Forever Dream von Mad Hatter-sama ================================================================================ Kapitel 3: Over and Over ------------------------ Auf dem Rückweg zur Bahnstation verquatschte hide sich hoffnungslos mit Taiji, verpasste den Zug zurück in die Stadt und wartete eine halbe Stunde auf den nächsten. Es war deswegen bereits nach zehn am Abend, als er schließlich Zuhause ankam. Die Bar im Erdgeschoss hatte bereits geöffnet. Er schloss die Haustür auf und stieg die Treppe nach oben. Raus aus den Schuhen, rein in die Wohnung. Es war still. hide ging am Kühlschrank vorbei und holte sich eine Flasche Wasser, dann weiter in sein Zimmer. Alles war genau so, wie er es zurückgelassen hatte: Futon auf der einen Seite, mehr oder weniger gemacht, Hausaufgaben auf dem Tisch auf der anderen Seite, ebenfalls mehr oder weniger gemacht. Gitarrenständer und Regal irgendwo dazwischen, hier und da ein paar verstreute Klamotten, die aufzusammeln er zu bequem gewesen war. Er stieg über einen linken Socken und einen Pulli hinweg zum Fenster, das er am Morgen gegen die Wärme geschlossen gelassen hatte und öffnete es. Milde Nachtluft drang herein. Er war müde doch kribbelig – während der Zugfahrt hatte er noch über das letzte Lied nachgedacht, das Yoshiki ihm vorgespielt hatte und es kam ihm plötzlich so vor, als müsse er alle seine Ideen sofort ausprobieren oder sie wären für immer im Limbo verloren. hide stellte die Gitarrentasche ab und wurde sich seines grummelnden Magens bewusst. Essen, dann noch ein bisschen Gitarre, dann Bett war die Idealvorstellung des restlichen Abends. Doch wie die meisten von hides Idealvorstellungen hatte auch diese nur sehr wenig Bezug zur Realität. Unten wurde die Haustür geöffnet. „Hideto!“, drang die Stimme seines Vaters die Treppe hoch. „Sieh zu, dass du runter kommst!“ Die Haustür knallte wieder zu. Mit einem Seufzen fuhr sich der Angesprochene also einmal durch die Haare, zog die Kapuzenjacke aus, trank ein paar Schluck Wasser und sah dann zu, dass er runter kam. Im Gastraum war es warm und ein wenig stickig. Zigarettenrauch und Alkoholdunst hingen dicht in der Luft und im ersten Moment hatte ein Neuankömmling wie hide leichte Orientierungsschwierigkeiten, bis sich die Augen an den Nebel und die Ohren an den Geräuschpegel gewöhnt hatten. Er wandte sich zur hinteren Seite des Raums. Sein Vater stand hinter dem Tresen und schenkte gerade ein Bier ein. „Wo zum Henker warst du?!“ „Bei Freunden.“ „Und das hättest du nicht sagen können!? Du weißt genau, dass wir dich samstags hier brauchen! Los jetzt, Tisch Vier!“ Er schob ihm unwirsch das Tablett über das zerkratzte Holz. hide schluckte eine Erwiderung runter und nahm die Getränke entgegen. Er hätte sonst vielleicht gesagt, dass er durchaus mitgeteilt hatte, wann er wo hingehen würde und dass es möglicherweise hilfreich wäre, ihm auch mal zuzuhören. Aber das gab nur neuen Ärger und führte zu nichts, also schlängelte er sich stattdessen durch den kleinen und dadurch noch voller wirkenden Raum zu Tisch Vier. hide konnte nicht sagen, dass er die Bar seiner Eltern sonderlich mochte. Er hatte Bilder von früher gesehen, auf denen sie nach einem ansprechenden, gemütlichen Ort ausgesehen hatte, Bilder, auf denen seine Eltern stolz lächelnd hinter der Theke gestanden hatten, seine Mutter noch mit einem dicken Babybauch und sein Vater mit vollem Haar. Doch Zeiten änderten sich und mit ihnen die Menschen, die mit ihnen gehen mussten – ob sie das wollten oder nicht. Heute zeigte alles hier gewisse Zeichen des Verfalls – das Mobiliar, das Ambiente und tatsächlich auch die Menschen, die hier ihre Abende verbrachten. Auf der Straße wäre hide wohl einem nicht unwesentlichen Teil von ihnen ausgewichen, doch so waren die Gesetze des Marktes: Wer Geld hatte, wurde bedient. hide machte sich allerdings nicht die Mühe, zu seinem hervorragenden Service auch ein Lächeln aufzusetzen. Den meisten fiel es ohnehin nicht auf. Obwohl es wie immer am Wochenende wirklich viel zu tun gab, zog sich die Zeit in die Länge wie Kaugummi. Seine Schulter, die heute schon mehr Gitarrengurt ausgehalten hatte, als er gewöhnt war und seine Finger, die so viel Barré an einem Tag sonst auch nicht mitmachen mussten, protestierten bereits nach einer guten Stunde gegen das Gewicht eines vollen Tabletts, was dazu führte, dass er doppelte Wege auf sich nahm. Das entlastete zwar seine Arme, doch machte die Lage insgesamt nicht weniger stressig und bescherte ihm noch dazu ein Stirnrunzeln seines Vaters. Während er arbeitete fragte er sich, wo er seinen Anteil für den Proberaum hernehmen sollte. Er musste mindestens auf das niedrigste Gebot kommen, das da waren Toshis 5000 Yen. Das war doch fast nichts. Das musste zu machen sein. Irgendwie. Ein Tisch mit zwei jungen Männern und drei jungen Frauen winkte ihn herüber. „Zahlen“, sagte einer von ihnen. hide zückte seinen Block und zählte zusammen. „6200 bitte“, sagte er schließlich und klemmte das Tablett unter den Arm. Während sein Gegenüber nach den passenden Scheinen suchte, warf hide einen Blick über die Schulter in Richtung Tresen. Seine Mutter hatte seinen Vater abgelöst, dieser unterhielt sich über den Tresen hinweg mit einem Bekannten – einem von denen, die bei hide das kalte Grausen auslösten. Er wandte sich ab, um Wechselgeld zu geben. Die Reaktion, wenn er diese Frage in der falschen Situation stellte, wollte er sich lieber gar nicht vorstellen. Doch im Grunde wusste er nicht mal, ob er sich den Stress antun wollte: es würde eh nichts dabei rumkommen. Meistens endeten Geld und Monat im Hause Matsumoto in etwa gleichzeitig. Manchmal endete das Geld etwas früher. Er würde sich also einen eigenen Job suchen müssen. Doch wann sollte er den einschieben? Unter der Woche am Abend? Am Wochenende morgens? Wann wollte Yoshiki proben? So oder so: Sein Leben würde wohl noch eine ganze Ecke anstrengender werden. „Also in meiner Welt“, sagte sein Gegenüber und riss hide damit aus seinen Gedanken, „sind 7000 minus 6200 immer noch 800.“ „Hu?“ Irritiert schaute der Gemaßregelte auf die Scheine, die der junge Mann in der Hand hielt. „Oh. Ja. Verzeihung.“ Er korrigierte die Summe. „Einen schönen Abend.