Glashimmel von Flordelis ================================================================================ Eternal/Ephemeral Course ------------------------ 1013876 Mal. So oft waren sie sich nun das erste Mal in dieser Welt begegnet. Wie lange mochte sie wohl schon hier sein? Wie viele Tage waren vergangen, seit sie auch die letzte Hoffnung der Engel und Menschen zerstört hatte, um sich dieses neue Paradies zu erschaffen? Sie, die einst im nun nicht mehr existenten Himmel gelebt hatte, ein dem Herrn treu ergebener Engel. Raziel, deren Name Geheimnis von Gott bedeutete und die alles über den Kosmos und die Erde wusste, hatte ihre Fähigkeiten genutzt, um den Himmel vollständig zu zerstören und dafür dieses Paradies geschaffen. Ein Paradies, in dem nur sie und er existierten. Die Tür des Klassenzimmers, in dem sie saß, wurde aufgeschoben. „Hi“, lautete seine knappe Begrüßung, bei der er immer sanft lächelte. Sie erwiderte mit einem „Guten Morgen“, aber er setzte sich bereits auf seinen Platz direkt hinter ihr, legte den Oberkörper auf den Tisch – und schlief ein. Es war immer dasselbe. Und doch langweilte es sie nicht. Als nächstes würde sie ihn wecken, dann unterhielten sie sich, küssten sich und dann verließ er das Klassenzimmer, um ein Zuhause aufzusuchen, das nicht existierte, nur um wieder hier zu enden und alles vergessen zu haben. Immer dasselbe. Sie fürchtete sich vor dem Moment, in dem die Langeweile Einzug hielte, aber noch war es nicht soweit. Sie betrachtete das schwarze Haar des jungen Mannes, der es sich erdreistet hatte, das Herz eines Engels zu stehlen und zum Schluss sogar für diesen zu sterben. Ein Tod, der immer noch in ihrer Brust stach, wenn sie nur daran zurückdachte. All die Schwerter, von denen er durchbohrt worden war, das verrückte Lächeln der anderen Engel, ihre eigene Machtlosigkeit … Sie verscheuchte diese Gedanken sofort wieder. Das war alles Vergangenheit, nun war sie glücklich. Gemeinsam mit Setsuna, dem Mann, den sie liebte und der sie liebte. Er war das einzige, was sie brauchte, und sie war das einzige, was er brauchte. Alles war gut. Bevor sie ihn wieder weckte, streifte ihr Blick nach draußen. Die Sonne ging gerade unter und färbte den Himmel orange, ein Moment, der für immer in dieser Welt eingefroren war, weil sie es so wollte. Sie streckte bereits die Hand aus, um den jungen Mann sanft zu berühren, da hielt sie inne. Etwas stimmte mit dem Himmel nicht. Im ersten Moment war ihr nicht bewusst, worum es sich dabei handeln mochte, aber bei genauerem Hinsehen wurde es ihr klar. Ein feines, kaum sichtbares Netz von Rissen war dort zu sehen. Etwas, was nicht sein dürfte. Sie sah wieder den jungen Mann an. Was auch immer diesen Riss verursacht hatte, stellte eine Gefahr für ihr kleines Paradies dar – und das konnte sie nicht einfach hinnehmen. „Es tut mir leid, Setsuna“, sagte sie leise, um ihn nicht zu wecken. „Schlaf noch ein wenig weiter.“ Sie verließ das Klassenzimmer, dann das Schulgebäude und blieb auf dem Hof vor diesem wieder stehen. Den Kopf in den Nacken gelegt, blickte sie in den Himmel hinauf. Inzwischen hatte sich der Riss vergrößert, erste Splitter schwebten bereits herab, sie reflektierten das Sonnenlicht und glitzerten dadurch während ihres Falls. Ein schwerer Schlag erschütterte das Gebilde ihrer Welt, dann explodierte der Riss regelrecht, Federn, vermischt mit glitzernden Splittern stoben um Raziel, nahmen ihr kurzzeitig die Sicht. Aber eine Stimme von oben verriet ihr bereits, wer dafür verantwortlich war: „Raziel!