50 % von Shirokura ================================================================================ Kapitel 1: Herzlose Eltern und herzlose Puppen ---------------------------------------------- Die Wahrscheinlichkeit, ohne Penis auf die Welt zu kommen, liegt bei ungefähr 50 %. Minpha war noch nie ein Glückskind gewesen. Traurig zog er sich die überweite Kapuze seines pinken Hoodies über den Kopf und ein kleines Seufzen entkam seinen Lippen. Er fühlte sich nicht wohl in seine Haut. Warum hatte ihn die Natur nicht ein wenig eindeutiger formen können? Was sollte er denn mit dem Teil zwischen seinen Beinen, wenn er doch aussah wie ein Mädchen? Egal, was er anzog, alle fanden ihn nur süß und niedlich. Schon als Kind hatte ihn keiner für einen Jungen gehalten. Da hatten auch all die blauen Sachen, die man ihm anzog, sehr zum Leidwesen seiner Eltern, nicht geholfen. Pünktlich mit seiner Pubertät hatte Minpha dann begonnen, gegen das Rollenmodel, das sie ihm aufzwingen wollten, zu rebellieren. War in Mädchenuniform zur Schule gegangen, hatte begonnen, seine Haare wachsen zu lassen und zu färben. Das war nirgendwo auf Begeisterung gestoßen. Zu Hause nicht, bei Lehrern nicht und bei Klassenkameraden ebenso wenig. Als sie ihn nach der Schule das erste Mal krankenhausreif geprügelt hatten, hatten ihn seine Eltern erst einen Tag später dort besucht. Er hatte es ja schließlich darauf angelegt, so zugerichtet zu werden, also bräuchte er auch nicht mit Mitleid zu rechnen. So war es dann weiter gegangen. Je ablehnender sie ihm begegnet waren, umso weiter hatte er es auf die Spitze getrieben, bis sie ihn mit seiner Volljährigkeit auf die Straße gesetzt hatten. Er kam allein klar, so war es nicht. Sie unterstützten ihn auch finanziell, ob er wollte oder nicht, aber trotzdem hatte es verdammt weh getan. Das tat es noch immer. Irgendwie. Aber zu ihnen zurück zu gehen, kam nicht in Frage. Nicht, so lange sie ihn nicht akzeptierten. Er machte sich nun mal gern zurecht, fand sich am Hübschesten, wenn ihm ein zuckersüßes, pinkes Prinzesschen aus dem Spiegel entgegen blickte. Und wenn schon?! Er war ihr Sohn, verdammt. Sie hätten ihn unterstützen müssen. Sie hätten ihm vermitteln müssen, dass er richtig war, so wie er war. Das er seinen Weg finden würde. Das er wertvoll war. Doch genau das hatten sie nicht getan. Genauso wenig wie alle anderen. Minpha fühlte sich nicht zugehörig. Nirgendwo. Die Jungs wollten ihn nicht, weil er zu pink war. Die Mädchen wollten ihn nicht, weil er einen Penis hatte. Und wirklich eine Frau werden wollte er auch nicht. Es graute ihm vor dem Gedanken, sich chirurgisch zu Brüsten verhelfen zu lassen oder gar seinen Unterleib entsprechend umformen zu lassen. Warum war er nur nicht einfach als Mädchen geboren worden? Dann wäre alles perfekt gewesen... Doch so, wie er war, zerrten alle an ihm rum. Schubsten ihn entweder Richtung Mädchen oder Richtung Junge. Was er denn mit Frauen wolle, wo er doch so offensichtlich schwul war? Kein Mann zog sich schließlich so an, wenn er nicht bei Typen laden wollte. Warum er sich keinen BH ausstopfen wolle? Nur ein klein wenig? Dann wäre die Illusion perfekt. Warum er keine hohen Absätze trug? Dann wäre er gleich viel größer. Warum er sich die Haare nicht schnitt und schwarz färbte, weil er dann bestimmt doch irgendwie als Junge durchgehen würde? Wenn er nur Hosen trüge, würde das schon werden. Überhaupt schien jeder auf der Welt eine Meinung dazu zu haben, wie leicht seine Identitätskrise zu bewältigen wäre. Niemand kam auf die Idee, ihn einfach in Ruhe zu lassen. Oder gar zu lieben. Dabei sehnte sich Minpha so nach Geborgenheit in dieser für ihn so schwierigen Zeit, aber es schien eine unlösbare Aufgabe, jemanden wirklich für sich zu begeistern. Klar, einen Fan für die Nacht zu finden, war kein Problem. Die meisten Mädels und Jungs, die ihn auf den Konzerten anhimmelten, waren schon nackt, wenn er nur mit dem Finger schnippte. Das er keinen Hehl aus seiner Bisexualität machte, war übrigens eine weitere Eigenart, für die ihn seine Eltern verachten. Er merkte erst, dass er düster vor sich hin stierte, als Koichis Stimme ihn aus seinen Gedanken riss. "Alles in Ordnung, Engelchen?", fragte dieser leise und musterte Minpha kritisch. "Ja. Alles gut", log