“ Und weiter im Text. Irgendwann gegen zwei Uhr morgens schließlich leerte sich das Etablissement auf eine für zwei Personen besser machbare Anzahl von Gästen und hide stieg die Treppe wieder nach oben, zurück in die Wohnung. Unten war die Bar noch bis in die frühen Morgenstunden geöffnet. Gähnend tappte er in die Küche und schaute in den Reiskocher. Reis. Im Vorbeigehen schaufelte er einen großen Löffel voll in eine Schüssel und schlurfte weiter in sein Zimmer. Dort zog er sich um. Und fiel mit dem Gesicht voran ins Bett, ohne noch etwa gegessen zu haben. -X- Als hide am nächsten Morgen die Augen aufschlug, zeigte sein Wecker bereits kurz nach zehn Uhr. Er war immer noch müde, doch als er sich umdrehte, um vielleicht nochmal ein Stündchen Dösen auf der Seite reinzuholen, fiel sein Blick auf seine Gitarre. Gitarre. Gestern. Band. Er hatte eine Band! hide setzte sich etwas zu schnell auf und der Raum drehte sich einmal. Mit einer plötzlichen Welle an Energie kehrten auch die Ideen des Vorabends zurück. Oh Gott, das musste er unbedingt ausprobieren, bevor er es wieder vergaß! Doch sein Magen grummelte beleidigt. Anscheinend wollte er endlich mal beachtet werden. Und jetzt, wo er drüber nachdachte… hatte er tatsächlich ein Loch im Bauch. Gut, erst Essen, dann Gitarre. hide schob seine Zimmertür auf und lauschte in die Wohnung. Stille, nur durchbrochen von gleichmäßigem Sägen. Das war gut. Leise ging er in die Küche und setzte grünen Tee auf, dann weiter ins Bad. Zähneputzen, Katzenwäsche, einmal kurz Bürste durch die Haare. Zurück in seinem Zimmer kippte er den Tee über den Reis von gestern und rührte zweimal durch. Naja. Es gab wohl schlechtere Arten zu Frühstücken. Also tat er das, zog sich an und steckte dann Gitarre und Kopfhörer an den Amp. Kreative Schübe musste man nutzen, solange sie vorhielten. Er probierte verschiedene Melodien aus, schrieb ein halbes Solo und machte dann noch einige Fingerübungen, weil er bemerkt hatte, wie sich seine Hand schon wieder verkrampfte und hörte erst damit auf, als sich Beine in sein Sichtfeld schoben. hide zuckte zusammen und riss sich die Kopfhörer von den Ohren. Sein Blick wanderte von den Knien aus nach oben. „… Guten Morgen“, sagte hide. „Ich hab jetzt schon drei Mal gerufen“, sagte sein Vater. hide lehnte sich unwillkürlich im Sitzen ein kleines Stück zurück – er hätte nicht sagen können, ob er Abstand zur Betrachtung oder einfach nur Abstand gewinnen wollte. Darin, möglichst schnell herauszufinden, in welcher Laune sein Gegenüber war, hatte hide inzwischen jahrelange Übung. Er war quasi der Emotionsninja. In Sekundenschnelle nahm er die Details in sich auf und wartete auf das Gefühl, das sich in seiner Magengegend formte. Es war kein gutes. Überhaupt kein gutes, wenn man selbst auf dem Boden saß und im Notfall wertvolle Augenblicke damit verschwenden musste, erst einmal aufzustehen. Über die Gitarre wollte er an dieser Stelle noch gar nicht nachdenken. „Das… hab ich nicht gehört.“ „Ja, das hab ich gemerkt. Komm frühstücken.“ In jedem anderen Haushalt wäre das eine ganz normale Aufforderung gewesen, die vielleicht sogar Freude ausgelöst hätte. Doch hide spürte, wie sich ein Klumpen in seiner Magengegend bildete. Mit seinen Eltern am Tisch zu sitzen hatte sich in den letzten Jahren zu einer seiner größten Ängste entwickelt. Gemeinsame Mahlzeiten waren eher ein innerfamiliärer Stabilitätstest als ein erbauliches Zusammensein. Und es gab keine gute Variante hier: Wenn er Ja sagte, dann kam er mindestens die nächste halbe Stunde aus dieser Situation nicht mehr raus. Und eine halbe Stunde war meistens genug Zeit, um einen Fehler zu machen. Wenn er Nein sagte, konnte er schon mal nichts falsch machen, doch es katapultierte die Diskussion ins Hier und Jetzt. hide entschied sich dennoch für die Wahrheit. Wenn er unverschämt viel Glück hatte, beließ es sein Vater einfach dabei. „Ich… ich hab schon gegessen.“ Er erntete einen wenig erfreuten Blick. „Ich… wusste nicht, wann ihr aufsteht und… ich bin schon seit-“ „Deine Mutter hat Frühstück gemacht, dann kannst du es wohl auch essen, oder nicht?“ Sein Vater sah sich einmal im Raum um. „Was ist das hier überhaupt für ein Saustall?“ hide schaute einmal nach links und einmal nach rechts. „Ja. Entschuldigung. Ich räum auf.“ Er legte die Gitarre neben sich auf der Zudecke ab und erhob sich langsam. Dann machte er sich daran, seine herumliegende Wäsche einzusammeln. Manchmal half blinder Aktionismus. Aber heute nicht. hide wuselte einmal durchs Zimmer und räumte den Boden frei. Es dauerte nicht so lang, wie er gehofft hatte. Also wandte er sich danach dem Geschirr zu. „Hast du den ganzen Vormittag an diesem Ding rumgezupft?“, fragte sein Vater, während hide die paar Meter in die Küche ging. „Ja.“ Ein Schnauben. „Damit vergeudest du ziemlich viel Zeit.“ „Es macht mir Spaß“, sagte hide, bemüht um einen neutralen Tonfall, und räumte seine Schüssel in die Spüle. Sein Vater setzte sich an den Esstisch. „Muss ja schön sein, wenn das Leben sich um Spaß dreht.“ Noch während hide Wasser in seine Schüssel laufen ließ, um den inzwischen angetrockneten Reis wieder einzuweichen, dämmerte ihm, dass er irgendetwas antworten musste. Doch er konnte genauso wenig widersprechen wie zustimmen. Beides war falsch. Schließlich sagte er, weiterhin neutral: „Ganz so ist es dann auch nicht.“ Da es an der Spüle nichts mehr zu tun gab, drehte er sich wieder um, auf ein Zeichen wartend, das es ihm erlaubt hätte, sich wieder unauffällig zu verziehen. Ein Nicken. Eine Augenbewegung. Vielleicht auch ein Wort, wenn es sein musste. Irgendetwas. Sein Vater schlug ein Ei in seinen Reis und versuchte es versöhnlich. „Setz dich zumindest dazu. Wir sehen dich kaum noch.“ Scheiße. hide zögerte einen Moment und sank dann schließlich auf seinen Platz. Ihm fiel kein guter Grund ein, warum nicht. Hausaufgaben anzuführen bedeutete bloß, dass er zugeben musste, dass sie noch nicht fertig waren – und dass er trotzdem Gitarre gespielt hatte. Nicht gut. „Also“, fragte der Mann an der Stirnseite des Tischs, „wo warst du gestern?“ „Ich sagte doch schon… bei Freunden.“ hide nahm seiner Mutter mit einer angedeuteten Verbeugung eine Schale Tee ab und trank einen Schluck. „Sie sind sehr nett. Sie wollen eine Band machen“, fuhr er dann ungefragt fort. Er war sich nicht ganz sicher, warum er es erzählte. Vielleicht, weil allein der Gedanke daran seine Stimmung ein klein wenig hob. Er freute sich darauf. Und Freude musste man mit anderen Menschen teilen, nicht? Das war es doch, was man tat? Sein Vater runzelte die Stirn. „Und was macht ihr dann da?“ „Naja“, sagte hide und fuhr mit dem Daumen den Rand der Teeschale entlang. „Musik.“ „Diesen komischen westlichen Affentanz?“ „Uhm… ja.“ „Willst du deine Zeit nicht lieber sinnvoll nutzen? Denk mal an die Zukunft. Du gehst in ein paar Monaten von der Schule ab.