherliegenden Streifen. „Tut mir leid. Ich richt‘ es dir nachher wieder, okay?“ „Ist gut. Sind ja nur Bilder.“ Die Kinderhand tappte auf ein Foto, auf dem sich durch die dunkle Nacht leuchtend bunte Schlieren zogen. Es sah beinahe unwirklich aus, als hätte es jemand gemalt, weil er davon träumte etwas Leuchtendes im schwarzen Himmel erblicken zu können. „Wenn du die Monster hier unten und dort oben besiegt hast, können wir überallhin fahren und vielleicht sehen wir sie dann.“ „Sicher“, ereiferte er sich sofort und begann allmählich selbst zu zweifeln.       Yuuichirous Erinnerung an die matten Lichter in der Dunkelheit von Sanguinem verblasste nicht. Die Finsternis folgte ihm und selbst, wenn er den weiten Himmel und das Sonnenlicht wiedergesehen hatte, so war er alleine gewesen. Er hatte seine Familie, die er endlich gefunden hatte, zum Sterben zurückgelassen und jede Nacht nahm der Dämon in seinem Schwert die Form der Kinder an. Besonders gerne mimte er Mika. Der verfluchte Dämon erkannte, dass er einen besonderen Stellenwert besaß, den sich Yuuichirou selbst nicht hatte erklären können. Es war schließlich seit dem ersten Tag im Heim an so gewesen und immer, wenn er über die Hyakuya-Waisen nachdachte und die Erinnerung wieder zu lebendig war, so dachte er stets über Mika und die anderen nach. Selbstverständlich waren sie ihm alle wichtig gewesen und dennoch …   An jenem Abend war Yuuichirou alleine geflohen. Und nun? Endlich erhielt er die Gelegenheit, um die anderen zu rächen und jedes Monster, das seinen Weg kreuzte, zu vernichten. Er hatte sich mit zwölf Jahren, blutüberströmt und traumatisiert, aber nicht realisierend, was da eben geschehen war, dem ersten Erwachsenen entgegengeworfen, der ihn im Schnee aufgegabelt hatte. Erst nach einigen Minuten, war die Kälte des Winters in seinen Körper gekrochen und er hatte den knirschenden Schnee unter seinen Füßen gespürt. Die einzige Lichtquelle am Himmel war ein strahlender und voller Mond gewesen. Das war nicht richtig so. Die anderen waren tot und er sollte nicht die frische Luft atmen und ein offenes Firmament sehen dürfen. Seine Vorstellung malte über den dunklen Himmel jene strahlenden Farben, die Kouta hatte sehen wollen. Der Schnee unter ihm färbte sich rot und es war noch nicht einmal sein eigenes Blut. Jemand hatte einen Mantel über den frierenden Jungen gelegt und Gurens Stimme war ihm noch im Gedächtnis: „Wenn du mit mir kommst, dann werde ich dir die Möglichkeit bieten sie zu töten. Alle. Das ist doch das, was du möchtest? Bei dem, was sie dir angetan haben?“ Irgendwo gab es wohl noch eine Zivilisation mit Erwachsenen, die Waffen bei sich trugen und in Militäruniformen gekleidet waren. Die konnten ihm seinen Wunsch verwirklichen. In der Ferne brannten, zwischen all den einsamen Ruinen und eingefallenen Hochhäusern Kyotos, noch von Menschenhand geschaffene Lichter. Yuuichirou umfasste die Mitte des jungen Mannes, an den er sich klammerte. Es gab noch Menschen – Erwachsene dazu – und die anderen durften sie nicht kennenlernen. Diese Ironie war so grausam, sie raubte ihm fast den Verstand. „Ich will die blutsaugenden Biester töten. Alle.“  Schließlich war es um so vieles leichter Hass in sich zu tragen als Trauer. Sie trieb ihn dazu an den nächsten Tag erleben zu wollen.   Dabei stellte sich in den Jahren heraus: Guren war ein Idiot und manchmal ein Mistkerl, wenn es nach Yuuichirou ging, aber gleichzeitig war er der erste Erwachsene, der sich nachts neben sein Bett setzte, wenn er wieder einmal von Albträumen geplagt wurde und tatsächlich zuhörte. Etwas, das wohl auch sonst keiner von ihm erwartet hätte und er dementsprechend verschwieg. Eigentlich waren die Waisenkinder seit jeher an ein eher schroffes Leben gewohnt gewesen und es war ihnen ein wenig leichter gefallen sich an die neue Situation anzupassen, als den Kindern nebenan, die aus einem geborgenen Elternhaus herausgerissen worden waren. Wahren Luxus kannte die Waisenkinder nicht; materieller und emotionaler Art. Bloß ein Funken an Zuneigung und Freundlichkeit eines Erwachsenen, wäre ihnen mehr wert gewesen, als ein täglich warmes Mittagessen auf dem Tisch. Vermutlich hatten die anderen