Stand my ground von Melora ================================================================================ Kapitel 3: Living a lie -----------------------   Der Englischunterricht fand diesmal im Freien statt. Gerade in der Nähe des Tokyo-Towers gab es sehr viele englischsprachige Touristen – nicht nur das, auch jede Menge Ausländer. Die ausländische Population in Tokyo war besonders hoch, vor allem wegen der vielen Clubs in der Nähe. Gerade heute war das Wetter wunderschön und sie wollten einen Praxistest starten. Einige der Schüler waren viel zu schüchtern, als dass sie gewagt hätten, freiwillig ihre Englischkenntnisse an waschechten Ausländern zu testen. Mittlerweile hatte sich zwar der Himmel zugezogen, aber da für den Nachmittag ohnehin Regen gemeldet war, hatte so ziemlich jeder einen Schirm bei sich. Das juckte die Gruppe wenig. Sie sprachen beinahe todesmutig jeden in der Gegend an, der auch nur im entferntesten nach Ausländer aussah. Meistens bewiesen die Mädchen mehr Mut, als die Jungs. Sonoko hatte vor über einer Stunde eine Mail geschrieben, die Ran ignoriert hatte, da sie sich mitten im Unterricht – da noch im Klassenzimmer – befunden hatten. Mittlerweile hatte sie ihr Handy ausgepackt und machte auch ein paar Fotos von ihren Versuchen, mit fremden Menschen eine Konversation zu führen. Sie fragten so ziemlich jeden, ob sie ein Picture mit ihnen machen wollten. Gerade als es richtig dunkel wurde, rannte die kleine Gruppe, die ihren Lehrer regelrecht durch die Gegend zerrte, durch die Straßen. „Come on! That’s the best place ever“, sagte eine der Schülerinnen, dabei war sie richtig dreist und zog den Grauhaarigen erbarmungslos mit sich. Sie waren schon einige Kilometer gelaufen und er machte langsam ein wenig schlapp.   Ryan Taylor (50) [Englischlehrer an der Teitan Oberschule]   „Okay, okay! I surrender! Show me your skills“, sagte er und warf den Jungs ein paar aufmunternde Blicke zu. „Boys, you can do it too.“ Masumi Sera griff sich einen der Jungs und schubste ihn vorwärts. „Hier, da! Das nächste Opfer! Los trau dich!“ „Hilfe! Nein! Ich will nicht!“ Doch die Kurzhaarige hatte mit dem Jungen noch weniger Erbarmen als mit ihrem Englischlehrer und gab ihm einen richtig kräftigen Schubs. Nun gesellte sich auch Ran zu der Oberschülerin und griff nach seinem Jacken-Ärmel. „Don’t be silly! We will help you!“ Sie hielt sich an die Regeln – so ziemlich als die einzige, hatte sie seit gut einer Stunde nur Englisch gesprochen und nicht einmal Japanisch. „Let’s talk to that blond woman, come on!“ In Masumis Stimme war ein leicht schadenfroher Ton, weil der Junge sich so anstellte. Besagte Person achtete gerade nicht auf den Weg, sie lief also direkt in die kleine Schulgruppe hinein. „She looks familiar to our last English Teacher“, fiel einer Schwarzhaarigen auf und beobachtete die wunderschöne Frau einen Moment länger. Tomoya sträubte sich die elegant gekleidete Blondine anzusprechen, das war ihm doch viel zu peinlich.   Tomoya Odagiri (17) [Schüler an der Teitan Oberschule, Klasse 2B]   „Spinnt ihr? Nein! Ich werde sie garantiert nicht ansprechen! Macht ihr das doch! Wisst ihr überhaupt wer das ist?“ Erst durch die Frage warf Ran ihr einen genaueren, prüfenderen Blick zu. „Oh… It’s her!“ „What do you mean?” fragte Masumi Ran, die nun auf das konsequente Englisch einstieg. „Chris Vineyard! Don’t say, you never saw her before?“ Sie sahen einander an und der 17-jährige Junge begab sich leicht hinter sie. „Ich will sterben!“ sagte er und beide begannen zu lachen. „Oh, diese Schauspielerin… Was macht die denn hier?“ wunderten sich zwei andere Mädchen. „So! Whoever of you manage to get involved in a conversation with her for one minute, I’ll buy a piece of cake“, sagte der Lehrer, woraufhin alle leuchtende Augen bekamen, denn Kuchen war noch immer etwas Besonderes, was man nicht alltäglich bekam. „Cool“, meinte eine von den Mädchen und stürmte regelrecht hin, gefolgt von einigen anderen. Ran und Masumi amüsierten sich darüber. „Oh my – what should we ask her? She’s famous.” Sie ließen sich etwas mehr Zeit und stürmten nicht gleich hin wie die Irren. Wie wirkte das denn bitte? ‚ Oh wie peinlich! Gott, die Jungs…! Würdest du auch so hinrennen, Shinichi?’ fragte sie sich und schüttelte den Kopf. Ganz gewiss würde er das nicht tun. Erstens wär ihm das peinlich und zweitens war er in Amerika genauso gechillt gewesen – kein Wunder, seine Mutter war ja auch berühmt, da härtete man ab.   Sie war wieder fixiert aufs Handy, was sie gerade in ihre Handtasche verstaute und dann den Kopf hob, da stand eine Horde Schulkinder vor ihr und sie wirkte doch ein bisschen überrascht. Vor allem, als eine von ihnen sie dann ansprach. „Excuse me, Miss!“ machte diejenige den Anfang, die es als erstes geschafft hatte, an sie heranzukommen. „You are well known in my class. I am Yoshiko Narase. We welcome you to Japan. We came here for a……“, sie stockte, „for practise our english. Will you help me getting through the test? I beg you.” Man konnte ein leicht beeindrucktes Gesicht bei der 29-jährigen ausmachen, die nicht schlecht staunte über so viel Konversation. Die meisten Menschen, die sie hier getroffen hatte, hatten nach dem ~Excuse me~ sofort gefragt, ob sie Japanisch konnte, um sofort auf ihre Muttersprache umzusteigen. Sie staunte nicht schlecht, weshalb sie die mutige junge Dame anlächelte. „Of course, I do you that favor.