“ „Camael ...“ Er war der Anführer der Engel der Zerstörung und eine der leitenden Persönlichkeiten in Pandora, der letzten Bastion der Menschen, Dämonen und Engel, gewesen. Nun stand er hier vor ihr, in derselben roten Kleidung, die sein rotes Haar komplimentierte, die er auch in Pandora immer getragen hatte und womit er nicht im Mindesten wie ein Engel wirkte. Nachdem sie ihn gemustert hatte, hob sie den Blick wieder. Jenseits des zersplitterten Himmels konnte sie einen weiteren entdecken. Lila Wolken bedeckten einen blutroten Horizont, der sich in die Unendlichkeit erstreckte. „Du hast ihn kaputt gemacht“, murmelte sie. „Raziel, was hast du dir dabei gedacht?!“ Träge wandte sie ihm den Blick zu. „Was meinst du?“ Seine Wangen waren gerötet, er ärgerte sich offensichtlich. „Du weißt genau, wovon ich spreche!“ Natürlich, er musste darüber sprechen, dass sie den Himmel zerstört und durch ihr Paradies ersetzt hatte. Wenn sie genauer darüber nachdachte, wunderte sie sich, wie er in diese Welt hatte eindringen können, und das erforschte sie auch sofort. „Merkst du es denn wirklich nicht?“, fragte Camael, sein Gesicht war von Sorge zerfurcht. „Ohne unseren Herrn zerfällt das, was von der Welt übrig geblieben ist, noch schneller als ohnehin schon. Und es gibt keine Hoffnung mehr auf eine Zukunft!“ Er zitterte. Seine Antwort sagte ihr jedenfalls, dass ohne Gott auch die Magie zerfiel und langsam aber sicher verschwand und damit auch ihr kleines Paradies. Der Rest von dem, was er sagte, interessierte sie schon gar nicht mehr. Ihr Blick ging wieder umher. Aber Camael war allein gekommen. „Sie sind alle tot“, antwortete er auf ihre unausgesprochene Frage. „Ich bin der letzte, der es bis zum Tor geschafft hat. Und dann lande ich hier!“ Es gab sonst niemanden mehr? Konnte das wirklich sein? Für einen Moment erschien der Schatten eines Gewissens in ihren Gedanken, aber er schaffte es gar nicht erst, sich festzubeißen. Wen interessierte das alles denn? Die Welt war auch davor schon so gut wie am Ende gewesen. Solange Setsuna hier war, störte sie nicht einmal der nahende Weltuntergang. Solange sie sich immer wieder treffen konnten, musste sie nichts anderes mehr kümmern. „Ist der Herr vielleicht noch hier?“, fragte Camael. Raziels Blick wanderte wieder zu ihm zurück, sein Gesicht war finster vor Sorge. Sie deutete ein Kopfschütteln an. „Aber warum interessiert dich das noch?“ Camael legte seine linke Hand an sein Kinn. „Ich bin ein Engel, genau wie du. Und es ist unsere Aufgabe, die Menschen zu beschützen. Das wird uns nicht mehr möglich sein, wenn alle Welten endgültig tot sind, was ohne unseren Herrn geschehen wird. Hast du deine Pflicht etwa vergessen?“ Sie lächelte sanft und legte sich eine Hand auf ihr Herz. „Es ist meine Pflicht, die Geschehnisse des Universums und der Welt festzuhalten. Mehr nicht.“ „Raziel.“ Warum klang Camael nur so traurig? „Warst du dem Chorus ausgesetzt?“ „Wäre das denn so schlimm?