er automatisch. Koichis feine Augenbrauen zogen sich augenblicklich nach oben. Er mochte es nicht, belogen zu werden, was Minpha eigentlich sehr genau wusste. "Sicher?", hakte er nach. Der Jüngere nickte scheu und sah demonstrativ weiter den Anime. Zumindest starrte er auf den Bildschirm, nahm jedoch gar nicht wirklich wahr, was sich dort abspielte. Zu sehr war er in seine schlechte Laune vertieft. Gelegentlich huschte sein Blick zu Koichi, der entspannt in Jogginghosen und Bandshirt neben ihm lümmelte. Seine langen, rosa Haare hatte er zu einem Knoten zusammen gefasst. Minpha mochte den Älteren sehr. Sie waren sich so ähnlich. Wie Brüder im Geiste. Zunächst waren sie nur wegen der Offensichtlichsten ihrer Gemeinsamkeiten zueinander hingezogen worden: Ihrer Vorliebe für eine gewisse Farbe. Für ein Bild miteinander. Zwei hinreißende Bassistinnen mit pinken Haaren, die eigentlich Jungs waren. Noch dazu war Minpha so entsetzlich viel kleiner als Koichi, dass man sie tatsächlich für Geschwister halten könnte. Es hatte Spaß gemacht, miteinander Bilder zu machen und schnell hatten sie weitere Schnittmengen gefunden. Inzwischen war Minpha Koichis Freundschaft unendlich kostbar, wusste dieser doch immer, was ihn bewegte, konnte immer verstehen, warum er wie reagierte. Bei ihm konnte er er selbst sein, ohne sich genieren zu müssen, was er so eigentlich gar nicht kannte. Er war sehr schweigsam geworden mit den Jahren, da er nach vielen sehr schmerzhaften Erfahrungen, irgendwann das meiste von sich, so gut es ging, in sich eingesperrt hatte. Immer wieder als gestört und ekelhaft bezeichnet und verstoßen zu werden, war einfach zu schmerzhaft geworden. Was blieb, war die hübsche, pinke Püppchen-Oberfläche, die er noch bereit war, zu zeigen. Der Rest blieb unter Verschluss. Zwar konnte er sich, Dank des Visual Kei, zumindest stylen, wie er wollte, aber das war dann auch schon alles. Noch immer wurde er viel zu oft wegen seines Aussehens dumm angemacht und so war er zu dem stillem, oft ärgerlichen, jungen Mann geworden, der er heute war. Niemand außer Koichi wusste auch nur annähernd, was in ihm vorging. Und er war dem Älteren so wahnsinnig dankbar, dass er so viel Zeit mit ihm verbrachte. Es war schön, endlich jemanden zu haben, der einem ähnlich war, der einen nicht ansah, als wäre man verrückt, wenn man Dinge aussprach, die einen beschäftigten. Und so sammelte er langsam Mut, um das Thema anzuschneiden, dass ihn nun schon seit ein paar Tagen beschäftigte.   "Koi-Chan?", fragte er leise, als der Abspann lief. "Ja?" Sofort wandte sich der Ältere ihm zu. Nichts als Wärme lag in seinem Blick, was Minpha die Kraft gab, in Worte zu fassen, was ihm auf der Seele lag: "Bist du gern ein Mann?" Überrascht riss Koichi seine Augen auf, um dann jedoch ernst zu antworten: "Meistens schon. Warum fragst du?" Minpha stieß Luft aus und sah dann anklagend in seine Körpermitte. "Ich weiß nicht... Ich glaube, ich nicht besonders... All die Kleider, die pinken Sachen... Das passt doch gar nicht zusammen..." "Wärst du lieber eine Frau?" "Ich weiß nicht. Manchmal." "Wann?" "Wenn mich keiner haben will. Ich bin kein Junge, ich bin kein Mädchen. Was bin ich?" Koichi stupste dem Kleinen auf die Nase, die dieser sofort kraus zog. "Du bist Minpha." "Was heißt das schon?" "Das musst du selbst raus finden." "Aber das ist so schwierig." "Ich weiß, Engelchen, aber ich kann es dir leider nicht abnehmen." Seine von Bassspielen rauen Fingerkuppen strichen über Minphas Handrücken. "Ich will wie ein Junge aussehen. Oder so bleiben und ein Mädchen sein", maulte der Jüngere. Koichi seufzte. "Aber du magst doch gar keine Jungssachen. Sogar hier, zu Hause vor dem Fernseher, trägst du ein Röckchen." "Vielleicht ist das nur so, weil die mich so gemacht haben. Wenn ich nicht mit den Bands angefangen hätte, wäre ich vielleicht ganz normal." Er sah deutlichen Widerstand im Blick seines besten Freundes, doch der hielt sich nicht damit auf, Minpha zu widersprechen, sondern drang, wie es nun Mal seine Art war, direkt zum Kern der Sache vor: "Engelchen, was ist denn passiert?" Minpha sah betreten auf seine Füße, die in süßen, pink gepunkteten Ballerinas steckten. Immer merkte Koichi, dass er ihm etwas verheimlichte. Woher, das war Minpha ein