Die Prinzessinnen von New York von Kaname-chan (Another romantic version) ================================================================================ Kapitel 1: Eins --------------- Gerade erst fuhr einer der großen Züge aus dem Westen in den Bahnhof New Yorks ein. Neuankömmlinge, Angehörige reicher Familien, die von Besuchen ihrer Verwandtschaft zurückkehrten und diejenigen, die als Letztes aus den Waggongs stiegen - Reisende dritter Klasse, die ihr Glück in der schnell wachsenden Stadt versuchen wollten, weil Amerika es ihnen nicht leicht gemacht hatte. New York war im Wandel, aber die verschiedenen Schichten waren auch hier immer spürbar. Mister und Misses Thompson gehörten zur oberen Schicht und waren die Ersten, die aus dem Zug stiegen. „Endlich wieder fester Boden unter den Füßen“, meinte die schlanke Dame und sah den Angestellten dabei zu, wie sie das Gepäck aus dem Abteil hoben und auf die Kutsche luden, die für die Familie bereit stand. „Wir haben doch schon zuvor längere Reisen unternommen“, erwiderte ihr Ehemann, rückte seine Melone zurecht und besah sich die Anlage. Er war gespannt, wie es hier für seine Geschäfte laufen würde. Gebürtig kamen er und seine Frau aus Chicago. Dort war es ihnen gut gegangen, aber wenn man etwas erreichen wollte, das hatte ihm sein Vater immer gepredigt, musste man hart arbeiten. Auf einer Stelle stehen zu bleiben wäre falsch. So also hatten sie Illinois hinter sich gelassen und waren mitsamt Hab und Gut nach New York gekommen. Hier würde er ein weiteres Geschäft eröffnen und das Beste hoffen. Es war der Sommer 1899 und Matthew Thompson war guter Dinge. Schon heute Abend waren sie auf eine Abendgesellschaft eingeladen. Dort würde er die ersten Kontakte knüpfen und zukünftige Kunden werben. „Die Kutsche ist jetzt bereit“, sagte eine der Zofen, die sie aus ihrem alten Haus mitgenommen hatten, und er wandte seinen Blick von der großen Lok ab, die gerade zur Abfahrt bereit gemacht wurde. „Nun, dann sollten wir uns auf den Weg in unser neues Zuhause machen“, meinte er zu ihr. „Sir, Ihre Tochter ist noch nicht zu uns gestoßen“, erwiderte diese und seine Frau blickte sich empört zu ihr um. „Wo steckt dieses Kind schon wieder? Vor dem Halt hat sie noch bei uns gestanden.“ Er lächelte hinter seinem blonden Schnauzbart und achtete darauf, dass seine Frau es nicht sah. „Was stehst du noch hier herum? Geh sie suchen!“, zischte Dorothea und die Zofe entschuldigte sich knicksend. „Dorothy, es sind viele neue Eindrücke und Chicago war von Geburt an ihre Heimat. Ihr wird es schwer fallen das alles hinter sich zu lassen.“ „Kein Grund unsere Weiterreise zu verzögern. Sie weiß, dass wir noch viel zu erledigen haben. Es ziemt sich nicht, gleich bei der ersten Einladung zu spät zu erscheinen.“ „Wir liegen im Zeitplan“, beruhigte er sie, warf einen Blick auf seine alte Taschenuhr und bot ihr den Arm, um ihr in die Kutsche zu helfen, „Und kommen wir nicht als Erste, ist uns die Aufmerksamkeit der Anderen gewiss.“ „Sie ist kein kleines Kind mehr. Und, hör auf, sie ständig zu verteidigen!“ Dorothea hatte sich in all den Jahren nicht verändert. Sie mochte nichtstandesgemäßes Verhalten nicht und das ihrer Tochter schon gar nicht. Diese hatte von klein auf immer die besten Lehrer für Manieren, Tanz und Lehrstoff gehabt und wusste es richtig einzusetzen, sie tat es nur leider zu selten. In Chicago hatte ihr Vater sie ständig beschützt, aber hier in New York würde sie das nicht zulassen. Matthew würde genug mit dem Ausbau seines Geschäftes zu tun haben, sodass sie sich intensiv um die Erziehung ihrer Tochter kümmern konnte. Ihr schwarzes Haar glänzte in der Sonne und sie spannte ihren kleinen Schirm auf, weil die Strahlen sie blendeten. Der Schatten dessen verhärtete ihre strengen Gesichtszüge nur noch mehr. Die Zofe kehrte ein wenig außer Atem zurück, ihre Tochter im Schlepptau. „Fahren wir“, meinte Matthew und half auch seiner Tochter hinauf, die während der Fahrt durch die Straßen New Yorks jeglichen Blick auf ihre Mutter vermied. Sie seufzte hin und wieder und vermisste bereits jetzt die Weite Chicagos.   Der laue Abendwind trieb den Duft des salzigen Wassers auf die Terrasse des Anwesens der Schoonmakers, auf der sich Henry aufhielt. Er war vor Penelope Hayes geflüchtet und drückte sich, ein Glas Whiskey in der Hand, in eine der dunklen Nischen. Vor ungefähr zwei Stunden hatte er sich heimlich davonmachen wollen, war allerdings seinem Vater in die Hände gefallen, auf dessen Geheiß festlich eingekleidet und auf den Ball geschleift worden. William Sackhouse Schoonmaker gab diesen Ball, um neue Stimmen vorzuwerben. Er hatte sich doch tatsächlich in den Kopf gesetzt, in die Politik zu gehen. Diesem Mann war jedes Mittel recht um an noch mehr Macht zu kommen. Henry kam in dieser Hinsicht so gar nicht nach ihm und war darüber nicht im Geringsten traurig. Jemand stieß mit einem Glas an das seine und versteckte sich mit ihm in den Schatten. „Ich wusste, ich würde dich hier finden“, begann der junge Mann, „Lass mich raten,… du flüchtest vor Miss Hayes?!“ „Teddy! Gott sei Dank. Ich hatte schon geglaubt, sie hätte mich entdeckt.“ Sein bester Freund trank einen Schluck Bourbon und lächelte dann. „Nein, aber du solltest dir besser ein neues Versteck zulegen. Es wird nicht lange dauern, dann wird sie auch hier suchen. Eben hat sie sich bereits in der Nähe aufgehalten.“ Henry stöhnte auf. „Sag mir, wenn ich mich irre, aber hast du nicht noch vor wenigen Tagen gesagt, sie wäre amüsant?“ „Möglich. Aber sie ist einfach nur noch wie jede Andere.“ Beide sahen kurz in den Saal und ließen ihre Blicke über die vielen kichernden jungen Damen schweifen, die sich über all diese belanglosen Dinge unterhielten. Henry war es leid. Erst taten sie alle als würden sie keusch leben, nur um sich ihm dann im Schutze der Dunkelheit an den Hals zu werfen und mit sich taten ließen, was er wollte. Penelope war ihm anders vorgekommen. Sie war jetzt 18, eine Schönheit mit dunklem Haar und einer wirklich aufreizenden Figur, aber… Auch sie hatte jeglichen Reiz verloren, nachdem er sich einmal vernünftig mit ihr hatte unterhalten wollen. Er hatte gern Spaß, aber ein Mädchen, das sich nur für Intrigen, Geld und Macht interessierte, brauchte er nicht. „Ich hörte“, meinte nun Teddy, der es längst aufgegeben hatte seinem Freund von der schönen Zukunft mit Frau und Kindern vorzuschwärmen, weil es ja doch keinen Sinn machte, „dass dein Vater noch ein paar Gäste aus einem anderen Staat erwartet.“ Er erinnerte sich dunkel an ein paar solcher Worte, als er vorhin auf diesen Ball zu gehen genötigt worden war. „Irgendjemand, der hier ein neues Geschäft aufziehen möchte. Aber ich habe nicht richtig zugehört, weil es wieder mit einer ausschweifenden Rede über die Industrialisierung New Yorks endete.“ Er verdrehte theatralisch die Augen und nippte an seinem Glas, nur um enttäuscht festzustellen, dass es bereits leer war. Teddy nickte wissend. Auch er war bereits Zeuge einer solchen Ansprache geworden und glaubte sich zu erinnern, dass es am Ende gar nicht so spannend gewesen war, wie es der ältere der Schoonmaker-Männer angepriesen hatte. Die Musik im Saal wurde leiser und verstummte dann gänzlich. „Nun, wir werden es wohl jeden Moment erfahren…“ Sie stahlen sich aus ihrem Versteck und begaben sich langsam zur Empfangshalle. Bedacht auf jeden Schritt, um der jungen Miss Hayes nicht zu begegnen.   „Mister und Misses Matthew Thompson und ihre Tochter, Miss Emma Thompson“, verkündete ein schmaler Herr am bogenförmigen Eingang zum Tanzsaal, der in einen eng anliegenden Frack gekleidet war, während ein Anderer ihr die Stola von den Schultern nahm. Aller Augen wandten sich ihren Eltern zu, die von einem großen Herrn begrüßt wurden. Hierbei schien es sich um den Gastgeber zu handeln. Sein Gesicht war von roten Flecken gezeichnet, ein deutliches Anzeichen für häufige Wutausbrüche, und ein schwarzer Bart kräuselte sich über sein rosa Kinn. Sein Haar - definitiv gefärbt - war tintenschwarz. Und doch erkannte sie feine aristokratische Gesichtszüge und freute sich überraschenderweise darauf, seine Bekanntschaft zu machen. Eine junge blonde Frau stand neben ihm, wunderschön anzusehen und in ein hübsches roséfarbenes Kleid gehüllt. Sie wirkte wie eine Fee. Emma schätzte sie auf Mitte Zwanzig. „Miss Thompson, es freut mich auch Sie in unserem Heim begrüßen zu können. Mein Name ist William Schoonmaker. Dies hier ist meine Frau, Isabell. Eigentlich müsste auch mein Sohn Henry hier irgendwo sein, aber…“ Ihn schien es nicht sonderlich zu überraschen, dass sein Sprössling nicht anwesend war. Es kam wohl öfter vor und sie nahm an, dass er es aufgegeben hatte, sich über seinen Sohn aufzuregen, da dieser sein Verhalten nicht überdenken würde. Wahrscheinlich hatte er auch wegen ihm so viele rote Flecken, die ihn zeichneten. „Hier, Vater. Sie haben mich gesucht?“ Sie erhob sich aus ihrem Knicks und blickte kurz zu dem hinzu gestoßenen Herrn auf. Er sah aus wie sein Vater, zumindest was die Gesichtszüge und das schwarze Haar betraf, aber er war schmaler und seine Augen - ein klein wenig größer als die seines Vaters - schienen als würde er daraus schelmisch lächeln. Emma wandte sich wieder William zu und antwortete: „Ich danke Ihnen sehr für die Einladung und fühle mich geschmeichelt, dass Sie mich persönlich so herzlich begrüßen.“ „Es ist eine schöne Gelegenheit, Sie und Ihre Eltern kennen zu lernen. Und außerdem ist es Ihnen dadurch möglich, sich Ihren künftigen Nachbarn und Freunden vorzustellen.“ Sie lächelte leicht und machte noch einen Knicks. Er bot seiner Frau den Arm und gab den Musikern ein Zeichen, wieder zu spielen. Sie folgte ihren Eltern und kümmerte sich nicht um all die Blicke. Es war klar, dass man sie heute Abend anstarren würde. Sie waren neu in der Stadt, kamen von weit her. Einem anderen Staat aus dem großen Land mit den unbegrenzten Möglichkeiten. Ihr Blick fiel auf eine junge Frau mit dunklem Haar und blitzenden Augen. Das feuerrote Kleid ließ sie noch stärker aus der Masse hervortreten und dann erst bemerkte sie, dass der Sohn ihres Gastgebers an ihrer Seite aufgetaucht war. „Möchten Sie vielleicht ein paar der Gäste kennen lernen?“, fragte er und seine Stimme war warm, während sein Mund ein wenig spöttisch wirkte, „Ich kann Sie gern herumführen und vorstellen.“ Ein paar junge Damen seufzten auf, doch er überging diese Reaktion gekonnt. Er war sich seiner Wirkung auf die Damenwelt durchaus bewusst und schien es normalerweise sehr zu genießen. Und genau das war es, was sie vorsichtig werden ließ. Mit abschätzendem Blick sah sie zu ihm auf. „Das wird nicht nötig sein“, antwortete sie ihm, erntete damit einige erschrockene Laute der eben noch seufzenden Mädchen, und fuhr unbeeindruckt fort: „Ich bin mir sicher, Sie haben noch einige angenehmere Verpflichtungen an diesem Abend, Mr. Schoonmaker. Daran möchte ich Sie wirklich nicht hindern.“ Sie neigte ihren Kopf und schritt mit raschelndem Kleid davon.   Er konnte sich nicht rühren. Es war das erste Mal, dass man ihn zurückgewiesen hatte. Mit solch einer Reaktion hatte er wahrlich nicht gerechnet. Als er sie das erste Mal im Torbogen erblickt hatte, war er sich so sicher gewesen, dass sie sich über seine Gesellschaft freuen würde. Ihre helle Porzellanhaut, das kastanienbraune Haar, die großen bernsteinfarbenen Augen, die ihn sofort fesselten; der fein geschnittene Mund mit diesen weichen Lippen, die er zu gern berührt und geküsst hätte und dann diese atemberaubende Figur in dem dunkelgrünen Kleid mit dem schwarzen Spitzenbesatz. Doch als er zur Begrüßung erschienen war und sie sich sofort wieder seinem Vater zuwandte, hatte er bereits erkannt, dass sie nicht leicht zu knacken war. Entweder war sie wirklich nicht interessiert - was er für ausgeschlossen hielt - oder aber sie gab sich absichtlich so abweisend, damit er glaubte, sie sei nicht leicht zu haben. Ein schmaler Arm hakte sich bei ihm ein. „Kommen Sie, Henry, ich werde Sie entführen. Dieser Ball ist doch wirklich nichts für Sie“, säuselte Penelope und fuhr, vor anderer Augen unbemerkt, mit ihren Fingern über seinen Arm. „Ich weiß etwas, dass Ihnen mehr Spaß bereiten wird.“ Noch immer mit dem Gefühl belastet von Emma Thompson verschmäht worden zu sein, ließ er sich von Penelope mitziehen und vergnügte sich an diesem Abend mit ihr.   Er bereute den gestrigen Abend bereits. Eigentlich hatte er sich vor dieser machtbesessenen jungen Dame verstecken wollen und war ihr gestern doch wieder ins Netz gegangen. Er schob es auf seinen verletzten Stolz. Dass man ihn so zurückwies, hätte er nicht gedacht. Doch machte es Emma gleich noch interessanter. Vielleicht war genau das ihr Plan gewesen. Er hatte sie immer mal wieder beobachtet. Und Teddy hatte ihm erzählt, dass sie keinen einzigen Tanz wahrgenommen hatte. Jeden Junggesellen hatte sie vertröstet oder entschuldigend fortgeschickt. Sie hatte es auf ihre Müdigkeit geschoben, die lange Anreise aus Chicago. Heute würde es ein Pferderennen für wohltätige Zwecke geben, ein Ereignis, das sich die Thompsons sicher nicht entgehen lassen würden. Und diese Chance würde er besser nutzen. Noch einmal würde sie ihn nicht zurückweisen.   Auf der Rennbahn war mehr los als gewöhnlich. Teddy hatte sich einen der sicheren Plätze auf der Tribüne gesucht, wo er den besten Blick auf das Geschehen hatte. Er war sich sicher, dass Henry ihn hier finden würde. Ein paar Damen lächelten und nickten ihm zu, während sie an ihm vorüber gingen. Er indessen prostete ihnen freundlich zu. Seitdem er als Reedereierbe Edward ‘Teddy’ Cutting bekannt war, war auch sein Beliebtheitsgrad gestiegen. Er bildete sich darauf nichts ein, weil er einfach zu jeder Person nett war, egal, ob er sie leiden konnte oder nicht. Obwohl Letzteres nicht oft vorkam. Er sah in fast jedem Menschen die positiven Seiten und konzentrierte sich auf diese. Dann fiel sein Blick auf Emma Thompson, die auch heute wieder sehr hübsch aussah, in einem hellen Kleid und mit weißem Hut, der mit blauem Schleifenband befestigt war. Sie schien etwas oder jemanden zu suchen und er winkte sie zu sich hinüber, als sich ihre Blicke begegneten. „Entschuldigen Sie, dass ich Sie so herüber zitiere, aber kann ich Ihnen vielleicht behilflich sein, Miss Thompson?“, fragte er freundlich und sie seufzte erleichtert, als sie zu ihm hinaufsah. „Das wäre wirklich sehr nett von Ihnen. Von dort oben haben Sie doch sicher einen besseren Blick. Würde es Ihnen etwas ausmachen, sich nach meinen Eltern umzusehen? Ich habe sie hier irgendwo aus den Augen verloren, Mister…“ „Cutting. Edward Cutting, aber jeder nennt mich Teddy. Wir wurden einander gestern leider nicht vorgestellt. Aber ich helfe Ihnen gern, lassen Sie mich sehen…“ Sie lächelte ihm dankbar entgegen. „Meine Mutter trägt einen roten Hut mit…nun, ich weiß nicht genau, was es sein soll, aber Sie werden sicher wissen, was ich meine, wenn Sie ihn sehen.