“ Diese Frage verschlug ihm offenbar die Sprache. Sie nutzte diese Pause, um direkt fortzufahren: „Es ist nichts Schlimmes darin, sich seinen eigenen Gelüsten hinzugeben und sich seinem Glück zu ergeben. Du solltest es auch versuchen.“ Er ging nicht im Mindesten darauf ein. „Ist Yaldabaoth auch hier?“ Was für eine lächerliche Frage. Wo sollte er denn sein, wenn nicht hier? Und warum interessierte ihn das überhaupt? Der falsche Gott war nun nicht mehr Camaels Problem. „Sein Name ist Setsuna“, erwiderte sie scharf. „Nenn ihn deswegen auch bitte so.“ „Also ist er hier.“ Camaels Miene verhärtete sich wieder. „Er ist der Grund hierfür, nicht wahr?“ „Nein!“ Wenn sie zugab, dass sie nur wegen Setsunas Tod all das hier erschaffen hatte, gäbe es für Camael kein Zögern mehr, ihn noch einmal zu töten. Aber er durchschaute sie. In Camaels rechter Hand erschien ein großes rotes Schwert; Tod, das Schwert des Vollstreckers. Es war die Kristallifizierung des Konzept des Todes, das für Engel und Dämonen immer schwer greifbar gewesen war. Selbst wenn sie getötet worden waren, so waren sie früher stets wiedergeboren worden, um ihre Rollen weiter zu erfüllen; deswegen waren sie stets frei vor der Angst, zu sterben gewesen. In dieser Welt, seit der Göttlichen Katastrophe, war es aber anders. Wer hier starb, verschwand auf ewig im Äther und kehrte nie wieder. In seiner linken Hand erschien ein in der Menschenwelt als Peacemaker bekannt gewordene Revolver; Bestrafung war, anders als das Schwert, nicht in der Lage, jemanden zu töten. Die Kugeln waren mit der Essenz der Vergeltung durchtränkt und dienten dazu, Feinde an einem Ort zu halten, sie regelrecht zu kreuzigen, inklusive der gesamten Umgebung, in der sie sich aufhielten. Solange sie sich davon fernhielt, war sie sicher. Er wird gegen mich kämpfen. Und ich muss mich wehren. Dass Engel gegeneinander kämpften, wäre in der alten Welt ein Sakrileg gewesen, ein Grund, denjenigen, der den Kampf provoziert hatte, in die Hölle zu verbannen, aber nun kümmerte das niemanden mehr. „Es tut mir wirklich leid, Raziel.“ Mit diesen Worten stürmte Camael vor und schwang das Schwert. Raziel wich im letzten Moment aus, sie spürte den Hauch, den das Schwert verursachte, der aufplatzende Asphalt kratzte an ihren Beinen. Zu Antwort schleuderte sie ihm eine heftige Windböe entgegen. Natürlich geriet Camael dadurch nicht einmal ins Wanken, aber es gab ihr genug Zeit, um sich weiter von ihm zu entfernen. Es war gefährlicher, in der Nähe seines Schwertes zu stehen, aber auch, in der Entfernung war er dank Bestrafung ein nicht zu unterschätzender Feind. Er legte auch sofort an und gab mehrere Schüsse auf sie ab. Raziels weiße Flügel brachen aus ihrem Rücken, als sie zur Flucht ansetzte. Die Kugeln trafen hinter ihr nur noch die Luft und erzeugten einen ihr vertrauten Laut. Aber bislang waren sie immer auf derselben Seite gewesen. Doch ich kann nicht zulassen, dass er Setsuna etwas tut. Sie fuhr herum und beschwor eine Feuersäule. Die Flammen waren derart heiß, dass sie mit denen Uriels wetteifern könnten, aber Camael störte sich nicht im Mindesten daran. Er sprang durch das Inferno hindurch, zog sich dabei nur leichte Verbrennungsspuren auf seiner Kleidung zu, während seine körperlichen Wunden sofort