“ „Ich …“, begann hide leise. Wollte er… konnte er… Nein. Er räusperte sich und begann fester: „Ich denke, ich bekomme alles unter.“ „Hast du dir schon Universitäten angesehen?“ „Nein.“ Sein Vater hatte das Ei unter den Reis gerührt, aß aber nicht. Mit der Schüssel in der Hand verharrte er und sah ihn vorwurfvoll an. „Aha. Du denkst also, du bekommst alles unter, aber du hast noch nicht mal über eine einzige Universität nachgedacht? Ich wiederhole mich ungern: Denk mal an die Zukunft.“ Zukunft? Hide bemerkte, dass sein Griff an der Teeschale zu fest geworden war – sie schnitt ihm unangenehm in die Handflächen. Er stellte sie mit einem leisen Klicken auf dem Tisch ab. Zukunft… wie sollte er sich darüber Gedanken machen? Er kam ja nicht mal auf die Gegenwart klar. Doch das konnte er nicht sagen. Sarkasmus, auch wenn er noch so ernst gemeint war, war keine Option. Er sagte auch nicht “Ich vermassle alle meine Kurse. Ich werde die High School nicht schaffen. Ich bin zu dumm dazu. Ich weiß nicht, was ich machen will. Ich hab Angst vor der Zukunft." Er sagte: „Ich bin nicht sicher, dass meine Zukunft an einer Universität liegt.“ So ruhig er konnte. So machte man das auch bei bissigen Hunden – nicht zeigen, dass man nervös war und das Tier beruhigte sich. Vielleicht. Seine Eltern waren zum Frühstück übergegangen. Man aß zuerst den Reis. Doch das Gespräch war nicht vorbei. „Ach, und wo soll sie dann liegen? Auf der großen Bühne?“ hide wusste, wo er in diesem Gespräch falsch abgebogen war. Niemals mehr preisgeben, als er unbedingt musste! Doch hinterher war man ja immer schlauer. Er versuchte, einen verbalen Schritt zurück zu machen, weg von der Musik. Vielleicht, wenn ihm ganz schnell etwas einfiel – Volkswirtschaftslehre vielleicht - „Nein. Nein, ich möchte nur –“ Keine Chance. „Ist das der Dank dafür, dass wir all die Jahre für dich gesorgt haben? Dass es dir an nichts gefehlt hat? Deine Mutter steht jeden Tag in der Küche und kocht für dich und du dankst das ihr, indem du aus purem Trotz deine Zukunft versauen willst? Du beschämst sie! Du beschämst uns alle.“ hide sagte nichts. Er schaute auf seine Hände, die er im Schoß ineinander gelegt hatte. Die Fingernägel seiner Linken krallten sich so tief in die Handfläche der Rechten, dass es weh tat – und der Schmerz war das Einzige, das ihn davon abhielt, in Tränen auszubrechen. Er konzentrierte sich auf den Schmerz. Ablenkung. Ablenkung war der Schlüssel. Es half. „Ich wette, diese neuen Freunde von dir haben dir diesen Floh ins Ohr gesetzt! Lass mich raten, du willst lieber mit ihnen zusammen Krach machen, Drogen nehmen und in der Gosse landen!“ Der Klang von Klavier und Gesang machte sich ungefragt in hides Kopf breit. Er bekam Gänsehaut. Nein… Das war ganz sicher nicht, wo das hinlief. Es war nicht irgendwelche Musik. Es war besonders. Sie waren besonders. …Oder nicht? „Nein, ich –“, setzte er noch einmal an, obwohl er nicht wusste, wie er dieses Gefühl in Worte fassen konnte; so in Worte fassen, dass es jemand verstehen würde, der nie verstand. Doch darüber hätte er sich keine Sorgen zu machen brauchen – er kam nicht mal in die Nähe dessen, was er hatte beschreiben wollen. „Dieser westliche Krach ist für nichts gut! Wir hätten dir dieses Scheißinstrument nie erlauben dürfen. Und ich glaube, diese Freunde von dir haben einen schlechten Einfluss auf dich.“ Sein Vater legte die Stäbchen zur Seite, um sich ganz auf das Gespräch zu konzentrieren. „Du solltest sie nicht mehr sehen.“ An diesem Punkt hob hide den Kopf und starrte ihn ungläubig an. Er hatte Yoshiki doch gerade erst getroffen! Der Schmerz an seiner Hand half nicht mehr. Seine Brust wurde eng. Schlucken. Atmen. Hände tauschen. Besser. Er wollte nichts sagen. Einfach nicken. Einfach nicken und es trotzdem tun und sich mit den Konsequenzen beschäftigen, wenn es so weit war. Doch zu seinem Entsetzen hörte er seine eigene Stimme sagen: „Du kannst mir nicht vorschreiben, wen ich zu treffen habe.“ Sein Vater schaute ihn mit grimmiger Verwunderung an und beugte sich ein Stück vor. „Wie redest du denn mit mir?! Zeig gefälligst Respekt!“ Er hob die Hand und hide zuckte reflexartig zurück, bevor sein Gehirn die Situation auch nur ansatzweise erfasst hatte. Doch die Faust landete nur mit einem lauten ‘Bomp‘ auf dem Tisch zwischen dem Reis und den Gurkenscheiben. „Von nun an konzentrierst du dich aufs Lernen. Alles andere ist Verschwendung! Hast du mich verstanden?!“ Ein paar Sekunden lang passierte nichts. Ja, wollte hide sagen. Einfach nur Ja. Es war ganz einfach. Doch das Wort wollte ihm nicht über die Lippen kommen. Es war Verrat an sich selbst. „Nein“, sagte hide schließlich, leise aber deutlich. „Ich hör nicht auf.“ Er spürte seine Unterlippe zittern, doch wusste nicht genau, ob es wirklich Traurigkeit war. Vielleicht war es auch Wut. Vielleicht auch Trotz. Vielleicht auch einfach das Gefühl der totalen Überforderung mit einer Situation, die zu schnell zu groß gewesen war, um sie zu verstehen. Er musste hier weg. „Setz dich wieder hin!“ hide war im Flur, lange bevor sein Vater überhaupt auf den Beinen war. Was für ein Glück, dass er seine Schuhe nie aufschnürte und nur hineinschlüpfen musste! Er riss die Haustür auf. „Wo gehst du hin?!“, folgte ihm die Stimme noch. Zur Antwort schmiss hide die Tür zu fest hinter sich zu. Erwachsenwerden zeichnete sich zu einem nicht geringen Teil ja dadurch aus, dass man nicht mehr fragte, wo man herkam und nicht mehr sagte, wo man hinging. -X- Ohne festes Ziel war hide einfach drauf los gestiefelt, weiter und weiter, bis er schließlich an der Bahnstation angelangt war. Zusammen mit einem seltsamen Stich in der Herzgegend durchdrang ihn noch einmal eine plötzliche Sehnsucht nach dem Haus der Hayashis. Er betrachtete den Linienplan. Es war nur einmal Umsteigen und acht Stationen und eine ganze Welt entfernt von ihm. Doch selbst wenn er sich dazu hätte durchringen können, einen spontanen zweiten Überraschungstag zu starten, hatte er immer noch keine Fahrkarte. Systematisch begann hide, einmal alle seine Taschen abzutasten. Das Ergebnis waren 150 Yen. Das reichte. … Wenn er nur hin und nicht mehr zurück fuhr. hide trat einen halben Schritt vom Fahrplan weg und schüttelte den Kopf über sich selbst. Das war eine bescheuerte Idee! Früher oder später kam die eigene Weirdness sowieso immer durch, und an diesen Gedanken musste man sich gewöhnen. Aber er wünschte sich in diesem Fall, dass es später passierte. Nein. Entschlossen steckte er die Münzen