“ Sie nahm ihre Sonnenbrille von der Nase, da es sowieso keine Sonne mehr am Himmel gab und sie überflüssig wirkte – sie trug sie auch nur zur Tarnung. Aber die Klasse hatte sie sowieso umzingelt, da sah sonst keiner sie. „I am Chris Vineyard, nice to meet you.“   Chris Vineyard (29) [Hollywood-Schauspielerin] Yoshiko Narase (17) [Schülerin an der Teitan Oberschule, Klasse 2B] „Nice to meet you too!“ erwiderte die Schülerin glücklich darüber, dass die Frau doch so freundlich war und ihr helfen wollte. „I thank you very much!“ Sie sprudelte beinahe über vor Glück und strahlte sie an. „Do you like Japan?“ „Oh yes, I like it very much! I have very much fun here.” „I am happy to hear… that… this??” Für einen Moment fühlte sie sich überfordert. „Both is correct. Only a matter how you use it“, erklärte der Lehrer und nickte der Dame zu. „Excuse our obtrusiveness“, entschuldigte sich der Amerikaner. „No problem. I like talking to normal people.“ Sie lächelte. „I mean, other people than media.“ Yoshiko versuchte sich zu sammeln, denn eine Minute hatte sie noch nicht geschafft. „Do they hunt you very much?“ „I have a bit more peace in Japan, don’t worry.“ „Yes. I hear the reporters in America are very rude”, meinte Yoshiko zu ihren Klassenkameradinnen. „Yes aweful!” Nun schubste eine andere Schülerin Yoshiko zur Seite und drängelte sich vor, was gar nicht nach Japanern aussah, die machten so etwas normalerweise nicht. „I saw your last movie in the cinema! What’s you favourite role?” fing sie an und eine weitere kämpfte sich nun auch vor. „My brother is a big fan of you! Can I have an autogram?“ „Oioioi – now you are overdoing it, ladies!“ meinte der Lehrer peinlich berührt über seine Schülerinnen, doch sie schienen gar nicht auf ihn hören zu wollen. Gerade waren sie richtig freaky… ‚Ach herrje, vielleicht sollte ich einen Fanclub in dieser Stadt aufmachen…’ Chris amüsierte sich köstlich über die sonst so wohlerzogenen Schüler, die immerzu brav waren. Es war ein Bild, was sich nicht oft in Japan bot. Disziplinierte Schüler, die ganz vergaßen, was sich gehörte. Sie fragten wild durcheinander irgendwelche Sachen und vergaßen sogar die Höflichkeitsformen, was aber auch kein Wunder war – Amerikaner waren nicht sonderlich freundlich, sie duzten jeden und benutzten kaum Höflichkeitsfloskeln. Aber man merkte auch leider, dass sie jung waren und gerade sich doch einen Spaß daraus machten, einfach so zu dürfen… Ohne Konsequenzen, oder? „You mean an autograph, not an autogram”, korrigierte Chris die Schülerin mit erhobenen Zeigefinger. „Oh, yes…“ Sofort lief die Schülerin hochrot an und traute sich gar nicht mehr, noch eine Antwort zu verlangen. „My favorite role…“, sie wirkte, als wenn sie wirklich nachdenken würde, ehe sie grinsend antwortete: „I think, I like spys the most.“ Ran beobachtete das Ganze nur aus sicherer Entfernung, hörte genau zu und sagte erst einmal nichts, außerdem war sie nicht so draufgängerisch, wie die anderen – das grenzte eher schon an Unverschämtheit – obwohl sie natürlich auch sehr forsch sein konnte. Gerade jetzt nicht, sie beließ es beim Beobachten. „How about guys? Do you have a boyfriend?“ schoss nun aus Masumi heraus – jetzt auch noch sie, unglaublich. „Oh, I was ask such a thing already today“, lachte die Blondine und blieb derjenigen eine Antwort schuldig. Sie war genauso geheimnisvoll und mysteriös, wie man ihr immer nachsagte… „Really?!“ brüllte der schüchterne Junge nun regelrecht los, was sofort allen auffiel. „How could she not?!“ „Du bist ein seltendämlicher Baka“, meinte Ran und gab ihm einen Katzenkopf. „So etwas macht man doch nicht!“ Es war das erste Mal, dass sie japanisch sprach, sie wüsste nicht, wie sie sich sonst hätte ausdrücken können. „You!“ Chris zeigte auf Ran. „What? Me?“ „Do you have an question too?“ Sie stand so abseits und sagte gar nichts, das wunderte sie schon, dabei kräuselten sich ihre Augenbrauen leicht und sie lief zu der Schülerin hin, was den Jungen doch etwas erschrocken zurückweichen ließ, weil sie auch auf ihn zulief. So aus direkter Nähe diese Frau da zu haben, löste dann doch Unbehagen in ihm aus, so dass er sich noch mehr hinter den Mädels versteckte. „Oh, I think, I am too shy to ask, what’s on my mind“, sagte Ran und wirkte dabei doch ein klein wenig verunsichert. Sie wusste wirklich nicht, ob sie solche Fragen stellen sollte… Vor allem, da alle zusahen. Sie senkte den Kopf. „It’s a very private question.“ „What could be more private than the boyfriend question?“ versuchte Chris das Mädchen zu lockern. Tomoya war verwundert, dass Ran, die sonst nicht auf den Mund gefallen war, sich nun so anstellen sollte, außerdem hatten sie ihn zwingen wollen. „Deine Frage kann kaum frecher sein als die der anderen“, seufzte er, „also stell dich mal nicht so an.“ „I am so curious.“ Chris konnte wirklich nicht an sich halten und fragte sich, was im Kopf dieses Mädchens vor sich ging. Welche schrecklichen Fragen stellte sie sich, die sie ihr nicht stellen konnte? „Well, all right“, gab sich Ran geschlagen und sah auf, direkt in die hellblauen Augen der Frau. „Do you miss your mom?