Forever Dream von Mad Hatter-sama ================================================================================ Kapitel 13: Never Gonna Stop ---------------------------- Yoshiki hatte oft in seinem Leben das Gefühl gehabt, dass Dinge nicht schnell genug gingen. Dass die Zeit sich in die Länge zog wie ein geschmolzenes Karamellbonbon und man gezwungen war, sinnlos in der Gegend herumzusitzen und auf etwas zu warten. Zum Beispiel darauf, am Klavier an die Pedale zu kommen. Darauf, endlich mit der Schule fertig zu sein. Zwanzig zu werden. All das. Doch jetzt, wo ihnen in der zweiten Maihälfte ein Termin ins Haus stand, verging die Zeit auf einmal zu schnell. Nach jeder Bandprobe lag er nachts im Bett, wälzte sich von links nach rechts und wieder nach links und dachte an die Millionen Dinge, die er vor dem Auftritt eigentlich noch getan sehen wollte. Die meisten von ihnen, wurde ihm klar, würde er auf spätere Gelegenheiten verschieben müssen. Es würde nicht perfekt werden. Und obwohl er diesen Anspruch nie realistisch hätte haben können, machte es ihn wahnsinnig, hinter seinen eigenen Erwartungen zurückzubleiben. Drei Tage vor dem besagten Samstag schließlich saßen sie im Proberaum beieinander und gingen ein letztes Mal die Planung durch: wer wann wo sein musste, mit welcher Ausrüstung und wer wann vorher noch irgendwen anrufen musste, um irgendetwas zu klären. Yoshiki schrieb mit und nickte schließlich. Ihm fiel nichts mehr ein, das sie vergessen hatten. Es schien ihm in Ordnung so. Nicht perfekt – aber in Ordnung. (Der Nerv unter seinem linken Auge zuckte immer ein wenig, wenn er ‘in Ordnung‘ sagte oder auch nur dachte. Doch er gewöhnte sich allmählich daran.) „Ok“, sagte er schließlich und wiederholte noch einmal: „Also treffen wir uns um drei Uhr hier.“ „Wir haben’s langsam begriffen“, brummte Taiji. Er hing gelangweilt in seiner Sofaecke herum und drehte sich eine lockige Haarsträhne um den Finger. Eigentlich freute er sich auf den Auftritt, doch Yoshiki nahm den Dingen wirklich auch noch das letzte bisschen Spaß. Der Schlagzeuger war wie die menschliche Version von Mathehausaufgaben. Yoshiki ignorierte ihn. „Ich bring Wasser für unterwegs mit, aber Essen müsst ihr selbst machen.“ „Und du bist sicher, dass dich das nicht stresst?“, fragte Toshi seinen Freund. „Hinfahren, Spielen, Zurückfahren?“ Yoshiki drehte seinen Kugelschreiber zwischen den Finger. „Was ist die Alternative?“, fragte er, ohne es wirklich wie eine Frage klingen zu lassen – er erwartete keine Antwort. Doch er bekam eine. „Ich kann hinfahren“, bot hide an. „Du kannst fahren?“ Toshi schaute überrascht zur Seite. Er hatte sich neben hide auf die Armlehne gesetzt, möglichst so, dass es unauffällig und gleichzeitig locker-lässig war. Zumindest hoffte er das. hide hob die Schultern. „Ich bin neunzehneinhalb, natürlich kann ich fahren.“ „Seit wann?“ „Seit bevor wir uns kannten.“ „Das ist super!“, rief Yoshiki entzückt und zückte seinen Plan. „Dann können wir uns zumindest abwechseln!“ „Äh…“, machte hide. „Ja. Ok. Hör zu. Ich kann fahren, solange es hell ist, aber wenn es dunkel wird, seh ich nichts mehr.“ Yoshiki runzelte die Stirn und ließ seinen Plan wieder sinken. Er hätte es wissen müssen! Sich zu früh freuen führte nur zu Enttäuschungen. „Seit wann siehst du nachts nichts?“ Soweit er sich erinnerte, war er mit hide jetzt schon öfter nach Einbruch der Dunkelheit unterwegs gewesen. „Ja, ich seh schon…“, gab sich hide Mühe, es zu erklären, „aber es… es ist komisch. Also ich fall jetzt nicht über meine eigenen Füße, aber du willst mich nicht bei achtzig Meilen die Stunde ans Steuer einer Blechdose setzen. Wir werden Flecken auf dem Asphalt, glaub mir.“ Igitt… „Danke für dieses schöne Bild“, murrte Yoshiki. „Aber im Ernst, willst du mich verarschen?“ Auch hier erwartete er keine Antwort. Doch wenn er sich Unterstützung gewünscht hatte, dann nachts nach einem vermutlich sehr anstrengenden Tag. „Sorry“, sagte hide und rieb sich schuldbewusst über den Hinterkopf. Seine Haare waren wieder zu lang und puschelten fröhlich in alle Richtungen. „Aber wie gesagt: Ich kann hinfahren, wenn du willst.“ „Hin nehmen wir die Fähre“, sagte Yoshiki und tippte auf seine Liste. Gut, dass er alles fünfmal sagte, denn anscheinend fruchtete es doch nicht! „Da brauch ich keinen zweiten Fahrer.“ „Sorry“, sagte hide noch einmal. „Jaja“, machte Yoshiki und rieb sich über die Augen. Dann hing es also an ihm. Genau wie er es mochte. -X- Drei Tage später schließlich fuhr Yoshiki am frühen Nachmittag mit dem alten Datsun seiner Mutter vor dem Haupteingang vor. Er schaute ein wenig zu oft in die Seiten- und den Rückspiegel, um wirklich den Eindruck eines souveränen Fahrers zu erwecken, doch dass Toshi bereits die Fahrt zum Proberaum überlebt hatte, schien die anderen Anwesenden ein wenig zu beruhigen. Zumindest die meisten. „Ich bin mir nicht ganz sicher“, sagte Taiji, als er zuletzt noch draußen stand, „dass ich mich gut dabei fühle, bei dir einzusteigen.“ „… dann bleib hier“, antwortete Yoshiki betont gleichgültig, ging um den Wagen herum, stieg ein und knallte die Fahrertür lauter, als notwendig gewesen wäre. -X- Insgeheim war Yoshiki allerdings froh, dass Taiji sich noch zum Einsteigen bequemte. Davon abgesehen, dass er jemanden am Bass brauchte, tauschte Taiji nämlich auf der Fähre Platz mit Toshi und lotste Yoshiki ab da in die richtige Richtung. Die Aussage ‘Ich war schon mal dort, ich find wieder hin‘ hatte ihn zwar nicht überzeugt, aber so hatte er zumindest die Möglichkeit, die Schuld im Zweifelsfall auf Taiji abzuwälzen. Doch zu seiner Überraschung hielten sie eine knappe Stunde später vor einem kleinen Gebäude irgendwo zwischen Industriegebiet und Hafen. MOTO stand über der Tür, doch ansonsten schien es unscheinbar und verlassen. Sie stiegen aus und Taiji öffnete die schwere Eingangstür, indem er sich mit der Schulter dagegen lehnte. Dahinter lag ein schmaler Eingangsbereich. Das Licht, das an ihnen vorbei fiel, erhellte alte und neue Plakate an jedem Zentimeter Wand, vermutlich über Jahre hinweg Schicht um Schicht aufgeklebt. Nahe der Tür, zu seiner Rechten, erblickte Yoshiki die Ankündigungen für die kommenden Wochen: Heute EmilY und darunter (wesentlich kleiner gedruckt) X, nächste Woche eine Lesung moderner Literatur, die Woche darauf Strandparty – Mädchen im Bikini trinken umsonst. Ah ja. Er tauschte einen Blick mit Toshi, der seinem Stirnrunzeln nach ebenfalls gelesen hatte. Sympathischer Laden… „Wartet.“ Taiji ging zur anderen Seite hinüber, tastete kurz herum und dann flackerte eine kleine, kahle Glühbirne auf, die an ihrem Kabel einsam von der Decke baumelte. Der Bassist winkte sie zu sich. „Und ach ja“, hängte er an, während sie dem Flur einige Stufen nach unten folgten und zu Taiji aufschlossen, „wenn jemand fragt: wir sind alle zwanzig.“ Hinter ihnen fiel die Außentür laut ins Schloss. Yoshiki runzelte die Stirn. „Hast du deinen Typen da angelogen?“ „Natürlich nicht.“ Taiji blickte ihn über die Schulter hinweg an, als wäre er ein bisschen dämlich und ließ seine Augen einmal rollen. „Aber das muss die Geschichte sein. Klar soweit?“ Der Schlagzeuger betrachtete ihn nochmal genauer. Unter seinem Hut und seiner Mähne sah Taiji einfach scheiße jung aus. Das glaubte doch niemand. „… wie alt bist du nochmal?