“ „Roter Hut… roter Hut. …Ah, ich glaube, das ist sie. Ja, eindeutig, der Mann neben ihr ist Ihr Vater, kein Zweifel. Gehen Sie einfach noch zwei Meter in diese Richtung. Dann werden Sie sie nicht verfehlen.“ „Haben Sie vielen Dank, Mister Cutting. Es hat mich sehr gefreut, Sie kennen zu lernen.“ „Ganz meinerseits. Wir werden einander sicher noch öfter über den Weg laufen.“ „Nicht auszuschließen, wo meine Familie und ich jetzt hier wohnen.“ Sie lachte leise und verabschiedete sich dann. „Was habt ihr miteinander geredet?“, fragte plötzlich Henry und er erschrak. „Schleich dich doch nicht so an… Sie hat ihre Eltern gesucht, die sie bei dem ganzen Gedränge aus den Augen verloren hatte. Ich habe von hier oben mehr sehen können. Siehst du?“ Er deutete in nördliche Richtung, wo Emma gerade bei ihren Eltern eintraf und sofort einigen Leuten vorgestellt wurde, die bei ihnen standen. „Eifersüchtig? So kenne ich dich gar nicht, mein Freund.“ „Ich bin nicht eifersüchtig. Es ist mir nur unbegreiflich, warum sie gestern so abweisend reagiert hat.“ „Sie ist neu hier, vielleicht solltest du ihr ein wenig Zeit zur Eingewöhnung geben.“ „Mit dir hat sie sich doch normal unterhalten, oder?“ „Ja, schon.“ „Nun, dann kann es nicht an der ihr unbekannten Stadt liegen.“ Er kannte diesen Blick seines Freundes. Henry hatte sich dieses Mädchen in den Kopf gesetzt und würde alles daran setzen, sie zu erobern. Wenn er einmal Feuer gefangen hatte, war es schwer ihn davon abzuhalten geschweige denn ganz abzubringen. Darum ließ er sich mit seinem Glas in einen der Sitze plumpsen und sprach nicht weiter von Emma, die ihm persönlich sehr nett erschien. Abweisend überhaupt nicht. Ihn beschlich der Gedanke, dass sie vielleicht einfach nur einen anderen Geschmack hatte, als die Damen hier aus New York oder sie bereits all die Gerüchte um Henry kannte. Aber das würde er sicher noch früh genug erfahren. Das Rennen begann und Teddy prostete wieder ein paar Damen zu, die sich kichernd von ihnen entfernten. Er war 22 Jahre alt und konnte nur immer wieder darüber staunen, wie gut es das Leben mit ihm meinte.   Emma hatte sich vor ein paar Minuten bei ihrem Vater abgemeldet und war zu den Pferdeboxen gegangen. Dieses ganze Verhalten, das ihre Mutter in all den Jahren versucht hatte zu perfektionieren, war ihr zuwider. Sie verstand natürlich, dass man sich einen Namen machen musste und, dass es für ihren Vater gerade jetzt sehr wichtig war nur mit positiver Presse und lobenswerten Worten in den Stadtgesprächen erwähnt zu werden, aber das sie dadurch völlig entgegen ihres sonstigen Lebensstils handeln sollte… Ein Jockey grüßte sie freundlich und verließ die Ställe, sodass sie jetzt ganz allein war. Von einigen Pferden abgesehen natürlich. Ein schwarzer Hengst streckte den Kopf ein Stück vor, sodass seine Nüstern nahe an sie heranreichten. Sie streifte einen ihrer Handschuhe ab und streichelte den weißen Fleck auf seiner Stirn. „Du bist ja ein hübscher Bursche“, wisperte sie und er wieherte leise. An der Box stand der Name. „Rasa, wie wundervoll. Dein Besitzer hat wirklich Glück mit dir. In Chicago habe ich auch einen Hengst wie dich. Ihr seht euch unglaublich ähnlich.“ Das Tier blickte sie aus großen schwarzen Augen an und sie lehnte ihre Stirn an die seine. Mit jeder Minute vermisste sie ihr Zuhause mehr. Chicago war weit und groß, hier stand Haus an Haus und der Verkehr war furchtbar. Überall war es laut, kein ruhiges Eckchen, wo man einfach mal durchatmen konnte. Der Industriesmog begegnete einem überall. Und die Menschen hier waren auch so völlig anders. Die Etikette war viel strenger und sie sehnte sich nach einem Ausritt mit Rasputin, ihrem tiefschwarzen Hengst, über die weite Ebene Chicagos. Eine einzelne Träne rann über ihre Wange und Bilder vergangener Tage verschlimmerten nur die Tatsache, dass sie sich hier in New York elend und allein fühlte. Der gestrige Abend hatte sie kurzzeitig abgelenkt, sie hatte sich geschmeichelt gefühlt von all den jungen Männern zum Tanz aufgefordert zu werden. Aber am Ende war dies doch nur dem Grund geschuldet, dass sie neu in der Stadt war. Das Pferd scharrte mit den Hufen und sie wischte die Träne fort. „Wenn ich nicht Gefahr laufen würde, dafür Ärger zu bekommen, würde ich jetzt mit dir ausreiten, Rasa. Aber das lassen wir besser“, seufzte sie. „Mein Vater wäre böse mit mir. Das möchte ich nicht.“ Emma trat einen Schritt zurück und zog sich den Handschuh wieder an. „Das bleibt unser Geheimnis, ja?“ Der Hengst nickte ein paar Mal und wandte sich dann seinem Futter zu. Sie lächelte kurz und richtete dann Kleid und Hut. Als sie sich dem Ausgang der Ställe zuwandte, fiel ihr Blick auf einen Mann in grauem Anzug, der einfach dastand und sie ansah. Sie wusste nicht, ob er alles mitbekommen hatte und wie lange er schon da stand, aber sie tat einfach so, als sei nichts gewesen. Emma hob ihr Kleid ein Stück an und schritt erhobenen Hauptes dem Tor entgegen, an dem der Mann lehnte. Ihr Herz klopfte laut, doch sie hielt ihre Atmung ruhig. „Miss Thompson“, sagte der Mann, nickte und lüftete kurz seinen Hut. „Guten Tag“, antwortete sie ruhig und nickte ebenfalls, um dann einfach weiterzugehen und diesen Ort zu verlassen. Sie hatte keine Ahnung, wer er gewesen war, aber irgendetwas beunruhigte sie sehr an seinem Lächeln und der Art, wie er sie angesehen hatte. Vielleicht würde ihr Vater sie schon ins Haus zurückfahren lassen.   „Miss Emma? Sie sind früh zurück, geht es Ihnen nicht gut?“, fragte Charlotte, ihre Zofe, und nahm ihr den Hut ab. „Alles in Ordnung, Char, aber mir sind diese Pferderennen nicht geheuer. Und dass man Pferde für so etwas benutzt, ist furchtbar.“ Sie zog ihre Handschuhe aus und wollte die Treppen hinaufgehen, als es an der Tür klingelte. „Ich gehe schon“, meinte sie und Charlotte verschwand in dem Eingang zur Küche, um den Tee vorzubereiten. „Guten Tag. Miss Thompson, nehme ich an?“, fragte ein älterer hagerer Mann und sie nickte kurz, um ihm dann den Weg ins Haus frei zu machen. „Wenn ich mich vorstellen darf? Dr. Shriver, der Hausarzt vieler New Yorker Familien.“ „Angenehm. Darf ich Ihnen vielleicht einen Tee anbieten, Herr Doktor?“ „Nur keine Umstände, ich wollte nur meine Karte da lassen. Ich hatte eigentlich gar nicht damit gerechnet, jemanden der Familie anzutreffen. Das Pferderennen wird sonst von jedem besucht.“ „Ich war da, aber ich muss zugeben, dass ich kein Freund von dieser Art Veranstaltung bin. Und Sie? Sie sind auch nicht dort.“ „Wir teilen denselben Gedanken. Ich mag Pferde, aber darauf zu wetten, dass sie gegen Artgenossen in einem Wettbewerb gewinnen, ist nicht die Art, in der ich sie zu sehen bevorzuge. Auch wenn es für einen guten Zweck ist.“ Sie mochte diesen Mann sehr. Er lächelte und schaute sie über seine schmale Brille hinweg aus leicht trüben blauen Augen an. Dr. Shriver reichte ihr die Karte und lüpfte kurz seinen Hut, um dann wieder zu gehen. „Es hat mich sehr gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen“, sagte er und sie öffnete ihm die Tür. „Das erwidere ich mit Freuden. Ich werde meine Eltern von Ihrer Vorstellung unterrichten, Dr. Shriver. Einen schönen Tag noch.“ „Danke, Miss Thompson. Den wünsche ich Ihnen ebenfalls.“ Sie schloss die Tür, nachdem der Herr auf den Kutschbock gestiegen war und seinem Pferd das Zeichen zum Losritt gegeben hatte. „Miss? Möchten Sie den Tee auf Ihrem Zimmer einnehmen?“, fragte Char hinter ihr und sie wandte sich lächelnd zu ihr um. „Nein, bring ihn bitte in den Salon. Ich werde lieber ein paar Handarbeiten beginnen…“   Henry hatte bereits sein viertes Glas Whiskey in der Hand und versuchte nicht allzu missmutig auszusehen, doch es gelang ihm nicht recht. „Mein Freund, du solltest ein anderes Gesicht machen. Die jungen Damen werden sich nur noch mehr Sorgen machen und dich dann belagern. Ich bezweifle, dass dir das im Moment recht wäre.“ Teddy blickte gut gelaunt in die Runde. Ihm schienen die ständigen Bälle und Dinnerpartys überhaupt nicht die Laune zu verderben. Henry war neuerdings nur anwesend, weil er Emma zu sehen hoffte. Früher hatte er sich vorher wegstehlen und seine Zeit in einem Pub verbringen können. Wo diese, seiner Meinung nach, schneller und angenehmer verging. Man musste nicht ständig alle jungen Damen begrüßen; keine Tänze mit ihnen hinter sich bringen, die man sowieso nur damit verbrachte, zu lächeln, wenn sie einem mal wieder auf den Fuß traten oder man ihr Geschwätz über sich ergehen lassen musste. Und vor allem musste man sich später nicht vor seinem Vater rechtfertigen, warum man dem Alkohol wieder mehr zugesprochen hatte, als den schwerfälligen Damen. Heute aber, oder eher in letzter Zeit, interessierte ihn eine junge Dame ganz besonders. Nur gelang es ihm einfach nicht, sie allein anzutreffen. Gerade so, als ob sie sich absichtlich mit jungen Mädchen, ihren Eltern oder den Junggesellen umgab, damit er nicht in den Genuss eines Gespräches mit ihr kam. Er unterstellte ihr immer mehr Absicht. Noch vor wenigen Augenblicken hatte er gesehen, dass es heute Diana Holland war, die sich angeregt mit ihr unterhielt. Beide hatten laut gelacht und sich nicht um die kritischen Blicke der Umstehenden geschert. Er hatte nichts gegen die 16-jährige geschweige denn dagegen, dass sie sich miteinander anfreundeten, aber auch sie verhinderte, dass er die Chance bekam, sich korrekt vorzustellen. Emma hatte ihn einfach nicht richtig kennen lernen können. Das war das eigentliche Problem. Und bei dem Pferderennen vor einigen Tagen hatte er sie deshalb gesucht, nur um dann die Auskunft zu erhalten, sie wäre bereits früher nach Hause zurückgekehrt. Abends darauf war es dann die Familie Jones, die sie bei einem Dinner in Beschlag nahm. Den Tag darauf wiederum war sie ständig von anderen Junggesellen zum Tanz aufgefordert worden. Langsam konnten das doch wirklich keine Zufälle mehr sein. Wollte sie, dass er sich immer elender fühlte und dann vor ihr zu Kreuze kroch? Nein, oder? Gott, sie war ständig in seinen Gedanken. Sie hatten bislang noch keine weiteren Worte gewechselt, als die an ihrem ersten Abend hier in New York und dennoch wollte er… Eigentlich wusste er gar nicht, was er wirklich wollte. Doch immer wieder wanderte sein Blick zu ihr, er betrachtete ihre wundervolle Gestalt, lauschte ihrem Lachen und erkundigte sich ständig danach, was sie tat und mit wem. War sie anwesend, zählte die restliche Umgebung nicht. Alles, was sie betraf, erschien ihm wichtig. Fiel ihr Name in einem Gespräch anderer Leute, hielt er inne und lauschte. Er erkannte sich selbst kaum wieder und fragte sich, wie abhängig er noch von ihr werden würde.   „Penelope Hayes auf drei Uhr“, raunte Teddy und sie trennten sich im stillen Einverständnis voneinander. Er musste ein schnelles gutes Versteck finden. In Gedanken ging er die Möglichkeiten durch, die er die letzten Male im Hause der Havertons genutzt hatte, um sich mit ein paar Mädchen zu amüsieren. Er bog scharf nach rechts ab und verschwand in einem der Zimmer, die in dem dunklen Flur lagen. Wenige Augenblicke später hörte er die schnellen Schritte Penelopes, die an der Tür vorbeilief und dann immer weiter den Flur hinabging. Er seufzte erleichtert und erkannte dann, dass er in einer der kleinen Bibliotheken gelandet war. Das Gute war, dass der Hausherr ein Genießer guten Scotches und alter Weine war. In jedem Zimmer war mindestens eine Flasche Alkohol zu finden und Henry wusste, dass eine Fehlende davon nicht auffallen würde. Gerade in dem Moment, als er den großen Globus in der Ecke neben dem Kamin inspizieren wollte, fiel ihm die junge Dame in dem hellbraunen Kleid auf, die sich einen bequemen Platz auf einem der Ledersofas weiter hinten im Zimmer gesucht hatte. Sie blickte ihn überrascht an, nicht ganz sicher darüber, wie sie sich verhalten sollte. Während er seinen Kopf gerade nach einem guten Thema durchsuchte, erhob sie sich und sah aus, als wolle sie gehen. „Nicht, warten Sie. Bleiben Sie, bitte“, flehte er und verlor sich fast in ihren Augen, die im leichten Licht der Lampe, die sie auf einem der kleinen Beistelltische angeknipst hatte, zu funkeln begannen. „Das sollte ich lieber nicht tun“, wisperte sie und berührte den kleinen Anhänger, der an einer Kette an ihrem Hals baumelte. „Wieso nicht?“, fragte er, einfach nur um ihre Stimme zu hören, die ihn sanft umschloss. „Weil es aussieht, als hätten wir uns hier verabredet, wo ich erst seit wenigen Tagen in New York bin. Noch dazu in einem fremden Haus, bei schummriger Beleuchtung. Ein Zusammenspiel, das man so besser nicht von anderen entdecken lassen sollte.“ Sie versuchte ihn nicht anzusehen. „Sie wurden gewarnt, nicht wahr?“ Es war, als schäme sie sich dafür, dass er das so schnell erraten hatte. „Als Warnung würde ich es nicht bezeichnen wollen.“ Er machte vorsichtig einen Schritt auf sie zu, um sie nicht zu verschrecken. „Wie dann?“ „Ist das wichtig? Am Ende zählt nur, ob es wahr ist. Und wenn dies der Fall sein sollte, scheint es besser zu sein, sofort zu gehen.“ Ihre Wangen waren leicht gerötet, ebenso wie ihre Augen. Wieso war sie hier? Ganz allein und hatte geweint oder zumindest versucht es nicht zu tun. „Eigentlich zählt nur, ob Sie all dem Glauben schenken. Ich nehme an, dass Sie wissen, das oft übertrieben wird bei dieser Art von Gerüchten und Geschichten…“ „Die Hälfte davon waren eindeutig Lügen und Übertreibungen, aber der Rest klang sehr überzeugend. Daher ist es besser, wenn wir uns jetzt voneinander verabschieden würden, Mr. Schoonmaker.“ „Und wenn ich Sie bitten würde mir Gehör zu schenken, damit ich es Ihnen erklären kann?“ Sie rang mit sich. Er hatte gewusst, dass sie ein guter Mensch war. Jemand, der beide Seiten hören wollte und sich nicht auf eine Meinung allein verließ. Ein kurzes Funkeln erhellte ihre Augen. „Erklären? Meinen Sie denn, man sollte einer Frau so etwas ausführlich erläutern?“ Er konnte es sich nicht verkneifen und lachte leise. Emma atmete tief durch, sah ihn dann an und meinte nun: „Lassen Sie mich eine Frage voranstellen und, bitte, sagen Sie mir die Wahrheit: Was denken Sie gerade?“ „Das mich niemand von den Anderen wirklich kennt. Ich gebe zu, dass ich vielen der Damen dort draußen schöne Augen gemacht habe, nur um mich mit ihnen zu amüsieren. Mich hat der Mensch dahinter nicht interessiert. Tut es auch jetzt nicht, weil sie alle dieselbe oberflächliche Art teilen. Aber Sie sind anders. Sie haben mich schon am ersten Abend mit nur einem Blick abgeschätzt und gewusst, was hinter meinem Lächeln steckt. Ist es nicht so?