Forever Dream von Mad Hatter-sama ================================================================================ Kapitel 1: A Different Life and Whiskey Cola -------------------------------------------- Eine sanfte Klaviermelodie plätscherte durch das still daliegende Schulgebäude. Durch das geöffnete Fenster wehte ein warmer Sommerwind in das dritte Klassenzimmer auf der linken Seite im zweiten Stock, raschelte in den Partituren auf den Regalen und trocknete den dünnen Schweißfilm, der sich in Yoshikis Nacken dort gebildet hatte, wo seine Haare schon wieder ein Stück zu lang für die Schulordnung waren. Toshi stand auf den Besen gestützt neben ihm und schaute ihm beim Spielen zu. Manchmal veränderte er seine Pose und machte eine Bewegung, die Yoshiki vermuten ließ, dass er sich vorstellte, der Besen wäre ein Mikroständer, doch es gab keinen Text zu diesem Lied und Yoshiki plante auch keinen, also sagte er nichts. „Hayashi!“ Yoshiki zuckte so heftig zusammen, dass er seine Knie am Klavier anstieß, verspielte sich und schlug die Tastenabdeckung etwas zu kräftig zu, als könne das noch über seine mangelnde Arbeitsmoral hinwegtäuschen. Toshi hatte den Besen gepackt, als müsse er ihn wie ein Gewehr präsentieren. „Ähem. Jaaa?“, machte er gedehnt und vermutlich etwas schuldbewusst, und drehte sich seeehr langsam auf der Bank um. Dabei rieb er sich unauffällig das linke Knie, das mehr weh tat als das rechte. Sein Geschichtslehrer stand in der Tür und hatte die Arme verschränkt. Es lag diese Mischung aus Verständnis und Tadel in seinem Blick, die man vermutlich an der Universität von der ersten Pädagogikstunde an einstudierte. „Ich beschränke nur ungern Ihre kreative Ader, aber Sie sind zum Putzen hier und nicht zum Klavierspielen.“ Yoshiki schaute sich im Raum um und dann zurück zu seinem Lehrer in der Tür. „Aber alles ist sauber. Ich versteh sowieso nicht, warum man jeden Tag putzen muss. Das ist doch total sinnlos.“ In dem Moment, in dem die Worte seinen Mund verlassen hatten, erkannte Yoshiki, dass er etwas sehr falsches gesagt haben musste. Er erkannte auch was, noch bevor der Mann rot anlief und den Mund zu einer vermutlich auswendig gelernten Moralpredigt öffnete. „Es geht hier nicht um sauber oder nicht, sondern darum, Disziplin zu lernen und Verantwortung für eine Aufgabe zu übernehmen! Dieses kleine Engagement innerhalb der Schulgemeinde bereitet Sie darauf vor, einmal einen nützlichen Platz in unserer Gesellschaft auszufüllen! Und jetzt los!“ Er deutete auffordernd auf Besen und Lappen. Yoshiki unterdrückte ein Seufzen. „Verstanden…“ „Und Deyama, Sie waren doch für den Gang eingeteilt. Darf ich bitten?“ Toshi salutierte nicht, aber es war nah dran. „Entschuldigung, aber Gang ist fertig, Sensei.“ Überraschung machte sich auf dem rundlichen Gesicht des Herr Tanaka breit und er schrumpfte ein wenig zusammen, wie ein Kugelfisch, der Luft abließ. „Ja, dann… sehen Sie zu, dass Sie nach Hause kommen.“ Toshi machte einen solidarischen halben Schritt seitwärts in Richtung Klavier. „Ich helfe ihm gern. Gemeinsam geht es schneller.“ „Nein, das tun Sie nicht. Sonst endet das wie immer damit, dass Sie putzen, während Hayashi sich zurücklehnt und herumklimpert. Sie sollen hier alle ihren Teil tun.