“, murmelte er, als er hinter Taiji in den Raum trat. „Siebzehn“, murmelte Taiji zurück, dabei kaum die Lippen bewegend. „Und du musst gar nicht so schauen, Mister Acht-Monate-Älter. Ich bin zwanzig, da wo’s zählt.“ Es vergingen zwei Sekunden in denen Yoshiki nur darauf wartete. Und er wurde nicht enttäuscht: „… wie du weißt.“ Yoshiki klappte den Mund auf, um Taiji unauffällig zu sagen, was er von seiner Technik hielt, doch auf der anderen Seite war ein Mann aus den Hinterzimmern aufgetaucht, angelockt vom Geräusch der Eingangstür. Er war in seinen Enddreißigern, hatte einen sorgsam gezüchteten Dreitagebart und trug Jeans in Kombination mit einem Shirt von Queen. Es hatte ein Loch am Unterbauch und jetzt, wo er es bemerkt hatte, konnte Yoshiki nicht anders, als es anzustarren. „Jo“, grüßte Taiji und hob die Hand. Ein Grinsen breitete sich auf dem Gesicht des Mannes aus. „Taijiiii!“ Sie umarmten sich genau so lange, wie man brauchte, um sich gegenseitig zweimal auf den Rücken zu klopfen. „Das ist Soji“, sagte Taiji dann und der Mann verbeugte sich leicht. „Soji, das ist meine neue Band.“ Der Blick des Vorgestellten wanderten einmal über die vier Jungs ihm gegenüber. „Uhm…“ machte Yoshiki. „Hi.“ Er fühlte sich zur Nebenfigur degradiert… und das wollte ihm so gar nicht passen. Zeit, das Ruder wieder an sich zu reißen – Taiji konnte später noch mit seinen Freunden spielen. „Hayashi Yoshiki“, sagte er also mit einer Verbeugung. „Erfreut.“ Soji grinste. „Ihr seid ja höflich." Yoshiki beschloss, den feinen Spott zu übergehen. Immerhin konnte er sich ein ordentliches T-Shirt anziehen. Er musste sich hier nichts beweisen. Also fragte er, statt darauf einzugehen: „Ist die andere Band schon da?" Soji nickte. „Ja“, sagte er. „EmilY haben heute Mittag schon aufgebaut. Sie wollten dann irgendwo was essen und… ‘chillen‘ und dann zurückkommen.“ Er drehte sich um und rief in die Untiefen seines Ladens hinein: „Hide! Hideeee!“ hide schaute verwirrt. Vor allem, als plötzlich eine Stimme erklang. Es rumpelte und klapperte und dann erschien ein junger Mann mit Aknenarben und einem Jack Daniels Shirt aus einer Tür, auf der 'Privat' stand. Soji wandte sich an die Band. „Das ist Hide“, erklärte er unnötiger Weise. „Mein Mensch für den Ton und die Technik. Ich lass euch mal machen. Taiji kennt sich ja schon aus, ist wie beim letzten Mal. Getränke stehen hinten. Ich bin im Büro, wenn ihr was braucht.“ Er hob die Hand und verschwand auf dem Weg, den Hide gerade gekommen war. Dieser nickte. „Ja“, sagte er, „Hallo. Macht euch hier mal irgendwo breit und dann richtet euch auf der Bühne ein und wir schauen mal kurz, ob alles läuft.“ Als Yoshiki seine Tasche auf einem der Stühle abstellte und sich aus seiner Jacke schälte, beugte hide sich zu ihm. „Gerade als ich begonnen hatte zu glauben, ich wäre einzigartig“, murmelte er. „Ich sag dir, irgendwann heute im Lauf des Tages wird mich das irritieren.“ Yoshiki musste schmunzeln. „Glaub mir, einen wie dich gibt’s nur einmal.“ „Und den Göttern sei Dank dafür“, sagte Taiji auf hides anderer Seite, wo er seinen Bass auspackte. Gleich darauf musste er einem Ellenbogen ausweichen und kicherte albern. „Schlagzeug?“, fragte Hide vom Mischpult aus. „Ja?“, fragte Yoshiki zurück. „Du spielst auf dem Set, das da steht, oder?“ Das wurde ja ein richtiges Frage-Frage-Spiel hier! „Becken hab ich eigene dabei.“ So besagte es die Schlagzeuger-Etikette. „Ah“, sagte Hide und wandte sich wieder seinen Schaltern und Reglern zu. „Dann bau die hin. Aber pass auf, dass du die Mikros nicht wegreißt.“ Yoshiki verzog das Gesicht. Was glaubte der Typ, das er war, bescheuert? Doch als er durch den Raum ging, am Mischpult vorbei und vorsichtig über die Kabel hinweg stieg, die quer über die kleine Bühne lagen, wurde er sich bewusst, wie wenig er eigentlich von all dem hier verstand. Er hatte keine Ahnung, wie genau der Sound in die Lautsprecher kam und wofür die vielen kleinen Applikationen auf dem Mischpult da waren. Er musste sich also darauf verlassen, dass der Typ dort wusste, was er tat und es noch dazu so machen würde, wie Yoshiki es wollte. Das… war nicht nur schrecklich. Es war inakzeptabel. Er schraubte also seine Becken auf die Ständer und setzte sich dann auf den Hocker. Wer hier spielte war größer als er. Yoshiki drehte den Hocker ein paar Mal und ließ sich wieder darauf sinken. „Du kannst runter kommen“, sagte Hide. „Ich?“, fragte hide irritiert, der gerade seine Gitarre anschloss. „Nein. Schlagzeug.“ „Wieso?“, fragte Yoshiki und blieb sitzen. „Weil ich die Becken schon hab und der Rest nicht verkabelt ist. Das ist laut genug auf den kleinen Raum.“ Sie lieferten sich ein kurzes Blickduell. Dann stand der Schlagzeuger zähneknirschend auf. Woher auch immer er lernen würde, wie man abmischte – Hide würde er nicht nach Tipps fragen. -X- Die Diskothek hatte einen winzigen Raum im hinteren Teil, der wohl eigentlich das Lager war, aber gleichzeitig auch als Backstage für Gelegenheiten wie diese diente. Es war wenig mehr als vier Wände, ein Tisch und eine Ladung Klappstühle. Sie waren vielleicht eine halbe Stunde dort, als das Hauptevent des Abends einlief. Die vier Jungs Mitte zwanzig fielen lachend und lärmend in den Raum ein und wandten ihre Aufmerksamkeit erst Yoshiki und seiner Band zu, als diese ein paar Sekunden Zeit gehabt hatten, sie zu bewundern. Und man musste ihnen lassen: cool waren sie. Einer von ihnen trug einen Schlangenohrring und Lederarmbänder, einer hatte eine Frisur wie ein Igel, der dritte hatte seinen Haaren auf einer Seite eine weiße Strähne verpasst und der vierte... nun, war eigentlich nur sehr, sehr groß und sehr, sehr breit. Aber auch das machte Eindruck. Auf seine Art. „Jo“, sagte der, der voranging. Der mit dem Schlangenohrring „Was geht. Wir sind EmilY. Ich bin Shinji, das sind Jin und N und der Typ, der schon wieder isst, ist Kaito.“ „He!“, sagte Kaito stumpf an einer Hand voll Crackern vorbei. Yoshiki erkannte seine Stimme – sie hatten telefoniert. „Uhm… Sehr erfreut“, sagte Yoshiki und begann: „Wir sind X. Das –“ „Kraaass!“, unterbrach ihn der Typ mit den stachligen Haaren, den Shinji als Jin vorgestellt hatte. „Du bist ja ein Kerl!“ Yoshiki blinzelte einmal. Dann noch einmal. Dann noch dreimal schnell hintereinander. „Äh“, machte er schließlich. „Ja?“ „Hahaaa!“, rief Shinji und patschte ihm einmal kumpelhaft die Hand auf die Schulter. „Nichts für ungut, Mann. Aber ehrlich – wie wär’s mal mit ein bisschen Bart oder Muskeln, hu?“ „Gut, dass du das noch gemerkt hast“, bemerkte N trocken in Jins Richtung. „Du hättest ihn sonst noch angegraben.“ „Äh…“, machte Yoshiki noch einmal. Er wusste nicht genau, wie er mit dieser Situation umgehen sollte. Irgendwo in seinem optimistischen Hirnteil hatte er sich ausgemalt, dass heute bestimmt wunderbare Musikerfreundschaften entstehen würden, die sie über die Jahre pflegen und ausbauen und nutzen konnten. Doch von diesem schönen Bild musste er sich wohl verabschieden. Er sah EmilY dabei zu, wie sie ihre Instrumente abstellten und schaute schließlich etwas hilflos über die Schulter zu denjenigen seiner Bandmitglieder, die er sehen konnte. Es waren Toshi und Taiji. Der Sänger schien genauso verblüfft und unfähig zu einer angemessenen Reaktion wie er selbst, doch auf Taijis Augen hatten sich gefährlich zu Schlitzen verengt. Als er aber einen halben Schritt nach vorne machte, war er wieder so cool wie immer. „Hört mal-“, begann er. Doch weiter kam er nicht. „He Cowboy“, sagte Shinji, „das Rodeo ist noch ein Stück die Straße runter.