“ „Ich mag New York nicht. Es ist laut und voll. Und dieses ganze Gehabe, diese Heuchelei ist mir zuwider. Sie waren genauso. Und als man mir dann ein paar Geschichten über Sie erzählte, bewahrheitete sich meine Meinung über Sie. Ich bin normalerweise niemand, der vorschnell über andere Menschen urteilt, aber bei Ihnen fiel es mir erstaunlicherweise nicht sonderlich schwer.“ Ihre Worte trafen ihn sehr. Niemand zuvor, abgesehen von seinem Vater, hatte je eine solche Meinung über ihn geäußert. Dessen Ansicht war ihm nur immer egal gewesen. Aber Emma… Henry schluckte. Wie sollte er das je in ein positives Licht rücken? „Allerdings“, sagte sie dann und nahm wieder auf dem Sofa Platz, „bin ich sehr froh, dass Sie so offen mit mir reden. Daher bin ich durchaus bereit Ihnen weiter zuzuhören, wenn Sie ehrlich bleiben. Verstellen Sie sich nicht.“ „Gern.“   Ihm war heute sehr viel leichter ums Herz. Seit er mit Emma gesprochen hatte, fühlte er sich ganz anders. Sie hatten sich mindestens eine Stunde lang über alles Mögliche unterhalten. Die Geschichten über die Frauen hatte er nicht erwähnt und die wollte sie ebenso wenig hören. Er hatte sie lachen hören - ein wundervolles Lachen - und sie besser kennen gelernt. Ihre Ansichten waren erstaunlich. Und er hatte versucht sich jedes kleine Merkmal von ihr einzuprägen. Die Art wie sie sprach; wie sie ihr Haar zurückstrich; wie sie reagierte, wenn er ihr ein Kompliment über ihre Offenheit machte. Er mochte sie sehr. Gerade erst hatte er einen Kurier mit einer kleinen Karte zu ihr geschickt und hoffte auf eine schnelle Antwort. Die Vorfreude darauf, sie bald wiederzusehen, ließ ihn kaum atmen. Sie hatte sich sogar bereit erklärt, sich bei nächster Gelegenheit wieder mit ihm allein zu unterhalten. Und sie hatte zugestimmt beim nächsten Ball mit ihm zu tanzen. Sein Herz schlug kräftig und fröhlich in seiner Brust. Es war unglaublich lange her, dass er sich so gefühlt hatte. Obwohl, hatte er sich überhaupt jemals so gefühlt? Er erinnerte sich nicht daran. Henry prüfte sein Haar im Spiegel und ging dann in den Salon hinunter. Kapitel 2: Zwei --------------- Nichts hält sich länger als ein Gerücht über eine Liaison. Und auch die New Yorker Gesellschaft bleibt hiervon nicht ungerührt. Nur fragt man sich immer lauter, welche Rolle die junge Dame noch spielt, wenn sie nun nicht mehr von ihrer Eroberung beachtet wird. Und wie lange sie noch leugnet, dass es ihr selbst nicht auffällt. Es ist geradezu mitleiderregend, wenn sich die jungen Damen an ihre eigene Phantasie klammern und die Wahrheit in den Worten ihres Auserwählten nicht erkennen.   - Gesellschaftskolumne der New York News Of The World Gazette, Donnerstag, den 26. Juli 1899   Diana Holland und sie waren schon eine Weile im Central Park unterwegs. Sie hatten gutes Wetter für ihren Ausflug erwischt und lachten beide als Diana gerade von dem furchtbaren Tanz mit Percival Coddington erzählte, dem sie wegen ihrer Mutter notgedrungen hatte zustimmen müssen. „Solltest du jemals in den Genuss kommen, achte darauf, dass er seine Hand an deinem Rücken behält. Und pass unbedingt auf deine Füße auf”, meinte Diana und Emma sah sie verängstigt an. „Behalt mich bitte im Blick und errette mich, wenn er sich mir nähert. Es klingt grauenvoll.“ Die beiden lachten und grüßten Nicholas Livingston, der ihnen mit Amos Vreewold und James Haverton entgegenkam. Alle drei hoben ihren Hut kurz an und unterhielten sich dann angeregt miteinander. Diana schwor ihr, dass sie sich darüber unterhielten, wie sie beide vom Äußerlichen her bei ihnen abschnitten. Auch etwas das New York völlig von ihrer Heimat unterschied. Solchen Tratsch und Klatsch gab es dort nicht so verhäuft. Ab und zu wurde natürlich über die Unvorteilhaftigkeit eines Kleidungsstückes gesprochen, aber eine Wertung über das Äußere wurde dort nicht gefällt. „Wo warst du eigentlich plötzlich gestern Abend? Du meintest, du müsstest kurz etwas zur Ruhe kommen und bist dann eine Stunde lang nicht mehr aufgetaucht“, erkundigte sich Diana und Emma spürte, wie ihr eine leichte Röte ins Gesicht stieg. „Du wirst mich sicher auslachen, wenn ich es dir erzähle.“ „Aber nein. Bestimmt nicht.“ Und um es ihr noch mehr zu beweisen, blieb das temperamentvolle Mädchen mitten auf dem Weg stehen und erhob beide Hände vor ihr. Ihre braunen Locken wippten im Wind. „Ich schwöre, ich lache nicht.“ Emma holte tief Luft. „Ich bin in eine kleine Bibliothek geflohen und dort tauchte dann nur wenige Minuten später Henry Schoonmaker auf, der sich vor jemandem zu verstecken versuchte.“ Erst zog Diana ihre Augenbrauen hinauf, um dann ihre Lippen fest aneinander zu pressen. Sie konnte in ihren Augen lesen, was sie ihr gedanklich unterstellte. „Bevor du weiter denkst… Wir haben uns nur unterhalten. Weiter war nichts.“ „Magst du ihn?“ Emma hakte sich bei ihrer Freundin ein und ging langsam ein Stück weiter. „Ich bin mir nicht sicher. Er ist schwer einzuschätzen. Aber ich denke, dass er gestern ehrlich zu mir war. Hundertprozentig vertraue ich ihm nicht. Das wäre erstens zu früh und zweitens zu gefährlich, aber ich glaube, es könnte da eine gute Seite an ihm geben, die er sonst versteckt hält.“ „Ich bin die Letzte, die dir in dieser Hinsicht Ratschläge erteilen sollte. Ich selbst fand ein paar der Abenteuer mit den Junggesellen New Yorks sehr interessant, aber Henry Schoonmaker ist niemand, der sich binden lässt, solltest du auf diesen Gedanken gekommen sein.“ Emma schüttelte den Kopf. „Ich gebe zu, er sieht gut aus und er ist nicht auf den Kopf gefallen, aber ein solches Interesse besteht da nicht“, antwortete sie. ‚Glaube ich zumindest‘, ging es ihr urplötzlich durch den Kopf. Nur war es leider so, dass ihr Herz gestern sehr merkwürdig geklopft hatte, als er in dem kleinen schummrig beleuchteten Zimmer aufgetaucht war. Irgendetwas an ihm irritierte sie, erregte gleichzeitig aber auch ihre Aufmerksamkeit. Er war anders als die Männer, denen sie bisher begegnet war. Diese unergründlichen braunen Augen schienen mehr über sie zu wissen, als ihre engsten Blutsverwandten und dennoch hatte er ihr viele Fragen über die einfachsten Dinge gestellt, wie beispielsweise das Leben in Chicago, ihre Familie. Sie hatte sich in seiner Gegenwart wie ein kleines Schulmädchen gefühlt und war dann wiederum dem Gefühl erlegen, dass er sie für betörend hielt, als er sie mit funkelnden Augen beobachtet hatte. Henry Schoonmaker war ihr ein absolutes Rätsel. Und genau diese Einsicht schien auch all die anderen jungen Damen an ihm zu reizen. Viele hatten sich ihm gewiss aus genau diesem Grund einfach hingegeben. Und der Rest aus dem einfachen Grund, weil er gutaussehend war. Auch da konnte man keinem der Mädchen einen Vorwurf machen. Natürlich sah er gut aus. Doch nicht Eine konnte ihn zähmen. Wie Diana es gesagt hatte. Emma machte sich keine Hoffnungen auf eine intime Begegnung, denn so jemand war sie auch nicht. Aber ihr Herz war seit dem gestrigen Abend sehr in Aufruhr. Und der Traum, der sie heute Früh fast daran gehindert hatte, aufstehen zu wollen und sie in der Nacht verfolgt hatte, verhieß auch nichts Gutes. Sie hatte noch immer das Gefühl seine erträumten Lippen berührten ihre Haut. Jeden Zentimeter ihres Körpers hatte es förmlich zum Schmelzen gebracht. Und seine Augen hatten sie förmlich aufgesaugt. Gott bewahre, wenn davon jemand erfuhr. Als sie später dann ins Haus zurückkehrte, Charlotte ihr Hut und Handschuhe abnahm und sie ihre Zofe um den Tee im Salon bat, war er noch immer in ihren Gedanken. „Emma. Du warst länger weg, als du sagtest“, belehrte ihre Mutter sie sofort, nachdem sie sich gesetzt hatte. „Entschuldigt. Wir haben ganz die Zeit vergessen. Das Wetter war so schön und…“ „Ich habe nicht um eine Ausrede gebeten, nicht wahr? Jetzt mach das Taschentuch fertig.“ „Ja, Mutter. Wie Ihr wünscht.“ Ihr Vater war auch am heutigen Nachmittag nicht da. Emma war bewusst, dass er viel zu tun hatte. Jetzt, wo er ein ganz neues Geschäft von Grund auf errichten musste, aber sie vermisste ihn bereits schmerzlich. Und ihre Mutter machte es ihr nicht gerade leichter. Sie war strenger und duldete kein ungehöriges Verhalten mehr. Kein Fortschleichen oder undurchdachten Antworten mehr, wie es früher öfter der Fall gewesen war. Charlotte brachte den Tee herein, stellte ihn auf das kleine Tischchen an ihrer Seite und verschwand genauso still und leise, wie sie gekommen war. Erst wenige Augenblicke später fiel Emma der kleine Umschlag auf, auf dem in wunderschöner geschwungener Handschrift ihr Name stand. Lange betrachtete sie die feinsäuberlich aneinander gereihten Buchstaben und erschrak als die große Uhr, die über dem mit Gold verzierten Kamin hing, zur vollen Stunde schlug. Ihre Mutter warf ihr einen kurzen tadelnden Blick zu und fuhr mit der Stickerei fort, die sie im Zug von Chicago nach New York begonnen hatte. Emmas Finger tasteten vorsichtig nach dem Umschlag und schoben ihn dann in eine kleine Tasche ihres Kleides. Es erschien ihr zu gefährlich ihn hier vor ihrer Mutter zu öffnen, zudem wusste sie auch gar nicht, von wem er war und was darin stehen könnte. Sie wusste nur, dass sie die Handschrift nicht kannte. Ihr Herz klopfte immer stärker in ihrer Brust und das Atmen fiel ihr unglaublich schwer. „Sitz nicht so herum. Das Taschentuch bestickt sich nicht von allein“, fuhr ihre Mutter sie an und Emma nickte erschrocken. Sie glaubte, sich verraten zu haben, doch Dorothea seufzte auf und überprüfte dann den Faden, den sie neu einfädeln wollte. Einige Zeit später klopfte es laut an der Tür. Charlotte meldete einen Kurier für den Herrn des Hauses und ihre Mutter verschwand auf den Flur, um ihn in Vertretung ihres Mannes zu empfangen. Der Umschlag in ihrer Tasche schien immer schwerer zu werden, mit jeder Minute, die sie wartete. Fast glaubte sie, dass er so mächtig zu werden drohte, dass es sie nicht länger auf dem Stuhl halten würde. So also zog sie ihn hervor, öffnete ihn und las die, in ebenso schöner Schrift wie auf dem Kuvert, verfasste Nachricht:   Werte Miss Emma, Ich erbitte dringlichst Ihr Erscheinen beim alljährlichen Sommerball, der am 05. August im Hause der Familie Cutting stattfinden wird. Es wäre mir sonst nicht länger möglich, mich von Ihnen fernzuhalten. Ein solch frivoles Verhalten können Sie nicht verantworten wollen. - H.S. -   Es fiel ihr schwer nicht aufzulachen und gleichzeitig fühlte sie die Schamesröte in ihren Wangen aufsteigen. Wie konnte er nur solche Worte schreiben, obwohl sie sich erst gestern Abend zum allerersten Mal unterhalten hatten? Am liebsten hätte sie sofort zu einer Antwort angesetzt und ihn darauf aufmerksam gemacht, dass sich solche Nachrichten nicht ziemten und er nach solch geschriebenen Worten nicht mit ihrem Erscheinen zu rechnen bräuchte, aber sie wusste, dass sie das nicht konnte. Sie wollte ihn besser kennen lernen, sein Verhalten verstehen, es wagen ihm ein wenig mehr zu vertrauen und einen Walzer mit ihm tanzen. Einen ganzen Tanz lang mit ihm allein sein, ihn dabei ansehen und sich wünschen, dass es nur sie… Und wieder war da das Gefühl, dass sie sich wie ein kleines Kind benahm. Sie steckte das Kärtchen zurück in den Umschlag und hütete beides wie einen Schatz in der Tasche ihres Kleides. Es hatte schon längst keinen Zweck mehr zu leugnen, dass sie sich zu ihm hingezogen fühlte. Henry hatte sich bereits still und heimlich in ihr Herz geschlichen. Alles, was sie jetzt noch tun konnte, war dieses süß-schmerzende Gefühl so lange wie möglich geheim zu halten. Sei es nun vor der New Yorker Gesellschaft oder - und das schien das allerwichtigste - vor Henry Schoonmaker selbst.   Er wartete seit Tagen vergeblich auf eine Antwort. Und an diesem Abend sollte bereits der Ball stattfinden. Henry hatte sich sämtliche Szenarien vorgestellt, wie er sie begrüßen und zum Tanz auffordern könnte; wie er einem anderen Junggesellen frech zuvor kam; wie er sie wieder und wieder durch den Saal drehte, aber dass sie gar nicht erst kam… Das wollte er nicht glauben. Isabell und sein Vater kamen endlich die Treppen hinunter und er überhörte geflissentlich den Kommentar des älteren Herrn über die ungewöhnliche Pünktlichkeit seines Sohnes. Er indessen bedachte seine Stiefmutter - in Anbetracht ihres Alters klang dieses Wort noch immer unglaublich albern - mit einem Kompliment über ihr hübsches Aussehen und griff dann nach seinem Zylinder. Es fehlte nicht mehr viel und er hätte das Ehepaar eigenhändig in die Kutsche geschoben, doch er konnte gerade so an sich halten. Die Kutschfahrt zog sich ellenlang hin, obwohl die Cuttings nur wenige Straßen entfernt ihr Haus besaßen. Er trommelte nervös mit seinen Fingern auf dem Polster der Droschke herum und erntete ein kurzes tiefes Räuspern seines Vaters. Die Anspannung in seinem Körper wurde noch größer als sie endlich ankamen und den Ballsaal betraten, nachdem man ihnen Hüte und Mäntel abgenommen und sie angekündigt hatte. Henry hielt nach einer einzigen jungen Dame Ausschau und sank enttäuscht zusammen, als er sie nicht entdecken konnte. Teddy klopfte ihm auf die Schulter und winkte einen der Kellner heran, um beiden ein volles Glas zu ordern. „Sie kommen sicher“, versuchte er ihn zu beruhigen, doch sein Freund reagierte nicht sonderlich erfreut. „Dann hätte ich doch eine Nachricht erhalten, oder nicht?“ „Nun, wir haben eine Antwort auf unsere Einladung bekommen.“ „Wurde dabei erwähnt, wie viele Personen der Familie erscheinen werden?“ Teddy sagte nichts und seine eben gewonnene Hoffnung, fiel ins Bodenlose. Er verhielt sich unglaublich lächerlich, das wusste er selbst. Aber sie war so völlig anders als je eine Frau zuvor. Der Kellner kehrte mit den Gläsern zurück und reichte ihm zusätzlich ein Kärtchen, das in einem fliederfarbenen Umschlag steckte, auf dem seine Initialen standen. Während Teddy ihm gerade zuprosten wollte, öffnete er bereits ungeduldig das Kuvert.   