“ Die Frage kam ruhig, aber doch ein wenig leise über die Lippen der 17-jährigen. Keiner verstand dieses Mädchen, verstand nicht, wieso sie so eine belanglose Frage stellte. Was sie dazu bewegte, aber es schien ihr wichtig zu sein, denn ihre Augen funkelten traurig. „Ran-chan… Daijoubu?“ fragte jetzt Masumi bestürzt, denn Ran wirkte, als wolle sie im nächsten Moment anfangen zu weinen. Chris war verstummt. Sie konnte im ersten Moment überhaupt nicht antworten, weil die Frage sie so von den Socken haute. Was wunderte sie das eigentlich? Aber es war eine so süße Frage und so typisch für die Schülerin, dass sie sie groß anschaute und dann doch einen Moment schluckte. Nicht zu antworten wäre gemein gewesen. Sie hatte nie gemein zu ihr sein wollen, nicht das kleinste bisschen. Einmal Luft holend, seufzte sie. „Let’s say… Everyone is missing her, or not?“ Was war das für eine merkwürdige Antwort? Sie verstand sich selbst nicht, wieso sie diese Frage so umschiffte. Weil es sich so schlecht anfühlte, zu lügen. „Everyone… But everyone would include you too.“ Warum konnte diese Frau nicht einfach ja sagen? Es zugeben? Sensibel sein? Anders als Sharon ihnen erzählt hatte? Es war etwas Widerspenstiges in Rans Gesicht. „I am not that important for this women.” Mit den Worten hatte Chris sich herumgedreht. Sie war geübt im Lügen – das tat sie fast täglich. Aber gerade ging das nicht. „Don’t turn your back on me“, sagte Ran und setzte sich in Bewegung, wenig später griff sie das Handgelenk der Blonden und versetzte ihre Klassenkameraden nicht nur in Erstaunen, sondern auch ein wenig in Entsetzen. Etwas ganz merkwürdiges ging da vor und keiner konnte und wollte es verstehen. „Just tell me the truth!“ Ran hatte wohl mächtig etwas dagegen, angelogen zu werden – tat Shinichi schließlich oft genug. „Why you can’t just say, you loved her and that you miss her?” „Is it this crucial to you?” Die Stimme der 29-jährigen klang ruhig, wurde aber begleitet von einem leichten Seufzen. Was für ein beschissener Moment! „I just… It’s hard to hear the bad news that you two were not getting along very well. That you didn’t saw each other for more than ten years. It’s hard. If my mother would…” Die Schauspielerin griff sich an den Kopf und seufzte erneut. „Oh, my old woman overdid it sometimes. You don’t have to give her words too many points. She was an old lady that could not open her heart very much. She has a very special place in your heart, right? That’s much more important, than if I miss her or not. For her it would be more important.” Ihre Hand hatte sich auf Rans Schulter gelegt, denn sie sah wirklich sehr verletzt und traurig aus, das gefiel ihr nicht. Mit den Worten hatte Chris einen Stein ins Rollen gebracht. Rans Mund verzog sich leicht und dann schluchzte sie auf. Sie hatte sich ihrer Tränen noch nie geschämt, auch nicht vor der gesamten Klasse, aber gerade hätte sie es nicht einmal zurückhalten können, wenn sie gewollt hätte. Ein Schweißtropfen lief der Blondine über die Wange und sie fragte sich wirklich, welche schrecklichen Dinge sie nun schon wieder getan hatte, um das hier zu verdienen… Die Schüler schauten nicht nur wegen der verwirrenden Szene zwischen den Beiden verwirrt drein, auch weil sie eins der Worte nicht kannten. „Ey, Masumi“, meinte Tomoya, der sowieso typisch Junge nicht so sensibel war und deswegen auch weniger Hemmungen hatte ausgerechnet jetzt eine Frage zu stellen. „Was heißt crucial eigentlich?“ „Ach, das ist ein Wort, was eine sehr hohe Wichtigkeit beschreibt. So etwas wie ganz besonders ~important~.“ „Achso? Und warum heult Ran jetzt?” „Unsensibler Klotz!“ Mit den Worten bekam Tomoya von Masumi die Faust auf den Kopf zu spüren. So etwas Beklopptes konnte doch nur ein Kerl fragen. Es war doch offensichtlich, dass Ran Chris Mutter gemocht hatte – deswegen weinte sie jetzt, weshalb denn sonst? Chris konnte das nicht mit ansehen. Sonst war sie doch auch nicht so sensibel, aber Ran war keine Person, wo sie Tränen allzu gut wegsteckte. Deswegen griff sie in ihre Handtasche und nahm ihr Taschentuch zur Hand. Mit diesem wischte sie ihr vorsichtig die Tränen weg. „Sweety, don’t cry. It would break her heart.” Ihre Worte waren absolut ehrlich, sie war ja geschockt von sich selbst, wie ehrlich sie war. Sie war sich der Gefahr bewusst, immerhin hatte sie ihre Mutter ja solange nicht gesehen und konnte das gar nicht wissen. Aber gerade kümmerte sie das überhaupt nicht. Sie wollte nur nicht, dass Ran nun richtig anfing zu weinen. Dass sie sensibel war, wusste sie ja, aber trotzdem musste das nicht sein. „I’m a crybaby, I know”, sagte das Mädchen, unfähig die Tränen zurückzuhalten, die jetzt aus ihren Augen zu kullern begannen. Einen kräftigen Atemzug später, schlossen sich Arme um das Mädchen und drückten sie gegen einen Körper. Ran öffnete die Augen und fand sich in einer Umarmung mit dieser Schauspielerin wieder, was sie verblüffte, aber jetzt auch wirklich tröstete. Zögerlich legten sich auch ihre Arme um die 29-jährige und nahmen die Trostspende an, dankbar sogar. Es war schön, vor allem war es schön, zu erfahren, dass