Last verse of dawn von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 6: 6 ------------ Es ist hell, alles in mir und auch mein Umfeld scheint zu strahlen. Ohne Belastung, nicht einmal den Argwohn gegenüber eines lauernden Unglücks spüre ich in mir und auch Jerry bestärkt mich in meiner seltenen Sicherheit, denn es scheint kein Ausdruck in meiner Mimik zu geben, den ich selbst nicht wahrnehme. Ich wirke wohl glücklich, als ich mein Essen bestelle, wirke glücklich, während ich warte und vollends zufrieden, als ich es dann an einem der Tische bequem habe und mir einen Überblick verschaffe. Tims Gewicht senkt sich auf meinen Kopf, drängt meinen Oberkörper nach vorn und mein Gesicht einem Schälchen entgegen. Süßer Duft steigt in meine Nase und wie seufze ich, bevor ich es mir schmecken lasse. Als hätte es nie Schatten oder Zweifel gegeben. Ich ächze, verdrehe die Augen, löffle schneller, ziehe einen anderen Teller zu mir und spüre kurz darauf, wie Tim von meinem Kopf rutscht. Kanda trainiert, setzt genauso Prioritäten wie ich aber im Gegensatz zu mir bleibt er alleine und fast ungläubig registriere ich den Zustand, in dem sich Miranda befindet, als sie sich kurz darauf zu mir gesellt. Ihr scheint es ebenso gut zu gehen wie mir. Keine Sorgen, die sie so oft heimsuchen, keine Befürchtungen oder Zweifel an sich selbst. Ich lächle, sie lächelt und so sitzen wir dort und bieten ein seltenes Bild der Gesprächigkeit. „Schweden“, seufzt sie und zupft kopfschüttelnd ihr Brot auseinander. „So schöne Landschaften, so ein mildes Klima und Blumen. Hätte ich doch Zeit gehabt, welche zu pflücken. Aber sie wären auf der Reise wohl vertrocknet, also habe ich sie dort gelassen, wo sie hingehören.“ Sie seufzt wieder, während ich meinen Pudding esse. „Ich hätte für jeden von euch einen Strauß gepflückt. Den hättet ihr in eure Zimmer stellen können. So ein bisschen Farbe und Duft machen so viel aus.“ „Sommer“, fasse ich es andächtig zusammen. „Ja, der Sommer“, seufzt sie. „Blumen im Zimmer wären natürlich toll aber wir sind doch ohnehin permanent unterwegs und sehen sie überall. Das ist ein Trost.“ „Ja.“ Sie nickt, versenkt ein Stück Brot im Mund und späht kurz darauf um sich. „Chaoji und ich sind erst vor kurzem Nachhause gekommen. Er wollte vor dem Essen erst duschen. Hoffentlich ist er nicht eingeschlafen.“ „Wir sollten Blumen pflanzen“, murmle ich nachdenklich und sofort weitet sie die Augen. „Nicht wahr? Hier gibt es viel zu wenige.“ „Viel zu wenige“, pflichte ich ihr bei. „Woran liegt das?“, möchte sie wissen. „Die Gewächse in der Lounge werten nun auch nicht alles auf.“ „Bei weitem nicht.“ „Mm.“ Grübeleien zerfurchen ihre Stirn und geduldig beginne ich die Zwiebeln aus meiner Suppe zu fischen. Das Schweigen zwischen uns ist nur vorübergehender Natur, bevor sie mich flüchtig durchmustert. Als ich aufblicke, sehe ich sie erneut lächeln. „Hattest du eine gute Mission? Schöne Erlebnisse?“ Ein Krümel bleibt an ihrem Kinn kleben, als sie in ihr Brot beißt. „Der Sommer, Allen, der erleichtert die Gemüter.“ „Die Mission war in Ordnung“, antworte ich nur, auf den Krümel fixiert und darauf wartend, dass er sich löst. „Es passiert leider viel zu selten.