verheilten. Seine Flügel waren aus Metall, ein Symbol seines hohen Ranges unter den Engeln. Erneut schwang er das Schwert, aber die Bewegung war träge genug, dass Raziel ihm ausweichen konnte. Einige ihrer Federn wurden von der Klinge in Mitleidenschaft gezogen, lösten sich von ihren Flügeln und fielen, schwarz geworden, zu Boden. Aber immerhin gab es ihr einen wichtigen Hinweis auf Camael: Seine Reichweite mochte groß sein und das Schwert absolut tödlich, doch er brauchte lange, um überhaupt damit auszuholen. Kann ich das nutzen? Im Gegensatz zu Setsuna verfügte sie nicht über Nahkampfwaffen, sie beherrschte lediglich Elementarmagie. Also glaubte sie nicht, dass sie es schaffen könnte, indem sie seine Schwachstelle in seinem Schwung ausnutzte. Für Setsuna wäre das viel einfacher. Sie hielt nicht inne, während sie das alles dachte. Stattdessen versuchte sie weiterhin, von Camael wegzukommen, wich seinem Schwert aus und vollführte Rollen, um seinen Kugeln zu entgehen. Wann immer sie eine Gelegenheit fand, schleuderte sie ihm einen Elementarzauber entgegen. Aber weder Wind, noch Feuer und auch kein Wasser brachten ihn von seinem Ziel ab, sie zu töten. Nur weil sie den Himmel zerstört hatte, die Heimat eines Gottes, der seiner eigenen Schöpfung überdrüssig geworden war und sie deswegen auslöschte. Warum war Camael deswegen nur so wütend auf sie? Konnte er denn wirklich nicht verstehen, was für einen wunderbaren Dienst sie damit jedem erwiesen hatte? Niemand musste mehr leiden. Hatte sie dafür nicht ein wenig Glück verdient? Immer mehr Splitter regneten von dem zerbrochenen Himmel herab, lösten sich aber auf, ehe sie auf dem Boden aufkamen. Wenn es so weiterging, dann … Wird mein Paradies auch enden! Sie landete wieder auf dem Boden, worauf ihre Flügel verschwanden, dann wich sie erneut Camaels Kugeln aus. Im nächsten Moment krachte sein Schwert bereits auf den Boden und zersplitterte den Asphalt geradezu, spaltete die darunterliegende bloße Erde. Solange ich noch Magie in mir habe, muss ich das beenden. Raziel streckte den Arm aus. „Erde!“ Die Magie in ihrem Körper reagierte mit jener, die ihre Umwelt beinhaltete. Riesige Brocken, bestehend aus Asphalt und Erde, rissen sich vom Boden los, schwebten einen Moment untätig in der Luft – und schossen dann auf Camael zu. Geistesgegenwärtig gelang es ihm, auf einen mit Bestrafung zu schießen, zwei andere zerstörte er mit einem einzigen Schwung von Tod. Doch es blieben drei übrig, die ihn mit voller Wucht trafen. Sie hörte, wie seine Knochen brachen, geradewegs zermalmt wurden unter dieser Naturgewalt. Selbst ein Engel könnte diese Verletzungen nicht so einfach heilen. Mit langsamen Schritten lief Raziel auf ihn zu, als er am Boden lag, unfähig auch nur eine seiner Waffen zu heben. Er sah direkt zu ihr hinauf, aber sie konnte keine Furcht in seinen Augen entdecken, nur Entschlossenheit. „Warum hast du es getan, Raziel?“, fragte er mit brüchiger Stimme. Sie neigte den Kopf. „Hm? Was meinst du?“ „Warum hast du die Göttliche Katastrophe ausgelöst?“ Etwas in ihrem Inneren schien zu zerspringen. „W-wovon redest du? Es ist nicht meine Schuld.“ Blut lief in Camaels Augen, so dass er eines davon zukniff. „Wir haben Samael eingefangen und verhört. Und sie sagte-“ „Sie lügt!