diese Person gar nicht so schlecht sein konnte, wie man von ihr behauptete. Immerhin tröstete sie sie ja, oder? Nie hätte sie für möglich gehalten, dass so etwas wie gerade mal wirklich passieren würde. Sie waren beide emotional – sogar sie kannte Momente, wo dies auch ihr passierte, daher fand sie nicht schön, dass Ran sich eine Heulsuse nannte. Ihre starken Gefühle gegenüber diesem Mädchen hatten sie übermannt – zum wiederholten Mal brachte sie ihre Mauer zum Einsturz. Gerade heute musste sie sich eingestehen, verdammt sensibel zu sein – ach, sie hasste es. Aber nun diesem Mädchen die Kühle vorspielen, das wäre selbst für ihre Verhältnisse verdammt gemein gewesen. So oft hatte man sie fies und gemein genannt – sogar Sêiichî. Ach, wenn der sie jetzt gesehen hätte, würde er tagelang behaupten, dass er es ja immer gewusst hatte… Der Kerl erinnerte sie gern daran, dass er an ihr gutes herz glaubte, was ihr manchmal gegen den Strich ging, da sie sich die eigenen Schwächen nur sehr ungern ließ. Sie hatte vor langer Zeit versucht, diese auszumerzen, um ein neuer Mensch zu werden. Trotzdem gab es Menschen, die ihr dieses Spiel nicht abkauften und es belächelten. Der Lehrer wendete sich an seine Schüler. „Ach, wisst ihr was? Ihr wart so toll, dass ich euch allen einen Kuchen spendiere. Okay? Kommt!” „Und Ran?” wollte eine Klassenkameradin wissen, woraufhin er den Kopf schüttelte. „Die lassen wir einen Moment in Ruhe. Sie ist ja in besten Händen.“ Da er in Masumi eine gute Freundin von Ran vermutete, lächelte er ihr zu. „Du kannst sie ja dann zu uns bringen. Wir lassen uns im Poirot nieder.“ „Ist gut“, meinte Masumi mit einem Lächeln. Sie fand nicht schlimm, dass Ran weinte und verteufelte sie nicht. Sie war ein gutes Mädchen, was Shinichi wirklich verdiente… ‚Oh, this man have no clue. In besten Händen… Guter Witz… Wenn uns jemand sieht… Vor allem, wenn jemand mich so sieht… Ich denke besser nicht darüber nach. Jedenfalls würde das sehr hässlich enden… Für wen auch immer…’ Alles im Leben hatte Konsequenzen und sie glaubte ja wirklich nicht an Gott, aber wenn es einen verdammten Gott gab, dann sollte er verdammt noch mal gut auf seine Engel aufpassen. Wenn er ihr schon einen seiner Engel schickte, um sie zu retten, dann durfte er keinesfalls zulassen, dass einem von ihnen deswegen etwas zustieß. Sie glaubte, dass sie dann endgültig den Verstand verlieren würde. Man hörte das leise Schniefen von Ran, so dass Masumi ihr einen besorgten Blick schenkte, aber sie stellte fest, dass sie sich schon wieder ein bisschen beruhigt hatte. Die Oberschülerin drückte sich ein wenig weg von der 29-jährigen, dabei brachte sie aber nicht sonderlich viel Abstand zwischen sie, nur ein kleines bisschen. Sie wischte sich über die Augen. „Miss her very much…“, kam von ihr stockend, aber sie konnte nichts dagegen tun, dass diese Traurigkeit gerade jetzt aus ihr herausbrach. „... I met her only once.“ Gerade drehte sich alles in ihr um und sie überlegte fieberhaft, welche Worte sie verwenden sollte, um es für das arme Kind besser zu machen. Innerlich verfluchte sie sich selbst. Dass ihr Leben nicht anders verlaufen war. So dass sie ihr begegnen konnte, ohne dass das ein böses Nachspiel haben konnte. Ja, sie hatte Angst – etwas, was sie sehr selten verspürte. „She never left you…“, kam fast gehaucht von der Blonden. Worte, die sie sofort wieder bereute und am liebsten revidiert hätte. Am Ende war das allerdings genau das, was Ran hören wollte. Oder etwa nicht? „People go on living in our hearts. So keep the memory save in your heart, my dear. Then she will never leave you.” Masumi beobachtete die junge Frau, die ganz sanft mit Ran sprach. Diese Person – ihre Mutter – die musste mal wirklich wichtig für Shinichis Freundin gewesen sein, wenn sie das Ganze so emotional mitriss, dass die Andere versuchte ihr Trost zu spenden. Aber es stimmte… Menschen lebten weiter, in ihren Gedanken, in ihrem Herzen. Die 17-jährige verstand sich selbst nicht, denn nun stand sie hier und die Tränen wollten auch aus ihren Augen entweichen. Sie konnte Ran so gut verstehen. Jemand, der einem so wichtig war zu verlieren, war immer furchtbar. Ran versucht sich jetzt zusammenzureißen. Was Chris ihr sagte, klang im ersten Moment sehr merkwürdig, denn es veranlasste sie dazu, ihr tief in die Augen zu sehen. Da war nichts Boshaftes in ihr, nicht das Geringste in diesem Moment. „You are so kind, telling me such thing. I really thank you.“ Das Mädchen bemühte sich um ein Lächeln und nickte dann. „The last time I missed to take a photo… If I would have known…” Sie machte den Anschein gleich noch einmal anzufangen zu weinen, jedenfalls standen die Tränen erneut in ihren Augen. „This time I will not miss my chance…“ Die Dunkelhaarige griff noch einmal nach Chris' Arm und hielt sie fest, nahezu so, als wollte sie diese nie mehr gehen lassen. „What do you mean by that?