“ „Herumkl-“, setzte Yoshiki erbost an, doch Toshi rammte ihm unauffällig den Besen gegen das Schienbein und sagte: „Ja, Sensei“ und dann zu seinem Freund: „Ich warte dann unten.“ Er lehnte das Putzutensil vorsichtig gegen den Flügel, machte eine respektvolle Verbeugung und verschwand aus Yoshikis Sichtfeld. Yoshiki zog ein missmutiges Gesicht und stand, sich nun auch noch das Schienbein reibend, vom Klavierhocker auf. Doch nach wenigen Sekunden hörte er etwas, das ihn automatisch seine ernste Miene aufsetzen ließ – jene, die man sonst für Beerdigungen und Schelten von Mama reservierte. Innerlich knackste er sich bei dem Versuch nicht zu lachen vermutlich drei Rippen an. „Omae wa motomete irun daro, shigeki ni idakareta, Making love, karada ni shikireyosootte mo tengoku e ikenai ze~“, drang eine Stimme noch den Gang hinauf, bevor sie sich im Treppenhaus verlor. Der Lehrer sah erst fassungslos Toshi hinterher und dann zurück zu dem Jungen, der sich gerade so pflichtbewusst seiner Arbeit zuwandte, dass es nur gespielt sein konnte. „Ja, schauen Sie mich nicht an“, sagte Yoshiki und faltete den Putzlappen mit äußerster Sorgfalt auf die vorgeschriebene Art und Weise. „Das hat er nicht von mir.“ -X- Als Yoshiki mehr oder weniger gekehrt und die Tische abgewischt hatte, näherte sich der Zeiger der Uhr bereits verdächtig der Zahl Fünf. Wieder einen Nachmittag mit Unsinn vergeudet, dachte er ungnädig, während er auf den Gang hinaustrat und in die Klassenzimmer nebenan spähte. Leer. Seine Mitputzenden waren schon lange verschwunden. Er brachte sein Zeug zurück und verließ schließlich als gefühlt letztes menschliches Wesen an diesem Tag die Schule. Toshi lag unten vor dem Gebäude auf einer Bank und blinzelte träge, als Yoshiki sich ihm in die Sonne stellte. „Netter Text“, sagte er. „Danke“, antwortete Toshi und schaute ihn aus einem halbzusammengekniffenen Auge heraus an. „Ist mir unter der Dusche eingefallen.“ „Zu viel Information.“ Er ließ sich neben Toshis Beine fallen. „Tanaka ist so ein Riesenarsch.“ „Naja. Wir haben nicht geputzt. Das ist sein Job.“ Yoshiki warf ihm einen finsteren Blick zu. „Toshimitsu. Willst du mit mir befreundet sein oder willst du es nicht?“ „Ich sag ja nur… was ist los mit dir?“ „Argh, ich weiß auch nicht! Dieses ganze Gelaber von wegen Zukunft und Plätzen und Nützlichkeit macht mich jeden Tag mehr fertig“, sagte Yoshiki und stand entschieden auf. Klimpern, hatte er gesagt! KLIMPERN! „Lass uns gehen. Ich muss hier weg, bevor ich explodiere.“ „Gut…“ Toshi hievte sich in die Vertikale und hob seine Tasche auf. „Aber ich mochte das Lied.“ Yoshiki grinste schief und humorlos. „Wenn du mich aufheitern willst, brauchst du mehr als das.“ „Ich hab den ganzen Weg zu dir Zeit. Komm. Erzähl mir irgendeinen Schlagzeug-Scheiß, den ich nicht verstehe und warum es toll ist.