Mister H. S., Ich bezweifle, dass Sie mir die Bürde auferlegen wollen, für Ihr Verhalten verantwortlich zu sein. Doch Sie haben Recht. Es liegt mir fern, eine derartige Möglichkeit heraufzubeschwören. Sofern Sie mir also einen Aufschub gewähren um dieses Verhalten abzuwenden, werde ich mein möglichstes tun, um Sie auf dem Ball zumindest zu begrüßen. - E.T. -   Es war wie ein Befreiungsschlag. Diese Worte hatte er sich ersehnt. Und einen solchen Humor hatte er gar nicht erwartet. Aber in jeder Silbe steckte ein Augenzwinkern. Es war unfassbar. Sie war außergewöhnlich. Sein Freund schien die Erleichterung in seinem Gesicht zu sehen und dann wurden die Thompsons angekündigt und Henry blickte kurz zu ihm. „Ja, nun geh schon“, bestätigte Teddy und er drückte diesem sein unangerührtes Glas in die Hand. Emma hatte ständig mit dem Drang gekämpft ihm zu antworten. Sich dagegen gewehrt, ihm in gleicher Weise zu schreiben und ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen. Jeden Tag hatte sie ihm davon berichten wollen, wie es ihr Herz in Aufruhr versetzt hatte, dass es ihm ähnlich erging wie ihr. Auch sie war nicht in der Lage ihm fernzubleiben. Hatte ihm schreiben wollen, dass sie nichts lieber täte als mit ihm zu tanzen und ihm zuzuhören, ganz gleich worüber er sprechen wollte. Und als sie jetzt die Stufen hinaufging, die ins Haus der Cuttings führten und wusste, dass er ihre Karte bekommen und wohl auch gelesen hatte, hielt sie nur die strenge Etikette der feinen Gesellschaft davon ab, den Rocksaum ihres elfenbeinfarbenen Satinkleides anzuheben und hineinzulaufen. Sich ihm in die Arme zu werfen und nie wieder von ihm zu trennen. Ihr Vater deutete ihr vorzugehen, gerade so als hätte er ihre Gedanken in ihrem Gesicht lesen können. Vielleicht verriet sie zu viel. Sie war völlig verwirrt. Solche Gefühle kannte sie nicht. Nie zuvor hatte sie jemand so aus der Fassung gebracht und ihr gleichzeitig das Gefühl gegeben begehrenswert zu sein. Sie war 18 Jahre alt und natürlich hatte man ihr in Chicago Junggesellen und Männer im heiratsfähigen Alter vorgestellt, die Interesse an ihr bekundet hatten, aber nie hatte sie auch nur den geringsten Anflug von Zuneigung für einen von ihnen empfunden. Freundschaftliche Gefühle vielleicht, aber nie mehr als das. Ganz kurz nur war sie geblendet vom Licht der Kronleuchter, die von der hohen Decke herabhingen und sich auf dem Marmorboden widerspiegelten und dann sah sie ihn. Er stand unglaublich nah bei ihr, in einen maßgeschneiderten schwarzen Frack gekleidet, der phantastisch zu seiner sonnengebräunten Haut passte und seine Schultern, die die eines Generals hätten sein können, noch besser betonte. Sein schwarzes Haar war mit Pomade zurückgekämmt, die dunkelbraunen Augen auf sie allein gerichtet. Er verzog seine schmalen Lippen zu einem Lächeln, sodass ganz kurz seine weißen geraden Zähne hervorblitzten. Henry verneigte sich vor ihr und sagte: „Miss Thompson?!“ „Mister Schoonmaker“, entgegnete sie und ließ sich unglaublich viel Zeit mit ihrem Knicks. Sie hatte nicht für möglich gehalten, dass sie dazu überhaupt in der Lage sein würde. Ihre Knie fühlten sich an, als würden sie gleich unter ihr nachgeben. Als eine Frau sich als Mrs. Cutting vorstellte, wurde ihr bewusst, dass sie nicht mit Henry allein war und sie sich bei einer anderen Familie als den Schoonmakers als Gast aufhielt. Emma war nervös und wollte endlich mit Henry sprechen, doch ihre Mutter sorgte dafür, dass es nicht dazu kam. Immer wieder begann sie ein Thema, in das man ihre Tochter involvierte. Sie fühlte seine Anwesenheit, seine Blicke und hielt es kaum noch aus. Das Prickeln in ihrem Nacken - er starrte sie förmlich zu Boden - wurde übermächtig und immer wieder strich sie sich über die Haut. Als man sie endlich erlöste und er ihre Mutter bat, ihr einen Tanz mit ihm zu gestatten, war sie fast einer Ohnmacht nahe. „Natürlich, Mr. Schoonmaker. Es wäre ihr natürlich eine Ehre“, antwortete ihre Mutter überrascht und er führte Emma fort, sodass ihm keiner der anderen Junggesellen, die verdächtig nah am Eingang standen, zuvor kommen konnte.   „Wie konnten Sie mit Ihrer Nachricht nur so lange warten?”, fragte er leise und bewegte sie leichtfüßig durch die tanzende Menge. „Mir war nicht bewusst, dass es Ihnen so viel bedeuten würde, gleich nach Erhalt Ihrer Nachricht eine Antwort von mir zu bekommen“, meinte sie und versuchte ihre Stimme unter Kontrolle zu halten. Sein Blick ruhte allein auf ihr und sie hatte das Gefühl, dass er die Lüge bereits durchschaute noch bevor sie den Satz überhaupt beendet hatte. „Ich glaubte, das wäre eindeutig genug gewesen.“ „Der Satz: Ich erwarte Ihre Antwort, hätte es mir wohl leichter gemacht. Finden Sie nicht?“ „Ich werde es beim nächsten Mal bedenken.“ Er zwinkerte ihr kurz zu und drückte seine Hand etwas fester in ihr Kleid, etwas unterhalb ihres Kreuzes. „Ich hatte ganz vergessen zu erwähnen, wie bezaubernd Sie am heutigen Abend aussehen, Miss Emma“, meinte er nun und sie schluckte kurz. Ihr Gesicht glühte und sie fühlte, wie ihr Herz noch schneller zu schlagen begann als es das ohnehin schon tat. Wie weit wollte er noch in ihr Herz vordringen? Hatte er noch nicht genug in ihr ausgelöst? Spürte er denn nicht wie stark ihr Puls raste und wie sehr sie an sich halten musste, um standhaft zu bleiben? „Ich muss Ihnen ein Geständnis machen“, wisperte sie und senkte verlegen ihren Blick, weil sie es nicht mehr ertrug von seinen glänzenden Augen fixiert zu werden. „Bitte“, ermutigte er sie. Emma holte tief Luft, sammelte allen Mut zusammen und sah dann zu ihm auf. „Ich hatte mehrere Nachrichten an Sie in Erwägung gezogen, aber… ich fürchtete, Sie könnten mich für ein naives Dummchen halten und verwarf sie alle.“   Im ersten Moment war sein Kopf völlig leer und gerade als er darüber nachdachte, welche Worte er an sie richten sollte, fuhr sie fort: „Sie verwirren mich. Und das auf eine Art, die ich mir einfach nicht erklären kann. Ich kenne einige der Geschichten über Sie. Weiß, dass nicht alle davon wahr sein können. Und dennoch habe ich Angst, dass ich für Sie nur Eine von Vielen bin. Ich möchte nicht zu einer dieser Geschichten werden. Keine weitere Trophäe in Ihrem Schrank. Ich kann und will es nicht. So eine Frau bin ich nicht und will es nicht werden. Und gleichzeitig ist mir bewusst, welche Bedeutung meine vorherigen Worte haben und, dass es so etwas zwischen uns nicht geben kann. Nicht geben darf. Ergibt das einen Sinn?“ „Ich bin nicht sicher, ob ich Sie richtig verstanden habe. Aber lassen Sie mich Ihnen eine Frage stellen: Muss denn alles, was man tut oder sagt einen Sinn ergeben?“ Emma schüttelte kurz den Kopf und ließ sich ein weiteres Mal von ihm drehen. „Was ich Ihnen allerdings versichern kann ist, dass Sie nicht ‚Eine von Vielen‘ sind. Ich fühle mich zu Ihnen hingezogen und bin unglaublich erleichtert, dass nicht nur ich so verwirrt über diese Art von Gefühlen bin.“ Es war sein voller Ernst. Sie war keine Trophäe. Nichts, das er erobern und dann fallen lassen wollte. Zum ersten Mal, und wenn es auch nur kleine Momente waren, dachte er an eine gemeinsame Zukunft mit einer Frau. Er sah sich als glücklicher Mann mit Haus und Kindern. Seine Hand an ihrem Rücken schob sie näher zu ihm heran und er hoffte, dass dieser Augenblick niemals enden würde. Mit ihr zu tanzen war ein wundervolles Gefühl, weil sie perfekt zu ihm zu passen schien. Sie trat ihm nicht auf die Füße, hielt den Takt, schmiegte sich grandios an seinen Körper. Gerade so, als wären sie zwei Hälften eines perfekten Ganzen. Doch die Musik verklang allmählich, die Gespräche der anderen tanzenden Paare und all der Umstehenden drangen an seine Ohren. Man hatte sie beide beobachtet und jetzt tuschelte man über die Beziehung, die die beiden zu verbinden schien. Er hasste das. Alle dachten sie, dass sie ihn kennen würden. Sich sicher sein konnten, warum er diese junge Frau so fest in den Armen hielt und sie so ansah, wie er es derzeit tat. Aber das war ein Irrtum. Keiner kannte ihn gut genug, um zu wissen, was er in diesem Moment fühlte. Penelope starrte ihn über alle Köpfe hinweg mit finster zusammengekniffenen Augen an. Wut und Eifersucht sprühte aus ihnen hervor. Er musste Emma beschützen, jetzt noch mehr als zuvor. „Es war mir eine Ehre“, meinte diese als wüsste sie, was er dachte und knickste vor ihm nieder. „Ganz meinerseits“, antwortete er und verneigte sich kurz. Die nächsten Junggesellen standen bereit, Emma zu einem Tanz aufzufordern und er konnte nichts weiter tun als zuzusehen, obwohl er am liebsten jedem Einzelnen den vernichtenden Blick zugeworfen hätte, den er von seinem Vater geerbt hatte. Dieser konnte Menschen in Eissäulen verwandeln oder gar völlig in Verzweiflung stürzen.   Noch immer drehte sich alles um sie herum. Sie konnte seinen sicheren Griff, seine Worte und sein Lächeln nicht vergessen. Den Gesprächen folgte sie nur halbherzig. Die Tänze genoss sie nicht. Konnte es einfach nicht. Denn immer wieder verglich sie die anderen Männer mit Henry und wurde schwer enttäuscht. Gelegentlich begegneten sie einander mit Blicken, doch er hielt sich von ihr fern. Und während des Tanzes hatte sie genau gespürt, warum er das tat. Das war eine Sache, die ihn für sie sogar noch sympathischer machte: Er wollte sie schützen. Penelope Hayes hatte vor Kurzem noch zu seiner ‘bevorzugten Gesellschaft’ gehört, das hatte ihr Diana erzählt. Aber wie bei all den anderen Mädchen zuvor, hatte er das Interesse an ihr verloren. Etwas, dass Penelope allerdings nicht wahrhaben wollte. Natürlich war sie sehr schön, aber dass sie sich so an den Gedanken klammerte, Henry wolle nur mit ihr zusammen sein und könne nur mit ihr glücklich werden, ließ sie lächerlich wirken. Obwohl Emma, irgendwo in einer Ecke ihres Herzens, selbst die lähmende Angst beschlich, dass es ihr eines Tages auch so ergehen könnte. Noch schwor Henry, dass sie anders für ihn war, aber das konnte sich jederzeit ändern. Vielleicht hatte er eben diese Worte auch den anderen Mädchen und Frauen eingeflüstert. Ein dicker Kloß schnürte ihr die Kehle zu und sie spürte bereits wie die Tränen in ihr aufstiegen. ‘Nicht hier, nicht jetzt‘, dachte sie und entschuldigte sich kurz bei dem jungen Mann, dessen Namen sie längst vergessen hatte, und der sie derzeit mit einem Gespräch über Kronleuchter in Beschlag nahm. Sie hob ihren Rock ein Stück an und tat so als wolle sie den Saal umrunden. Stattdessen bog sie ab, als sie sich sicher war, dass ihre Mutter sie nicht mehr sehen konnte und versuchte einen ruhigen Ort zu finden, um sich zu beruhigen. Sie wollte nicht weinen, sich nicht so hineinsteigern. Aber dass sie so viel für Henry empfand, machte sie völlig hilflos. Für kurze Zeit hatte er sie aus den Augen verloren, doch dann war Teddy erschienen, um Penelope zum Tanz aufzufordern und hatte ihm mit einem kurzen Nicken einen Tipp gegeben, wohin sie gegangen war. Gerade noch bemerkte er den Saum ihres Kleides, der um eine Ecke bog. Er wollte sie in die Arme nehmen, sie einfach nur ansehen und festhalten. Henry ging sicher, dass Penelope ihn in dem Moment nicht sah als er dem wehenden Kleid folgte. Versuchte nicht zu viel Aufmerksamkeit zu erregen als er dieselbe Tür öffnete, die auch Emma gerade gewählt hatte und dann hinter ihr eintrat. Sie stand vor dem Kamin, die Arme schützend um ihren Oberkörper geschlungen, und beobachtete die sich um das Holz züngelnden roten und gelben Flammen. Ihre Schultern hoben sich als sie tief einatmete und sich dann eine Strähne zurückstrich, die sich aus ihrer Frisur gelöst hatte. Sie wirkte so unglaublich zerbrechlich, so allein. Der Teppich dämpfte seine Schritte und in wenigen Augenblicken war er bei ihr und schlang seine Arme um sie. Erschrocken schnappte sie nach Luft, nur um dann, nachdem sie erkannt hatte, wer hinter ihr stand, erleichtert auszuatmen. „Ihr hättet mir nicht folgen sollen“, wisperte sie. „Ich wollte es. Sehr sogar!“ „Es wird auffallen, wenn wir beide zur selben Zeit…“ „Niemand hat mich beobachtet. Und Ihr habt genauso darauf geachtet, nicht wahr?“ „Schon, aber… Ich sollte wirklich gehen“, meinte sie und wollte sich an ihm vorbei stehlen, doch er berührte sie am Handgelenk und zog sie zu sich heran. Seine Arme umschlossen sie fest und sicher und eine Hand hielt sie sanft am Nacken. Er spürte ihren Herzschlag an seinem Körper, schnell und unruhig. Und während sie nur halbherzig versuchte sich mit ihren Händen von ihm abzustoßen, blickte er in ihr Gesicht. Ihre Augen waren ein wenig gerötet. Sie hatte versucht nicht zu weinen. Und dann beugte er sich einfach hinab und küsste sie. Vorsichtig und sanft. Ihre Gegenwehr ließ gänzlich nach, stattdessen lehnte sie ihre Hände gegen seine Brust und schloss ganz langsam die Augen. Ihr schmaler Körper in seinen Armen war angenehm warm und passte perfekt zu ihm, ihre Lippen zart, ihre Haut unvorstellbar weich. Und als sie sich allmählich voneinander lösten, beobachtete er wie ihre Wangen ein zartes Rot annahmen. „Wieso?“, fragte sie und blickte dabei auf seine Brust. „Weil du mir sehr viel bedeutest. Ich dachte, das wäre eine gute Art es dir zu zeigen.“ Emma berührte mit ihrem Zeigefinger ihre Lippen und begann dann zu lächeln. „Ja“, war alles, was sie zustande brachte. „Wann sehen wir uns wieder?“, fragte er und strich die störrische Strähne zärtlich aus ihrem Gesicht. „Ich weiß es nicht. Welche Veranstaltung ist denn als Nächstes geplant?“ Er schüttelte den Kopf. „So lange halte ich es nicht aus. Können wir uns nicht irgendwo treffen? Ganz ungezwungen?!“ „Wie soll das funktionieren? Ein Junggeselle und ein Mädchen im heiratsfähigen Alter, ganz allein unterwegs? Ich bezweifle, dass meine Mutter eine solche Verabredung billigen würde…“ In seinem Kopf rasten die Gedanken wild durcheinander, dann hörten sie beide Schritte auf dem Flur. Henry nahm sie fest in den Arm, drückte sein Gesicht an ihren Hals und wisperte: „Ich werde mich melden. Vertrau mir, ich lasse mir etwas einfallen. Warte auf eine Nachricht, bitte!“ „Gut“, antwortete sie ebenso leise und zog sich dann von ihm zurück, um auf den Flur zu treten, auf dem es still geworden war. Und um sich nicht gänzlich dem Gefühl hinzugeben, die ganze Nacht heimlich in diesem kleinen Zimmer in seinen Armen zu verbringen. Noch immer spürte sie seine warmen Lippen auf den ihren und ein starkes Glücksgefühl durchflutete ihren ganzen Körper. Sie wollte ihn so schnell wie möglich wieder treffen. Ungezwungen, so wie er es gefordert hatte.   Es waren bereits zwei Tage vergangen, seit dem Sommerball der Cuttings und immer hatte Emma vergeblich auf eine Nachricht gewartet. Natürlich war es noch nicht lange her seit Henry sie gebeten hatte zu warten, aber sie vermisste ihn sehr. Und durch all diese Zeitungsartikel, in denen immer wieder von einer geplanten Hochzeit zwischen Penelope Hayes und Henry Schoonmaker die Rede war, war ihr auch nicht wohler. Ihr Vater beobachtete sie kurz, wie sie im Salon während der Teestunde am Fenster auf und ab schritt. „Liebes, so lange nennen wir diesen Teppich noch nicht unser Eigen. Du läufst gerade ein Loch hinein…“, bemerkte er sanft und sah dabei nicht einmal von seiner Zeitung auf. „Verzeiht, Vater. Ich hatte nur mit einer Nachricht von Diana Holland gerechnet. Es ist so schönes Wetter und einen Spaziergang habe ich lange nicht mehr mit ihr unternommen…“ „Wieso benachrichtigst du sie nicht einfach? Sie wird sicher auch im Salon auf Besucher warten. Am Fenster auf und ab schreiten und dort ein Loch in den Teppich laufen.