“ Einen Moment lang setzte der Herzschlag der 29-jährigen aus. Sie hatte das Gefühl, dass sie einen großen Fehler gemacht hatte. Als wenn sie es bemerkt hatte. Was sah sie ihr auch so direkt in die Augen? Das klappte bei Sêiichî auch nie… Sie merkte schon, dass man sich an ihren Arm klammerte und sie überlegte, wie sie der Situation jetzt entfliehen konnte, in die sie sich selbst durch ihre Schusseligkeit hineinmanövriert hatte. Aufs Handy gestarrt hatte sie, wie eine Besessene, nur weil dieser Baka nicht antwortete… Nur deswegen war sie in die Schulgruppe hineingelaufen. „What I mean? That I will create an important memory together with you!” Fest entschlossen wirkte das Mädchen. „You won’t reject me, if I say, I want a photo, where we two be together, or not?” Oh my fucking god! Die brachte sie noch einmal um die Ecke. Das ging zu weit, sie wusste es ganz genau. Aber es gab viele berühmte Leute, die bei einer so herzerweichenden Bitte kaum nein sagen konnten. „I don’t want to see you crying again“, seufzte sie und lächelte. „Lets do it!” Ran wirkte überglücklich mit ihrem Lächeln und wischte sich schnell die restlichen Tränen aus dem Gesicht. „Masumi-chan? Willst du auch auf das Foto?“ „Öh?!“ Verwundert sah sie ihre Freundin an und fand ja eigentlich nicht, dass sie auf so ein Bild gehörte… „Oh, nein, besser nicht“, winkte sie ab. „But I can take the pic!“ Ein breites Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, so dass sie wenig später ihr Handy herauskramte. „Take your position!“ Chris legte ihre Hand auf Rans Schulter und zog sie ein kleines bisschen dichter zu sich heran. „Oh, very, very good… And no cheeeeeeeeeeese!“ Beide begannen augenblicklich zu lächeln und Ran, die ein kleines bisschen vor der Blondine stand, machte das Victory-Zeichen, während sie in die Handykamera strahlte. Masumi machte nicht nur ein Bild von beiden – sie sahen absolut süß zusammen aus. So wie… Ja doch, wie Geschwister – so etwas in der Art. Oder sollte sie sagen… Wie Mutter und Tochter? Nein, das ging zu weit. Aber die junge Frau wirkte sehr, als würden ihre Gefühle in Richtung einer Mutter für das Mädchen gehen. Das war schon spuky. Es wunderte sie jedoch nicht. Die wenigsten mochten Ran nicht, die grub sich einfach in jedes Herz, sogar in ihres. Masumi sah sich ihre Werke an und grinste zufrieden. „Ihr seht herzallerliebst zusammen aus! Ich schick sie dir rüber, Ran-chan!“ „Can I see them?“ fragte die Blondine und Masumi hielt der Schauspielerin ihr Handy unter die Nase. Es war erschreckend – so zu sehen, wie glücklich sie beide aussahen. Ihr gefiel, was sie sah, auch wenn es bloß Bilder waren, sie strahlten große Emotionen aus. „Schön. Aber fortan will ich dich nicht mehr weinen sehen, Angel.“ Verwundert über das gute Japanisch sah Masumi die Blondine an und wunderte sich schon ein bisschen. „Ich pass auf, dass sie nicht wieder heult!“ Masumi legte den Arm um Ran und grinste so breit, dass ihre süßen Vampir-Zähnchen hervorstachen. „Versprochen.“ „We are happy, to have met you. We are really lucky”, meinte Masumi jetzt und beide verbeugten sich ein bisschen. Typische japanische Art und Weise der Dankbarkeit. „You’re welcome.“ „Take good care of yourself. The world can be dangerous”, sagte Masumi und Ran blickte zu ihr – sie sagte exakt, was sie auch dachte. „Oh, don’t worry about me. Bad weeds grow tall!” kam von der Blonden mit einem Lachen, mit welchem sie einfach nur einen lockeren Spruch reißen wollte. „The same goes for you! Try to be home, when it’s dark. Don’t run around in the darkness alone, right?” „Oh, don’t worry, Chris!” Ran nahm Karatestellung ein. „I can defend myself!” „I see…” Die Schauspielerin wollte es jedoch nicht darauf belassen. „Even if you can. Try to don’t get into risky situations. Do me that favor.” „We are big girls. Nothing will happen to us. Ne?” Sie lächelten beide und die Blonde musste das so hinnehmen, auch wenn es ihr nicht gefiel, wie sie das Ganze beschwichtigen. Sie würde ihn noch einmal darum bitten, ganz besonders gut aufzupassen. Das stand fest. „I will go now. Greets to your friends, you two. Goodbye.” „Bye bye!” Beide winkten wie wild und strahlten übers gesamte Gesicht, ehe sich die Blondine zum Gehen abwendete und dann davon lief. Während sie davonging, erlosch das Lächeln in Rans Gesicht und es spiegelte sich echte Sorge in ihrem Gesicht wider. „Be careful…“, flüsterte sie, dabei hatte sie das Gefühl von einem Déjà-vu. So etwas hatte sie schon einmal gespürt… Damals… Aus irgendeinem Grund machte sie sich Sorgen. Konnte sich das aber nicht direkt erklären… „Abgefahren“, sagte Masumi noch, hatte aber Rans Worte durchaus vernommen. „Alles gut bei dir?“ Erschrocken blickte die Schülerin zu ihrer Freundin. „Klar, alles gut. Ich habe diesmal alles richtig gemacht!“ Beide machten sich auf den Weg zu ihrer Klasse, die bereits losgegangen war. „Schade, dass sie nicht mit ins Poirot gegangen ist, oder? Eine furchtbar nette Person.“ Masumi nickte und schaute sich noch einmal nach hinten um… „Irgendwie ganz anders als die Leute immerzu von ihr sagen. Schon merkwürdig.“   Chris seufzte mehrmals langgezogen. „Was habe ich da getrieben bitte? Hab ich sie eigentlich noch alle?“ Aber als sie so darüber nachdachte, musste sie irgendwie anfangen zu lachen. „Das sind ja ganz schöne Früchtchen. Ich wünschte, dass ich solche Kinder hätte, die eine solche Unbeschwertheit an den Tag legen könnten.