“ Yoshiki verdrehte die Augen und ging los. Irgendwo auf halbem Weg schließlich brach Yoshiki das Schweigen und berichtete Toshi von einem neuen Becken und einem Set Besen – die nichts mit Putzen zu tun hatten – und wie immer verstand Toshi nur die Hälfte (vor allem die begeisterte), aber ließ ihn erzählen. Wie er vorhergesagt hatte, besserte schon das Yoshikis Laune beträchtlich. Deswegen erzählte ihm Toshi danach auch von dem vollständigen Sinn oder eher Nicht-Sinn des Lieds, das er vorher geträllert hatte und stimmte Yoshiki in dessen Meinung bei, so ein Lied bräuchte ziemlich viel Gitarrensolo. Zu dem Zeitpunkt, als sie in den Bus einstiegen, war die Laune wieder aus dem dunklen Keller in die Küche zurückgekehrt und schaute dort neugierig in den Kühlschrank. Eigentlich hatte Yoshiki noch einen mindestens zehnseitigen Aufsatz über die chinesische Nordkoreapolitik zu schreiben und Toshi hätte dringend ein paar Kanji wiederholen müssen, um in der nächsten Mathematikarbeit wirklich zu hundert Prozent verstehen zu können, was eigentlich genau von ihm verlangt wurde – beides undankbare Aufgaben, die nach der Klimaanlage der Hayashis und ziemlich viel Wassermelone verlangten. Doch über ihnen lachte noch immer eine freundliche Sommersonne vom Himmel und sie entschieden, dass es eigentlich ein viel zu schöner Spätnachmittag war, um ihn drinnen zu verbringen, von übriggebliebenen Hausaufgaben oder ähnlichem Unsinn ganz zu schweigen. Also kauften sie Limonade in Dosen und machten einen spontanen Umweg über den Park. Dort ließen sie sich in den Schatten eines alten Ahorns fallen und ihr Gespräch über ihre zukünftige Musikkarriere legte eine Pause ein. Es war warm und ein bisschen schwül. Toshi zog sich seine Sonnenbrille ins Gesicht und atmete bald tief und gleichmäßig. Yoshiki legte sich neben ihn und sah den Wolken beim Vorbeiziehen zu. Die da sah aus wie ein Hund. Da hinten ein Frosch. Ein Haus. Eine Gitarre. Nach was Wolken nicht alles aussehen konnten… „Toshi…“ Tiefes und gleichmäßiges Atmen. „Toshi.“ „Mmh?“, kam es leicht schläfrig von rechts. „Wieso eigentlich nicht?“ „Wie’o ei’entlich nich‘ was?“, murmelte Toshi, halb am Wegdämmern. Yoshiki stieß ihm einen Ellenbogen zwischen die Rippen – äußert freundschaftlich, verstand sich. „Warum nicht echt Musik?“ Toshi rieb sich die Seite und gähnte. „Weil das nur funktioniert, wenn man nach oben kommt. Sonst lebst du in zehn Jahren davon, an der Straßenecke Bongo zu spielen. Andererseits wäre es die Zukunft, also wären es vielleicht Laser-Bongos oder so.“ Er gähnte noch einmal. „Wir wollen das jetzt schon so lange“, sagte Yoshiki und setzte sich auf. „Weißt du noch, als ich vor fünf Jahren mein erstes Queen-Album hatte? Wir haben das Teil die ganze Nacht gehört. Du hast versucht, es auf deiner schrottigen Gitarre nachzuspielen.“ „Ja, und du hast gesungen wie ein sterbender Schwan. Deine Mutter kam, um zu sehen, ob ich dich umbringe.“ Yoshiki versuchte einen bösen Blick, musste aber gegen seinen Willen lachen. „Ja, wir haben alle ein paar Fehler im Leben frei, und da hab ich einen von meinen verbraucht. Aber was ich sagen will – Musik, Toshi.“ Yoshiki sah zur Seite und bemerkte, dass er jetzt die ungeteilte Aufmerksamkeit seines Freundes hatte. „Mein Vater wollte immer, dass ich Lehrer werde. Aber ich kann mir diese Zukunft nicht vorstellen. Lehrer… Haus… Kinder… Alt werden… Das ist alles…“ Yoshiki machte eine kreisförmige Handbewegung und gab den Satz mangels eines passenden Wortes auf. „Ich weiß nur zwei Dinge: Ich will immer mit dir befreundet sein. Und ich muss Musik machen.“ „Du musst?