wieder ein. Doch was dann? Ratlos drehte er sich auf dem Ballen um und machte sich langsam zu Fuß auf den Weg in die Innenstadt. Zum Glück war es ein weiterer sonniger Tag. Viele Menschen waren unterwegs und eine Zeit lang genoss hide das Gefühl, nicht allein zu sein und sich trotzdem mit niemandem unterhalten zu müssen. Er betrachtete ein wenig die Schaufenster in der Einkaufsstraße, sah einem Koi-Züchter dabei zu, wie er seine kostbare Fracht verlud und probierte aus, wie oft er den Touristen aus Hokkaido, von denen er ein Foto vor dem Schloss machen sollte, sagen konnte, sie sollten ‘nur noch ein kleines Stück zurück‘ gehen, bevor es ihnen zu dumm wurde (vier Mal). Danach ging er ein wenig am Strand spazieren und schaute den Booten weiter draußen in der Bucht zu. Irgendwann gegen den frühen Abend jedoch, als er gerade wieder vom Strand zurück in die Stadt ging, begann sein Magen erneut zu grummeln und schließlich zu knurren. Und durstig war er auch. Zumindest das zweite Problem musste er lösen, denn allmählich bekam er Kopfschmerzen. Kurzentschlossen bog er in einen kleinen Gemischtwarenladen ab. Ishizuka stand auf dem Banner über der Tür. Drinnen drängten sich Regale aneinander, doch das Sortiment war erstaunlich vielfältig und gut sortiert. „Irrashaimase!“, begrüßte ihn eine kleine Frau mittleren Alters mit rundem Gesicht, die hinter der Kasse stand. Eine andere Frau hantierte neben der Tür mit einem großen Rettich und ihrer ebenso großen Handtasche. hide nickte ihnen zu und ging nach hinten durch, dorthin, wo die Getränke standen. Er nahm eine Flasche Wasser vom Regal. 130 Yen. Gut, das löste das Durst-Problem. Doch schon beim Anblick der Nudeln auf dem Regal hinter ihm und der Schokolade beim Eingang hatte hides Magen wieder angefangen, vor sich hin zu rumoren. hide sah sich um. Die gekühlten Waren lagen an der Wand links von ihm. Er schlenderte hinüber und betrachtete die Auswahl. Schnell beschränkte ihn seine begrenzte Reisekasse auf das Wesentliche. Das billigste Onigiri ohne alles kostete schon 120 Yen. hide schaute es nachdenklich an. Reis mit Seetang konnte so gut aussehen manchmal, es war unglaublich. Aber sogar das überstieg seine Möglichkeiten gerade. Ein Lachen drang an seine Ohren. An der Kasse unterhielt sich die Frau, die vermutlich die Besitzerin war, jetzt fröhlich mit der Nachbarin mit dem Rettich. hide schaute wieder zu dem Onigiri zurück. Das Onigiri schien ihn ebenfalls anzusehen und sogar ein bisschen zu lächeln. hide schaute nach links. hide schaute nach rechts. Einmal über die Schulter. Abgesehen von den Frauen war er allein im Laden. Er schüttelte den Kopf und trat einen Schritt vom Regal zurück. Er dachte darüber nach. Er dachte wirklich darüber nach! Wie konnte er darüber nachdenken? Das widersprach allem, was er gelernt hatte! Und dennoch… dennoch wanderten seine Augen wieder zum Regal und saugten sich an dem Reisbällchen fest. 120 Yen. Das war fast nichts. Wie schlimm konnte das für die Bilanz sein? Und er konnte auf jeden Fall die nächsten Tage nochmal vorbeikommen und in Eile auf Wechselgeld verzichten. Ja. Das war in Ordnung. Nicht komplett in Ordnung, aber… so ziemlich. Er streckte die Hand aus. Grandios viele Karma-Punkte brachte das nicht ein. Aber es war in Ordnung. Ok. Er nahm das Reisbällchen aus dem Kühlregal. Seine Hand zitterte ein bisschen und er atmete durch. Ruhig, dachte er. Die Kunst war, ganz ruhig zu bleiben. Immerhin musste er danach auch noch sein Wasser bezahlen, ohne dass ihm der Schweiß aus dem Kopf sprudelte. hide schaute nach links. hide schaute nach rechts. Einmal über die Schulter. Und steckte das Onigiri langsam in die - „He!“, sagte eine Stimme scharf neben ihm. „Was glaubst du, was du da tust?“ hide machte einen Satz. Das Onigiri rutschte ihm aus der Hand und landete mit einem bemitleidenswerten ‘Flopp‘ auf dem Boden. Ein paar Schritte neben ihm stand ein Junge in seinem Alter und sah ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen an. Er trug das gleiche blaue Hemd wie die Frau an der Kasse. hides erster Instinkt war Flucht. Doch er stand zwischen ihm und dem Ausgang. Konnte er das trotzdem schaffen? Nichts an ihm wollte sich bewegen. „Ä h m…“, machte hide brüchig. Sein Leben zog an ihm vorbei. Sein Puls raste. Ihm war kalt und heiß und übel. Er wartete darauf, dass er aufwachte. Nichts passierte. Scheiße. Das hier war echt. Das hier war sein Leben. Sein zweiter Instinkt klinkte sich ein. Lügen. Er zog alle Schubläden in seinem Kopf weit auf. Doch da war nichts. Nichts, das ihn aus dieser Situation holen konnte. Und selbst falls es etwas gab, wurde es gerade unter einem Haufen panischer Fragen begraben. Würden sie die Polizei rufen? Kam er denen davon? Konnte er ihnen einfach einen falschen Namen und eine falsche Adresse auftischen? Was war eigentlich die Strafe für Ladendiebstahl? Landete das in einer Akte oder gab es nur einen Klaps auf die Finger? Ein erneutes Klingeln von der Tür und eine herzliche Begrüßung rissen hide aus seinen Schocksekunden. „Ich lass das mitgehen“, sagte er schließlich und ließ die Schultern hängen. Und das war’s dann wohl. Nun ja. Er hatte ja immer so die Vermutung gehabt, dass er sein Leben an irgendeinem Punkt ruinieren würde. Nur hatte er immer erwartet, dass es an irgendetwas anderem scheitern würde und nicht an so etwas Banalem. Aber gut… auch das schien ihm irgendwie passend für sich selbst. Er bückte sich nach dem Onigiri und reichte es dem Jungen. Dann reichte er die Wasserflasche hinterher. „Es tut mir leid. Mach was du musst.“ Der Junge betrachtete skeptisch erst hide, dann das Reisbällchen, dann wieder hide. „Warum genau das?“ „Ich hab Hunger und es ist das billigste“, antwortete hide kleinlaut in Richtung seiner Schuhe. Sie verschwammen vor seinen Augen. Einen schrecklichen Moment war ihm, als würde er gleich in Tränen ausbrechen. Doch der Moment ging vorüber. Das Bild seiner Turnschuhe wurde wieder scharf. Er hörte auf, seine Fingernägel in die Handinnenflächen zu graben. „Tomo?“, fragte die Stimme, die zu der rundlichen Frau gehörte. „Ist alles in Ordnung da hinten?“ Der Junge schaute von hide zu dem Onigiri, dann wieder zu hide. „Alles gut, Oba-san“, rief er halblaut nach vorne. hide hob irritiert den Kopf und starrte ihn an. Was passierte hier? Obwohl er dagegen ankämpfte, machte sich ein kleiner Funken Hoffnung in ihm breit. Hieß das… „Ich geh dann nach oben und bereite das Abendessen vor. Bleib bitte vorne im Laden!