“ Ihre schrille Stimme flößte Raziel selbst Angst ein, aber es musste eine Lüge sein. … Oder etwa nicht? Nein! Für einen Sekundenbruchteil sah Raziel wieder die Versammlungshalle vor sich, wie zahllose Engel sich gegenseitig in einem Anfall von wahnhafter Angst gegenseitig umbrachten, sie spürte wieder das Unverständnis. Als ihre Sicht sich klärte, entdeckte sie, dass ein Schwert nun in Camaels Körper steckte, um ihn endgültig zum Schweigen zu bringen – und ihre Hand hielt noch den Griff umklammert. Erschrocken wich sie zurück. „N-nein ...“ Sie hatte ein nie wiedergutzumachendes Verbrechen begangen, einen anderen Engel getötet, noch dazu einen, der über ihr stand. Und weswegen das alles? „Setsuna ...“ Sie musste hier fort, musste zu ihm, bevor diese Welt endgültig zerfiel. Nur noch einmal wollte sie ihn treffen, auch wenn es das letzte Mal wäre. Doch genau in diesem Moment löste sich Camaels Leiche plötzlich auf. Mit geweiteten Augen starrte sie auf die Stelle, an der nur noch das Schwert, mit der Spitze fest im Boden, stand. Während sie noch ratlos darüber war, hörte sie hinter sich eine Stimme, die ihr nur allzu bekannt war und ihr auch verriet, was geschehen war: „Die Wahrheit ist die Tochter der Zeit; die Täuschung ist die Tochter der Dunkelheit.“ Als sie den Kopf wandte, entdeckte sie eine junge Frau in einer schwarzen Schuluniform. Ihr schwarzes Haar fiel ihr über die Schultern, aber ihre grün-blauen Augen glitzerten ein wenig traurig, obwohl sie gerade lächelte. „Hallo, Raziel.“ „Lilith … ich dachte ...“ Camael sagte doch, alle seien tot. Also warum …? Sie konnte ihren Gedanken nicht beenden, da ein Schuss sie unterbrach. Sie spürte den Aufprall einer Kugel in ihrem Rücken, aber sie wurde nicht von Schmerzen begleitet, sondern von einem unangenehmen Gefühl der Starre. Auch ohne ihn zu sehen, wusste sie, dass Camael in ihrem blinden Winkel stand, Bestrafung vermutlich immer noch in seiner Hand. „Es tut mir leid, Raziel.“ Auch Lilith klang furchtbar traurig, ihr Lächeln nahm einen bitteren Zug an. „Du kannst dir sicher bereits denken, dass ich Camael durch eine Illusion ersetzt habe. Ich hatte gehofft, dass wir dich retten könnten.“ Warum sollte man sie retten müssen? Bis zum Eindringen in ihr Paradies, war sie glücklich gewesen. Sehr sogar. Nun regneten immer mehr Splitter herab, so dass sich die ganze Luft langsam mit den Funken zu füllen begann und das Atmen anstrengend wurde. „Es ist zu spät, Lilith.“ Camael kam mit langsamen Schritten näher, Raziel spürte die Anwesenheit von Tod in seiner Hand. „Raziel ist zu einer Sünderin geworden. Und damit bleibt mir nur noch eines zu tun.“ Sie wusste, was es bedeutete, und es behagte ihr nicht. Aber nicht wegen ihr selbst, sondern vielmehr wegen Setsuna. Was sollte aus ihm werden, wenn es sie und diese Welt nicht mehr gab. „Warte noch einen Moment.“ Lilith blickte Raziel, mit der sie so viele Stunden verbracht hatte, nicht zuletzt vor einer Videospielkonsole. „Ich weiß nicht, was genau du den Engeln gesagt hast, ehe die Göttliche Katastrophe begann. Aber ich möchte wissen, warum du es getan hast.