“ Dorothea erhob sich und warf ihrem Mann einen scharfen Blick zu, der kurz über seinen eigenen Witz gelächelt hatte. „Sie wird hierbleiben und endlich dieses Stickmuster erlernen. Sie drückt sich seit Tagen davor. Eine gute Ehefrau muss jegliche Feinheiten des Stickens beherrschen. Also, Emma, setz dich…“ Ihre Tochter gehorchte niedergeschlagen. Was blieb ihr auch anderes übrig? Mit ihrer Mutter musste sie schließlich öfter auskommen, als mit ihrem geliebten Vater. Sich ihr jetzt zu widersetzen, würde viele Stunden voller wütender Blicke und langweiliger Handarbeiten nach sich ziehen. Es klopfte an der Tür und Charlotte erschien. „Eine Nachricht für Miss Emma“, erklärte sie und reichte ihr einen Umschlag. „Danke.“ Die Schrift darauf war ihr bekannt und so öffnete sie ihn ungeduldig.   E., Du fehlst mir und ich stelle mir oft vor, wie es war dich in den Armen zu halten. Ich vermisse das Gefühl. Morgen Nachmittag plane ich einen Ausflug an den See. Gemeinsam mit Teddy und Diana. Ich erscheine vorher bei dir zu Hause und würde mich über deine Begleitung freuen. - H.S. - P.S.: Ich hoffe auf eine baldige Antwort.   „Und?“, fragte ihre Mutter und beugte sich zu ihr. „Diana Holland, Teddy Cutting und Henry Schoonmaker möchten morgen einen Ausflug an den See machen. Sie haben mich dazu eingeladen. Das ist doch in Ordnung?“ Ehe ihre Mutter zu einer Antwort ansetzen konnte, erwiderte ihr Vater: „Natürlich, Liebes. Beziehungen zu den Kindern künftiger Geschäftspartner müssen gepflegt werden.“ „Danke, Vater. Mister Schoonmaker wird mich abholen. Ihr habt ihn bereits kennen gelernt, nicht wahr?“ „Ja, ein sehr höflicher junger Mann. Ich denke, es ist gegen seine Gesellschaft und die der anderen jungen Leute nichts einzuwenden.“ Dorothea drehte sich schnaubend herum und ließ sich wieder auf ihren Stuhl sinken. Matthew zwinkerte seiner Tochter kurz zu, als seine Frau ihm den Rücken zugewandt hatte. Warum sollte er sie auch im Haus einsperren und zur Stickerei verdonnern? Sie hatte ihr ganzes Leben noch vor sich. Am selben Tag noch ließ Emma einen Boten ihre Nachricht an Henry überbringen: H., Ich werde mich bereit halten. Mein Herz spielte verrückt, als ich deine Schrift auf dem Umschlag erkannte. Ich sehne mich so sehr nach dir, dass ich fürchte nicht schlafen zu können. In freudiger Erwartung - E.T.-   Er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Sie wird also nicht schlafen können, soso. Das hätte er nicht erwartet. Henry lehnte sich in den Sessel zurück und besah sich noch einmal ihre Nachricht. Gut, ihm erging es nicht anders. Er konnte es kaum erwarten, sie wieder zu sehen. Ihm ging es schlecht, wenn sie nicht bei ihm war. Und morgen konnten sie sich etwas freier geben, als es auf den Bällen üblich war. Schließlich waren auch Diana und Teddy dabei. Sein Freund wusste, dass es ihm Emma angetan hatte und er war sich sicher, dass auch die beiden Mädchen bereits über ihn gesprochen hatten. Zumindest bedachte ihn Diana Holland jetzt öfter mit schelmischem Lächeln als früher. Sie schien eine sehr loyale und diskrete Freundin zu sein und er freute sich für Emma, dass sie gleich nach ihrer Ankunft hier in New York auf sie getroffen war. Wäre sie Penelope in die Hände gefallen wie Elizabeth Holland, Dianas zwei Jahre ältere Schwester, die sich zurzeit in Paris aufhielt, würde es ihr schwer fallen, von dieser wieder loszukommen. Es war natürlich nicht zu leugnen, dass auch Penelope irgendwo eine gute Seite haben musste, aber die kam nur sehr… sehr, sehr selten zum Vorschein. Er roch kurz an der Karte und nahm einen ganz leichten Hauch des Parfums wahr, das Emma auch beim Ball vor zwei Tagen getragen hatte. Es erinnerte ihn an den wundervollen und leider zu kurzen Tanz, aber vor allem an den Kuss. Sein Vater war gut über die Familie Thompson informiert und hatte natürlich am Frühstückstisch mit seinem Wissen geprahlt, aber dieses Mal kam Henry das sogar gelegen. „Matthew Thompson hat, wie ich, viel aus dem Geld gemacht, das ihm hinterlassen wurde. Bereits sein Großvater hatte mit dem Handel zu tun. Ich bin mir sicher, die Thompsons werden schnell zu den einflussreichsten Familien New Yorks gehören.“ Isabell trank einen Schluck Kaffee und blickte ihren Mann an. „Mrs. Thompson wirkte etwas streng. Ihre Tochter wird sicher eine eiserne Erziehung gehabt haben.“ „Eine strenge Hand ist nichts Falsches“, erwiderte William und Henry spürte förmlich den scharfen Blick, der ihm zuteil wurde. „Manieren, Haltung und Auftreten waren tadellos. Es war mir wirklich eine Freude sie kennen zu lernen“, fuhr er dann, an seine junge Frau gewandt, fort. „Wir sollten sie wirklich öfter einladen. Sie ist 18, nicht wahr?“ „Richtig. Und soweit mir bekannt ist, gab es bereits in Chicago viele Bewerber von gutem Stand, die sich um Miss Thompson bemüht haben. Sie wird auch zweifellos hier in New York eine der besten Partien werden.“ Das wunderte ihn keinesfalls. Jeder, der sie einmal ansah, musste von ihr verzaubert sein. Und hatte man das Privileg sich näher mit ihr zu unterhalten, konnte man ihr nur komplett verfallen. Aber wieder regte sich etwas in seinem Herzen, das ihn kurz griesgrämig werden ließ. „Und dann ist sie noch gar nicht verlobt?“ Jetzt schwand sein mürrischer Blick und er wurde hellhörig. Die Antwort seines Vaters interessierte ihn ungemein. „Meinen Informationen zufolge ist ihr Vater sehr hart in der Auswahl. Scheinbar war ihm keiner der Männer recht. Nun,…sie ist seine einzige Tochter und der Mann, der sie heiratet, wird nicht gerade unerheblich davon profitieren eine Thompson zur Frau zu bekommen. Zudem schien auch seine Tochter recht wählerisch bei den Junggesellen zu sein.“ „Ist es nicht sehr seltsam, wenn die Tochter ein Mitspracherecht bei der Auswahl ihres zukünftigen Ehemannes hat? Gerade, wenn sie noch bei ihren Eltern lebt.“ William trank seinen Kaffee und ließ sich Zeit, diese Frage zu beantworten. „Matthew sprach mit sehr viel Stolz über seine Tochter. Sie ist sehr klug, kulturell bewandert, interessiert an Kunst, ausgesprochen hübsch und, wie bereits erwähnt, sehr gut erzogen. Zudem soll sie zwei Fremdsprachen beherrschen. Wer ein solches Ansehen beim Oberhaupt der Familie genießt, hat meiner Ansicht nach, durchaus das Recht über seinen zukünftigen Ehepartner mit zu entscheiden.“ Isabell nickte. Und dann sah sein Vater ihm direkt ins Gesicht. „Der Tanz zwischen dir und Miss Thompson ist von ihm wohlwollend zur Kenntnis genommen worden. Es wäre von Vorteil, wenn du dich ein wenig um sie bemühen und dich um sie kümmern würdest. Auch wenn mir bewusst ist, dass du sowieso nur das tust, was dir im Sinn steht. Dein Lebenswandel ist ihm erfreulicherweise noch nicht bekannt. Beten wir dafür, dass das eine Weile so bleibt.“ „Wenn Sie meinen, Vater.“ Er gab sich alle Mühe nicht vor Freude aufzuspringen, um Emma davon sofort in Kenntnis zu setzen. Stattdessen gab er einem der Angestellten einen Wink, dass er noch einen Kaffee wollte und lehnte sich dann zufrieden im Stuhl zurück. Wieder schmunzelte er, als er an dieses Frühstück zurück dachte. Er hatte sogar das Einverständnis seines Vaters, sich öfter mit Emma zu treffen. Jetzt musste er nur noch das Problem mit Penelope lösen. Henry würde sich mit Teddy besprechen. Vielleicht würde dem etwas dazu einfallen. Das Feuer im Kamin wurde langsam schwächer und ihm war nicht danach, neue Scheite aufzulegen. So verwahrte er den Brief Emmas sicher in der Brusttasche seines Jacketts und ging dann in sein Zimmer hinauf.   Charlotte half ihr gerade bei den letzten Vorbereitungen, als sie endlich das Hämmern des Türklopfers vernahm. Sie konnte sich kaum beherrschen auf dem Stuhl sitzen zu bleiben, damit Charlotte ihre Frisur nicht noch einmal machen musste. Ihr Herz schlug unglaublich stark und das Blut pulsierte in ihren Adern. Endlich konnte sie hinunter in den Empfangssaal gehen, wo Henry, die Melone in der Hand, bereits mit ihrer Mutter stand und ein paar nette Floskeln austauschte. Ihr Haar war in Locken gedreht worden und sie verzichtete auf einen Hut. Sie nahm von Charlotte ihre Handschuhe entgegen, zog sie an und begrüßte dann den Gast. „Mr. Schoonmaker, guten Tag.“ „Den wünsche ich Ihnen ebenfalls, Miss Emma. Sie sehen wirklich reizend aus.“ Und tatsächlich blitzten seine Augen kurz auf, als er sie in voller Gestalt betrachtete. „Das ist wirklich sehr nett von Ihnen, danke.“ „Nun, Mrs. Thompson, ich bringe Ihre Tochter rechtzeitig wieder zurück. Mr. Cutting und Miss Diana warten in der Kutsche auf uns. Wir sollten sie nicht zu lange allein lassen.“ Er bot ihr den Arm und sie verabschiedete sich von ihrer Mutter, ehe diese noch weitere Worte an sie richten konnte. Henrys Hand legte sich über ihre und ihr ganzer Körper sehnte sich danach, sich an ihn zu schmiegen und nie wieder fortzugehen. Er half ihr hinauf auf einen Sitzplatz, sie begrüßte Teddy und Diana und dann fuhren sie bereits zum Ausflugsziel.   Er konnte sie einfach betrachten, ihr leichtes Parfum riechen, sie lachen hören und jede ihrer Reaktionen verfolgen. Aber berühren konnte er sie nicht. Eigentlich hatte er diesen Ort und diese Personen gewählt, um sich freier verhalten zu können als bei einem Dinner oder einem Ball und dennoch… Emma saß neben ihm auf der Decke, ihnen gegenüber Diana und Teddy und doch schien sie so weit entfernt wie nie zuvor. Auch andere Menschen waren hier, nicht allzu viele, die sie kannten, sodass er sich zwangloser hätte geben können, doch irgendetwas hielt ihn davon ab. So sehr er sich auch wünschte, sie an der Hand zu nehmen und mit ihr lachen und Späße machen zu können, er tat es nicht. „Henry, mein Freund“, meinte Teddy etwas lauter und er sah zu ihm auf. Erst jetzt bemerkte er, dass die Mädchen ans Ufer gegangen waren und ein paar Schwäne fütterten. „Ist alles in Ordnung?“ „Ja, ich bin nur… Ach, ich weiß auch nicht.“ „Es tut mir leid, aber allein hättest du mit ihr diesen Ausflug nicht machen können. Zumindest nicht, ohne neue Gerüchte in die Welt zu setzen.“ „Ja, ich weiß. Es ist nur so, dass ich heute hier bin, weil ich Zeit mit ihr verbringen will. Und so gern ich dich auch habe, aber ich wäre lieber ganz allein mit ihr. Niemand soll hier sein. Sonst hätten mich diese paar Menschen nicht gestört, aber…“ „Du möchtest sie nicht in eine prekäre Lage bringen.“ Er nickte und blickte wieder zu Emma. „Ich möchte ständig bei ihr sein und gleichzeitig werde ich alles dafür tun, um sie zu schützen. Im schlimmsten Fall auch vor mir selbst!“ Im selben Moment sah sie ihm direkt in die Augen, lächelte leicht und lief dann wieder zartrot an. „Henry, Teddy. Kommt, gehen wir ein Stück spazieren!“, verkündete Diana und zog Teddy auf die Füße, um mit ihm voranzugehen. Sie war die beste Freundin, die sich Emma nur wünschen konnte. Die Vier ließen die Decke hinter sich zurück - vor Diebstahl mussten sie sich nicht fürchten - und Diana legte ein hohes Tempo an den Tag. Aber Henry und Emma dachten nicht daran, Schritt zu halten. „Fühlst du dich nicht gut?“, fragte sie und er schien überrascht. „Du bist so schweigsam und machst ein so ernstes Gesicht…“, stellte sie fest und er schob wieder seine Hand über ihre, die sie um seinen Arm gelegt hatte. „Ich bin nur etwas in Gedanken. Es ist alles in Ordnung.“ „Hatten wir nicht vereinbart, dass du mich nicht anlügst?“ Er bemerkte ihren traurigen Blick und seufzte. „Verzeih, aber… Ich hatte dir versprochen, dass mir etwas einfallen würde und…“, er stoppte mitten im Satz. „Du glaubst, dass das hier nicht ausreichend ist?!“ Henry nickte nur. Sie erklärte sofort: „Es ist mehr, als wir bei einem Ball haben könnten oder einem Dinner. Auch wenn ich gestehen muss, dass es mir nicht genügt nur mit dir spazieren zu gehen, um dich berühren zu dürfen. Aber ich möchte mich auch nicht ständig verstecken.“ „Nur wäre das im Moment das Einzige, was es uns ermöglichen würde ganz allein sein zu können.“ Emma wandte ihren Kopf zur anderen Seite und er konnte sich denken, warum. Sie versuchte nicht zu traurig über diese Erkenntnis zu sein. Bemühte sich, ihm das nicht zu zeigen und das machte sie so wundervoll. Emma wusste, wie schwer es ihm fiel das zu akzeptieren und wollte seine Schuldgefühle nicht noch um ein Vielfaches verstärken. Eine wirklich ungewöhnliche junge Dame. Er berührte ihr Kinn und zog ihren Kopf zurück, sodass sie ihm wieder ins Gesicht sehen musste. Ihre Augen schnellten hin und her, sie legte ihre Hände auf seine Brust und stellte sich auf die Zehenspitzen. Dann küsste sie ihn. Ganz sanft nur. „Ich liebe dich“, hauchte sie und zog sich dann von ihm zurück. Henry sah sie einfach nur an, fühlte sich wie betäubt. Gerade wollte er zu einer Antwort ansetzen, als sie den Kopf schüttelte. „Du brauchst nichts zu sagen. Ich wollte nur, dass du es weißt. Bitte, sag nichts. Nicht jetzt, nicht heute.“ Sie hakte sich wieder bei ihm ein und beide gingen schweigend weiter. Kapitel 3: Drei --------------- Rastlos lief er in seinem Zimmer hin und her. Setzte sich kurz in den Sessel, um wenig später wieder aufzuspringen. Er fühlte sich wie ein hungriger Tiger in einem Käfig. Es war bereits eine Woche her, seit Emma ihm ihre Liebe gestanden hatte. Und den ganzen restlichen Tag hatte sie ihn gebeten, nicht zu antworten. Er hatte bereits mehrere Nachrichten verfasst, sie aber nie abgeschickt. Ebenso wenig wie den Brief, der in der Schublade seines Schreibtisches lag und in dem er sich alles von der Seele geschrieben hatte. Diesen öffentlichen Kuss hatte niemand gesehen, sodass Emma nicht als “schlecht erzogen” in die Klatschspalten gelangte. Aber dass sie so viel für ihn riskierte, machte ihn rasend. Ihre Familie war noch nicht lange hier und sie setzte alles aufs Spiel, ausgerechnet für ihn. Henry Schoonmaker, den Schürzenjäger New Yorks. Es war zwecklos, sich etwas vorzumachen. Er würde niemals eine Zukunft mit ihr haben können, dafür hatte er in seiner Vergangenheit zu viel falsch gemacht. Und er würde sie dafür gewiss nicht leiden lassen.   Ich werde heute Nacht an dein Fenster kommen. Bitte, hör mich an. - H.S. -   An ihr Fenster? Ihr Zimmer lag im zweiten Stock. Wie stellte er sich das vor? Sicher, die Hausseite, an welcher ihr Fenster lag, zeigte nicht zur Straße, sodass die Laternen es nicht beleuchteten. Und einen kleinen Balkon hatte sie auch, aber wollte er sich darunter stellen? Er würde zu viel Aufmerksamkeit erregen. Ganz zu schweigen davon, dass ihre Eltern ihn hören würden, wenn er von dort aus mit ihr reden wollte. Und wenn er vorhatte heraufzukommen? Nein, das war absurd. Diese Höhe könnte er nicht aus dem Sprung erreichen und einen Baum oder Ähnliches gab es hier auch nicht, den er zu Hilfe nehmen konnte. Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust. Sie war ganz aufgeregt und gleichzeitig wollte sie ihn nicht sehen. Emma konnte den Gedanken daran, wie sie ihn einfach in aller Öffentlichkeit geküsst und ihm dann ihre Liebe gestanden hatte, nicht ertragen. Es war die reine Wahrheit gewesen, denn sie liebte ihn. Aber sie hatte damit alles verändert. Sie hatte sich mit den kurzen Momenten, den Gesprächen und den leichten Berührungen zufrieden geben wollen, doch dann hatte sie seinen Blick bemerkt. Den ganzen Tag war er in Gedanken gewesen, beteiligte sich nicht sonderlich an den Gesprächen mit Diana und Edward, doch immer hatte er sie im Blick. Sie hatte sich nie zuvor sicherer in der Gegenwart eines anderen Menschen gefühlt. Und er hatte sie durchschaut. Voll und ganz. Doch wenn sie ganz ehrlich zu sich selbst war, so hatte sie von Anfang an gewusst, dass es ein großes Risiko barg, sich mit Henry Schoonmaker einzulassen. Er war ein Mann, der frei sein wollte. Ungebunden, nicht an ‘die Ketten der Ehe’ gefesselt. Und dennoch war es einfach so aus ihr herausgeplatzt. „Ich liebe dich!“ Sie hörte es immer wieder in ihren Gedanken und wünschte sich, es rückgängig machen zu können. Emma hatte natürlich sein überraschtes Gesicht bemerkt, wie auch nicht?! Er war ihr so nah gewesen und doch waren sie weit voneinander entfernt. Sie löschte das Licht und warf einen letzten Blick aus dem hohen Fenster, das auf ihren Balkon führte. Während sie ein paar Schatten beobachtete, griffen ihre Finger automatisch an den kleinen Verschluss, den Haken, der die Fensterflügel verschloss, und ließ ihn zurückklicken. Ihr kam dieses sonst so leise Geräusch, wie ein ohrenbetäubender Knall vor. Fast erwartete sie, dass ihre Eltern in ihr Zimmer kamen und sie dafür zurechtwiesen. Sie konnte förmlich den tadelnden Blick ihrer Mutter vor sich sehen, als plötzlich eine schwarze Gestalt über die Brüstung des Balkons kletterte und sich dem Fenster näherte. Er war in einen schwarzen Mantel gehüllt, blickte sie aus ruhelosen Augen an. Angsterfüllt kniff sie die Augen zusammen und presste ihre Hände gegen das weiße Holz des Rahmens, sodass sie ihn daran hindern konnte, die Fensterflügel zu öffnen. Er trat noch näher an das Glas heran und wisperte: „Bitte, Emma. Lass mich rein.“ Ihr Herz raste vor Panik und sie schüttelte vehement den Kopf, die Augen noch immer geschlossen. Sie würde seinen Blick nicht ertragen können. Wie viel würde sie daraus lesen können? „Ich flehe dich an“, fuhr er fort und alles in ihr schrie auf vor Schmerz. Ihm so nah zu sein und ihn dennoch von sich stoßen zu müssen, verursachte eine solche Qual, dass sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Die Kraft in ihren Händen ließ nach und die Sehnsucht, sich in seine Arme zu schmiegen, siegte. Sie zitterte und ehe sie zu Boden sinken konnte, schlang Henry seine starken Arme um sie und hielt sie einfach fest. Emma nahm den Duft wahr, der ihn umgab. Pomade, Zigarettenrauch und der herbe Geruch von Scotch. „Du hättest nicht kommen sollen“, flüsterte sie. „Ich musste es einfach tun.“ „Nein, nicht um meinetwillen.“ „Wir müssen darüber reden“, widersprach er und Emma bedeckte schnell ihre Ohren mit den Händen. „Kein Wort. Ich ertrage das nicht. Nicht von dir, bitte.“ Er umfasste ihre Handgelenke und führte ihre Hände an seine Brust. „Willst du dich den Rest deines Lebens vor mir verstecken, nur um nicht zu hören, was ich vor einer Woche hätte antworten wollen?“ „Henry, nicht, ich flehe dich an. Quäl mich nicht!“ Sie versuchte alles, um sich aus seinem festen Griff zu lösen, doch es gelang ihr nicht. Natürlich war er stärker als sie. „Warum hast du solche Angst vor mir?“ „Nicht vor dir… Ich weiß, wie unmöglich es von mir war, dich einfach in aller Öffentlichkeit zu küssen und so etwas zu sagen. Ich wünschte, ich könnte es rückgängig machen. Aber eine solche Kraft besitze ich nicht.“ „Das heißt, es ist dir peinlich?“ „Nein, es war schließlich die Wahrheit, ist es noch immer. Aber wir kennen uns noch nicht lange. Ich hätte das einfach nicht sagen dürfen. Nicht so, nicht an diesem Ort und nicht dir.“ Er blickte sie wie betäubt an. „Nicht mir?“, brachte er mühevoll hervor. Sie nutzte seine derzeitige Schwäche, um sich von ihm zu lösen und ein paar Schritte vor ihm zurückzuweichen, sodass sie hinter einem Stuhl vor ihrem Kamin stand. „Du bist ein Mensch, der die Freiheit liebt. Jemand, der sein Leben lang ungebunden sein möchte. Mein Geständnis hat dich in eine unmögliche Lage gebracht. Es ist nur verständlich, wenn du jetzt… Ich möchte nur einfach nicht… Nicht von dir…“ Emma weinte und schlug ihre Hände vor den Mund, um nicht aufzuschluchzen. Tränen rannen über ihre Wangen. Er wollte nicht, dass sie litt. Doch seine bloße Anwesenheit schien ihr solche Qualen zu bereiten, dass es sein Herz fest zusammenzog und kurz erstarren ließ. „Ich möchte nicht… Nicht… Sag es nicht!“, flüsterte sie und sank auf ihre Knie. „Ich liebe dich!“ „Was?“ „Ich liebe dich! Und ich sage das nicht, um dich vom Weinen abzuhalten. Auch wenn ich gestehen muss, dass ich mit so etwas wirklich nicht umgehen kann. Ich liebe einfach alles an dir. Außerdem würde ich jede Chance auf ein ‘freies‘ Leben aufgeben, wenn ich dafür nur mit dir zusammen sein könnte. Also zieh dich nicht vor mir zurück, stoß mich nicht weg. Und, bitte, hör auf zu weinen.“ Er ließ sich vor ihr auf die Knie fallen, wischte die Tränen von ihrem Gesicht und küsste sie dann auf die Lippen. Henry war dabei nicht so vorsichtig, wie er es eigentlich beabsichtigt hatte. Zudem war er auch mit einem anderen Ziel hergekommen. Er hatte sie schützen und sich von ihr verabschieden wollen. Doch wie sollte er eine solche Frau auch einfach ziehen lassen, wenn sie ihn so sehr liebte und brauchte? Sie hätte all ihre Gefühle zurückgestellt, nur um ihm seine Freiheit zu lassen. Nachdem sie ihre Lippen geöffnet hatte und seine Zunge die ihre berührte, umschloss er sie noch fester mit seinen Armen. Er drückte sie rücklings zu Boden und küsste sie weiter fordernd. „Henry“, keuchte sie, als sie ihre Lippen kurz voneinander lösten, „das kann ich nicht tun.“ Ihr Brustkorb hob und senkte sich schnell. Von ihm unbemerkt hatte er eine seiner Hände auf ihren Schenkel gelegt und dabei ihr Nachthemd ein Stück herauf geschoben. „Ich,…verzeih mir…das wollte ich nicht… Wirklich!“ Er wollte aufspringen, ihr ein wenig Raum geben, doch Emma hinderte ihn daran. „Es gibt nichts, wofür du dich entschuldigen müsstest. Es ist alles in Ordnung, Henry. Nur,… kannst du mich einfach noch ein wenig in deinen Armen halten?“ Er atmete erleichtert aus und lächelte sie an. „Gern.“ „Solange es geht?!“ „Ja.“ „Sagst du es noch einmal?“, fragte sie leise und eine einzelne Träne rann ihre Wange hinab. Er fing sie mit seinen Lippen auf und hauchte dann, sein Mund ganz nah an ihrem Ohr: „Ich liebe dich.“   Er hatte nicht eine Minute geschlafen. Wie sollte er auch? Neben ihm lag das schönste Mädchen, das er je gesehen hatte und er hatte sich nie wohler in seiner eigenen Haut gefühlt. Auch wenn er die Probleme eigentlich nur für ein paar Stunden ausblenden konnte, die jetzt noch auf sie zukommen würden. Henry hatte sie in den Armen gehalten und bevor sie einschlief in ihr Bett getragen. Er wollte dann auf demselben Weg verschwinden, wie er gekommen war, doch Emma hatte ihn aufgehalten und gebeten zu bleiben. Das war nicht zweimal nötig gewesen. Jetzt blickte er in ihr schlafendes, friedliches Gesicht und strich ihr eine Strähne des kastanienbraunen Haares aus der Stirn. Die Sonne ging langsam auf und ein paar Strahlen brachen durch das Fenster, das er am gestrigen Abend durchschritten hatte. „Du bist noch hier“, meinte Emma plötzlich verschlafen und lächelte ihn sanft an. „Ich konnte mich einfach nicht von dir trennen“, antwortete er und beugte sich zu ihr hinunter, um sie zu küssen. „Ich habe von dir geträumt. Es war schön.“ „Ich habe dich angesehen, das war auch schön.“ Ihre Wangen erröteten. „Du meinst die ganze Nacht?“ „Ja.“ „Hast du gar nicht geschlafen?“ „Nein. Das hole ich heute Nachmittag nach.“ „Ich hätte dich nicht bitten sollen, zu bleiben. Du siehst müde aus.“ Ihre Finger strichen sanft über sein Gesicht und er schloss sie wieder in seine Arme. „Doch, das war gut. Du kannst das gerne öfter tun.“ Er spürte ihren warmen Atem an seinem Hals, als sie lautlos lachte. Dann seufzte sie und fragte wispernd: „Was sollen wir jetzt tun?“ „Mein Vater bat mich, mich öfter um dich zu kümmern, aber ich denke nicht, dass es einfach für uns wird. Sobald dein Vater all die Dinge über mich hört…“ „Um ehrlich zu sein, macht mir der nicht so viele Sorgen. Meine Mutter ist in diesen Angelegenheiten viel schlimmer.“ „Wirklich?“ „Ja, ich genieße das Vertrauen meines Vaters, aber meine Mutter,… nun… sie hält mich für ein ungehorsames und undankbares Mädchen. Und wenn ich dann auch noch sage, dass ich dich in die engere Wahl ziehe und mein Vater einverstanden ist, wird sie noch mehr dagegen sein. Und hier in New York ist sie noch strenger als damals in Chicago. Dort hat sie sich immer zurückgehalten, wenn ich wieder einen Junggesellen abgelehnt habe.“ „Dann müssen wir eben dafür sorgen, dass sie glaubt, sie hätte diese Wahl für dich getroffen…“ Emma blickte verwirrt zu ihm auf. „Lass mich nur machen“, erklärte er und schlug dann die Decke zurück, um aus dem Bett zu klettern. „Ich muss jetzt zurück, sonst erkennt man mich noch oder ich werde von deiner Zofe erwischt. Das riskieren wir lieber nicht!“ „Sehen wir uns bald wieder?“, fragte sie und schlang schützend die Decke um ihren Körper, weil er bereits das Fenster geöffnet hatte und ein frischer Morgenwind ins Zimmer wehte. Ein paar braune Locken rahmten ihr helles Gesicht und sie wirkte so unschuldig in den weißen Laken, dass er kaum glauben konnte, was er plötzlich tat. Er nahm die paar Schritte zurück zum Bett, schloss ihr Gesicht in beide Hände und küsste sie leidenschaftlich. „So schnell wie möglich“, meinte er mit rauchiger Stimme und blickte dann in ihre großen Augen. „Unbedingt“, antwortete sie und wandte sich zu ihrem Nachttischchen um. Dann kramte sie in der Schublade und zog eine kleine Schere hervor. Mit einem kurzen metallnen Geräusch schnitt sie sich ein Stück einer Locke ab und reichte es ihm. „Damit dich etwas an mich erinnert.“ Sofort griff er in seine Brusttasche und förderte sowohl seine Taschenuhr, die er einst von seinem geliebten aber leider verstorbenen Großvater geschenkt bekommen hatte, als auch ein seidenes weißes Taschentuch zu Tage. Letzteres reichte er ihr. „Ich wünschte, ich hätte etwas Persönlicheres, aber…“ „Es ist perfekt, wirklich!“ Sie führte es an ihre Lippen und lächelte dann kurz. „Es riecht nach dir… Geh jetzt, sonst wird es nur noch schwerer für mich dich zu verabschieden.“ Er verwahrte die Locke in der anderen Seite der Taschenuhr, in die man eigentlich ein Foto hineintat. Noch ein letztes Mal berührten sich ihre Lippen, dann ging er auf den Balkon, vergewisserte sich, dass niemand ihn sah und kletterte das Rosengitter neben ihrem Fenster hinab, um im morgendlichen Nebel New Yorks zu verschwinden.   Wenige Abende später war sie zur Metropolitan Oper am Broadway eingeladen, in die Loge der Schoonmakers. Ihre Mutter war sogar einigermaßen zufrieden mit dieser Wendung gewesen. Zumindest wenn man ein kurzes Nicken in ihre Richtung so deuten konnte. Sie war sich nicht ganz sicher, ob Henry seinen Vater auf diese Idee gebracht hatte, aber sie freute sich auf Sohn und Vater. Auch wenn sie schon von der Machtbesessenheit des Seniors gehört hatte, unterhielt sie sich immer sehr gern mit ihm. Er hatte eine beachtliche Kunstsammlung und sie fachsimpelte, wann immer es möglich war, mit ihm über die verschiedensten Künstler. Und sie hatte bemerkt, dass er gelegentlich eines seiner seltenen Lächeln offenbarte, wenn sie leidenschaftlicher über ihre liebsten Bilder sprach. Emma hatte das Kleid angezogen, das ihr besonders am Herzen lag, und konnte es kaum erwarten, dass Henry sie darin sah. Es war ein bordeauxfarbenes, eng tailliertes Kleid mit V-Ausschnitt und angesetztem Rock. Am Saum war es mit schwarzer Spitze besetzt. Sie wirke darin besonders schlank, hatte ihr Vater einmal gesagt. Und in der Tat. Als sie es in Chicago angehabt hatte, bei Bällen oder Abendgesellschaften, war ihr die Aufmerksamkeit der Männer immer gewiss gewesen, obwohl sie es dort nie darauf angelegt hatte. Charlotte hatte auf ihren Vorschlag hin, ihr Deckhaar zurückgebunden und das Haar ansonsten in weichen Wellen, über ihren Rücken hinweg, offen fließen lassen. Emma fühlte sich stark und glücklich als sie aus der Kutsche stieg und die Familie Schoonmaker sie am Eingang des Opernhauses begrüßte. Ihre Eltern waren nicht mitgekommen, sodass sie sich zwar nicht so sehr anstrengen musste, aber dennoch dachte sie an den Anstand, der ihr seit frühester Kindheit eingebläut worden war. „Miss Thompson, wie schön, dass Sie es einrichten konnten“, meinte William, nachdem sie kurz geknickst und einen schönen Abend gewünscht hatte. „Ich habe mich sehr über Ihre Einladung gefreut. Es ist lange her, dass ich eine Oper besuchen konnte“, antwortete sie, „und ich fühle mich sehr geehrt, dass ich sie aus Ihrer Loge ansehen darf.“ „Aber nicht doch. Ich bin mir sicher, Ihr Vater wird bald seine Eigene erhalten. Dann können Sie so oft herkommen, wie Sie möchten. Zumindest, wenn es Ihre Zeit erlaubt. Aber ich gestehe, eine weitere Dame in der Loge sitzen zu haben, freut mich sehr.“ Emma lächelte höflich und ließ sich dann von Henry, der still vor sich hin schmunzelnd dagestanden hatte, in das große Theater führen. Am Empfang half er ihr aus ihrem Mantel und es blieb von ihr nicht unbemerkt, dass er sie dabei mehr berührte als es nötig gewesen wäre. Sie fuhr kurz über ihr Haar, um es zu überprüfen und wandte sich dann dankend zu ihm um. Er trug eine schwarze Weste, darunter ein weißes Hemd und einen schwarzen Schlips, dazu passend eine schwarze Hose. Aus der Brusttasche blitzte die Kette ein kleines Stück hervor, an der seine Taschenuhr befestigt war. Ein kurzes Lächeln huschte über ihre Lippen, weil sie daran dachte, was ebenfalls darin verwahrt war. Dann erst fiel ihr sein Blick auf. „Sie sehen wunderschön aus, Miss Emma“, keuchte er und schluckte einmal schwer. „Vielen Dank.