“ N und Jin lachten laut auf. Der Schlagzeuger hätte es ihnen vielleicht gleichgetan, doch es musste schwer sein mit vollem Mund. Taiji klappte den Mund wieder zu, nahm wortlos eine Cola vom Tisch und verschwand nach draußen auf den Gang. Entweder war ihm das hier zu blöd oder, und das konnte Yoshiki langsam nachvollziehen, er verspürte den ungesunden Drang, irgendjemandem das Nasenbein neu zu arrangieren. „Boah, scheiße“, sagte Kaito an seinen Chips vorbei. „Ich glaub, jetzt ist er eingeschnappt.“ „Das ist ok“, sagte N mit der hellen Strähne, „ich spendier ihm später im Saloon einen Drink.“ Noch einmal wieherndes Gelächter. Yoshiki seufzte lautlos. Das hier hatte keine Zukunft. Er drehte sich zu den drei verbliebenen Mitgliedern seiner Band um und nickte zur Tür. Sie konnten sich bis sie dran waren auch draußen einrichten. Toshi und Pata nickten, doch hide, der immer noch mit seiner Gitarre auf dem Schoß auf einem der Klappstühle saß, reagierte nicht schnell genug: Man hatte ihn bereits entdeckt. Mit wenigen Schritten war Shinji bei ihm. „Schaut euch das mal an!“, sagte er erheitert bis fasziniert und hob hides Unterarm an. „Was sind denn das für Patschehändchen!“ „He!“, machte hide ungläubig und riss seine Hand los. Shinji lachte. „Nichts für ungut, Kleiner.“ Er setzte hide seine Fingerspitzen wie einen Hut auf den Kopf und beugte sich zu ihm hinunter. „Komm, ich zeig dir ein paar Tricks. Da kannste noch was lernen.“ Er drehte sich um, zog einen Stuhl zu sich herüber und ließ sich darauf fallen. „Ihr seid ja echt ein lustiger Haufen“, murmelte er, während er seine Gitarre auspackte. Über seinen Kopf hinweg warf Yoshiki hide einen fragenden Blick zu und schlug mit der geballten rechten Faust leicht in die flache linke Hand. Er war bereit, Ärsche zu treten, wenn es das war, was passieren musste. Doch hide schenkte ihm nur ein ausdrucksloses Gesicht und wandte sich wieder an Shinji. Dieser fragte gerade: „Kannst du Palm Muting?“ „Ich hörte noch nie von diesen Palmen“, sagte hide blöde und Yoshiki sah zu, dass er nach draußen kam – um sein aufkeimendes Lachen zu verstecken. Sein Gitarrist kam zurecht. Toshi und Pata hatten es sich in einer Ecke der Bar gemütlich gemacht und Yoshiki beschloss, dass jetzt vielleicht ein guter Zeitpunkt war, sich umzuziehen. Auf dem Rückweg vom Auto entdeckte er hinter den Müllcontainern Taiji, der an einer Kippe zog. Einen Moment lang wollte Yoshiki einfach so tun, als habe er ihn nicht bemerkt, doch da stellte Taiji Augenkontakt her und die Option löste sich in Luft auf. „Wieso rauchst du nicht drinnen wie ein normaler Mensch?“, fragte Yoshiki, als er nahe genug herangekommen war. Taiji zuckte mit den Schultern und Yoshiki stellte sich in einer Armlänge Abstand neben ihn. „Hast du noch eine?“ „Mmh“, machte Taiji und zog die Schachtel aus der Jackentasche. Eine halbe Zigarette lang standen sie paffend nebeneinander. Es dämmerte. „Sorry“, sagte Taiji schließlich. Yoshiki hob den Blick. „Wofür?“ Taiji nickte zur Bar hin. „Hierfür. Ich… ich dachte nicht, dass das so laufen würde. Ist nicht gerade der beste Einstieg für die Band… nehme ich an.“ Der Schlagzeuger zuckte mit den Schultern und nahm einen langen Zug an seiner Zigarette. „Naja“, sagte er schließlich. „Wir sind ja nicht wegen denen hier. Warten wir’s ab.“ Er tippte Asche auf den Boden. „Kennst du EmilY?“ Taiji hob eine Schulter. „Nicht in der Zusammensetzung. N und Kaito hab ich schon mal gesehen. Vor einem Jahr oder so. Sie sind eigentlich ganz gut. Dachte nicht, dass sie hinter der Bühne so sein würden.“ Nachdem sie die beiden erlebt hatten, waren keine Ausführungen mehr nötig. Yoshiki wusste, was er sagen wollte. „Ich hoffe bloß, hide hält die aus. Ist er noch drin?“ Yoshiki nickte, doch winkte ab. „Ach… Du unterschätzt ihn. Mach dir keine Gedanken.“ „Mmh“, machte Taiji. Er schnippte den letzten Stummel seiner Zigarette auf den Boden und trat sie mit dem Fuß aus. Beim Aufsehen begutachtete er dann das Kleidungsstück über Yoshikis Arm. „Was ist das eigentlich?“ „Lacklederhosen.“ „Ja. Das seh ich. Aber warum?“ Yoshiki rauchte seine Zigarette auf. „Weil ich’s tragen kann.“ Darauf fiel Taiji offenbar nichts mehr ein, denn bis Yoshiki einige Sekunden später zurück nach drinnen ging, hatte er nicht geantwortet. -X- Eine Dreiviertelstunde später hatte Yoshiki sich umgezogen, ein wenig die Haare gestylt und, ja, ein kleines bisschen Makeup aufgetragen. Jeder wusste doch, dass man sonst unter dem Scheinwerferlicht aussah wie eine wandelnde Leiche! Danach hatte er das Equipment auf der Bühne begutachtet und schließlich noch ein bisschen am Tresen mit Soji geredet, der eigentlich ganz in Ordnung war und überraschend viel über die Musikindustrie wusste, um, wie er sagte nicht ganz aus der Mode zu kommen – was auch immer das heißen mochte. Als die Bar schließlich öffnete und die ersten Gäste hereintröpfelten, machte sich Yoshiki auf die Suche nach hide. Er fand ihn im Möchtegern-Backstage, wo er immer noch dort am Tisch saß, wo ihn seine Band vor etwas über einer Stunde zurückgelassen hatte. Der Rest von EmilY hatte sich im Raum verstreut, rauchte (oder aß) und schlug die Zeit bis zu ihrem Auftritt tot, doch ihr Leadgitarrist hatte noch nicht aufgegeben. Yoshiki kam nicht umhin, sein Durchhaltevermögen ein wenig zu bewundern. Er lehnte sich an den Türrahmen. Die halbe Minute hatte er. „Du musst den Finger da lassen“, sagte Shinji gerade und platzierte hides Hand neu auf den Saiten. „Und jetzt nur mit den anderen tippen. Hammer-on.“ „Was?“, fragte hide betont stumpf, „so?“ Er zog die Saiten unter seinem Zeige- und Mittelfinger mit einem hässlichen Wiauhwiii-Ton einmal nach oben und nach unten und rutschte dann ab, als bestünden seine Hände aus Butter. Shinji stöhnte, bemerkte Yoshiki und deutete stirnrunzelnd auf hide. „Warum genau habt ihr den da?“ Yoshiki zuckte betont desinteressiert mit den Schultern und nahm im Vorbeigehen eine Flasche Wasser vom Tisch. „Man braucht auch was fürs Auge. Wenn du nichts dagegen hast, würde ich ihn aber ganz gerne wieder mitnehmen. Es ist Zeit für seine Medikamente und ich hab versprochen, auf ihn aufzupassen.“ „Ähm… ok?“, fragte der junge Mann stirnrunzelnd und lehnte sich sichtlich verwirrt auf seinem Stuhl zurück. „Uuuh“, sagte hide und deutete auf Yoshikis Unterkörper, „glänzende Hooosen…“ „Ja. Komm jetzt“, sagte Yoshiki, mühsam ein Lachen zurückhaltend, und zog hide am Oberarm in die Höhe und mit sich hinaus auf den Gang. „Boah“, machte hide sich Luft, kaum dass sie außer Hörweite waren. „Danke. Diese Idiotennummer hat mich fertiggemacht.“ „Wieso machst du das?“, fragte Yoshiki, der jetzt angefangen hatte zu kichern. Glänzende Hooosen… Also wirklich! hide zuckte mit den Schultern. „Er hat mich behandelt wie einen Deppen, also ist es das, was er bekommt. Am Anfang wollte er mir ernsthaft beibringen, wie man Barré spielt, kannst du dir das vorstellen?“ Er langte sich ans Hirn. Dann schüttelte er den Kopf. „Naja, egal… Ich hab nicht auf die Uhr geschaut. Wann geht’s los?“ „Halbe Stunde“, antwortete Yoshiki. „Uiuiui“, machte hide, stoppte abrupt und drehte sich einmal um sich selbst. „In diesem Fall brauch ich dringend ein Bier! Mann, der ganze Nachmittag im Arsch!