“ Vielleicht hätte Toshi versucht, belustigt zu klingen, doch etwas in Yoshikis Stimme ließ den Tonfall nicht zu. Yoshiki klappte den Mund auf und dann wieder zu und wandte den Blick dann ab. Ein Stück entfernt lachten Kinder, während sie sich eine Frisbee zuwarfen. Ein kleiner, wuscheliger Hund hüpfte zwischen ihnen hin und her. Von der Straße drang gedämpft das Geräusch sich langsam dahinschlängelnden Verkehrs herüber und weit über ihnen rauschten die Blätter in einer fernen Brise - die Geräusche eines trägen Sommertages. Toshi nahm einen Schluck Limonade. Sie war inzwischen lauwarm und fühlte sich auf seiner Zunge klebrig an. Noch mit der Brühe im Mund drehte er den Kopf wieder so weit, dass er Yoshikis Profil sehen konnte. Er kannte den anderen Jungen seit über zehn Jahren und das war alles, was er brauchte. Neben ihm kämpfte sein Freund mit einer Antwort und er war sicher nicht derjenige, der ihn drängen würde. „Ich bin manchmal wütend“, sagte Yoshiki schließlich, gerade als Toshi sich durchgerungen hatte, den warmen Sabber runterzuschlucken. „Und manchmal bin ich traurig. Und dann weiß ich nicht, was ich machen soll. Manchmal fühle ich mich, als … könnte ich nicht …“ Yoshikis Stimme verlor sich und ein paar Sekunden herrschte Stille, bevor er wieder ansetzte. „Aber das alles ist egal, wenn ich Musik mache. Es gibt einem irgendwie… Kraft. Ich glaube, Musik kann Leute retten, Toshi.“ Er knetete ein paar Herzschläge lang seine Finger, als wären sie kalt. „Vielleicht auch mich.“ Toshi blinzelte. Einmal. Zweimal. Dann sagte er: „Du kannst wirklich sehr frustrierend sein an so einem schönen Tag.“ „Ja, das ist der Hayashi-Signature-Move.“ Yoshiki lächelte schief und nahm ebenfalls einen Schluck Limonade, verzog das Gesicht und spuckte sie zur Seite aus – dankbarerweise zu der Seite, auf der Toshi nicht lag. „Bwah. Kiwi schmeckt echt widerlich, wenn sie warm wird.“ „Glaub mir, Kokusnuss ist nicht besser“, sagte Toshi und hob zur Unterstreichung seiner Worte seine eigene Dose an. Doch sie hatten ja noch ein Thema. „Also willst du das wirklich? Musik, Band, das alles?“ Yoshiki drehte den Kopf und blickte ihm direkt in die Augen. „Ja.“ Und Toshi glaubte ihm. „Ich will nicht Lehrer werden. Scheiße, ich will ja noch nicht mal jetzt zur Schule gehen. Und du willst nicht Arzt werden. Und glaub mir, ich hab gesehen, wie du deinem Bruder Pflaster klebst – die Menschheit wird es dir danken, wenn du eine andere Laufbahn einschlägst.“ Toshi gluckste und zog in schuldbewusster Erheiterung die Schultern hoch. „Das stimmt. Aber…“ Er rupfte einen Grashalm aus und zwirbelte ihn zwischen den Fingern, bis er sich auflöste. „Ich bin mir nicht sicher, wovor ich gerettet werden müsste. Vielleicht hab ich also nicht … dieses Etwas. Du weißt schon. Was du hast.“ „Wahnsinn?“ „Nein. Idiot. Leidenschaft.“ Yoshiki drehte die Dose in den Händen. Die Kiwilimonade darin gluckste. „Also… machst du nicht mit?“ „Das hab ich nicht gesagt. Ich versteh nur nicht, warum du mich willst.“ Die rote Frisbee landete einige Meter entfernt. Toshi rappelte sich auf. „Ich meine gut, wir sind Freunde. Aber wenn mich die Hochglanzzeitschriften eins gelehrt haben, dann dass für Erfolg im Showbusiness viele Dinge wichtiger sind als das. Was, wenn ich scheiße bin.“ Er hatte die Frisbee erreicht und warf sie in einem perfekten Bogen zurück zu den winkenden Kindern. Dann ließ er sich auf die Wiese zurück fallen, diesmal Yoshiki gegenüber. „Du bist nicht scheiße. Du hast eine tolle Stimme. Immer wenn was schreibe, hab ich deine Stimme im Ohr. Was anderes kann ich mir gar nicht vorstellen.