“   Miwako nahm Sêiichî unterdessen in die Mangel. Sie schimpfte furchtbar über sein Verhalten und versuchte ihm ins Gewissen zu reden. Er stand einfach nur da, ließ mit dem Zeigefinger auf sich zeigen und sich anmaulen. Er wusste ja selbst, dass es nicht richtig gewesen war, also ließ er die Schande über sich ergehen. Sie war ja so gesehen seine Chefin und es wäre gelogen, dass es das erste Mal war, dass er von einer Frau rund gemacht wurde. Weiß Gott schlimmeres hatte er mit Frauen erlebt, als dass sie ihn anschnauzten und wie ein kleines Kind behandelten. Er hatte eine Neigung zu merkwürdigen Frauenzimmern… Unter anderem Frauen, die auch mal austeilten… Miwako war definitiv ein toughes Weibchen, das ihren Mann stehen konnte – das machte sie seiner Liebsten sehr ähnlich. Dann waren da Frauen, die nicht scheuten auch einmal auf ihn einzuprügeln, wenn es ihnen reichte – da war die Polizistin also mehr als erträglich. Gerade erinnerte er sich daran, wie eine von denen ihm mal auf dem Nachhauseweg aufgelauert hatte, um ihn zur Rede zu stellen. Und als seine Antwort ihr nicht genügte, hatte sie zugeschlagen. Nicht nur einmal. Was machte ihm da das Gemaule? „Haben Sie das jetzt verstanden? So etwas will ich nie mehr sehen.“ „Ja, habe ich.“ „Was geht nur in Ihrem Kopf vor sich?“ Tja – das wusste wohl keiner so genau. Sêiichî konnte es dieser Frau nicht erklären. Sie würde nie verstehen, weshalb er manchmal so drastisch war. Wataru, der auf der Suche nach Sêiichî gewesen war – ja sogar mehrmals angerufen hatte er ihn – aber er war nicht dran gegangen – lief eigentlich eher zufällig den Beiden über den Weg. Sie waren nicht weit entfernt vom Tatort gewesen, da Sêiichî ja eigentlich die Anwohner befragen wollte. Als er Miwako erblickte, beschleunigte er und gelangte schließlich bei ihnen an. Sie standen vor Miwakos Auto und in diesem saß der Verbrecher in Handschellen. Kurz sah er ins Innere und bemerkte dann die Ernsthaftigkeit der beiden Personen. „Was ist denn hier los?“ Vor allem Sêiichîs gesenktes Haupt war ihm aufgefallen… „Oh, du bist es, Wataru“, erkannte Miwako und lächelte jetzt – bisher hatte sie todernst ausgesehen. „Was hat der da drinnen verbrochen?“ „Ein schlichter Dieb.“ Die Kriminalistin stemmte die Hände in die Hüften. „Und warum steht ihr hier so? Solltest du den nicht ins Präsidium mitnehmen?“ „Ich hatte ein Hühnchen mit ihm hier zu rupfen.“ Die Dunkelhaarige deutete auf Sêiichî, der aussah wie ein gerügtes Kind. „Was hat er angestellt?“ wollte der Braunhaarige sofort wissen, weil er eben von Natur aus neugierig war. „Weil er seine Waffe eingesetzt hat, wo es unnötig war. Das kann ich ihm nicht durchgehen lassen.“ Ein schweres Seufzen entkam Wataru, während er sich durchs Gesicht fuhr. „Sei nicht so hart mit ihm. Wahrscheinlich hat er die Gefahr zu hoch eingeschätzt. Sêi-chan hatte es schon oft mit üblen Verbrechern zu tun, Miwako“, versuchte er seinen Kollegen zu verteidigen. „Schon gut… Du musst meine Handlungen nicht rechtfertigen. Obwohl es natürlich nett von dir ist.“ Sêiichî drehte sich herum und lehnte sich an Miwakos Auto, dabei seufzte er jetzt selbst. „Er war wirklich nicht gefährlich… Ich wollte ihn etwas erschrecken, damit er nie wieder jemanden mit einem Messer bedroht.“ „Mit einem Messer? Na, so harmlos war der dann wohl doch nicht, oder?“ Ein mürrischer Blick fiel ins Auto – also leid tat es ihm bestimmt nicht, wenn jemand ein Messer auf ihn gerichtet hatte. „Er hat die Waffe an den Kopf des Typen gehalten. Das ist ein bisschen zu krass, findest du nicht?“ Dazu konnte Wataru wenig sagen – es klang nicht schön, nein. „Hast du ihn gefragt, wieso er so was getan hat? Vielleicht solltest du das?“ „Ach – und du möchtest meine Methoden in Frage stellen?“ Sêiichî drehte sich zu ihnen, denn sie schienen gerade in Streitlaune geraten. „Leute – nicht doch! Ist schon okay. Sie hatte Recht.” „Ich will, dass sie wenigstens nachfragt, warum du so was machst. Sie kennt dich ja nicht so wie ich dich kenne.“ „Was soll das denn bitte heißen? Macht er so etwas etwa öfter?“ Bestürzt klang die junge Frau und warf Sêiichî einen scharfen Blick zu, den er mit einem leicht verstimmten Blick erwiderte. „Ich lege solche Methoden öfter an den Tag, das stimmt wohl. Meine Kollegen in Osaka waren auch nicht ohne, da geht es heiß her. Vielleicht mache ich das deswegen…“ „Oh, dann gewöhnen Sie sich so was aber bitte schnell ab! So was dulde ich nicht, verstanden?“ Sie fauchte ihn richtig an und Wataru fand es einfach nicht gut, dass sie ihn so anfauchte, ohne seine Geschichte zu kennen. „Lass gut sein, Wataru“, meinte der Schwarzhaarige mit bittendem Blick, denn er hatte nicht das Gefühl, es würde seine Lage verbessern. „Ich finde gut, dass er sich nicht scheut seine Waffe zu benutzen. Solange er nicht willkürlich auf jemanden schießt… Oder etwa nicht? Ich will nicht, dass du ihn so anmaulst, nur weil du was falsch verstehst. Vielleicht ist er manchmal komisch, aber er würde nie abdrücken ohne triftigen Grund!“ Ihr Verlobter war heute ganz schön beharrlich, das kannte sie so an ihm nicht wirklich, weshalb es sie verwunderte, dass dieses Verhalten ausgerechnet bei Iwamoto sichtbar wurde. „Was soll der Blödsinn? So etwas kann er woanders machen, aber nicht bei mir! Megure bat mich darum, dass ich ein Auge auf ihn habe. Ich versuche meine Aufgabe sinngemäß zu erfüllen. Solange er mir untersteht, werde ich ihn so behandeln, wenn er etwas tut, was mir missfällt. Ob es dir passt, oder nicht, nur weil er dein Freund ist.