“ Yoshiki hakte sich unter und zog ihn mit sich. „Es ist für alles gesorgt.“ Die Bar war inzwischen ganz gut gefüllt – nicht so gut, wie sie es später am Abend wahrscheinlich sein würde, aber auch nicht die gähnende Leere, die Yoshiki aus seinen Albträumen heraus gegrüßt hatte. Am Tisch in der Ecke fand er Pata und Taiji und das versprochene Bier. „Halbe Stunde“, sagte Yoshiki. „Geht mal hinter demnächst und macht euch mal langsam mental fertig. Und vielleicht auch äußerlich… Und bitte betrinkt euch nicht schon vorher…“ Die Art, wie hide in einem Zug die halbe Flasche leerte, hatte ihn Letzteres anhängen lassen. Der Gitarrist setzte das Bier ab, rülpste unterdrückt, sagte „Jaja, ich benehm mich, tralala“ und schaute dann in die Runde und schließlich einmal durch den Raum. „Wo ist Toshi?“ Zwanzig Minuten später ließ sich Yoshiki auf dem Gang vor dem ‘Backstage‘ auf den Stuhl neben hide fallen. Dieser hatte seine Gitarre auf dem Schoß und wärmte gerade seine Finger auf – ernsthaft diesmal. Pata tat es ihm gleich. Taiji nippte an einem Bier und ging langsam den Gang auf und ab. „Und?“, fragte hide, ohne mit dem Spielen aufzuhören. „Oh, fantastisch“, antwortete Yoshiki und lehnte seinen Hinterkopf an die Wand. „Wir müssen in zehn Minuten auf die Bühne und unser Frontmann kann nicht aufhören, sich zu übergeben. Aber sonst ist alles in bester Ordnung.“ Taiji hielt in seinen langsamen Tigerschritten inne und schien nachzudenken. Schließlich reichte er dem Schlagzeuger sein Bier und verschwand in Richtung Toiletten. „… willst du ihn lassen?“, fragte hide und nickte dem Bassisten hinterher. Yoshiki zuckte mit den Schultern. Die Flasche in seinen Händen war angenehm kühl und er wünschte sich, er könne etwas trinken. „Ich bin so verzweifelt, ich würde alles versuchen.“ Dann stand er auf, stellte das Bier auf den Stuhl und begann, seine Muskeln zu dehnen. -X- „Toshi?“ Taiji streckte den Kopf in die Männertoilette. Bis auf einen Typen an den Pissoirs war sie leer. Wie man das unter Kerlen so machte, ignorierte Taiji ihn und wollte schon wieder gehen, als schließlich ein etwas klägliches „Ja“ aus der hintersten Kabine erklang. Mit einem lautlosen Seufzen trat er also vollständig ein und ging kurze Reihe der Toilettenställe entlang. „Ich bin nicht sicher, dass ich das will, aber: Kann ich reinkommen?“, fragte Taiji durch die Tür. „Von mir aus…“, grunzte Toshi. Taiji legte die Hand auf den Knauf, zögerte aber noch einen Moment. „… du bist angezogen, oder?“, fragte er. Nur um sicherzugehen. „Ja“, kam Toshis Stimme von drinnen, jetzt weniger elend und mehr ungläubig. In manchen einschlägigen Bars gab es einzeln angebrachte Waschbecken, die nur dafür da waren, sich dort übergeben zu können. Würde dieses Etablissement zu ihnen gehören, müsste er das hier jetzt nicht tun! Taiji seufzte lautlos, öffnete die Tür und schob sich halb hinter, halb neben Toshi in die Kabine. „Mann“, sagte er, als er die Tür wieder geschlossen hatte. „Du siehst nicht so gut aus.“ „Danke“, murmelte Toshi. Er kniete vor der Toilette und hatte einen Ellenbogen auf den Sitz gestemmt. Keine Position, in der man sich befand, weil es dort unten so beschaulich war und es so gut roch. Taiji seufzte, diesmal hörbar, zog seine Hose zurecht und ging neben ihm in die Hocke. „Ok“, sagte er, nachdem ihre Köpfe etwa auf der gleichen Höhe waren. „Was ist hier los?“ Toshi fuhr sich einmal mit dem Handrücken über die Stirn, wo einige schweißfeuchte Haarsträhnen klebten und juckten. „Ich… ich kann das nicht. Ich bin zu nervös.“ „Warum?“, fragte Taiji. „Die Leute da draußen sind eh nicht wegen uns hier. Sieh es als Probelauf. Ganz gechillt.“ „Ja… ich weiß… Aber ich… ich glaub, ich bin einfach nicht gemacht für Auftritte.“ „Aber dafür proben wir doch die ganze Zeit, du Idiot.“ „Ja. Genau. Erkennst du, welchen Druck mir das macht? Und jetzt sag bloß nicht“, sagte Toshi und hob abwehrend die Hand über die Schulter, da der Bassist schon Luft für die Antwort geholt hatte, „dass es keinen Druck gibt. Du tust so entspannt und Yoshiki auch, aber wir wissen alle: das ist es nicht. Ihr habt Ziele, wir haben Ziele und egal, was ihr sagte: heute ist wichtig. Irgendwie.“ Für ein paar Sekunden betrachtete Taiji das Schild über dem Klo, das Männer aufforderte, nicht neben die Toilette zu pissen. „In Ordnung“ sagte er dann und änderte die Strategie. „Dann frag ich mal so: Warum glaubst du, dass es schlimm wird? Du kannst doch singen.“ „Jaaa“, machte Toshi gedehnt. „Vielleicht. Aber… ich bin nicht… cool. Ich bin nicht der, den man nach vorne stellen sollte. Das war ich noch nie und das werd ich nie sein. Ich bin… normal. Einfach normal.“ Er legte den Kopf auf den Unterarm und sagte dumpf in Richtung Klobrille: „Das war eine beschissene Idee.“ „Komm mit.“ Taiji packte ihn hinten am Kragen wie ein Kätzchen und zog ihn in die Höhe. Ein anderer Typ, der gerade zur Tür hereingekommen war, betrachtete irritiert, wie er Toshi aus der Kabine schleifte und vor einen der halb blinden, stellenweise gesprungenen Spiegel über den Waschbecken stellte. „Du“, sagte Taiji in seine Richtung und machte eine unwirsche Kopfbewegung, „warum trägst du den halben Liter nicht noch eine Runde spazieren, hu? Ja, genau, so ist brav, raus mit dir!“ Sie waren wieder allein. „So. Und jetzt schau dich mal an“, forderte der Bassist ihn auf. „Und sag mir, was du siehst.“ „Einen Möchtegernsänger“, murmelte Toshi. „Und falsch“, befand Taiji und legte ihm einen Arm um die Schulter. „Versuch’s nochmal.“ Toshi seufzte und schaute den Jungen im Spiegel an. Er hatte sich in der Zwischenzeit auch umgezogen, trug seine schwarzen Hosen mit den sichtbaren Nähten an der Seite und eine halboffene Lederjacke mit nichts drunter, weil Yoshiki gemeint hatte, dass man sich immer die Option offenhalten sollte, möglichst schnell möglichst viel auszuziehen, wenn einen Scheinwerfer anleuchteten. Seine Haare waren in den letzten Wochen schon deutlich rausgewachsen und fielen ihm jetzt rebellisch ins Gesicht. Eigentlich sah er gar nicht so uncool aus… oder naja. Nicht so uncool wie in den ganzen letzten Jahren zumindest. Also der coolste Toshi bisher. Doch es gab deutlich Luft nach oben. „Ja… ich weiß ja, was du sagen willst“, meinte er schließlich. „Man ist anders auf der Bühne.“ „Genau. Du kannst machen, was du willst, Mann.“ Er machte eine Handbewegung zu Toshis Outfit. „Das ist wie eine Rolle. Eine Figur. Der Sänger von X. Keine Sau interessiert sich für Toshimitsu Deyama. Hart, aber wahr.“ „Aber… Gnah!“, begann Toshi noch einmal den Versuch, sein Problem zu erklären. Ihm war nach wie vor elend. „Ich werd nicht da raus gehen und tolle Sachen machen. Oder sagen. Oder… sonst was. Ich… weiß nicht, wie das geht! Ich bin nicht wie du und Yoshiki.“ „Alter“, sagte Taiji. Er packte Toshi an den Schultern und drehte ihn zu sich um, damit er ihn ohne Umweg über den Spiegel anschauen konnte. „Scheiß drauf. Es ist egal, wer oder wie du jetzt bist und was du glaubst, tun zu können und was nicht. Wichtig ist, wer du wirst, in dem Moment, wo du es tust. Und jetzt wirst du dir den Mund ausspülen, dir den Schweiß von der Stirn wischen und singen, oder ich trete dir so fest in den Arsch, dass du nie wieder sitzen wirst.“ Er nahm die Hand von Toshis Schulter und grinste genau zwei Sekunden lang. „Das ist witzig. Weil es wahr ist.