“ Toshi musste zu seiner eigenen Überraschung zweimal blinzeln. Mann, Yoshiki hatte es echt raus, mitten in eine normale Konversation rührende Dinge platzen zu lassen, scheinbar ohne sich dessen bewusst zu sein! Er schluckte sicherheitshalber noch einmal, bevor er beschloss, den zweiten Teil einfach zu ignorieren und auf den ersten zu antworten. „Ja, aber… Bowie, Mercury, Barrett… das ist eine ganz andere Liga. Und darum geht’s ja eigentlich gar nicht. Dir ist das so wichtig. Für mich wäre es eher so … tralala.“ „Nein, wär’s nicht“, sagte Yoshiki und stützte das Kinn auf seine rechte Hand. „Ich kenn dich. Du weißt das nur noch nicht. Außerdem, stell dir mal vor, ich werde berühmt und du nicht. Dann kannst du mich nur noch sehen, indem du meine Kassetten kaufst und dann sitzt du da abends nach einem langen Arbeitstag in einem beschissenen 0815-Job im Dunkeln vor dem Fernseher und heulst dir die Augen aus, während ich in meiner Villa in Amerika, die viel mehr Zimmer hat, als ich brauche, langsam an Vereinsamung eingehe und sterbe, und erst meine Putzfrau findet meine halbverweste Leiche eine Woche später und dann hatte ich auch noch peinliche Unterwäsche an.“ Toshi sah ihn eine Zeiteinheit von undefinierter Länge abschätzend an, bevor er antwortete. „Du hast lange an diesem Szenario gearbeitet, oder?“ „Ich hab viel freie Zeit.“ Yoshiki stemmte sich in eine hockende Position auf. „Können wir übrigens weitergehen? Meine Limo zieht Wespen an.“ An der Stelle, wo er das Zuckerwasser mit Farbstoff ausgespuckt hatte, saß inzwischen ein großes gestreiftes Insekt und auch eine Ameisenstraße war dabei, sich fröhlich in die richtige Richtung zu arbeiten. Toshi stand mit einem Seufzen auf, aber es war ein Seufzen mit einer großen Zuneigung darin. „Also gut, Mr. Superstar. Ich nehme an, ich werd‘ irgendwann schon meine persönliche Hölle finden. Vielleicht ist es gar nicht so schlecht, dann vorbereitet zu sein. Ich mach mit. Was soll ich tun?“ Yoshiki schlang ihm einen Arm um die Schulter und grinste. „Mir vertrauen.“ -X- Einige Tage später saß Toshi im Zug nach Hause und hatte das erste Mal seit jenem Nachmittag wirklich Zeit, seine Gedanken zu ordnen. Es war schwer, zwischen Schule, Lernen, Familie, Freunden und drei verschiedenen Sportclubs mal hin und wieder Denken einzuschieben. Doch gerade waren Schule, Freunde und Volleyball für den Tag abgehakt, und Denken vertrug sich normalerweise wunderbar mit der sich bewegenden Kulisse eines Vororts bei Nacht. Toshis Gesicht spiegelte sich leicht im Zugfenster, an das er seine Stirn gelehnt hatte. Während draußen schemenhafte Schatten vorbeizogen und in seinen Kopfhörern Catch Your Train in Dauerschleife lief, ging er das Ganze noch einmal durch. Es war seltsam. Er war Yoshikis bester Freund, doch manchmal fühlte es sich so an, als könne er direkt neben ihm stehen, die Hand ausstrecken und ihn trotzdem nicht berühren. Manchmal war da eine Mauer direkt vor ihm, und dass er von hinter der Mauer vom Leben dort erzählte, ließ sie noch lange nicht verschwinden. Noch verstörender war allerdings, dass Toshi manchmal nicht hätte sagen können, ob die Mauer