Kinder etwas Zuwendung durch die Heimmutter erfahren. Yuuichirou hingegen hatte sie bloß einige Stunden gekannt, bevor sie ebenfalls dem Virus zum Opfer gefallen war – und es hatte ihn nicht interessiert sie näher kennenzulernen. Genauso wenig Interesse empfand er nun an seinen neuen Teamkameraden. Das war es, was er anfangs noch gedacht hatte. Guren war dahingegen der erste Erwachsene, der sich um sein Leben scherte, sich ernsthaft mit ihm befasste, wenigstens ab und an ein freundliches oder aufbauendes Wort für ihn übrighatte - selbst wenn es zwischen gespielter Gleichgültigkeit und Kälte verborgen war - und mit ihm trainierte. Irgendwann würde er dank Gurens Training dazu in der Lage sein jeden einzelnen dieser blutsaugenden Parasiten zu vernichten. Daher beschloss Yuuichirou, dass Guren seine Familie war und er ihm vertrauen und ihm gegenüber loyal sein würde. Ohne zu fragen und zu zögern. Selbst Gurens Lebensweisheit hatte sich in ihm eingebrannt. Bloß ein kleiner Satz, eine kleine Aufmunterung, die der Mentor dem damals verstörten Jungen mit auf den Weg gegeben und der ihm trotz allem geholfen hatte, sich weiter durch das Training zu beißen und die Albträume, die Asuramaru ihm bescherte, zu ertragen.   Yuuichirou schreckte aus einem Albtraum, der eigentlich eine Erinnerung war, hoch und fand sich in einem weichen Bett wieder, das er zu gerne gegen den harten Fußboden von damals eingetauscht hätte, wenn dies seine Familie ins Leben zurückholen hätte können. Das Licht ging an. „Was ist nun schon wieder?“  Yuuichirou hörte, wie Guren den Stuhl neben dem Bett verrückte und sich setzte. Da drehte er ihm den Rücken zu und zog die Decke höher. Die Tränen waren beschämend. „Nichts.“ „Dann halt den Mund und leg dich schlafen.“ Hatte er denn geschrien? „Das geht auch nicht.“ Guren grummelte etwas vor sich hin und schlug ein Buch auf. „Soll ich wieder darin lesen?“ „Ja. Nein.“ Die Tränen flossen und benässten den Kissenbezug. Als er schließlich ein Schluchzen unterdrückte, fühlte er sich ertappt. Da rückte Guren etwas vor und legte eine Hand auf seine Schulter. Bloß locker. Trost zu spenden war nicht seine größte Stärke. Yuuichirou blieb stur und weigerte sich immer noch umzudrehen. „Weißt du… Wenn es dir schwer fällt zu leben, dann sind wir uns vermutlich gar nicht so unähnlich. Dann solltest du weitermachen, bis du einen Grund findest zu leben.“   Daran hielt sich Yuuichirou. Solange man ihm die Möglichkeit gab zu kämpfen, zwang er sich zu leben. Es fühlte sich nicht nach einem Sinn an, doch zumindest trieb ihn der Gedanke daran Monster abzuschlachten morgens aus den Federn. Leider war er auch seinen Teamkameraden zu nahegekommen. Sie waren ebenfalls zu seiner Familie geworden – und es fühlte sich immer noch nicht sinngebend an.   Dann fand er inmitten einer Schlacht Mika wieder. Er war älter geworden, doch hatte sich sonst kaum verändert, selbst wenn die vier Jahren unter den Vampiren Mikas Optimismus zerstört hatten. Dieser war ohnehin eine Farce gewesen, um die Jüngeren aufzubauen, und Yuuichirou wusste das. Zuerst hatte Yuuichirou es nicht glauben können und eigentlich verstand er es immer noch nicht ganz. Erst recht nicht, dass ihm ein Vampir in einer dieser elendig steril-weißen Uniformen mit einem leuchtend roten Schwert gegenüberstand. Über diese Ereignisse war er natürlich nicht froh und erst recht nicht über die spitzen Eckzähne, die an jene eines Raubtieres erinnerten. Monster, hätte sein tiefliegender Hass bei jedem anderen Vampir gegrollt. Bei diesem war der alleinige Gedanke daran unmöglich. Bald wurde ihm bewusst, wie sich Mika selbst sah. „Monster kann man töten. Nicht nur die Vier Apokalyptischen Reiter. Auch solche“, sagte Mika später zwischen zwei Sätzen, als wäre so etwas auszusprechen selbstverständlich – und Yuuichirou verneinte vehement, weil er plötzlich darauf beharrte, dass nicht alle Vampire Monster seien. Zumindest nicht er. Der Hass, der ihn so lange antrieb, ebbte ab. Wenigstens konnte er mit ihm gemeinsam die Außenwelt wieder betrachten, unter freiem Himmel unter der Sonne stehen. Selbst, wenn sie auf eine zerstörte Welt schien. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)