“ Ihm war ganz schwindlig. Er hatte bereits den Saum ihres Rockes gesehen, als sie aus der Kutsche gestiegen war, aber dass darunter ein solches Kleid steckte, das ihre Schönheit so stark erstrahlen ließ, hatte er sich nicht träumen lassen. Sie atmete aufgeregt, was dafür sorgte, dass sich ihr Brustkorb schnell hob und senkte. Das Rot leuchtete in der Eingangshalle und ließ sie stark und noch schlanker aussehen. Dann erst bemerkte er die Blicke der umstehenden Männer. Alle hatten nur Augen für Emma. Und es war ihm das reinste Vergnügen, ihr den Arm anzubieten und damit allen Männern hier zu signalisieren, dass sie ihm gehörte. Wenn sie sich auch nicht denken konnten, wie sehr er das wirklich wollte. Und dennoch war es als würde sich ein wütender Tiger in seiner Brust regen, der ihnen zubrüllen wollte, dass sie sich von ihr abwenden sollten. Keiner hier sollte das Recht besitzen, sie so anzusehen. „Ich wünschte, wir könnten irgendwo allein sein“, wisperte sie ihm leise zu, sodass nur er es hören konnte und die Eifersucht legte sich schlagartig. Sie fühlte also dasselbe. Oder hatte sie etwa seine Gedanken aus seinem Gesicht ablesen können? Er musste wirklich vorsichtiger sein. „Ich befürchte, dieses Kleid war doch eine schlechte Wahl“, meinte sie dann und spürte, wie er seinen Arm fester an den Körper zog, um wenigstens ihren Handrücken tröstend an sich zu ziehen. „Wieso?“, fragte er leise und sie schritten gemeinsam die Stufen zu den Logen hinauf. „Es erregt zu viel Aufmerksamkeit. Dabei hatte ich es nur angezogen, um mich stärker zu fühlen“, flüsterte sie und fügte dann noch leiser hinzu: „Und für dich.“ Schon wieder wurde sie rot im Gesicht und versuchte es zu verheimlichen, indem sie einen Blick in die Logen warf, an denen sie vorbeikamen.   „Wieso nur ist dir ein solcher Grund unangenehm?“ „Weil es sich nicht ziemt“, erinnerte sie ihn zischend, doch er lachte nur kurz auf. „Ich fühle mich geschmeichelt, weil du dir solche Gedanken darüber machst, noch schöner aussehen zu wollen. Und das für mich. Obwohl es mir nicht egal ist, wie die anderen Männer dich ansehen. …Aber du gehörst mir nicht und daher sage ich, dass du wunderschön aussiehst.“ „Doch, voll und ganz“, antwortete sie und beide sahen sich gleichzeitig an. Ihre Augen blitzten ihm entgegen. Am liebsten hätte er sie jetzt an sich gezogen und geküsst, aber das wäre wohl ein fataler Fehler. So begnügte er sich damit, sie länger anzusehen als es sich gehörte und warm auf sie herab zu lächeln.   Der gestrige Opernbesuch unseres Kolumnisten sorgte für einige Erkenntnisse und wundersame Beobachtungen. Bisher hatten Gerüchte über eine bevorstehende Verlobung von Henry Schoonmaker mit der jungen Miss Penelope Hayes die Presse in Atem gehalten, doch nun scheinen einige Veränderungen anzustehen. Die junge Miss Emma Thompson, ebenso atemberaubend schön wie wohlerzogen, war Gast in der Loge der Familie Schoonmaker. Sie und der Sohn der Familie gaben ein wundervolles Paar ab und nun wird natürlich gemunkelt, was für eine Bewandtnis dahinter steckt. Schon der Tanz der beiden beim Sommerball der Familie Cutting hatte einiges Aufsehen erregt und für viel Gesprächsstoff in den Kreisen der höheren Gesellschaft gesorgt. Man sollte anmerken, dass der Presse bisher keinerlei Ankündigungen über eine Hayes/ Schoonmaker Verlobung zugegangen sind, sodass in diesem Fall noch alles offen erscheint. Wir zumindest, möchten nicht an der Stelle William Schoonmakers stehen, der sich zwischen zwei jungen Damen entscheiden muss - eine schöner als die andere -, damit eine von diesen seinem Sohn als nächste Mrs. Schoonmaker zur Seite stehen kann. Denn die Rachsucht einer verschmähten Frau sollte nie unterschätzt werden.   - Gesellschaftskolumne der New York News Of The World Gazette, Montag, den 20. August 1899   Penelope rauchte vor Wut. Wäre jemand vom Personal in der Nähe gewesen, hätte sie ihn angeschrien und wegen Belanglosigkeiten herumgescheucht. Doch sie war allein, abgesehen von Robber, ihrem Boston Terrier. Im Salon schritt sie, rasend vor Zorn, auf und ab, sodass ihr Kleid laut zu rascheln begann. Ihr war natürlich aufgefallen, dass Henry in letzter Zeit oft bei all den Veranstaltungen zugegen war, sich jedoch von ihr weit möglichst fernhielt. Und ihr war auch der Verdacht gekommen, dass er sich einen anderen Zeitvertreib gesucht hatte, aber ausgerechnet diese…?! Ihre sonntäglichen Stelldicheins mit dem jungen und gut aussehenden Schoonmaker hatten abrupt geendet. Ein oder zwei Mal hatte sie es verkraftet, aber dass er dann gar nicht mehr auftauchte und es nicht einmal für nötig hielt, ihr bescheid zu geben, beschämte sie zutiefst. Und jetzt lief er diesem Ding hinterher, das erst wenige Wochen zuvor aus Chicago gekommen war und sich für etwas Besseres hielt. Aber sie war Penelope Hayes und ließ sich äußerlich nichts davon anmerken. Innerlich aber schmiedete sie Rachepläne und nun hatte dieser Zeitungsartikel alles für sie entschieden. Der war es gewesen, der das Fass zum Überlaufen hatte bringen lassen. Henry gab sie keine Schuld. Diese Göre aus Illinois war dafür verantwortlich und das würde sie noch zu spüren bekommen. Niemand legte sich ungestraft mit ihr an. Sie rief nach einem Boten und schickte ihn mit einer Nachricht los. ‘Warte es nur ab, Emma’, dachte sie, ‘niemand sollte mir in die Quere kommen.’   „Er ist ein reicher Junge aus gutem Hause”, meinte Dorothea und ihr Mann faltete die Zeitung zusammen, aus der er seinen zwei Frauen eben vorgelesen hatte. Emma saß stillschweigend in ihrem Sessel und trank dann einen Schluck Tee. „War er nett zu dir?“, fragte er und blickte sie durchdringend an. „Er war sehr zuvorkommend und er wusste sich gewählt auszudrücken“, antwortete sie ruhig und faltete ihre Hände in ihrem Schoß. „Also ist er kein Dummkopf und hat Manieren. Nun, es gibt also doch noch wahre Männer in New York.“ „Sein Vater möchte in die Politik, soweit ich weiß. Emma könnte also in eine einflussreiche Familie einheiraten. Wir sollten ihn in Betracht ziehen“, erwiderte Dorothea und erhoffte sich regen Zuspruch ihres Mannes. Doch der schwieg eine Weile und betrachtete nochmals seine Tochter. Sie kannte dieses Verhalten nur zur Genüge. Er wollte sehen, was Emma davon hielt, doch die hielt sich wie immer zurück und ihr war es unmöglich ihre Reaktionen zu deuten. Nicht so Matthew. Selbst, wenn sie nur kurz blinzelte, wusste er genau, was mit ihr los war. Manchmal hatte sie das Gefühl, dass ihre Meinung nur halb so viel für ihn zählte, wie die seiner Tochter. „Ebenso“, meinte er nun, „sind mir ein paar Dinge über den jungen Schoonmaker zu Ohren gekommen, die nicht gerade für ihn sprechen.“  „Wovon sprichst du, Matthew?“ „Er soll eine Schwäche für schöne Frauen haben, milde ausgedrückt. Zudem hält er nicht allzu viel von den gesellschaftlichen Verpflichtungen. Obwohl das nicht zu stimmen scheint, schließlich war er bisher immer anwesend. Und er soll ein Genießer von Alkohol und Zigaretten sein.“ Emma zuckte nicht einmal mit der Wimper, als er sein Wissen preisgab. Dorothea hingegen machte ihrem Unmut Luft. „Ein Frauenheld? Welch furchtbarer Gedanke. Wenn das so ist, sollte er nicht als Kandidat in Betracht kommen. Auch wenn die Familie Einfluss besitzt. Solche Schlagzeilen dürfen nicht mit uns in Verbindung gebracht werden.“ Emma trank noch einen Schluck Tee. „Dorothy, das sind Gerüchte, die mir da zu Ohren gekommen sind. Niemand konnte es je beweisen. Und wie heißt es noch? Unschuldig bis zum Beweis der Schuld. Nicht wahr?“ Er blickte zu seiner Tochter, die ihren Kopf schräg legte und dann sagte: „Er hat mich in keinster Weise schlecht behandelt, und ich konnte auch nichts erkennen, was auf solche Gerüchte schließen lässt. Aber ich kenne ihn natürlich noch nicht lange.“ Matthew liebte diese Art an ihr sehr. Sie wagte es nie ein vorschnelles Urteil zu fällen, egal, wie schlimm die Gerüchte waren, die über eine Person kursierten. Doch ebenso wenig ließ sie sich anmerken, wie sehr sie diesem Menschen vertraute und wie stark sie für ihn eintreten würde, wenn es zum Äußersten käme. Aber ihm war bereits jetzt bewusst, dass sie Henry sehr mochte und es keinen Sinn hatte, ihr diesen auszureden. Und das wollte er auch nicht. Für ihn war es am Ende nur wichtig, dass sie aus den richtigen Gründen heiratete. Selbst, wenn das bedeuten sollte, dass sie einen Bettler zum Mann nehmen könnte. Matthew wollte vor allem, dass sie ihre Entscheidung nicht bereuen muss und glücklich wird. Es klopfte leise an der Tür und eine der Bediensteten des Hauses schlüpfte hinein und reichte Emma eine Karte. „Von Penelope Hayes“, erklärte diese und öffnete dann den Umschlag.   Miss Emma, Ich bin untröstlich, dass ich erst jetzt dazu komme, mich Ihnen vorzustellen. Ich hoffe, Sie können mir mein unmögliches Verhalten verzeihen und folgen meiner Einladung zum Tee am morgigen Nachmittag. Auch wenn es kurzfristig ist. Es wäre mir eine Freude, wenn Sie erscheinen und ich Sie als Gast im Hause meiner Eltern begrüßen dürfte. Hoffnungsvoll P. Hayes   „Sie lädt mich zum Tee in das Haus der Hayes ein“, teilte Emma mit und ihre Mutter ließ sich zufrieden in den Sessel sinken. „Wie es scheint, sind wir sehr beliebt. Geh dort hin. Je mehr Freunde du hast, umso besser ist es“, meinte sie. „Natürlich, Mutter. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen. Ich möchte noch ein wenig studieren“, verkündete Emma und verschwand aus dem Salon. Sie befürchtete das Schlimmste und musste unbedingt mit Henry darüber reden.   „Es ist wirklich ungewöhnlich, dass eine solche Bitte von dir kommt“, sagte er, als er im Dunkeln das Rosengitter heraufgeklettert war und vor ihr auf dem Balkon stand. „Ich hatte doch geschrieben, dass es auch auf schriftlichem Wege genügen würde“, verteidigte sie sich, doch Henry schüttelte verschmitzt lächelnd den Kopf. „Sei nicht albern. Ich habe dich seit gestern Abend nicht gesehen. Da werde ich mich doch wohl nicht fernhalten, wenn du mich um Hilfe bittest.“ Und ehe sie zu einer Antwort ansetzen konnte, hatte er bereits seine Arme um ihre Hüfte geschlungen und sie für einen langen Kuss an sich gezogen. „Es sind eher Antworten, die ich benötige“, begann sie und reichte ihm die Karte, die sie am Nachmittag erhalten hatte, „Ich dachte vielleicht, du wüsstest, was das bedeutet.“ Während er weiter ins Zimmer ging, schloss sie die Flügel ihres Fensters. Nachdem Henry die Einladung gelesen hatte, blickte er sie besorgt mit zusammengezogenen Augenbrauen an. „Also doch… Wie ich befürchtet hatte…“, seufzte sie und ging weiter, um sich aufs Bett zu setzen. „Penelope plant sicher nichts Gutes, aber vielleicht ist es auch harmloser als wir im Moment glauben. Manchmal ist sie schwer zu durchschauen“, meinte er. „Hast du den heutigen Artikel gelesen?“ „Ja. Nicht nur einmal.“ Sie lächelte kurz, doch dann wurde sie wieder ernst. „Sie ist sicher wütend. …Aber ich habe mir nichts vorzuwerfen. Ich liebe dich und wenn sie mich direkt danach fragt, werde ich ihr das auch sagen. Und mit ihr will ich nun wirklich nicht befreundet sein. Diana hat mir erzählt, was für eine Intrigantin sie ist. Und schon wie sie mich immer bei den Veranstaltungen angesehen hat… Feindselig. So jemanden braucht niemand zur Freundin.“ „Da hast du deine Antwort ja ganz allein gefunden.“ „Dann bist du ganz umsonst gekommen…“ „So würde ich das nicht unbedingt sehen.“ Er beugte sich weit über sie, sodass sie rücklings auf das Bett sank und er sich über sie legen konnte. Ihr Haar lag wie ein Fächer um ihren Kopf und ihre Wangen waren vor Aufregung gerötet. „Allein für einen solchen Anblick hat sich das Hinaufklettern schon gelohnt“, flüsterte er und strich mit seinen Lippen ganz leicht über ihre. „Mein Vater hätte nichts gegen eine Verbindung zwischen uns“, hauchte sie und küsste ihn dann. Sie wollte seinen Gesichtsausdruck nach dieser Bemerkung nicht sehen, aus Angst, dass ihm das alles zu schnell ging. „Was sagst du da?“ „Er denkt darüber nach…“ „Wirklich?“ „Ja. Und er hat die Gerüchte über dich bereits gehört. Da aber keine Beweise vorliegen…“, sie zuckte kurz mit den Schultern und tat so als wäre nichts Wichtiges vorgefallen. Aber in Wahrheit schlug ihr das Herz bis zum Hals und sie hätte ihn am liebsten voller Freude umarmt. Doch noch war nichts entschieden und sie wollte nicht enttäuscht werden, wenn es doch nicht dazu kommen sollte. Henry rollte sie plötzlich herum, sodass sie auf seinem Schoß saß und er stattdessen auf dem Bett lag. Fast hätte sie dabei vor Schreck aufgeschrien, konnte es jedoch im letzten Moment verhindern. Er verschränkte seine Arme hinter dem Kopf wie ein Kissen und sah sie ernst an. „Ich werde ein Mann der Tugend sein bis alles vollkommen entschieden ist.“ „Mann der Tugend?“, hakte sie nach und stützte sich mit den Händen leicht auf seinem Bauch ab. Sie kam nicht umhin seine Muskeln zu bemerken und versuchte sich nicht anmerken zu lassen, welch unmögliche Gedanken sich in ihrem Kopf Bahn brachen. „Ich werde nichts mehr tun, was deinen Vater von seinem jetzigen Urteil abbringen könnte. Zuvorkommend, selbstbeherrscht und in keinem Fall negativ auffallend.“ „Egal wo?“ „Nirgendwo!“ „Ach so“, sagte sie und nahm ihre Hände von seinem Bauch. „Was ist?“ „Gar nichts.“ Emma stand von seinem Schoß auf und er bekam gerade noch ihr Handgelenk zu fassen, ehe sie sich auf den Sessel zurückziehen konnte. „Lass es mich genauer erklären: Nirgendwo an öffentlichen Orten!“ „Du Schuft“, meinte sie und verpasste ihm einen leichten Klaps auf die Schulter, „das hättest du auch gleich sagen können.“ „Du meinst also, du würdest mich vermissen?“ „Vielleicht ein bisschen.“ Er küsste sanft ihren Hals und strich ihr Haar aus dem Nacken. „Na gut, nicht nur vielleicht“, keuchte sie und er wanderte weiter zu ihrem Ohr hinauf: „Sag die Wahrheit!“ „Fein,…sehr sogar?!“ „Schon besser“, lachte er und führte dann ihr Gesicht zu seinem.   Schon als sie zur Tür hereinkam, drang fröhliches Geplapper an ihre Ohren. Sie erkannte Penelope sofort, die mit ihrem roten Kleid so völlig aus der Gruppe Mädchen heraus stach. „Wie schön, dass Sie es geschafft haben, Miss Thompson“, verkündete sie und hastete auf sie zu, als würden sie sich seit Jahren kennen und seit langer Zeit mal wiedersehen. „Eine solche Einladung konnte ich doch nicht ausschlagen“, antwortete sie höflich und ließ sich dann von Penelope am Arm in die Mitte des Raumes führen. Wie auch die anderen Damen hatte sie ein Kleid aus hellem Stoff gewählt, wie es der Etikette entsprach. Eine Etikette, die Penelope definitiv kannte, aber bei solchen Gelegenheiten wohl gerne missachtete, um aufzufallen. So wirkte sie wie ein Blutstropfen in einem Meer aus weißen Blumen. Neben der Gastgeberin war Agnes Jones die Einzige, die ihr hier bekannt vorkam. Diana war unter den Anwesenden nicht auszumachen. All die anderen Mädchen sagten ihr rein vom Aussehen her nichts, aber sie wurde jeder von ihnen vorgestellt und Emma versuchte sich alle Namen gut einzuprägen. Nachdem sie dann in Gespräche verwickelt worden war, mit Penelope über Chicago gesprochen hatte und gerade Agnes lauschte, als diese von einem Dinner bei den Havertons schwärmte, meldete eine Zofe Besuch. Penelope reichte sie die Karte, die derjenige hinterlassen hatte und schlagartig veränderte sich der Gesichtsausdruck der 18-jährigen. Sie schaute kurz zu ihr hinüber und begann dann zu lächeln. „Bitte sie herein“, säuselte sie, „wir können sie doch nicht so lange warten lassen.