“ „Ja, mein Freund. Er ist mein Freund, der mir mal durch seine verrückte Art das Leben gerettet hat. DESWEGEN! Hätte ich damals nur halb so viel Mumm gehabt, wie er…“  Der junge Mann knabberte wohl immer noch daran, was Sêiichî jetzt endlich kapierte, nachdem Wataru es gesagt hatte. „Hey, das ist lang her… Du willst dich ja nicht immer noch schlecht deswegen fühlen, oder? Mir ist ja nichts Schlimmes passiert…“ Sêiichî griff Watarus Schultern und sah ihm eindringlich ins Gesicht. Er wollte nicht, dass er wegen so etwas ein schlechtes Gewissen hatte. „Bedenke nur, wer das gewesen ist. Da ist es doch nur natürlich, dass man sich scheut.“ „Heute würde ich abdrücken.“ Miwako schaute zwischen beiden hin und her. „Nur über meine Leiche würde der noch mal einen Freund von mir niederschießen. Dem würde ich es geben.“ Der Kriminalist war davon überzeugt, dass es diesmal anders verlaufen würde. „Sag nicht so was… Will ich nicht erleben. Eine Situation, so wie damals…” Miwako wunderte sich schon sehr darüber, was die Beiden sprachen. „Was für eine schreckliche Person ist das, dass du auf denjenigen schießen würdest?“ Ein bisschen fürchtete sich die Frau vor der Antwort, aber sie kam nicht umhin diese Frage zu stellen, weil es sie sonst beschäftigen würde. „Was ist denn damals vorgefallen?“ Wataru blickte zu Boden, wobei ein äußerst ärgerlicher Blick seine Miene zierte. „Ein schrecklicher Mensch, der sowohl die Polizei, als auch Frauen verachtet, Miwako. Er würde uns alle ohne mit der Wimper zu zucken über den Haufen schießen, dabei würde er wahrscheinlich noch anfangen zu lachen. Diese Person verdient nicht, dass man sie verschont. Er wollte eigentlich damals mich treffen, aber getroffen hat es dann ihn… Weil ich mich ja scheuen musste, meine Waffe zu ziehen.“ „Du warst 20 – Polizeischüler – und vorsichtig in dem, was du getan hast. Keiner sieht gern, wenn Polizeischüler einfach so eine Waffe benutzen und jemanden vielleicht noch schwer verletzen.“ „Mag sein. Aber jetzt – sollte er jemals der Meinung sein, unseren Weg erneut zu kreuzen, bin ich darauf vorbereitet und er wird einen würdigen Gegner antreffen. Einen, dem er keine Angst mehr einjagt.“ Mit einem Seitenblick schenkte er Sêiichî ein Lächeln. „Diesmal würde ich dich beschützen.“ „Unfug. Das musst du nicht. Mittlerweile würde ich schneller meine Waffe ziehen und ihn entwaffnen. Außerdem möchte ich nicht sehen, wie du auf ihn schießt.“ Ihm lief ein Schweißtropfen über die Schläfe. Wenn Wataru ihm alleine gegenüberstehen würde, dann war es okay. Aber auch nur dann. Allerdings sollte er nicht auf ihn schießen, wenn er es verhindern konnte. „Was redet ihr da? Wieso soll Wataru nicht auf einen Verbrecher schießen? Wenn der so gefährlich ist, dass er eine Lebensgefahr für andere darstellt? Dann muss er das sogar. Du bist echt ein komischer Kerl, Iwamoto!“ „Weil er sein Vater ist“, murmelte der Angesprochene und damit schockierte er nicht nur Wataru, sondern auch Miwako. „Wir müssen gehen, Sêiichî“, sagte er, nahm seinen Freund am Handgelenk und zog ihn mit. „Tut mir Leid, Miwako, wir haben zu tun. Ich nehme ihn mit…“ Daraufhin ließen sie die schockierte Frau stehen. Sie fasste es nicht, dass er jetzt wegrannte. Was war das denn bitte für ein Verhalten? Schämte er sich? Hatte er das vor ihr verheimlichen wollen?   Zornig lief Wataru neben Sêiichî her. „Was sollte der Scheiß denn? Du kannst ihr das doch nicht einfach so sagen, man!“ ärgerte er sich, aber es war passiert und man konnte es nicht rückgängig machen. „Vielleicht fand ich es ja doof, dass du dieser Frau das vorenthältst… Ich dachte nicht, dass es allzu furchtbar wäre, wenn sie es weiß! Es ist doch hirnrissig. Diese Frau verkraftet das schon“, meinte er, was Wataru nur wütender machte, aber er ließ es nicht an ihm aus, man sah nur an seinen Gesichtszügen, wie sehr ihn ärgerte, dass Miwako nun so etwas wusste. „Was regt dich so auf an der Sache? Kannst du mir das vielleicht begreiflich machen?“ „Ich will nicht, dass sie meinen Vater kennt! Nichts von ihm! Er existiert nicht!“ Damit fauchte Wataru ihn nun doch an, aber Sêiichî war ja keiner, der das nicht verkraftete. „Ich wollte sie davor verschonen… Mir wäre lieber gewesen, sie hätte es nie erfahren. Dass mein Vater verschwunden und nie mehr aufgekreuzt ist, klingt besser, als dass er ein Verbrecher ist. Ein unwürdiges Etwas, was sich an Schwachen vergreift. Bestimmt wird sie nun Details wissen wollen. Arg!“ Der Kriminalist fürchtete sich ganz besonders davor, dass sie erfuhr, welche Verbrechen dieser Mann begangen hatte. Nicht, dass er ein Verbrecher war, war schlimm, sondern seine Taten. Außerdem stammte er von ihm ab – davon wollte er nie etwas hören… So lange Zeit hatte er verdrängt, dass sein Vater Menschen qualvoll tötete und ihnen andere Grausamkeiten antat, die kein Mensch sich anmaßen sollte… „Der Person, die man liebt, sollte man so etwas aber nicht vorenthalten“, meinte der Schwarzhaarige ein wenig trotzig. „Du leidest noch heute darunter, das weiß ich. Weil du ihn nicht verstehen kannst. Du brauchst jemanden, mit dem du dieses Leid teilen kannst. Wieso nicht mit der Frau, die du liebst!? Welche Person wäre besser geeignet als sie? Du kannst das nicht immerzu in dich hineinfressen und keinen an dich ranlassen. Es ist falsch.