“ „Ee“, sagte der Junge zustimmend. Und dann: „Oba-san! Kann …“ Er schaute hide an und zog die Augenbrauen zu einer fragenden Miene hoch. Seine Hand machte eine auffordernde, halbkreisförmige Bewegung. „hide?“, fiepte dieser leise. Ihm fiel auf die Schnelle kein Name ein, den er stattdessen hätte nennen können. Totaler Aussetzer. „… hide zum Essen bleiben?“ hide starrte ihn an. Jetzt mal im Ernst: Was passierte hier?! Sowas hatte er ja überhaupt noch nie gehört! Und eigentlich… eigentlich wollte er das auch gar nicht. Er wollte bloß nach Hause. Nein. Er wollte einfach nur weg. Wohin dann weiter, das konnte er später immer noch entscheiden. Aber er wollte raus aus diesem Laden und weg von diesem Jungen mit dem irritierend ruhigen Blick. „Ich glaub nicht, dass das eine gute –“, setzte hide zögerlich an. Der andere Junge legte nach einer kurzen Inspektion das Onigiri zurück ins Regal und hob dann die Schultern. „Du kannst entweder bleiben, oder ich erzähl ihr, dass du stehlen wolltest. Und glaub mir, sie hat einen Besen und keine Angst, ihn zu benutzen.“ hide klappte den Mund zu einer Antwort auf, aber sofort wieder zu, denn das runde Gesicht lugte in ihren Gang, überrascht, aber nicht unfreundlich. „Oh!“, sagte sie. „Ich wusste nicht, dass du ein Freund von Tomo bist, Hallo! Jetzt weiß ich gar nicht, ob ich genügend vorbereitet habe! Da muss ich gleich mal schauen, was sich machen lässt.“ Der Junge an hides Seite nickte lächelnd, sagte „Danke“ und die Tante entfernte sich in den hinteren Teil des Ladens. Dann hörte hide Schritte auf einer Holztreppe und schließlich eine Tür. ‘Tomo‘ machte sich auf den Weg zur Kasse. hide blieb einen weiteren Herzschlag lang wie versteinert stehen, bevor er ihm nachstürzte. „Hör mal, ich kann doch nicht – sie ist doch gar nicht – also, wenn nicht genug –“ Der andere Junge winkte ab. „Das sagt sie immer. Irrashaimase!“ Ein älteres Ehepaar hatte den Laden betreten und ging, um den frischen Fisch in der Kühltruhe einer Musterung zu unterziehen. „Aber… aber…“, fing hide an. Es war nicht so, als fiele ihm kein mögliches Ende für diesen Satz ein. Es fielen ihm unendlich viele Enden ein und er wusste nicht, wo er anfangen sollte. Alles an dieser Situation funktionierte für ihn nicht! „Glaubst du nicht, dass es besser wäre… also ich könnte einfach... soll ich dir das komplette Geld geben, das ich dabei habe?“ Der andere Junge hatte sich auf einen hohen Hocker hinter der Kasse gesetzt und sah ihn weiterhin entspannt an. „Und das würde was genau erreichen?“ „Ich … ich weiß nicht“, gab hide ein bisschen kläglich zu. „Ich würde mich vielleicht nicht mehr so schlecht fühlen.“ „Entschuldigung?“, rief der ältere Herr von der Gefriertruhe. „Haben Sie Kabeljau?“ Tomo stand auf und ging hinüber. „Nein, heute nicht. Verzeihung. Aber die Makrelen sind sehr gut, wenn ich Ihnen etwas anderes empfehlen darf.“ Das Paar sah sich an. „Makrele?“, fragte die Frau. „In Ordnung“, sagte der Mann und dann zu Tomo: „Dann drei bitte.“ „Drei, sehr gern.“ Als der Fisch den Besitzer gewechselt und das Paar den Laden verlassen hatte, führte der Junge die Unterhaltung fort, als wären sie nie unterbrochen worden. „Dann fühlst du dich gerade schlecht?“ „Ja!“, sagte hide mit Nachdruck. „Natürlich tu ich das!“ Tomo nickte und stand auf. „Gut.“ Er ging um die Kasse herum, an hide vorbei zur Tür und sperrte ab. Dann drehte er das Schild von Geöffnet auf Geschlossen. „Lass uns zu Abend essen.“ -X- Schweigend und unbehaglich folgte hide dem anderen Jungen eine schmale Treppe hinauf in den ersten Stock. Vor der eigentlichen Wohnungstür zogen sie die Schuhe aus und nochmal eine ganze Ecke unbehaglicher betrat er den dahinterliegenden Flur. „Hör auf, so zu schauen“, sagte sein Gasterpresser und schloss die Tür hinter ihnen. „Sonst will sie wissen, ob dir nicht gut ist.“ „Mir ist nicht gut“, sagte hide wahrheitsgemäß. Er musste bleich sein wie die Wand. „Wie stellst du dir das hier vor? Ich weiß nicht mal, wie du heißt!“ „Ich heiße Tomoaki. Und jetzt pssht.“ „Tomo!“, erklang die Stimme der Frau von irgendwoher, „holst du bitte deinen Onkel?“ „Jaha!“, rief der Angesprochene zurück und wandte sich dann an hide. „Warte kurz.“ Er ging den schmalen Gang hinunter und verschwand in das Zimmer am anderen Ende. hide schaute sich einmal um. Vielleicht hätte er die Möglichkeit genutzt, um sich aus dem Staub zu machen, hätte Tomo nicht die Ladentür unten abgeschlossen. Da ihm also nichts anderes übrig blieb, sah er sich mulmig im Flur um. Die Wohnung über dem Geschäft war klein. Nach dem Klappern zu schließen, befand sich das Esszimmer links von ihm. Ansonsten sah er noch vier weitere Türen, deren Abstand darauf schließen ließ, dass die dahinterliegenden Räume winzig sein mussten. Von weiter hinten konnte hide hören, wie Tomoaki jemandem das anstehende Abendessen verkündete. Kurz darauf kehrte er in den Gang zurück. „Komm.“ Gemeinsam betraten sie das Esszimmer, das direkt in die Küche überging. Auf dem Tisch standen fünf Portionen Reis, eingelegtes Gemüse, Misosuppe, gegrillter Aal und kleine Schälchen mit Erdbeeren und Melonenstückchen. Frau Ishizuka kam gerade noch einmal mit einer Kanne Tee und einer Karaffe Wasser in den Raum gewuselt. „Tut mir leid, wenn es nicht reicht! Ich hatte wirklich nicht mit einem Gast gerechnet.“ „Ähm“, machte hide, von der Gesamtsituation überfordert. „Also… ich… das ist der Wahnsinn.“ Der blanke Wahnsinn, um genau zu sein! „Und es… es tut mir sehr leid, wenn ich Ihnen zur Last falle.“ Er verbeugte sich, eine ehrliche, neunzig Grad tiefe Verbeugung. Frau Ishizuka nahm es als scheinbar als Kompliment, denn sie strahlte. „Alles gut, mein Lieber. Setz dich!“ Sie gestikulierte zu dem Platz hinten links und hide setzte sich neben Tomoaki. Und wünschte sich, die Erde würde sich auftun und ihn verschlucken. Diese liebenswerte Frau! Und er war so ein… hide war gerade mit seiner stillen Beleidigung der eigenen Person fertig, als ein Mann mit runden Augen, flacher Nase und niedrigem Haaransatz den Raum betrat. Er erinnerte hide unwillkürlich an ein Faultier. „Und?“, fragte Frau Ishizuka leicht besorgt. Der Mann kratzte sich am Hinterkopf und setzte sich an die Stirnseite. „Wollen mal sehen, ob’s hält“, brummte er. „Aber such sicherheitshalber mal große Schüsseln zusammen, falls es trotzdem noch reinregnet.“ Sein Blick fiel auf hide. „Tomo hat einen Freund eingeladen!“, kam seine Frau sowohl seiner Frage als auch hides Antwort zuvor und schenkte rundum Wasser ein, bevor sie sich ebenfalls setzte. „Wie war dein Name nochmal, mein Lieber?