Yoshiki drin oder alle anderen Leute draußen halten sollte. So oder so war der weitaus größte Teil von Toshi überaus froh, dass er nicht Yoshiki war. Er wusste zwar nur von Hörensagen, wie es jenseits der Mauer aussah, aber das war genug, um zu wissen, dass es ihm wahrscheinlich nicht gefallen würde. Andererseits… gab es Yoshiki auch irgendetwas. Irgendetwas, das ihm selbst fehlte. Toshi horchte in sich hinein. Natürlich, Singen war einfach, Singen war toll. Vom Singen leben zu können: ein Traum. Aber er spürte nicht das, was er in Yoshikis Augen gesehen hatte. Es gab keinen Abgrund, aus dem er sich mit seiner Stimme herauskämpfen musste. Er hatte nicht Yoshikis Dämonen. Hatte er deswegen auch nicht seine Kraft? Eine Gruppe plappernder Schulmädchen stieg zu und setzte sich auf die Sitze vor ihm. Toshi stellte die Musik einen Tick lauter. And you'd like to be another A different guy and a better lover For your love, for your life, check your way. Toshi machte die Dinge, die er tat, weil er sie eben tat. Schule, Sport, seinen Großvater im Altersheim besuchen. Manches davon machte Spaß, manches weniger. Aber das war es dann auch schon. Wie es wohl war, so für etwas zu brennen, wie Yoshiki es tat? Und konnte man das lernen oder musste man dazu in den Abgrund gesehen haben? Bis wann im Leben musste das passieren, um noch einen Einfluss zu haben? War es schon zu spät dafür? Konnte das wirklich etwas werden, wenn er nur ganz fest daran glaubte? An die Idee oder an Yoshiki oder an beides? Wie würde es sein, wenn es wirklich wahr wurde? Kurz erlaubte Toshi sich, in einen kleinen Tagtraum abzudriften, der ziemlich viele Fans beinhaltete. Die von der hübschen Sorte. Würde er eine Limousine haben? Und schöne Haare? Und tolle Schuhe. Auf jeden Fall tolle Schuhe! In diesem Moment registrierte er, mehr aus den Augenwinkeln, dass das da draußen vor dem Fenster seine Haltestelle war. Toshi schoss hoch und schaffte es mit einem beachtlichen Kurzsprint und einem grandiosen Sprung gerade eben noch rechtzeitig zur Tür, um Auszusteigen. Oder eher Auszuspringen. Diese Art der Benutzung des öffentlichen Nahverkehrs führte, zu was sie führen musste: Er sah gerade noch einen Schatten und dann kollidierte er unsanft mit etwas menschlichem und fiel wenig graziös über Füße, von denen er glaubte, dass es seine eigenen waren. Die andere Person rettete sich mit einer halben Pirouette, stolperte dann aber auch und fiel auf den Hintern. „Aua...“, kam es von beiden Seiten gleichzeitig. Dann hörte Toshi ein: „He, soko no kimi. Hast du dir was getan?“ Es fühlte sich ein bisschen seltsam an, dass er derjenige war, dem diese Frage gestellt wurde, doch die allgemeine Irritation steckte ihm noch in den Knochen und deswegen hörte Toshi sich antworten: „Alles in Ordnung. Ich… äh… es tut mir leid.“ Er hob den Blick und erstarrte. Nur eine Armeslänge entfernt auf den Steinen des Bahnsteigs saß ein Junge in seinem Alter. Große, dunkle Augen mit einem charismatischen Funkeln darin betrachteten ihn, passend zu einem fesselnden Grinsen. Toshi spürte, wie seine Lippen sich unwillkürlich ebenfalls zu einem – wie er fürchtete – enorm dümmlichen Grinsen verzogen. „Ach, macht nichts. Ein Guter hält’s aus, um ‘nen Schlechten ist’s nicht schad‘, wie meine Oma immer sagt“, plapperte der andere Junge. Währenddessen stand er auf und streckte ihm die Hand hin. Toshi brauchte ein paar Sekunden, um sich von dem Anblick loszureißen, bevor er die ihm angebotene Aufstehhilfe ergriff und sich auf die Füße ziehen ließ. „Trotzdem, Entschuldigung nochmal…“ Toshi verbeugte sich so tief er konnte, ohne dass sein Kopf mit der Schulter des anderen kollidierte. „Nichts passiert. Mach’s gut.