“ Sêiichî verstand, was in Wataru vorging – er konnte ihn wie kaum ein anderer verstehen, seine Gefühle nachvollziehen. In seiner Verwandtschaft gab es ja schließlich auch so einen Kandidaten, den er verabscheute…   „Ich verstehe dich ja, aber Miwako wirkt nicht so zerbrechlich, dass man ihr so etwas nicht antun kann! Du solltest dir überlegen, mit ihr dieses Thema noch mal aufzugreifen. Und dann lässt du dich gefälligst von ihr in die Arme nehmen, Mensch! Glaub mir, sie wird genau das tun…“ „Ach – und du erzählst deiner Freundin von deinem Bruder, der Frauen vergewaltigt? Im Ernst, Sêiichî?!“ „Tja – ich habe mir eine Frau gesucht, die das verkraften kann. Und ja, tue ich. Beziehungsweise, habe ich. Sie weiß von ihm… Und eines sage ich dir, bei ihr hätte er keinen Erfolg. Die würde den Kerl auseinandernehmen, wenn er das bei ihr probiert.“ „Solange sie nicht dich auseinandernimmt“, meinte Wataru jetzt ein wenig beruhigter. Obwohl er ihm böse war, dass er so voreilig dieses Thema angeschnitten hatte, verstand er auch, was er meinte. „Ich werde wohl mit ihr reden müssen. Sie wird es nicht dabei belassen. Nun will sie alles wissen. So ein Mensch ist Miwako.“ Etwas Ähnliches hatte Sêiichî sich gedacht, immerhin war diese Frau eine toughe Polizistin. „Versuche bloß nicht, ihr etwas zu verheimlichen. Das macht sie am Ende nur sauer. Es wäre auch besser, wenn du nicht darauf wartest, bis sie es anspricht. Glaub mir einfach, es kommt besser, wenn du sie zuerst darauf ansprichst, um ihr Antworten zu geben. Frauen mögen es nicht, wenn sie Antworten hinterher rennen.“ „Wir beide haben viele Geheimnisse, nicht wahr, Sêiichî?“ seufzte Wataru und blickte bekümmert drein. „Was würdest du tun, wenn ich deine Geheimnisse ihr verrate? Das würdest du auch nicht toll finden, oder? Natürlich sind deine Geheimnisse bei mir sicher. Denn deine sind verhängnisvoller als meine.“ Der Schwarzhaarige blickte zu Boden. „Takeshi Akaja weiß es… So viel Schlimmes könnte mir nicht passieren. Miwako würde wahrscheinlich ablehnen mit mir zu arbeiten, das würde sehr viel Stress machen…“ „Keine Sorge, ich weiß, dass sie es nicht verstehen könnte, irgendwie...“ „Glaub mir – manchmal verstehe ich es auch nicht.“ Es war in seiner Lächerlichkeit kaum zu überbieten, denn manchmal fragte er sich wirklich, was ihn vor knapp sechs Jahren eigentlich gebissen hatte – wahrscheinlich war’s der jugendliche Leichtsinn gewesen. So genau konnte er das jetzt nicht mehr sagen. Aber was passiert war, das war eben passiert – keiner konnte es rückgängig machen. Damals hatte er so vieles einfach angenommen, was sich am Ende als falsch erwiesen hatte. Trotzdem gab es Dinge in seinem Leben, die andere wiederum auch nicht nachvollziehen könnten. Sachen, wo er sagen würde, dass er sie nicht bereuen konnte, obwohl sie schlimmer Natur waren… „Dein Handy gibt Töne von sich“, meinte Wataru jetzt, so dass Sêiichî nun doch einen Blick riskierte. Er sah aufs Display und seufzte dann. „Oh man – ich war beschäftigt.“ Er blieb stehen, denn im Laufen tippte es sich nicht so gut. ~Ich war beschäftigt, sorry. Dienstschluss erst um 22 Uhr. Wenn du nichts vorhast, kannst du mir ja den Feierabend versüßen, Darling.~ Wataru hatte beiläufig einen Blick auf das Handy seines Freundes werfen können. „So so, Liebesschnulz gibt’s also auch in deinem Leben.“ Das wunderte ihn jetzt schon, weshalb er ihn einfach damit necken musste. „Habe ich dir gar nicht zugetraut.“ „Oh – uns beiden muss man alles zutrauen.“ Der Schwarzhaarige lachte auf, wobei das Lachen doch etwas spöttisch klang. „Keine Ahnung, was im hübschen Köpfchen dieser Frau wieder vor sich geht. Vielleicht denkt die, ich faulenze im Büro oder so.“ Sêiichî wusste ja nicht, dass sie ihn gesehen hatte… und ihre Nachricht lange vorher abgesendet worden war. „Solltest uns mal bekannt machen. Es interessiert mich wirklich sehr, wie sie so ist. Immerhin schafft sie es sogar, dass du dich entschuldigst, weil du ihr nicht eher geschrieben hast. Dabei ist die Nachricht kaum zwei Stunden her. Ich habe mal eine Mail am nächsten Tag beantwortet, ohne gleich mich zu entschuldigen. Was ist bei euch bloß vorgefallen, dass du dich gleich entschuldigst?“ „Weil sie sich Sorgen macht, wenn ich ihr nicht schnell genug zurück schreibe. Das liegt nicht daran, dass sie Kontrollzwang hat“, Sêiichî rollte mit den Augen, „obwohl doch, genau das. Aber bin selbst schuld. Das letzte Mal, dass ich mich Stunden nicht meldete, lag ich halbtot in einem Graben.  Seitdem antworte ich immer ziemlich schnell, sonst denkt die noch, ich bin tot.“ „Du musst immer den Helden spielen…“ ‚Nein, Wataru. Beim letzten Mal hatte das nichts damit zu tun. Da war nur jemand der Meinung, ich habe auf dieser Welt nichts verloren…’ Den Gedanken versuchte er schnell zu verdrängen. Sie hatten es mit merkwürdigen Leuten zu tun – leider war der Großteil von Hass und Neid angetrieben.  Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)