“ Zwei in Anzüge gekleidete Männer traten in den Salon und alle anwesenden Mädchen holten gleichzeitig erschrocken Luft. Sie alle wussten natürlich, wer sie waren und dass Penelope sicher öfter von ihnen Besuch bekam, aber das hautnah mitzuerleben, schien sie alle völlig erstarren zu lassen. Emma jedoch hielt Augenkontakt zu Penelope. Diesen Triumph würde sie ihr nicht gönnen.   „Herrje, mit solch geballter Kraft junger, hübscher Damen hatten wir nicht gerechnet“, waren seine ersten Worte und sein Freund pflichtete ihm nickend bei. Die Mädchen seufzten oder kicherten und er erhaschte einen kurzen Blick auf Emma, die sich einen wortlosen Kampf mit Penelope zu liefern schien. Zumindest sahen sie einander an und es wirkte, als hätte diejenige verloren, die als Erste ihren Blick abwandte. „Wir wollten nicht so einfach in einen Nachmittagstee platzen. Wenn wir das gewusst hätten…“, meinte nun Teddy und klopfte ihm auf die Schulter. „Aber nicht doch, meine Herren. Es ist mir natürlich eine Freude, Sie hier begrüßen zu dürfen. Sie werden doch sicher ein paar Minuten für uns erübrigen können…“, schaltete sich Penelope ein und schwebte zu ihnen herüber. Er war sich sicher, dass sie es tat um Emma eine Reaktion zu entlocken, die sie verriet, doch diese ließ sich auf einem Sessel nieder und lauschte wieder Agnes, die ihr Gesellschaft leistete. Und der zweite Grund war, dass die anderen Mädchen sie natürlich noch mehr bewundern sollten. Sie spielte ihnen das ach so wunderbare Verhältnis zu zwei Junggesellen New Yorks vor. Dass ihm früher nie aufgefallen war, wie sehr sie vor anderen brillieren wollte, erschreckte ihn sehr. „Nicht, wenn wir stören“, sagte Teddy und begrüßte nun auch Agnes und Emma. „Sie doch nicht. Und damit meine ich beide.“ „Wie nett. Dann werden wir natürlich ein paar Momente bleiben“, meinte Henry und riss sich zusammen, ihr keinen angewiderten Blick zuzuwerfen. Emma konnte sich nur schwer davon abhalten lauthals loszulachen. Man sah Henry förmlich an, wie schlecht ihm all diese liebreizenden Floskeln aufstiegen. Und gleichzeitig war sie unglaublich froh darüber, ihn in ihrer Nähe zu wissen. Selbst wenn sie sich jetzt nicht mit ihm unterhalten oder ihn berühren konnte, bedeutete es ihr sehr viel, dass er gekommen war, um nach dem rechten zu sehen. Sie vermied zu viel Augenkontakt und versuchte Agnes’ Worten zu folgen, doch das gestaltete sich schwierig, als Penelope das Gespräch mit den beiden Männern auf ein Thema lenkte, in das sie sie dann einband. „Das Rennen am Samstag wird das spannendste überhaupt, weil ein Favorit aus Virginia kommen soll. Apropos Rennen. Ich habe Sie beim letzten Mal dort vermisst, Miss Thompson. Sonst haben Sie Ihre Eltern doch immer begleitet.“ Aller Augen ruhten nun auf ihr, doch sie setzte ihr höflichstes Lächeln auf und wandte ihren Kopf zu Penelope um, deren Augen ihr entgegen funkelten. Sie sah aus wie eine Schlange kurz vor dem Zubeißen. „Das ist richtig. Ich war nicht da, weil ich Pferderennen nicht gutheiße.“ „Wieso das nicht?“, fragte nun Bernadette Kline, die Tochter eines Bankers. „Ich liebe Pferde. Die Art, wie sie frei und ungezügelt laufen können, fasziniert mich. Aber das sie so etwas auch für den Wettkampf und das Vergnügen der Leute tun sollen, sagt mir nicht zu.“ „Welch interessante Überzeugung…“, flötete Penelope und sie sah das hämische Lächeln. Emma war natürlich bewusst, dass Henry Pferderennen besuchte, darauf wettete und sie gern ansah. Penelope hielt diese Überzeugung wohl für einen Punkt, der ihn an ihr stören könnte. „Danke“, meinte sie jedoch höflich und wandte sich dann wieder Agnes zu. Diese fragte: „Ich hörte, dass Sie in Illinois auch ein Pferd besessen haben. Ist das wahr?“ „Ja. Einen schwarzen Hengst. Mein Vater bekam ihn von einem seiner Geschäftspartner geschenkt, weil dieser seine Stallungen aufgab. Als ich ihn zum ersten Mal sah, war ich sofort verliebt. …Also in den Hengst, natürlich“, lenkte sie ein und ein paar Mädchen lachten. „Das heißt Sie können richtig reiten?“, fragte nun wieder Bernadette und ließ sich auf dem Stuhl neben ihr nieder. Einige andere Mädchen kamen näher. „Ja. Chicago hat einige freie Felder und es ist ein wunderbares Gefühl entgegen des Windes zu reiten.“ „Ritten Sie im Damensitz?“ „Nur, wenn ich in Begleitung war. Allein habe ich es, wenn ich mich kurz von einigen Verpflichtungen entbinden konnte, muss ich gestehen, öfter gewagt auf die Art der Männer zu reiten. Aber verraten Sie das niemandem!“ „Unsere Lippen werden verschlossen sein“, kicherte Agnes. „Gibt es viele Unterschiede zwischen Chicago und New York?“ „Einige. In Chicago zum Beispiel stehen die Häuser nicht so nah beieinander. Manchmal sind minutenlang keine Nachbarhäuser zu sehen. Und die Straßen dort sind auch nicht so viel befahren.“ „Dann hat Sie dieser Kontrast sicher erschreckt?!“ „Nicht sehr. Ich habe viel über die Stadt gelesen und habe auch mit meinem Vater darüber gesprochen. Er war früher schon öfter für einige Geschäfte hier. Es ist natürlich eine Umgewöhnung, das möchte ich nicht leugnen, und ich habe mich anfangs sehr verloren gefühlt, aber… Es gibt Vieles, das ich auch sehr interessant finde. Und meine Großmutter sagte früher immer: Neue Eindrücke erweitern den Horizont. Daran halte ich mich. Und die Menschen hier haben mich sehr nett empfangen. Das erleichtert so Einiges.“   Penelope stand mit einem Schlag nicht mehr im Mittelpunkt und das schien ihr gar nicht zu gefallen. Auch Teddy und Henry hatten Emmas Worten gelauscht. Dass sie ein Pferd besaß, war ihm gar nicht bewusst gewesen. Und da erst wurde ihm klar, wie wenig er selbst von ihr wusste. Er nahm sich vor, das sobald wie möglich zu ändern. Sie würde ihm alles erzählen müssen. „Nun, wir haben sie alle genug aufgehalten“, meinte er nun, weil er sich sicher war, dass Emma auch ganz gut ohne ihn zu recht kam. Er hatte sich grundlos solch große Sorgen um sie gemacht. Teddy stand ebenfalls auf, richtete sein Jackett und reichte Penelope die Hand, um dann ihren Handrücken an seine Lippen zu führen. „Wie schade, dass Sie schon gehen wollen“, antwortete sie und fixierte Henry mit ihrem Blick, „Sie sollten öfter vorbeischauen. Es war uns eine Freude.“ „Beim nächsten Mal werden wir mehr Zeit für Sie erübrigen“, antwortete Teddy und deutete einen Diener zu den restlichen Damen an. „Meine Damen“, sagte auch Henry und neigte seinen Kopf in Emmas Richtung. Sie schenkte ihm einen kurzen Augenaufschlag, der bei ihr weitaus ehrlicher wirkte, als bei den anderen jungen Damen. Penelope beobachtete sie wieder, doch sie tat nicht mehr, als auch die restlichen Gäste.   Langsam verließen die jungen Damen das Haus der Hayes, nur der Kutscher von Emma schien irgendwie nicht kommen zu wollen. „Es ist wirklich eine Freude, Sie endlich kennen zu lernen“, heuchelte Penelope wieder und Emma war es langsam leid, ihr all diese gekünstelten Lächeln zuzuwerfen. „Wollen Sie mir nicht sagen, ob das der einzige Grund war, mich einzuladen?“, fragte sie nun, endgültig genervt von dem Gehabe. „Wie bitte?“ Die perfekte Maske ihrer Gastgeberin bröckelte nicht, doch sie ließ nicht locker. „Wir wissen beide, dass Sie mich nicht deswegen eingeladen haben. Sagen Sie mir, warum also dann?“ „Sie haben die Gesellschaftskolumne gestern auch gelesen, nicht wahr?“ „Ja, beziehungsweise mir wurde darüber berichtet. Wieso fragen Sie?“ „Ich denke, dass Sie eine ehrliche Person sind, daher werde ich Sie jetzt direkt fragen…“ Die Luft begann zu knistern und Emma spürte förmlich, den unterschwelligen Zorn in Penelope aufflackern. „Haben Sie irgendein Interesse an Henry Schoonmaker?“ „In welcher Art?“ „Das wissen Sie doch.“ „Ich habe mich bisher zwei bis drei Mal mit ihm unterhalten und sein Vater war es, der mich zu der Oper einlud. Welches Interesse vermuten Sie denn dahinter?“ „Sie sollten wissen, dass Einiges, was in der Zeitung steht, auch einen Funken Wahrheit enthält. Daher… Sollten Sie das Interesse an Henry haben, das ich vermute, weise ich Sie höflich darauf hin, dass ich ihn länger kenne und auch besser. Es hätte also keinen Zweck, sich irgendwelche Hoffnungen zu machen.“ Sie hatte Penelope die Wahrheit sagen wollen, wenn sie nach ihren Gefühlen für Henry fragte, doch das Verhalten dieser jungen Frau ließ sie ihre Meinung ändern. Diese verdiente einfach keine ehrliche Antwort. „Drohen Sie mir, Miss Hayes?“ „Nur, wenn Sie das für nötig halten, Miss Thompson!“ Beide lächelten einander an, als dann die Hausangestellte wieder eintrat und die Kutsche meldete, die Emma nach Hause bringen würde. „Ein wirklich interessanter Nachmittag, Miss Hayes. Vielen Dank.“ „Gern. Sie sind natürlich jederzeit willkommen.“   „Ich mag ihre Art nicht“, flüsterte sie ihm zu und kuschelte sich noch näher an seine Brust, während er die Bettdecke höher über ihren Körper zog. Sie musste nicht einmal einen Namen erwähnen. „Sie ist Aufsehen erregend“, gab er zu und allein der Tonfall machte deutlich, dass er das nicht im positiven Sinne gemeint hatte. „Dass all die anderen Mädchen nicht merken, dass sie sie für minderwertig hält, macht mir am meisten zu schaffen. Schon die Art, wie sie mit ihnen spricht oder sich ihnen gegenüber verhält.“ „Ich befürchte, dass es ihnen vollkommen klar ist. Aber Penelope ist aufgrund ihres Aussehens, dem Einfluss und dem Geld ihrer Familie nun mal beliebt und sie alle wollen in der Presse neben ihr benannt werden, um in aller Munde zu sein.“ Emma schüttelte ihren Kopf. „Das kann ich einfach nicht nachvollziehen.“ „Ist danach noch etwas vorgefallen?“ „Nein, nicht wirklich.“ Sie fuhr mit ihren Fingerspitzen über sein Hemd und umrundete die Knöpfe. „Was verschweigst du mir?“ „Es ist gar nichts.“ „Ich soll ehrlich zu dir sein und du willst es nicht?“ Emma seufzte einsichtig. „Wir hatten die Möglichkeit unter vier Augen miteinander zu reden…“ „Und?“ „Sie hat mich nur darauf hingewiesen, dass sie dich länger und besser kennt als ich. Und ich mir daher keine Hoffnungen zu machen bräuchte.“ Er richtete sich auf. „Das hat sie nicht getan…“ „Doch, aber das interessiert mich nicht.“ Ihm blieb der kurze Augenaufschlag nicht verborgen, mit dem sie ihre Unsicherheit wegblinzeln wollte. Er nahm sie wieder fest und sicher in die Arme und wisperte: „Stell mir jede Frage, die du willst und ich werde absolut ehrlich darauf antworten!“ „Wäre das wirklich in Ordnung für dich?“ „Ja!“ „Na gut…“ Sie überlegte kurz und fragte dann: „Ist es dir egal gewesen, was die Frauen gefühlt haben, die du…?“ „Benutzt hast? Ja. Sie waren für mich nur eine Art Zeitvertreib. Das klingt jetzt so hart, aber ich habe bei ihnen nie etwas gefühlt. Darum war es mir auch völlig gleichgültig, wie sie sich gefühlt haben, wenn ich es leid war mit ihnen Zeit zu verbringen und sie nicht mehr beachtet habe.“ „Wie viele waren es?“ Zunächst blickte er sie an und sie war sich nicht sicher, ob er in Gedanken nachzählte oder ob er sich darüber ärgerte, ihr erlaubt zu haben jede Frage zu stellen. Dann jedoch meinte er: „Sieben.“ „Und die Letzte war Penelope?“ „Ja.“ „Bei ihr hast du auch nichts gefühlt?“ „Nein!“ „Warst du je zuvor verliebt?“ Er schloss die Augen und strich sich über die Stirn: „Verliebt nicht, aber es bestand ein einziges Mal ein stärkeres Interesse als bei anderen.“ „Wer war sie?“ „Paulette Riggs war ihr Mädchenname, aber als ich sie mit 18 kennen lernte, war sie bereits mit Lord Deerfield verheiratet. Sie müsste jetzt um die 30 sein.“ „Verheiratet? Und damals bereits Ende Zwanzig?“ Ein wehmütiges Lachen folgte und er nickte. „Na ja. Sie war ein wundervolles Wesen und ich glaube, sie fühlte sich sehr allein, weil ihr Mann oft Fischen oder Jagen ging. Und weitere Familienmitglieder gab es nicht.“ „Was ist passiert?“ „Sie verlor das Interesse. Eine Weile noch schrieb ich ihr, wie ein großer Dummkopf, Briefe und versuchte Treffen zu arrangieren, aber… Irgendwann gab ich es auf.“ „Hast du lange gebraucht, sie zu vergessen?“ „Es hat mich sehr getroffen, dass sie mich fallen ließ, aber… Es ist lange her und im Nachhinein gebe ich ihr Recht. Es wäre sowieso irgendwann schief gegangen.“ „Das war aber die einzige Verheiratete, oder?“ „Ja, absolut.“ „Hast du dich um mich gesorgt? Heute, meine ich.“ Er nickte nur, weil er einfach kein falsches Wort darüber verlieren wollte. Emma setzte sich auf seinen Schoß und bedeckte sowohl sich als auch ihn mit der Decke, sodass er sich wie unter einem Zelt fühlte. Er roch ihr Parfum, spürte einige ihrer Haarspitzen, die seinen Hals berührten, als sie sich zu ihm herunterbeugte und ihr Kinn auf seine Brust legte, um ihm nicht in die Augen sehen zu müssen. „Würdest du je heiraten wollen?“ „Dich?“ „Egal, wen!“ Er spürte ihren heftigen Herzschlag und auch, dass sie zu zittern begann. Dann legte er eine Hand auf ihren Hinterkopf, während er mit der anderen über ihren Rücken strich. „Ich würde schon, aber ob ich es tun sollte, ist die eigentliche Frage.“ „Wieso?“ „Diese Frau müsste sich ständig mit all den Artikeln in der Zeitung auseinander setzen, von den Menschen hier in New York ganz zu schweigen. Wenn ich mal nicht da sein sollte, wird sie sich ständig Sorgen darüber machen, ob ich sie nicht gerade betrüge. Und wenn ich denke, dass mir ein solches Leben nicht ausreicht, könnte ich nicht einfach gehen. Es wäre nicht wie früher. Ich kann nicht einfach ihre Gefühle ignorieren und sie mit solch einem Schmerz zurücklassen.“ „Zu einer Ehe gehört Vertrauen, Henry. Wenn sie das nicht hat, weder in sich selbst noch in dich, dann wäre sie dir als Ehefrau auch nicht gewachsen.“ „Heißt das, du würdest mich heiraten?“ Er meinte es halb ernst und halb neckend, doch Emma hob ihren Kopf ein Stück an, sodass ihre Gesichter nur Millimeter voneinander entfernt waren und blickte ihm entschlossen in die Augen. „Ja. Ganz gleich, was andere darüber denken und sagen würden.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)