“ Sie zieht ihre Suppe zu sich und tunkt das Brot hinein. „Wie oft hast du denn nach einer Mission das Gefühl, den Menschen wirklich geholfen zu haben? Ich meine diese wirkliche wahre Selbstzufriedenheit, Allen. Das Bewusstsein, dass du den Ort, den du verlässt, wirklich positiv verändert hast.“ „Mm.“ Ich hebe die Brauen, schöpfe tiefen Atem und natürlich denke ich an Bingen. Orte positiv verändern, sagt Miranda, aber wie dehnbar ist diese Formulierung? Meistens bleibt es doch eine einzige Seele, die man als gerettet betrachten darf. Immense Veränderungen bewirkt man selten und unweigerlich frage ich mich, wie es den Bewohnern von Bingen derzeit geht. Über einen Tag ist es her, dass wir die Wurzel des Übels verbrannten und mit ihr auch jeden Keim, der neu gepflanzt werden könnte. Kommen sie wieder zur Besinnung? Hat sich der Schatten von ihrem Bewusstsein gehoben? Ist die Veränderung immens? Immens gut? Jedenfalls fühlte ich mich nicht wahrlich und wirklich selbstzufrieden, als wir Bingen verließen. Nur erleichtert, dazu in der Lage zu sein und ein Großteil meiner guten Gefühle basierte wohl auf dem Egoismus, vernichtet zu haben, was Kanda schadete und somit auch mir. „Hauptsache, deine Mission war gut“, reißt mich Miranda aus meinen Gedanken. Sie löffelt ihre Suppe und der Krümel ist verschwunden. „Wie lange bist du noch hier? Linali kommt morgen früh Nachhause. Sie wollte ein Picknick veranstalten.“ „Ich muss morgen früh wieder los“, seufze ich und bedaure es teilweise wirklich. „Mit Kanda und Marie.“ „Ach, wie schade. Lavi und Bookman werden wohl auch nicht da sein. Das wäre nicht dasselbe.“ „Das wäre es nicht, nein.“ Wir bleiben sitzen, lassen unser Gespräch bald in eine andere Richtung fließen und es dauert nicht lange, da gesellt sich auch Chaoji zu uns. Erst duschte er, dann schlief er ein, aber dafür wirkt er nicht nur sauber sondern auch wach. Er holt sich sein Essen, macht es sich neben Miranda bequem und ich brauche ihn nur flüchtig zu mustern, um mir sicher sein zu können, dass er noch immer der starke junge Mann ist, den ich damals kennen lernte. Auch wenn die Erlebnisse, die ihm der Orden nun beschert, dunkler und schmerzhafter sind, ist er doch nicht niederzuringen. Vermutlich begriff er rasch, wie hoch der Preis ist und gefestigt er wirklich zu sein hat, um aufrecht seinem neuen Pfad zu folgen. Jetzt lacht er, jetzt wirkt er unbeschwert und absolut kompatibel mit unserer Zweiergruppe und ich würdige den Moment. Es wird andere geben. Das tut es immer. So fließt Stunde um Stunde an uns vorbei, an mir auch der Rest des Tages und als es dämmert, realisiere ich, dass ich absolut nichts tat und die Zeit mit Worten und Bequemlichkeit füllte. Wie ungewohnt und angenehm. Ich schlief in der Lounge, sah den Wissenschaftlern bei der Arbeit zu, ließ mich auch von Komui unterhalten und atmete die Luft der Normalität. Als der Abend einbricht bin ich wieder im Speiseraum, esse ausgiebig und halte Jerry eine Weile von seiner Arbeit ab. Irgendwann hat er aber wieder zu tun, also besuche ich den Onsen, wasche den Gestank der Faulheit von mir und habe absolut kein schlechtes Gewissen, als ich mich letztendlich durch jene Tür stehle. Tim ist nicht schnell genug und wie geübt erwische ich seinen Schweif und ziehe ihn durch den Spalt. Ein leises Kratzen, ein leises Klicken, dann herrscht wieder Stille im Treppenhaus und flüchtig späht