“ Er hob die Hand und ging. Toshi starrte ihm nach. Er ging. Er ging einfach! Und da erst fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Er hatte eine Gitarrentasche auf dem Rücken. Und ging. In diesem Moment, auf dem abendlichen Bahnsteig, in staubiger Hose, mit seiner Sporttasche in der Hand und die Kopfhörer seines Walkmans noch schief auf dem Kopf, erkannte Toshi drei der großen Wahrheiten des Lebens: Es gibt Personen, deren einmalige Berührung mit uns uns für immer verändert. Es gibt Chancen, die man nur einmal bekommt. Es sind die Dinge, die man nicht getan hat, die man für immer bereut. Auf dem gegenüberliegenden Gleis fuhr der Zug in Richtung Innenstadt ein. „He, warte!“ Toshi registrierte erst, dass in Bewegung war, als er bereits zu dem anderen Jungen aufgeschlossen hatte und ihm ein fragender Blick zuteilwurde. Die Türen öffneten sich und Toshi machte einen Schritt zur Seite, um die Passagiere aussteigen zu lassen. „Ähm, ja, also… Willst du zufällig in einer Band spielen?“ Toshi hob verlegen die Hand zum Hinterkopf. In Gedanken hatte das hier irgendwie viel besser funktioniert! „Ich bin kein komischer Irrer! Es ist nur – wir suchen.“ Sein Gegenüber sah ihn ein paar Sekunden lang etwas perplex an, doch erholte sich überraschend schnell. Das charismatische Grinsen kehrte zurück. Weiter vorne pfiff der Schaffner. Sicherheitshalber stellte er einen Fuß in die Zugtür. „Kommt drauf an. Seid ihr nett?“ „Oh. Ja. Sehr nett.“ Toshi nickte. „Mmh. Aber seid ihr auch gut?“ „Ähm… jaaa?“ Der Andere lachte. „Das klingt ja überzeugend.“ Nochmaliges Pfeifen, diesmal drei Mal hintereinander. „Ist ja gut, ist ja gut… Meine Fresse…“, murmelte der Gitarrenjunge und verrenkte den linken Arm nach hinten, um einen Füller aus der Außentasche zu ziehen. „Hand.“ Mechanisch streckte Toshi den Arm aus. Sein Kopf fühlte sich auf einmal seltsam leicht an und schien zum Denken vollkommen ungeeignet. Es kitzelte, als sich der Stift über seine Haut bewegte. An der Gitarre vorbei wurde sich Toshi der Blicke aus den Wagons bewusst. Der Schaffner stampfte winkend auf sie zu. „Ähm“, machte er, um die Aufmerksamkeit auf das sich nähernde Problem zu lenken. „Jajaja, bin schon fertig.“ Toshi spürte ein letztes Kribbeln, dann wurde sein Arm losgelassen. Quer über seinen Handrücken standen jetzt eine Telefonnummer und ein Name. „Hideto?“, fragte er, doch als er hochschaute, war der andere Junge verschwunden und die Türen geschlossen. Der Schaffner pfiff noch einmal und der Zug fuhr mit einem Quietschen an. Toshi blieb am Gleis stehen und sah ihm nach, bis er in den Lichtern der Stadt unterging. Seine Hand kribbelte immer noch. Er würde sie bestimmt niemals wieder waschen. And you like the rock ’n‘ roller A different life and Whiskey Cola But don't be low, keep your own style And catch your train! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)