“ Eineinhalb Minuten später nahm Taiji sein Bier von Yoshikis Stuhl und nahm noch einen Schluck. „Er ist so weit“, verkündete er und schlug dem Schlagzeuger gegen die Schulter. „Los geht’s.“ -X- Das war es also, dachte Toshi und umklammerte das Mikro. Irgendwo, ganz tief in einem Teil seines Hinterkopfes, hatte er nicht geglaubt, dass dieser Moment wirklich jemals kommen würde. Gehirne waren da komisch. Er konnte kaum etwas sehen, doch er wusste, dass dort unten Leute waren, die sie mäßig interessiert beobachteten und wenn er nach rechts schaute, würde er die Mitglieder von EmilY sehen, die ihnen von hinter den Vorhängen aus zusahen. Außerdem standen dort Pata und Taiji, die noch ein letztes Mal ihre Saiten nachstimmten. Auf seiner anderen Seite tat es hide ihnen gleich und hinter ihm saß Yoshiki und trocknete vermutlich gerade nochmal seine Hände an dem kleinen Handtuch ab, das er mit auf die Bühne geschleift hatte. Es war ein wohlgehütetes Geheimnis, aber der Schlagzeuger hatte ganz gerne mal Flutschfinger – und er redete hier nicht von dem gleichnamigen Wassereis. Es war so weit. Er konnte nicht atmen. Er konnte sich nicht erinnern, was er auf dem kleinen Zettel in seiner Jackentasche ausgearbeitet hatte. Er war so nervös, dass er nicht einmal die Setlist lesen konnte, die er neben sich auf den Boden geklebt hatte, gleich neben die von EmilY. Deren erster Song war Kimi no Tonari. Super. Das half ihm natürlich weiter jetzt! Toshi warf einen Blick hinter sich. Seine Band war mit den Vorbereitungen fertig. Sie warteten auf ihn. Für eine Zehntelsekunde stellte er Augenkontakt mit Yoshiki her. Er wusste, ein Nicken und dieser würde einspringen und etwas sagen. Toshi war versucht, es zu tun. Es war nur eine kurze Kopfbewegung und die peinlichen ersten Worte wären nicht mehr sein Problem. Aber Nein. Die Peinlichkeit würde wesentlich länger vorhalten als das. Außerdem verschob es das Problem letztlich nur nach hinten. Er musste dann immer noch singen. Und wenn er das Gatzen [Bayerisch: Stottern] anfing, wollte er es lieber nicht auf dem hohen C tun. Ohne genickt zu haben, drehte er also sich wieder nach vorne. Dabei streifte sein Blick hide, der ebenfalls abwartend in seine Richtung sah. Und der Gitarrist schenkte ihm ein Zwinkern: ein einäugiges, freches He-Du-Zwinkern auf der linken Seite, komplett mit einem schiefen Lächeln. Toshis Herz setzte einen Schlag aus und legte dann nochmal etwa zehn Schläge pro Minute an Tempo zu. Er stellte sich dem Scheinwerferlicht und den Menschen, die er kaum sah dahinter. Ok, dachte er, der Anfang ist immer am Schwersten. Mach den Mund auf. Mach den Mund auf und sag Worte. Der Typ im Spiegel kann das. Und wenn er es nicht kann, ist das ungefähr so sexy wie ein großes Baby. hide will garantiert alles, aber keines davon. Also los. Drei, zwei, eins. Er erinnerte sich nicht, was er aufgeschrieben hatte. Eins. Keine Chance. Eeeeeins! „He“, hörte Toshi sich sagen. Er senkte das Mikro noch einmal, räusperte sich und hob es wieder. „Wir sind X und wir sind hier heute live zu euch gekommen aus der Partymetropole… Tateyama.“ Ein amüsiertes Raunen. „Die meisten von euch kennen uns nicht und sind wegen EmilY hier… das ist ok, wir sind noch neu. Aber wir werden jetzt die nächste Dreiviertelstunde mit euch rocken…“ Im Hintergrund begann Yoshiki, den Intro-Beat des ersten Songs zu spielen, „… und ich verspreche euch, das nächste Mal kommt ihr wegen uns. Und jetzt: Install!“ -X- „Und jetzt noch viel Spaß mit EmilY!", rief Toshi und die kleine Menge im Raum jubelte - ob wegen ihrer Musik oder aus Freude darüber, dass jetzt endlich der Hauptakt kam, ließ sich nicht sagen und vielleicht war das gut so. Sie winkten noch einmal in den Raum und dann ging die Bühnenbeleuchtung aus und Musik von der Platte erklang. Minimale Umbaupause. Zwanzig Minuten später saßen Toshi, Pata, Taiji und hide wieder an ‘ihrem‘ Tisch in der Ecke, noch gefangen in dem seltsamen Flash, den ihre Dreiviertelstunde Erfolg ausgelöst hatte. In Toshi hatten sich dieser Flash, die abflauende Nervosität, die Erleichterung, dass es vorbei war und das Kribbeln in der Magengegend zu einem riesigen Gefühlsbatzen vermischt, der ihm wie ein verrutschtes Mochi im Hals zu hängen schien und er hatte das Gefühl, dass er bald etwas damit tun musste, oder er würde ersticken. Vielleicht hatte er aber auch einfach schon ein wenig zu viel Cola getrunken und das war das Koffein. Er schob sein Glas beiseite und klinkte sich mental wieder ins Tischgespräch ein. Die drei Meister an den Saiteninstrumenten diskutierten gerade noch Fehler und brillante Einfälle aus dem kurzen Gig und aus der Art, wie hide vor sich hinsprudelte schloss er, dass das noch eine Weile dauern konnte. Im Hintergrund spielten jetzt die Jungs aus Yokohama. Sie machten Spaß, das musste man ihnen lassen, doch ansonsten fand Toshi sie nicht unbedingt überragend – wenn man so etwas über Kollegen denn sagen durfte. Er warf einen Blick über die Schulter, dorthin, wo er Yoshiki das letzte Mal gesehen hatte. „Wenn ich mir schon dieses Konzert gebe, dann geb ich’s mir richtig“, hatte er gesagt. Also musste er irgendwo da unten sein, doch mit den bunten Lichtern und der generellen Untergrund-Atmosphäre war es schwer zu sagen. Kurz überlegte Toshi, ob er vielleicht runtergehen und mitmachen wollte, doch er hatte das Gefühl, dass seine Beine ganz froh waren, wenn er saß (und er nebenbei seine kuschelige Ecke hier nicht verlassen musste). Der Rest seiner Band diskutierte nun ebenfalls EmilY. Doch es kam Toshi so vor – und er war nicht der Einzige, dem es so ging – als beschäftigten sich nur drei von ihnen mit dem Geschehen auf der Bühne. „hide, tut das nicht weh?“, fragte Taiji schließlich. „Mmh?“, machte der Gitarrist, offensichtlich ertappt, aber entschlossen, alles zu leugnen. „Was?“ „Das Ding, das du da mit deinen Augen machst.“ Taiji griff einmal über den Tisch und drehte hides Kopf zur Seite, in Richtung der Mädchen an der einen Seite der Tanzfläche, die er schon seit geraumer Zeit aus den Augenwinkeln zu beobachten versuchte. „Wie ist das?“ „Oh. Ja. Besser.“ Ein leichter Rotschimmer erschien auf hides Wangen. „Ja. Danke.“ Eines der Mädchen sah in ihre Richtung, stieß ihrer Freundin den Ellenbogen in die Seite und nickte zu ihnen hinüber. Alle drei schauten und steckten dann kichernd die Köpfe zusammen und hide drehte sich schnell wieder zum Tisch, sein Kopf so rot wie ein Feuerlöscher. „Du Arsch!“, herrschte er den Bassisten an. „Jetzt haben sie’s gemerkt!“ Taiji grinste schief und lehnte sich wieder zurück. „Alter. Kichern ist gut. Geh halt einfach rüber!“ Langsam wanderte Toshis Blick von hide zu Taiji, langsam wie das unausweichliche und schreckliche Grauen, welches er stumm versprach. Er fühlte den Drang, Taijis Kopf einmal gegen den Tisch zu schlagen, nur damit er aufhörte, den Leadgitarristen zu so einem Unsinn animieren zu wollen. Doch dieser schien ohnehin nicht überzeugt. Er schüttelte heftig den Kopf und umklammerte, immer noch rosafarben, sein Bier. „Ich… Nein. Das kann ich nicht.“ Taiji stützte seinen Kopf auf den Arm. „Ich werde bereuen, gefragt zu haben, aber: warum nicht?“ „Weil… keine Ahnung. Die sind süß und hübsch und zu mehreren und ich bin… ich.