“ Raziel erinnerte sich, dass sie alle Engel in der Versammlungshalle getroffen hatte, um ihnen etwas sehr Wichtiges zu sagen. Ihr war entfallen, worum es sich handelte, aber sie erinnerte sich an etwas anderes: „Ich dachte, es sei wichtig für sie. Für uns alle, um die Menschen besser zu verstehen. Ich wusste nicht, dass es so enden würde.“ Es war keine Absicht gewesen, jedenfalls nicht von ihrer Seite. Vielleicht war es der Plan einer anderen Entität gewesen. Aber das könnte und wollte sie nun nicht mehr herausfinden. Es war inzwischen vollkommen unwichtig, diese Welt zerfiel, genau wie alle anderen. Es gab keine Zukunft und daher nichts mehr zu retten. Lilith schloss die Augen, verschränkte die Arme vor ihrem Körper und nickte. „In Ordnung. Danke, Raziel. … Camael.“ Sie hörte, wie er das Schwert schwang. Aber sie verspürte keine Angst. Nur weiter Sorge. „Ich habe die Zeit mit dir wirklich genossen, Raziel“, sagte Lilith noch. „Kümmere dich um Setsuna.“ Es war Raziels letzte Bitte, von der sie niemals erfahren würde, ob Lilith sie auch zu erfüllen dachte. Im nächsten Moment wurde sie bereits von Tod berührt. In derselben Sekunde verließ ihre Seele ihren Körper, zersetzte sich bis zur Unkenntlichkeit und löste sich dann inmitten des Funkenmeers auf, ohne die Aussicht, jemals wiedergeboren zu werden. Es mochte nicht der erste Todesfall gewesen sein, den Lilith in ihrem langen Leben bereits beobachtet hatte. Es war nicht einmal der erste, der eine Person betraf, die sie gemocht hatte. Aber es war das erste Mal, dass Lilith, die Hexe der Nacht, eine Träne über eine Leiche vergoss. Natürlich wischte sie diese rasch von ihrer Wange, bevor Camael sie sehen konnte. Tief in Gedanken versunken stand er über Raziels leblosem Körper und sah sie nur an. „Kümmerst du dich um sie?“, fragte Lilith mit belegter Stimme. Hoffentlich schob Camael das auf ihre allgemeine Anspannung bezüglich ihres Unternehmens. Er kommentierte ihren Tonfall jedenfalls nicht, sondern nickte. „Das mache ich.“ „Gut, dann hole ich solange Setsuna.“ „Weißt du denn, wo er ist?“ Sie warf einen Blick zu dem Schulgebäude, das genauso aussah wie Pandora. „Ich kann es mir jedenfalls denken.“ So durchschritt sie die leeren, leblosen Gänge, während Camael für Raziel eine Bestattung durchführte. In der heutigen Zeit bedeutete das aber einfach nur, dass ihr Leichnam dem unendlichen Ozean übergeben wurde, der die Hölle überschwemmt hatte. Die Hölle, die nun der einzige Ort war, an dem es noch einen kleinen Funken Hoffnung gab, die endgültige Zerstörung der Welten abzuwenden, entgegen Camaels Worten. Und es gab in diesem Zustand nur noch eine einzige Person, die ihrer aller Hoffnung schultern und tatsächlich erfolgreich sein könnte. Lilith betrat das Klassenzimmer, in dem Setsuna über dem Tisch zusammengesunken schlief. Zumindest glaubte sie, dass er nur schlief. Es erfüllte sie mit einem Gefühl von Nostalgie. Zwar war ihre erste Begegnung nicht in einer derart friedlichen Welt verlaufen und er hatte nicht so friedlich geschlafen, aber es war eine sterbende Welt gewesen und für eine Weile war in ihr der Eindruck erweckt worden, dass er bereits tot war. Sie trat näher zu seinem Tisch und beschloss, ihn zu wecken, indem sie dieselben ersten Worte zu ihm sagte, wie bei ihrem allerersten Treffen: „Hey … Bist du noch am Leben?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)