“ „Hideto“, sagte hide. „Danke für Ihre Gastfreundschaft.“ Der Mann nickte, mit der Antwort offenbar zufriedengestellt, und griff nach seinem Tee. Ein Mädchen von vielleicht fünfzehn kam, ihr Gesicht in einem Buch vergraben, in den Raum und setzte sich an den Tisch, gerade als hide seine Stäbchen in die Hand genommen hatte und sich mental mit dem Aal beschäftige. Sie trug etwas, das mit viel Glück als Hausanzug durchging, nach den Kätzchen darauf aber eher als Schlafanzugverschnitt bezeichnet werden musste. „Itadakimasu“, sagte sie und tastete nach ihren Stäbchen, ohne aufzusehen. „Terumi!“, sagte die Tante vorwurfsvoll. „Wir lesen nicht beim Essen!“ Die Angesprochene machte ein Geräusch, klappte das Buch zu und klatschte es demonstrativ genervt neben sich auf den Boden. Dann sah sie hide. „Ähm… Hallo“, sagte dieser. „Ich bin Hideto. Freut mich, deine Bekanntschaft zu machen.“ Er beugte sich leicht in Richtung seiner Suppe. Das Mädchen starrte ihn weitere fünf Sekunden an. Dann verbeugte sie sich ebenfalls in Richtung ihres Essens – und blieb so. Anscheinend plante sie, sich hinter ihrer Reisschüssel zu verstecken. hide blinzelte zweimal. Nette Familie. An dieser Stelle ließ sein Magen ein Knurren hören und mit einem peinlich berührten Lächeln griff hide nach dem Schälchen mit dem Aal. Er hatte gerade zwei Bissen genommen, den Geschmack gelobt und die Schale mit der Misosuppe an die Lippen gehoben, als sich das Gespräch an ihn richtete. „Also, Hideto!“, sagte die Tante. „Tomo hat noch nie von dir erzählt, woher kennt ihr euch?“ „Uhm…“, machte hide. „Wir… also… puh.“ Er stellte die Suppe wieder ab, griff nach seinem Wasserglas und nahm einen Schluck, um sich ein paar Sekunden Zeit zu kaufen. Tomoaki nahm eine Stäbchenladung voll Reis und sagte nichts. hide drehte, den Mund noch voll Wasser, den Kopf fragend in seine Richtung. Hatte er kein Interesse daran, dass seine eigene Lüge nicht aufflog? Keine Reaktion. hide schluckte das Wasser runter und musste daher antworten. „Wir… haben uns einfach getroffen. Einer der großen Zufälle des Lebens, nehme ich an“, sagte er und hoffte, dass sein Lächeln über die Ungenauigkeit dieser Aussage hinwegtäuschte. Schnell nahm er Stück Aal. „Ach, das ist ja schön!“, sagte Frau Ishizuka fröhlich, nahm selbst ein wenig Reis und wandte sich dann an ihren Mann. „Wir haben heute wieder keinen Kabeljau bekommen.“ „Nein?“ „Nein. Du musst wirklich mal mit Yamato reden. So geht das nicht!“ Herr Ishizuka schlürfte seine Suppe. „Mache ich morgen.“ Seine Frau nickte. „Und was ist mit dem Dach?“ „Nun ja“, antwortete er. „Also wenn es ein Bambusdämpfer wäre, wäre es gut so. Für ein Dach… mmh.“ „Was heißt das, mmh?“ „Nun… Siehst du, es -“ hide hatte seinen Aal vertilgt und wandte sich jetzt ebenfalls der Suppe zu. So oder so ähnlich hatte er Familienessen von früher in Erinnerung. Und wenn er vorübergehend vergaß, wie er an diesem Tisch gelandet war, dann schmeckte es ihm umwerfend gut! Mmh, diese Suppe… Zum Glück übernahm Frau Ishizuka die Konversation, dachte er, während er kleine Stückchen Tofu aus der Brühe fischte. Umso weniger er sagte, desto unwahrscheinlicher war es, dass jemand auf die Wahrheit kam. Er war mit Zuhören mehr als glücklich! Ihm gegenüber stocherte das Mädchen in dem Katzenschlafanzug unschlüssig in ihrem Fisch herum und warf ihm unter einem dichten Pony heraus vorsichtige Blicke zu. Das war ein wenig irritierend, aber wer verstand schon Mädchen? hide sicher nicht. Am letzten Valentinstag hatte ihm eines aus der Klasse unter ihm Schokolade geschenkt und war danach weggerannt, bevor er auch nur ‘Danke‘ hätte sagen können. Mädchen waren einfach eine komische Unterart der menschlichen Gattung. Solcherart arbeiteten sie sich durch die verschiedenen kleinen Gerichte und das Obst, dann räumten Frau Ishizuka und das Mädchen den Tisch ab, während der Onkel sich wieder an die Arbeit machte. „Du versuchst, mir ein schlechtes Gewissen zu machen“, stellte hide fest, als sie allein am Tisch waren. Voll durchschaut. „Und klappt, oder?“, sagte der Junge. hide blinzelte. Der leugnete das nicht einmal! Wie konnte jemand nur so tiefenentspannt sein?! „Uh-hu“, machte er schließlich. „Und um das noch zu steigern, lass mich Folgendes fragen: Wo ist die Toilette?“ hide folgte Tomoakis Fingerzeig den Gang hinunter. Auf dem Rückweg stand die Zimmertür neben dem Esszimmer offen und im Vorbeigehen warf hide einen Blick hinein. Tomoaki suchte etwas auf seinem Schreibtisch. Unvermittelt blieb er im Gang stehen. „Ist das eine Gibson Les Paul?“ Tomoaki drehte sich überrascht zur Tür um. „Ja“, antwortete er. „Du verstehst was von Gitarren?“ „Uh“, machte hide, „Verstehen… Nein. Nicht wirklich. Ich spiel eigentlich bloß. Ich hab eine ähnliche. Nur in Rot.“ „Na da schau her.“ Er sagte es in einem Tonfall, den hide nicht ganz zuordnen konnte. Vielleicht war das gut so. Er beschloss, nicht weiter darüber nachzudenken. Der andere Junge schaute hide einige Augenblicke gedankenverloren an. „Lust, das Abendessen abzuarbeiten?“ -X- Regale auffüllen war eine langweilige, aber irgendwie auch meditative Tätigkeit. hide fragte sich, ob er wohl Satori erfahren würde, wenn er das hier nur lange genug machte und ob das der Grund für die fast gruselige Ausgeglichenheit des anderen Jungen war. Tomoaki arbeitete am Regal hinter ihm und bis auf die leisen Geräusche ihrer Arbeit hatte sich Stille über sie gesenkt. Draußen auf der Straße ging seit einigen Minuten ein plötzlicher, heftiger Sommerregen nieder und das gleichmäßige Getrommel des Wassers verstärkte seltsamerweise die Ruhe. hide wusste bereits nach wenigen Minuten, dass er das nicht aushielt. „Wieso machst du das alles?“, fragte er schließlich und stapelte das letzte Schächtelchen mit Wasabi. „Was genau?“ „Keine Ahnung! Mir helfen! Immerhin wollte ich – und du hast – und jetzt auch noch -“ hide hatte sich umgedreht und machte eine hilflose Handbewegung. „Und das ist seltsam, weil…“ „Weil… Leute anderen Leuten nicht einfach so helfen“, sagte hide. Tomoaki räumte drei weitere Dosen Lychees ins Regal. „Wenn das deine bisherige Erfahrung mit der Welt ist, ist das ziemlich traurig.“ hide sagte nichts und wandte sich nach einigen Sekunden lieber wieder dem Regal zu. Jetzt stapelte er zu kleinen Quadraten gepresste Nudeln. Er hielt sich selbst für eher realistisch, aber es erschien ihm unklug, mit Tomoaki zu diskutieren. Immerhin war dieser der Mann mit der Wahrheit. Als er schließlich getrocknete Algen nachlegte, wechselte Tomoaki den Gang zu den Süßigkeiten. „Weißt du…“, schwebte seine gleichmäßige Stimme über das sie trennende Regal, „wenn man lange genug in einem Laden arbeitet, dann lernt man die Leute kennen. Wer Kinder hat, die nicht ausziehen. Wer Kinder hat, die ihn nicht besuchen. Wer Stress hat und weiter will. Wer Zuhause niemanden hat und reden will. Solche Dinge.