“ hide nestelte am Flaschenhals herum. Toshi warf unauffällig einen kritischen Blick über die Schulter und an hide vorbei in Richtung Tanzfläche. Gute Güte! Sie waren nicht so süß! EmilY gingen aus dem Chorus zu einer sehr tanzbaren Bridge über und der Sänger animierte die Zuschauer zu einer kleinen Choreografie. Die Mädchen machten mit, dabei vermutlich darüber lachend, wie sehr zum Affen sie sich machten. Toshi drehte sich wieder zu Tisch. Scheiße. Sie waren so süß. Taiji allerdings schien weniger beeindruckt. „Lass mich was fragen – und ich glaub, ich kenn die Antwort: hast du schon mal mit einem Mädchen geredet?“ Eine etwas verschnupfte Grimasse antwortete ihm. „Natürlich hab ich schon mal mit einem Mädchen geredet!“ „Ich meine, mit einem Mädchen geredet in einem Junge-Mädchen-Szenario.“ hide schaute ausweichend zur Seite, zu Pata und dann zu der Schale mit Wasabi-Nüsschen. Und sagte: „Ähm…“ Das war Antwort genug. „Soll ich rübergehen und dich ihnen vorstellen?“, fragte Taiji. hide, der gerade die Hand nach den Nüsschen ausgestreckt hatte, zog die Hand wieder ein, als hätte er sich verbrannt. Sein Kopf fuhr herum. „Was? Nein! Das… Es ist in Ordnung, wie es ist. Ich… Nein.“ Taiji schob sein Bier zur Seite und lehnte sich ein Stück nach vorne, über den Tisch und in hides Richtung. „hide“, sagte er eindringlich. „Lass mich dir eine Frage stellen.“ hide lehnte sich ein Stück zurück, um den Abstand zwischen ihnen konstant zu halten. „Ok?“ „Und antworte ehrlich.“ Augen wurden misstrauisch zusammengekniffen. „Ooooo…keee…?“ Ein paar Sekunden lang tat Taiji nichts, außer ihn anzustarren. Dann sagte er in einem Aufwasch: „Wäre so ein bisschen Druck ablassen nicht mal ganz schön?“ Das leichte Rosa auf hides Wangen wurde mit einem Schlag wieder zu einem tiefen Feuerwehrauto-Rot. Doch es war Toshi, der ihn entrüstet anherrschte: „Taiji!“ „Ich mein ja nur“, führte der Bassist seelenruhig aus. „Sex passiert nicht, wenn man einfach dasitzt und drauf wartet. Also, vielleicht wenn du eine Frau bist. Aber Mann muss dafür auch was tun. Ranz mich nicht an, Alter. Was ist los mit dir?“ Die Frage richtete sich eindeutig an Toshi. Dieser lehnte sich zurück und bemühte sich, abzukühlen. „Nichts“, sagte er schließlich. „Es ist nur ein sehr persönliches Thema, finde ich. Und man muss das nicht unbedingt… diskutieren. Hier.“ Taiji betrachtete ihn nachdenklich. Dabei machte sich allmählich ein verstehendes Grinsen auf seinem Gesicht breit. „Aaaah. Du hast auch noch keine abgekriegt, nicht wahr?“ Er klopfte zweimal mit der flachen Hand auf den Tisch, zum Zeichen, dass er einen Entschluss getroffen hatte und stand auf. „Glaubt mir, ich tu euch beiden einen Gefallen.“ „Oh Neineineineinein!“, machte hide noch und versuchte, Taiji am Ärmel zu packen, doch dieser wich gelenkig wie ein Wiesel aus und stromerte durch den Raum davon. Der Leadgitarrist knetete seine Hände und schaute ihm nach wie einem Unfall: er wollte nicht hinsehen, aber wegschauen konnte er noch weniger. „Oh Gott“, sagte er dabei, „oh Gott. Ich bin gestorben und in der Hölle. Ja. Das muss es sein.“ Der Bassist hatte die drei inzwischen erreicht und obwohl Toshi natürlich nicht hören konnte, was gesprochen wurde, noch begabt im Lippenlesen war, konnte er die Konversation so genau rekonstruieren, als stünde er direkt daneben. Achtzig Prozent einer Unterhaltung waren nonverbal, das hatte er im Rhetorik-Club in der Mittelschule gelernt. Und diese achtzig Prozent sprachen von einer Mischung aus Komplimenten, Überraschung und unverblümter Selbstdarstellung. Aggressives Flirten nannte man das wohl. Dann gestikulierte Taiji in Richtung Tisch, die Mädchen kicherten und schließlich winkte er sie zu sich hinüber. „Ooouuuh“, stöhnte hide und drehte sich wieder zum Tisch. „Warum tut er mir das an?“ „Ich nehme an, er will das Beste für dich“, sagte Toshi trocken. Dieser Abend war richtig schnell richtig beschissen geworden. In seinem Kopf sah er sich selbst, wie er hide am Arm packte, ihm ins Gesicht sagte, was er empfand und damit diese ganze Situation und alles, was sich aus ihr ergeben konnte, im Keim erstickte. Doch es passierte nicht. Außerhalb seines Kopfes sagte Pata: „Geh einfach und unterhalte dich nett. Ist ja nicht so, als müsstest du eine von ihnen heiraten.“ hide kaute kurz auf seiner Unterlippe herum, dabei nach links und rechts guckend wie ein in die Ecke gedrängter Waschbär. Dann atmete er durch und erhob sich, schaute aber nach wie vor nicht gerade glücklich. „Scheiße, Leute. Ich weiß doch überhaupt nicht, was man da sagt!“ Pata nahm einen Schluck von seinem Wasser und blickte ihn ein paar Sekunden nachsichtig an. „Du bist der Typ mit der Gitarre“, sagte er schließlich. „Es ist erstmal egal, was du darüber hinaus tust.“ Irritation machte sich auf hides Gesicht breit. „Äh… danke?“ Das war offenbar nicht, was er hören wollte. Doch in Gedanken musste Toshi Pata Recht geben – und hoffentlich reichte diese Erkenntnis aus, um hide von den Armen jeder dieser Frauen fernzuhalten. „Gehst du nicht mit?“, wandte hide sich an Toshi. „Nein“, sagte dieser ohne zu zögern. Abschließende Antworten lieferte man am besten kurz und knackig. Etwas verunsichert und nicht ohne sich noch einmal auf halbem Weg zu ihnen umzudrehen, trat hide also seinen schweren Gang also allein an. Pata leerte sein Getränk. „Ich geh mal kurz nach draußen“, teilte er mit. „Auch frische Luft?“ Toshi schüttelte den Kopf. Er blieb am Tisch zurück und schaute den Eiswürfeln in seinem Glas beim Schmelzen zu, bis sich drei Songs später ein verschwitzter Yoshiki neben ihn auf hides Stuhl fallen ließ. „He“, sagte er atemlos und guckte sich um. „Wo sind alle?“ Wortlos nickte Toshi in Richtung Tanzfläche, wo Taiji inzwischen zwei der Mädchen zeigte, wie man unsinnig tanzte („Busfahrer! Pizzabäcker! Taucher!“), während hide sich am Rand mit ihrer Freundin unterhielt. Er schien Toshi nach wie vor etwas unbeholfen, aber hatte offensichtlich Spaß, wenn die Häufigkeit seines Lachens ein Indikator war. Erst da wurde Toshi sein Fehler bewusst: Er hätte mitgehen und das Ganze einfach unauffällig sabotieren sollen. Frustriert wandte er sich wieder seinem Glas zu. Was hatte er sich eigentlich gedacht? Er hatte keine Brüste. Es gab keinen Grund anzunehmen, dass hide sich jemals für ihn interessieren würde. „Ah“, machte Yoshiki und nahm einen großen Schluck von Toshis Cola. Patas Verbleib war damit zwar ungeklärt geblieben, aber um den machte sich Yoshiki auch mit Abstand die wenigsten Gedanken. „Und warum bist du nicht, wo alle sind? Sieht lustig aus.“ Toshi zuckte mit den Schultern. Yoshiki beugte sich nach vorn und sah ihm prüfend ins Gesicht. „Ist dir nicht gut? Noch übel?“ Ein Kopfschütteln. „Bloß müde.“ Yoshiki puhlte einen Eiswürfel aus dem Glas und steckte ihn sich in den Mund, bevor er Toshi die restliche Cola wieder hinstellte. Es knackte, als er kaute. „Aaaah, Toshi!“, rief er dann, schlang ihm einen Arm um die Schultern und zog ihn an sich, „schau ein bisschen fröhlich! Wir haben’s getan! Wir hatten einen Auftritt und haben uns nicht blamiert. Ist doch super!“ Toshi nickte und versuchte ein Lächeln. „Sorry, dass ich’s fast verschissen hab.“ „Hast du ja letztlich nicht. Alles super! Aber…“ Er schob das letzte Stückchen Eiswürfel in seine Backe, „Was genau hat Taiji denn mit dir gemacht?“ „Überzeugend argumentiert.“ Yoshiki runzelte die Stirn. „Und was hab ich die Viertelstunde getan, die ich an dich hingeredet hab?“ „Um ehrlich zu sein hab ich währenddessen dem Affen zugehört, der in meinem Kopf Blockflöte gespielt hat.