Rätsel, auch wenn der Ältere ihn immer wieder darauf hinwies, dass man ihm jede Gefühlsregung im Gesicht ablesen konnte. Wenn das wirklich so war, mussten doch all die Menschen, die ihm zusetzten, auch sehen, dass es ihn verletzte. Oder bemerkten sie das tatsächlich und es war ihnen einfach nur scheißegal, was er fühlte? "Wir waren gestern Abend auf einer Party und da war so ein Mädchen. Sie war total süß und wir haben rumgeknutscht, ich dachte, wir würden... du weißt schon. Wir waren schon im Hotelzimmer und ich hatte nur noch eine Shorts an. Sie fummelte sogar darin rum, aber plötzlich stand sie auf und zog sich wieder an. Sie hätte sich geirrt, sie sei definitiv lesbisch und könne noch nicht einmal etwas mit Männern wie mir anfangen. Dann ist sie gegangen." Ohne ein Wort nahm Koichi ihn in den Arm. "Warum kann ich nicht normal sein?", flüsterte Minpha leise an seiner Brust. "Engelchen..." Der Ältere klang traurig und streichelte Minphas Kopf durch die Kapuze. "Ich werde nie jemanden finden, werde für immer eine Attraktion für unsere Fans bleiben. Welcher normale Mann wird denn von einem Fan entjungfert? Ich habe meine Unschuld auf Tour an eine Fremde verloren. Das ist lächerlich. Ich bin armselig", murrte er und wand sich aus der Umarmung. Er war so unzufrieden, dass es weh tat. "Hat es dir denn keinen Spaß gemacht?", fragte Koichi mit schräg gelegtem Kopf. "Es war ok." "Aber irgendwann hattest du doch bestimmt schon guten Sex?" "Ja, aber ist schon länger her." "Warum? Keine Zeit?" "Ich will jemanden kennen lernen. Keinen Fan. Ich will zu jemandem gehen können, egal was ist. Jemandem vertrauen können. Sachen zusammen ausprobieren. Ich möchte nicht jedes Mal Angst haben, dass ich beim Sex heimlich gefilmt werde." "Du willst eine Beziehung?" "Schätze schon." Verdrießlich spielte er mit seinen Haaren. Koichi dagegen blinzelte ihn aufmunternd an. "Das ist doch schön." "Schon, aber ich werde nie jemanden finden", beharrte Minpha schmollend. "Natürlich wirst du das. Du bist wundervoll." Sehnsüchtig sah er Koichi an. "Warum kannst du es nicht sein?", fragte er den Älteren trotzig, der seine Finger unter Minphas Kapuze gleiten ließ und ihm das Haar verwuschelte. "Das weißt du ganz genau." Minpha seufzte. Natürlich wusste er das. Zu lebhaft war noch die Erinnerung, als er sich dem Älteren, geflutet vom Adrenalin eines Lives, an den Hals geworfen hatte. Das Küssen war ja noch ganz geil gewesen, aber als es ans Eingemachte ging, hatte bei beiden Flaute geherrscht. Hatten sie doch das alles eher lustig, als sexy gefunden und auch partout keinen hochbekommen vor lauter Gekicher und Gekabbel. Schließlich hatten sie beschlossen, den Quatsch zu lassen und einfach schlafen zu gehen. "Wie soll ich denn jemanden kennen lernen? Auf Arbeit darf ich nicht sprechen und danach bin ich immer so müde… Es ist hoffnungslos… Und außerdem sind immer alle erschrocken, wenn sie merken, dass ich kein Mädchen bin. Ist das wirklich so unglaublich?" Koichi kniff sein linkes Auge ein wenig zusammen. Ein sicheres Zeichen dafür, dass er nicht antworten wollte. "Für viele schon." "Aber viele in der Szene haben ein Puppengesicht und laufen in Mädchenklamotten rum und haben trotzdem richtige Freundinnen. Oder Freunde. Das kotzt mich so an! Was stimmt nicht mit mir?! Warum sind immer alle so Scheiße zu mir? Als ob ich wirklich eine Puppe ohne Herz wäre!" Unzufrieden verschränkte er die Arme. "Engelchen… Sei nicht wütend… Sie sind nun mal so. Lass dir nichts gefallen und halte aus. Irgendwann wirst du jemanden finden." "Und wann?", fragte Minpha, der sich irgendwo zwischen Wut und Verzweiflung befand. Wieder entwich dem Älteren ein Seufzen und er zog ihn zurück in seine Arme. "Ich weiß es nicht, aber ich hoffe bald." Minpha wünschte sich aus ganzem Herzen, dass Koichi recht hatte. Er fühlte sich so einsam. Hatte ihn doch nicht einmal seine Familie akzeptieren können, wie er war, weil sie sich für ihn geschämt hatten. Es war so bitter. Nicht einmal seine eigenen Eltern liebten ihn. Wie sollte es da jemand anderes tun? Schnell versuchte er den Gedanken zu verdrängen, schmiegte sich fest an die Brust seines besten Freundes und ließ sich von dessen langsamen Herzschlag beruhigen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)