“ hide dachte an die Bar und nickte schließlich, auch wenn es niemanden gab, der es sehen konnte. „Und dann bekommt man auch ein Gespür dafür, wer ein schlechter Mensch ist. Und ich weiß nicht ganz, was du bist“, sagte die Stimme weiter, „aber von denen bist du keiner.“ „Und wenn dein Gespür sich irrt?“, fragte hide. Er trat einen Schritt vom Regal zurück und sah sich nach weiteren Lücken um, fand aber keine. Also stapelte er seine Kartons und trug sie einen Gang weiter, dorthin, wo Tomoaki gerade kleine Teigfischchen wieder ansprechend anordnete. „Dann hättest du gerade bestimmt die Gelegenheit genutzt um zuzugreifen und ich hätte das über den Spiegel da oben gesehen“, sagte er und nickte nach rechts, ohne den Kopf zu drehen. hide aber drehte sich um. Zwischen der Milch und der Sojasauce hing ein kleiner, gebogener Spiegel. „Oh.“ Tomoaki sagte nichts und rückte mit seinem seltsamen Lächeln das Zuckerzeug neben den Fischen zurecht. Schritte kamen die Treppe hinunter und Sekunden später tauchte Frau Ishizuka in ihrem Gang auf. „Ich mache das hier zu Ende“, sagte sie fröhlich. „Warum habt ihr zwei nicht noch ein bisschen was vom Abend, hm?“ „Danke.“ Tomoaki reichte ihr den Karton, aus dem er gerade Reiscracker nehmen wollte und die beiden Jungen entfernten sich einige Schritte. Am Ende des Ganges hielt hide ihn am Oberarm zurück. „Soll… ich nicht besser gehen?“, fragte hide leise. Er hatte das Gefühl, sein Gastrecht – welches für sich genommen schon ein Wunder darstellte - bereits erheblich überstrapaziert zu haben. „Ich weiß nicht“, sagte Tomoaki und sah ihn abschätzend an. „Was denkst du?“ „Ich weiß nicht“, sagte hide. Einige Herzschläge lang schauten sie sich unschlüssig an. Dann zog der andere Junge den linken Mundwinkel zu einem halben Lächeln hoch. „Willst du Gitarre spielen?“ Wenig später saßen sie in Tomoakis Zimmer auf den Tatamimatten. Dieser hatte eine zweite Les Paul in einem schönen Sunburst-Design hervorgezaubert, welche nun in hides Schoß ruhte. „Was willst du spielen?“, fragte hide. „Mmh“, machte Tomo. „Kannst du was von Sabbath?“ „Keine Ahnung“, antwortete hide. „Noch nie probiert.“ „Ich zeig dir was“, sagte Tomoaki. Er spielte einen längeren Riff. Er klang schön. Leicht melancholisch, stellenweise etwas aggressiv, aber insgesamt erstaunlich gefühlvoll. Es gefiel hide. Er spielte die ersten Töne nach. Down, down, up, down, Fingerarbeit, down… ähm… ja. Er hielt inne und durchkramte sein Kurzzeitgedächtnis. „Uhm… mach das nochmal.“ Er brauchte noch drei weitere Anläufe, bis er die Melodie vollständig kopiert hatte und dann war er ziemlich stolz auf sich. Probeweise spielte er sie noch einmal. „Ok?“, fragte Tomoaki, als er geendet hatte. „Ok“, sagte hide. Sie schauten sich an, nickten beide gleichzeitig und stiegen gemeinsam ein. Während er spielte, hatte hide ein äußerst seltsames Gefühl: Irgendwo in seinem Inneren klickte etwas, wie ein lange gesuchtes Puzzleteil, das endlich an die richtige Stelle fand. Die Welt schien ein Stück vollständiger. Er hatte schon mit vielen Leuten Gitarre gespielt. Aber das hier, das hier war unglaublich. Es fühlte sich natürlich an. So natürlich. Sie erreichten das Ende der Melodie. „… bin das bloß ich oder hat das jetzt irgendwie gerockt?“, fragte Tomo. Seine Finger tappten ein paar Mal nachdenklich gegen die Saiten. „… vielleicht war es Zufall“, schlug hide eine alternative Narrative vor. „Lass uns das nochmal probieren. Und diesmal fang ich an.“ Er spielte eine neue Melodie, schneller und ungleichmäßiger. Entfernt hatte er sie mal an Pink Floyd angelehnt, doch das war so lange her, dass er gar nicht mehr wusste, an welches Solo genau. Beim dritten Mal stieg der andere Junge ein. Abermals schmiegte sich sein Sound perfekt an hides. Am Ende der vierten Wiederholung hörten sie beide gleichzeitig auf und schauten sich zum wiederholten Mal an diesem Abend unschlüssig an. „Was genau passiert hier gerade?“, fragte hide schließlich. „Ich weiß nicht“, antwortete Tomo. „Aber ich bekomme ziemliche Grusel-Vibes.“ „Grusel-Vibes-gut oder Grusel-Vibes-schlecht?“, fragte hide. „Nur Grusel-Vibes.“ hide zog eine Schnute und nickte. Man nahm ja, was man bekam. „Aber du lernst schnell“, sagte Tomoaki. „Und du erst“, sagte hide. Eine etwas seltsame Stille trat ein. Sie war nicht unbedingt unangenehm, doch irgendetwas war an ihr, das sie schwer werden ließ. hide knickte zuerst ein. Er räusperte sich. „Ich sollte vielleicht…“ „Ja…“, stimmte Tomoaki zu, „du solltest vielleicht.“ „Tomo!“, drang eine Stimme durch die dünne Wand zum Nebenzimmer, „sei so gut und bring mir einen großen Topf!“ Der andere Junge und hide sahen sich an und mussten beide lachen. „Eigentlich“, sagte Tomoaki nach einigen Sekunden und zwang sich, mit dem Lachen aufzuhören, „ist das unangebracht. Da läuft Wasser in mein Haus.“ "Ja!", kam die Stimme noch einmal. "Und es wird nicht weniger! Dalli!" „Entschuldigung“, sagte hide und riss sich zusammen. Tomoaki stand auf und machte sich auf den Weg in die Küche. „Sei so nett und bring meiner Schwester die Gitarre zurück.“ hide nickte. Das erklärte einiges. Er hatte es schon seltsam gefunden, dass eine Person zwei dieser Schmuckstücke besitzen sollte – in diesem jugendlichen Alter! Er rappelte sich auf, trat in den Gang hinaus und sagte: „Terumi?“ Jenseits der Tür gegenüber raschelte es. Dann passierte nichts. Hinter ihm ging Tomoaki mit einem Topf vorbei. „Terumi?“, fragte er noch einmal, etwas lauter. Nochmaliges Rascheln. Die Tür glitt auf und gab den Blick auf den Ausschnitt eines extrem unordentlichen Zimmers und ein Poster von KISS neben dem einiger schmusender Kätzchen frei. Das Mädchen im Vordergrund des Ganzen, eine Armlänge entfernt von hide, hatte sich inzwischen leidlich angezogen, schaute ihn aber genauso sprachlos an wie zuvor. Er räusperte sich und reichte ihr mit beiden Händen das Instrument. „Danke, dass ich mir deine Gitarre leihen durfte.“ Sie nickte. hide fragte sich auf einmal, ob sie vorhin auch schon Lippenstift getragen hatte. „Ähm… also dann. Auf Wiedersehen.“ Er schaffte ein Lächeln. Sie nickte noch einmal. Die Tür glitt wieder zu. „Denk dir nichts“, hörte er die Stimme des anderen Jungen hinter sich. „Sie ist so.