“ Der Schlagzeuger lachte und drückte ihn noch einmal an sich. „Arsch!“ Toshi musste gegen seinen Willen lächeln, diesmal war es echt. Er legte einen Arm um Yoshiki und drückte zurück. Man wusste, dass man gut mit jemandem befreundet war, wenn man ihn spontan umarmte, egal wie schwitzig dieser Jemand war. An Yoshikis Hinterkopf vorbei erhaschte er noch einen Blick auf hide. Es war jetzt einfacher mit anzusehen. Freundschaft schlug Liebe an sieben Tagen in der Woche. Solange er noch Yoshiki hatte, mit dem er gemeinsam allein sein konnte, hielt er alles andere aus. EmilY spielten bis kurz nach halb elf und kamen ins Backstage zurück, gerade als Yoshiki und die anderen dort ihre Sachen zusammensuchten und zum Aufbruch bliesen. „He“, grüßte Yoshiki. „Gute Show.“ Das konnte man wohl sagen, ohne sich ein Bein auszureißen. „Danke“, sagte N, doch Shinji war schon auf hide fokussiert und hatte ihn offenbar gar nicht gehört. „Du hast mich total verarscht!“, rief er und hob die Hände zum Himmel. „Öhm…“, machte hide und griff sich noch eine Flasche Limonade, „ja.“ Es klang fast ein wenig mitleidig. Er grinste. Dann drehte er sich auf den Fersen um. „Ich wart draußen“, flötete er und verschwand aus der Tür. Shinji drehte sich zu N zurück. „Kannst du das fassen?!“ „Wie schon vor zwei Stunden“, erwiderte N trocken und nahm sich ein Wasser vom Tisch, „ja.“ „Ok“, sagte Yoshiki und nahm seine Hose von der Stuhllehne. Er hatte sich zum Fahren wieder umgezogen. „Also dann. War nett, euch kennen zu lernen.“ Er verbeugte sich halb und schickte sich, den Rest seiner Band im Schlepptau, an, hide zu folgen. Doch eine Stimme sagte: „Warte mal kurz.“ Als Yoshiki, schon halb auf dem Gang, sich umdrehte, merkte er allerdings, dass die Bitte an Taiji gerichtet war. Dieser wandte sich an Jin und wartete mal kurz. Pata und Toshi gingen an ihm vorbei, doch als Yoshiki sich nach rechts drehte, um mit ihnen zu gehen, stand er auf einmal vor einem breiten Oberkörper und einem ausladenden Bauch. Er machte unweigerlich einen Schritt rückwärts, nicht zuletzt wegen des aufsehenerregenden Körpergeruchs der zugehörigen Person. Wenn er jetzt darüber nachdachte, war er aber nicht sicher, ob er selbst gerade nach Veilchen duftete, also konnte er es ihm nicht einmal übelnehmen. Naja. Zumindest nicht so sehr. Kaito hob unschlüssig die Schultern. „Du bist gar nicht übel“, sagte er. „Danke“, sagte Yoshiki. Er hatte zu gute Laune um ihn darauf hinzuweisen, dass ‘nicht übel‘ in seiner Welt die Vorstufe zu ‘kacke‘ war. „Du bist eine ziemliche Maschine am Schlagzeug.“ Es stimmte. Er mochte äußerlich nichts hermachen, doch wenn Yoshiki von der ersten Reihe aus etwas bemerkt hatte, dann war es, dass dieser Junge in den fast zwei Stunden keine Sekunde nachgelassen hatte. Sein Körperumfang stand also nicht in Zusammenhang mit seiner Ausdauer. „Danke. Für so ‘nen schmalen Kerl haust du aber auch ganz schön rein.“ Yoshiki grinste schief. Themawechsel. „Danke nochmal, dass ich auf deinem Set spielen konnte. Ich hätte nicht gewusst, wie ich das herbringen sollte.“ Der andere Schlagzeuger hob noch einmal die Schultern. „Kein Stress… Freunde?“, fragte er und hielt ihm eine Tüte Chips hin, die er scheinbar einmal zur Bühne und zurückgetragen hatte. „… ok“, willigte Yoshiki ein. Er hatte auch zu gute Laune um Kaito zu sagen, dass er diesen Titel nicht oft vergab und wenn, dann garantiert nicht für fettgebackene Gemüsescheiben. Also griff er nach der Tüte und musste grinsen. „Sag mal… wie viele davon hast du?“ „Chips haben nur wenig Vitamine“, erklärte Kaito. „Man muss also relativ viel davon essen.“ Yoshiki blinzelte einmal irritiert. Er war sich nicht sicher, ob der andere Mann Witze machte. In einem Fall war er sehr schlagfertig, im anderen sehr simpel gestrickt. „Aha“, sagte er also schließlich. Dann nickte er in Richtung Ausgang. „Uhm… ich sollte dann. Die anderen warten draußen und ich hab die Schlüssel… Taiji, kommst du?“, warf er die letzte Frage ins Backstage. Der Bassist warf ihm einen kurzen Blick zu und nickte. „Sofort.“ „Also…“ Jin fuhr sich einmal durch die stacheligen Haare. „Hast du Bock, mal zu jammen, oder… so?“ Taiji betrachtete ihn von Kopf bis Fuß wie jemand, der etwas sorgfältig abwog. „Sorry“, sagte er schließlich und schulterte seinen Bass. „Ich reite allein.“ -X- Die Nachtluft war angenehm erfrischend, als sie aus der warmen, stickigen Bar nach draußen traten. Ein kleiner, blasser Dreiviertelmond stand am Himmel und steuerte seinen kalten Schein zur Beleuchtung bei, als die fünf jungen Männer über den Parkplatz gingen. Lachend und sich unterhaltend standen sie beieinander am Wagen, während hide und Yoshiki noch eine rauchten, dann machten sie sich ans Einsteigen. „Ah-ah-ah“, machte Yoshiki und packte hide an der Schulter, der sich angeschickt hatte, Taiji auf den Rücksitz zu folgen. „Wenn du dich schon vor dem Fahren drückst, kannst du zumindest bei mir vorne sitzen und mich wachhalten, mit dem ganzen Scheiß, den du immer von dir gibst. Toshi, hinten rein!“ „He!“, machte hide pikiert. Der Sänger hielt, den Hintern schon halb auf dem Vordersitz, inne, zog eine Grimasse und stieg wieder aus. „Was hab ich heute denn getan!“, schimpfte hide um des Schimpfens willen, aber schob sich und seine Gitarre auf den Beifahrersitz. „Jeder hat es heute mit hide!“ „Jaja, das Schicksal ist hart“, pflichtete ihm Yoshiki bei und schlug die Tür zu, bevor er um den Wagen herumging und sich selbst wieder auf den Fahrersitz platzierte. Als er saß, reichte er hide die Chipstüte. Dieser schien damit befriedet. „Mann“, sagte hide, als sie eine gute Stunde später die Lichter Tokios im Rücken hatten und gerade die Vororte Chibas durchquerten. „Tokio ist so unendlich geil bei Nacht. Oder… eigentlich immer. Ich liebe Tokio. Liebst du Tokio nicht auch?“ Yoshiki, der während des Fahrens kaum Zeit gehabt hatte, die nächtliche Kulisse zu bewundern, machte „Mmh.“ An der nächsten Kreuzung meinte er: „Ja. Besser als Tateyama. Aber das ist auch nicht schwer. Ist halt ein ziemlicher Moloch. Aber man kann viel machen. Also ja. Ich liebe Tokio. Jeder liebt Tokio, denke ich.“ hide drehte sich nach hinten um, vielleicht um noch jemanden nach seiner Meinung zu Tokio zu fragen. Yoshiki schaute in den Rückspiegel. Auf der Rückbank waren Toshi und Taiji eingedöst. Pata sah aus dem Fenster und hide ließ ihn in Ruhe. „Hast du einen dicken Filzstift?“, fragte der Gitarrist und drehte sich wieder nach vorne. „Nein“, antwortete Yoshiki. Die Ampel wurde grün und es ging weiter. „Wieso?“ „Wollte mal ausprobieren, wie Taiji mit Bart aussieht“, meinte hide und beugte sich nach vorn, um an seiner Gitarre vorbei im Fußraum herumzutasten. „Aber dann nicht.“ Er fand mit einem Knistern die Chipstüte und richtete sich wieder auf. „Süßkartoffel?“, fragte er und hielt Yoshiki die Tüte über die Mittelkonsole. „Ja“, antwortete dieser nach einem kurzen, unschlüssigen Blick auf die Verpackung. „Aber ich kann nicht gleichzeitig fahren und essen.“ Scheiße, er konnte ja kaum gleichzeitig fahren und reden! hide seufzte belustigt, öffnete die Tüte, angelte zwei Chips heraus und hielt sie Yoshiki vors Gesicht. Dieser schielte kurz in die richtige Richtung und aß sie hide schließlich aus der Hand – nicht ohne ihm dabei ein wenig über die Finger zu schlabbern. „Iih-Bäh“, machte der Gitarrist und wischte seine Hand an der Hose ab. „Wir haben schon aus der gleichen Flasche getrunken und aus der gleichen Schüssel gegessen“, erinnerte Yoshiki stirnrunzelnd, statt sich zu entschuldigen. „Wo genau ist das jetzt schlimmer?“ „Ok“, gab hide zu. „Argument.“ Er grinste und schleckte sich die gerade gesäuberten Finger ab. „Mmmh, Yoshiki…“ Der Schlagzeuger warf ihm einen ungläubigen Seitenblick zu und zog einen Mundwinkel hoch. „… manchmal ist mir nicht klar, was genau in deinem Kopf passiert.“ hide zuckte mit der linken Schulter und fischte in der Tüte nach einem Chip, der sich zusammengefaltet hatte, weil er die am meisten mochte. [Ich mach das gern. Macht das noch wer hier? XD] „Niiiiiiemand weiß das…“ Der Chip, den er zutage förderte, war allerdings ganz normal und dann auch noch zerbrochen. Enttäuscht streckte er ihn dem Schlagzeuger hinüber. Yoshiki nahm ihn hide mit den Zähnen aus der Hand, diesmal vorsichtiger. „Wir sind ein klasse Team“, sagte er kauend. „Du bist ein Hirni“, antwortete hide, doch seine Mundwinkel zuckten und er musste aus dem Seitenfenster schauen, um es zu kaschieren. „Level der Müdigkeit auf einer Skala von null bis zehn?“, fragte hide, als sie eine weitere halbe Stunde später Kisarazu passierten. Irgendwo im Meer rechts von ihnen sollte in der Zukunft eine Brücke entstehen, die Tokio direkt an die Stadt anbinden würde. Doch seit Jahrzehnten war nichts passiert und so musste man weiterhin einmal um die Bucht herumkurven. Zumindest waren nachts die Straßen leer. „Sieben“, murmelte Yoshiki. „Aber ist ja bloß noch eine Stunde. Das geht schon.“ Die Tatsache, dass er herzhaft gähnen musste, verlieh seinen Worten nicht die größte Überzeugungskraft. „Es geht schon“, wiederholte er also. Nur noch zum Proberaum, dann Toshi nach Hause fahren, dann Taiji absetzen, dann selbst nach Hause kommen. Das ging… ging… „Erzähl mir irgendwas.“ „Ah“, machte hide, „pu. Was soll ich denn erzählen?“ „Keine Ahnung. Ist es nicht das, was du immer sagst?“ hide zog eine Schnute, dachte hart nach und nickte dann einsichtig. „Das stimmt. Also. Ähm. Ja. Gesprächsthema. Kommt sofort. Uhm.“ „Wenn du Rockstar bist“, erlöste Yoshiki ihn von seinem Leid, „was willst du machen?“ Ein Thema, das eine Konversation mit Taiji ausgehalten hatte, war in jedem Fall auch für hide geeignet. Und er war zu müde, um weitere Gedanken für die Suche aufzuwenden. Der Gitarrist warf ihm einen verwunderten, doch amüsierten Seitenblick zu. Dann grinste er noch ein Stück breiter. „Vielleicht einen Alligator in der Badewanne großziehen. Aber im Ernst. Kann ich dir was sagen, ohne dass du lachst?“ „Ich kann dir anbieten, dass ich es zur Not leise tue“, antwortete Yoshiki. Das Licht eines entgegenkommenden Autos erhellte für einige Sekunden das Wageninnere, dann war es wieder dunkel. Anscheinend reichte hide das, denn er sah noch einmal nach hinten, wo inzwischen alle anderen Mitglieder ihrer Band eingenickt zu sein schienen und sagte dann: „Ich hätte unglaublich gern mein eigenes Label.“ „Oh. Cool. Für Musik?“, fragte Yoshiki interessiert und ein wenig überrascht. Es war eine gute Antwort. Besser als alle, die Taiji und ihm selbst im Kopf herumgegangen waren. „Ne“, erklärte hide. Abwesend drehte er seine leere Limoflasche ein wenig, um die kleine Glaskugel darin leise klackern zu lassen. „Für Klamotten. Oder es muss nicht mal ein Label sein. Vielleicht auch einfach nur ein Laden. Wo ich Sachen verkaufe, die ich cool finde und ein paar mit dazu hängen kann, die von mir sind. So Zeug designen. Das ist ziemlich nett.“ Yoshiki nickte einmal, zum Zeichen, dass er verstanden hatte, wusste aber nicht ganz, was er antworten sollte. Sein Gitarrist hatte bisher… nun, einen äußerst eigenwilligen Geschmack bewiesen und wenn Yoshiki ehrlich war, konnte er sich keinen sonderlich großen Erfolg damit ausmalen. Doch das hier war vermutlich keine Situation, in der die Wahrheit die bestmögliche Option war. „Das ist… ein interessanter Traum“, sagte er also. Doch hide war nicht dumm. Er warf ihm einen Seitenblick zu. „Interessant heißt scheiße?“ „Nein. Erstmal heißt das… ja. Interessant. Ich kann mir das nicht vorstellen. Klingt nicht wie was, das mir gefallen würde. Deswegen fällt’s mir schwer, mich da… emotional reinzufühlen. Aber ich hoffe, dass du es schaffst, wenn du das willst.“ „Danke“, sagte hide. Puh! Ein paar Minuten glitten sie durch die Nacht, nur begleitet vom gleichmäßigen – und einschläfernden – Brummen des Motors. hide unterzog Yoshiki in regelmäßigen Abständen einer kritischen Musterung. „Kann ich dir noch was sagen?“, fragte hide, gerade als zu ihrer Rechten die Lichter Kimitsus auftauchten. Yoshiki nickte. „Du musst mit mir reden, Mann“, sagte hide und rüttelte einmal an seiner Schulter. „Ich mach das hier nicht, damit du eine bessere Hintergrunduntermalung zum Schlafen hast.“ „Ok, ok“, sagte Yoshiki, nahm die linke Hand vom Lenkrad und spreizte einmal die Finger. „Ich bin wach. Ja, du kannst noch was sagen. Bitte, danke.“ „Weißt du, heute bei dieser anderen Band“, sagte hide und nestelte am Reißverschluss seiner Gitarrentasche herum, „da dachte ich, die sind schon gut. Und es gibt vermutlich noch einige andere, die genauso gut sind. Also, ich mag unsere Musik, aber… Da hab ich mich gefragt, ob wir nicht… ich weiß nicht, noch was anderes versuchen sollten, um uns abzuheben.“ „Was anderes?“, fragte Yoshiki und warf dem Gitarristen einen Seitenblick zu, so lange wie er sich traute, die Augen von der Straße zu nehmen. Nicht sehr lang. „Ja. Mehr so… äußerlich.“ „Äußerlich?“ hide nickte. „Äußerlich.“ „Wie äußerlich?“ hide zuckte mit den Schultern und arrangierte seine Füße neben seiner Gitarre neu. Sie waren dabei, einzuschlafen. „Weiß nicht. Wie KISS. Oder Led Zeppelin. Mötley Crüe. Einfach cool halt. Haare. Outfit. Vielleicht ein bisschen Schminke, für die ganz Experimentierfreudigen. Du hast ja schon angefangen.“ Die Dunkelheit war so gnädig, den Rotschimmer zu verdecken, der sich auf Yoshikis Gesicht ausbreitete. „Ist ja nicht wahr.“ hide lachte leise und patschte ihm eine Hand auf den Oberschenkel. „Ich erkenn Lippenstift, wenn ich ihn sehe. Und kleiner Tipp: Du bist ein Sommer.“ Yoshiki runzelte die Stirn. „Was bedeutet das?“ „Bin nicht ganz sicher. Aber ich hab‘s aus ‘ner Mädchenzeitschrift und es ist sicher was Gutes.“ „Ahja.“ Sie fuhren über eine Brücke, durch einen Tunnel, über eine Brücke, in den nächsten Tunnel. Chiba war eine sehr hügelige Präfektur. „Ok“, fuhr hide fort, als sie das nächste Mal aus dem Tunnel auftauchten. „Also die Sache ist die: Ich hab mir mal ein paar Sachen ausgedacht. So… für uns. Äußerlich. Das ist mir sehr peinlich und ich werde sterben, wenn du mir sagst, dass es scheiße ist, aber ich würde es dir gern mal zeigen. Wenn du magst.“ Yoshiki dachte einen Kilometer lang darüber nach. Er konnte hide sagen, dass er an ihn glaubte, solange es abstrakt blieb. Aber konnte er ihm sagen, dass er an ihn glaubte, wenn das bedeutete, dass er eine seiner – vielleicht schrecklichen – Kreationen tragen musste? „Klar“, sagte er schließlich. Weil es das war, was Freunde machten. Sie schwiegen ein paar Minuten. Dann knüpfte Yoshiki mit einem Gedanken an, der ihm seit hides Kommentar im Kopf herumging. „Wenn wir schon bei Äußerlichkeiten sind… Weißt du, was ich auch gerne wäre?“ „Mmh?“ „Blond.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)