“ Tomoaki begleitete ihn die Treppe nach unten, durch den Laden und zur Eingangstür. Die Luft war nach dem Regen kühl und erfrischend, als hide nach draußen auf die Straße trat. Es tröpfelte noch ein wenig. „Ok“, sagte er unschlüssig, „also dann…“ Tomoaki nickte. „Also dann.“ „Danke.“ „Mach das einfach nie wieder.“ hide nickte. Dann gab es nichts mehr zu sagen. Also lächelte er leicht und machte sich auf den Heimweg. Er war gerade zehn Schritte weit gekommen, als ein Ruf ihn noch einmal innehalten ließ. „He!“ „Hhm?“ hide drehte sich im Gehen um. Etwas flog auf ihn zu, er fing es auf. Es war ein Onigiri ohne alles. Die aufziehende Dunkelheit des Abends reichte nicht ganz um zu verstecken, dass seine Wangen sich verdunkelten. Er winkte nochmal, dann verschwand er in der Dämmerung. Frau Ishizuka erschien mit einer Gemüsekiste, die nach hinten in die Kühlung musste, neben ihrem Neffen in der Tür und schaute hide nach. „Wirklich ein netter Junge!“, sagte sie. „Ja…“, sagte Tomoaki, drehte sich um und ging zurück nach drinnen. „Aber ein seltsamer.“ -X- Toshi nahm den Hörer ab – und legte ihn wieder hin. Es war gerade genau acht Uhr, und er wollte nicht den Eindruck erwecken, als hätte er auf die runde Zahl gewartet, um anzurufen – obwohl er genau das getan hatte. Er ging noch einmal in die Küche und schaute in den Kühlschrank. Hunger hatte er keinen, aber es war Thunfisch da. Gut zu wissen. Kühlschrank wieder zu und zurück in den Flur. Es war drei nach acht. Er nahm den Hörer noch einmal ab, wählte die Nummer, verwählte sich nicht, legte trotzdem wieder auf. Nervös. Immer noch nervös. Das konnte doch nicht wahr sein! Toshi atmete zwei Mal tief durch. Jetzt komm schon, dachte er. Wenn du vor ihm singen kannst, kannst du ihn auch anrufen. Los. Da ist überhaupt nichts dabei. Du hast deinen Zettel. Ja, er hatte tatsächlich einen Zettel, auf dem er sich notiert hatte, was er wollte. Nur für den Fall, dass er es mitten im Gespräch vergaß und anfing zu stottern. Er würde ihn nicht brauchen, er brauchte ihn nie. Aber es gab ihm ein gewisses Gefühl von Sicherheit. Toshi wählte die Nummer noch einmal. Es tutete. Sein Mund war trocken. Dreimal. Viermal. Nach dem fünften Mal meldete sich eine Frauenstimme. „Hai. Matsumoto desu.“ Toshi wünschte, er hätte sich noch einmal räuspern können, aber gut, dann eben so. „Deyama Toshimitsu to mooshimasu ga. Ich würde gern mit hide sprechen.“ Kurz herrschte Stille am anderen Ende der Leitung. „Hideto ist nicht zuhause.“ „Oh“, machte Toshi. „Dann, ähm… wann kommt er denn zurück?“ Wieder Stille. Toshi runzelte die Stirn und wischte mit dem Finger ein bisschen Staub von der Seite des Telefonapparats. Wer auch immer dran war, und er tippte mal auf hides Mutter, war anscheinend niemand von der schnellen Sorte. „Er war sich noch nicht ganz sicher. Soll ich ihm etwas ausrichten?“ Jetzt war Toshi Schuld an der Stille. Er schaute auf seinen Zettel. hide, das ist jetzt vielleicht etwas seltsam, weil wir haben uns nur zwei Mal getroffen und eines davon zählt eigentlich nicht, aber ich habe mich gefragt, ob du vielleicht mal - Toshi hörte auf zu lesen. Das half nicht. „Nein“, sagte er schließlich. „Danke. Ich probier‘ es einfach die nächsten Tage nochmal.“ „Tu das“, sagte die Frau. „Verzeihen Sie die Umstände. Guten Abend.“ „Guten Abend.“ Es klickte, dann ertönte das Freizeichen. -X- hide stand vor seiner Haustür und kaute an seinen Fingernägeln. Er hätte daran denken können, zumindest seinen Schlüssel mitzunehmen. Hätte, könnte, sollte, wollte. Alles unnütze Wörter. „Au…“ Er war am Daumennagel zu weit nach unten gewandert und hatte das Nagelbett eingerissen. Das tat weh. hide ließ die Hand sinken und atmete durch. Es gab nur zwei Optionen. Er konnte klingeln oder sich hier einrollen und hoffen, dass vielleicht irgendwann seine Mutter noch einmal vor dem Schlafengehen nachsah, ob denn alles in Ordnung war – eine äußerst vage Hoffnung. Außerdem, was würden die Nachbarn sagen, wenn er nur eine Treppe von seinem eigenen Zimmer entfernt übernachtete? Das ging gar nicht. Schon dass er so lange hier herumstand, kam ihnen sicher äußerst ominös vor. Außerdem – er bewegte die inzwischen etwas kalten Zehen in den Turnschuhen – war es drinnen, wenn schon sonst nichts, zumindest warm und trocken. Er drückte auf die Klingel und trat einen halben Schritt zurück, um einen gewissen Sicherheitsabstand zur Tür zu haben. Unendlich viel Zeit schien zu vergehen, in der hide das Klopfen seines Herzens wie bedrohliche Buschtrommeln in der Ferne erschien. Dann hörte er, wie jemand den Schlüssel im Schloss drehte und dann ging die Tür auf. „Komm rein…“ meinte sein Vater. Er sah müde aus und mindestens zehn Jahre älter, als er eigentlich war. An diesem alten, müden Mann war nichts, vor dem man sich hätte fürchten müssen. Und hide kam rein. Und hörte zu. Durfte sich wieder anhören, dass sich von heute ab alles ändern würde. Dass es ihm Leid tat. Dass sie das sicher alles wieder hinbekamen, wenn sie nur alle hart daran arbeiteten. Dass man ihn liebte. Dass sie einfach mehr reden mussten, um einander besser zu verstehen. hide nickte und sagte an den passenden Stellen: „Mh“ und „Ja“ und „Nein“. Er machte sich nichts mehr vor. Es war zu oft passiert. Er war froh, dass ihn niemand fragte, wie er sich fühlte, denn in ihm war nichts. Eigentlich fühlte er sich der ganzen Situation seltsam entrückt. Alles schien einer anderen Person zu passieren. Er schaute nur zu. Er saß am Küchentisch und er saß nicht am Küchentisch. Er liebte seine Eltern und er liebte sie nicht. Er war traurig über alles und er war nicht traurig. Es passierte alles einfach. Irgendwem. Irgendwo. Es betraf ihn nicht. Nichts von all dem hier betraf ihn. Doch als er später an diesem Abend behutsam seine Zimmertür schloss wusste er, dass ihn irgendwann im Lauf der Nacht wie immer die Erkenntnis einholen würde, dass es sich hierbei tatsächlich um sein Leben handelte. Nicht um das Leben von irgendwem, irgendwo. Es war kein Film, bei dem man einfach während der schlechten Stellen mal aufs Klo gehen konnte und später über die Unfähigkeit des Protagonisten lachte, auch wenn er einem ein wenig Leid tat. Gerade war es friedlich. Und wie immer würde es genau so lange halten, bis er das nächste Mal betrunken war. Also morgen… Übermorgen vielleicht. Sometimes I feel like I'm dying at dawn, and sometimes I'm warm as fire. Oh, how I need to be free of this pain, but it goes over, and over, and over, and over again. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)