Kanda auf. Er zelebriert mein Auftauchen noch immer mit Aufmerksamkeit, obwohl ich sein Zimmer doch weitaus öfter betrete als meines. Nur ein Blick, bevor er sich wieder seiner Arbeit zuwendet und insgesamt wird er heute weitaus fleißiger gewesen sein als ich. Es ist sein Schwert, das er pflegt. Er tut es oft und lässt sich nicht stören, als ich von all meiner Faulheit erschöpft auf sein Bett sinke und Tim es sich auf meinem Rücken bequem macht. Er reinigt die Klinge mit dem gewohnten Maß an Gründlichkeit und wie immer erschafft er kaum ein Geräusch dadurch. Nur das leise Kratzen dringt zu mir, als er ein Fläschchen zudreht. Er kann sich so endlos vertiefen, denke ich mir abermals, als ich ihn zu beobachten beginne. Ein Wunder, dass er mich überhaupt bemerkte. Kurz darauf wendet er sich dem Schwertgriff zu. Eine lange Strähne löst sich hinter seinem Ohr und eine Weile zähle ich, wie sie sich unter jedem seiner Atemzüge wiegt. In diesem Raum ist es oft still, auch wenn wir uns in ihm befinden. Oft brauchen wir keine Worte, zu anderen Zeiten brauchen wir das Schweigen. Ich könnte die Stimme erheben und er würde es mir nicht verübeln. Wir würden miteinander sprechen, ohne dass es zu störend für ihn wäre aber die Studien seines Charakters ließen eine absolut sensible Nachsicht und Kenntnis in mir wachsen, wenn es sich um diesen Gegenpart handelt. Also sage ich nichts, um ihn zu keiner Antwort zu zwingen, sehe ihm zu, schließe irgendwann wieder die Augen und lasse den Tag ausklingen. „Ich schicke euch nach Zelená.“ Somit reicht uns Komui am nächsten Morgen die schwarzen Mappen und es gibt keine Befürchtungen in mir, bevor ich meine öffne. Nach all diesen Stunden voll Harmonie und Zufriedenheit bin ich jeder Schlucht gewachsen. Marie hat es neben mir auf dem Sofa bequem, während Kanda bereits in der Mappe blättert. „Ein Finder informierte uns über Zustände, die es wert sind, überprüft zu werden“, fährt Komui fort, nebenbei auf der Suche nach seiner Tasse. Er überblickt seinen Schreibtisch, überblickt all das Chaos. „Vor einem Jahr war er schon einmal in diesem Dorf und lernte dort ein kleines Mädchen kennen, die Tochter seines damaligen Gastgebers. Damals sei ihm noch nichts aufgefallen, als er das Dorf vor kurzem aber wieder besuchte, machte das Mädchen den Eindruck, um keinen Tag gealtert zu sein. Das trifft auch auf die anderen Dorfbewohner zu. Versucht herauszufinden, woran das liegt. Es würde mich nicht wundern, wenn ein Innocence im Spiel wäre.“ Die friedlich erscheinenden Weiten der Natur, die uns von Zelená trennen, sind blendend schön, doch in meinen misstrauischen Augen stets verbunden mit einem leichten Grauton. Ich komme nicht umhin, mich abermals an Bingen zu erinnern. In der Nähe dieses widerwärtigen Pfuhls hatte mich dieselbe Idylle begleitet und meinen anschließenden Sturz noch schmerzhafter gemacht. Ich höre das Zwitschern der Vögel und das Rauschen der Baumwipfel, das Rascheln im Geäst des Waldes, durch den wir ziehen und während jeden Schrittes frage ich mich, was mich diesmal erwartet. Zumindest bin ich nicht alleine, denke ich mir des Öfteren und spähe zu meinen Weggefährten, als wolle ich mich von ihrer Gegenwart überzeugen. Ich bin nicht alleine und darüber hinaus in einer Begleitung, die ich mir gewünscht hätte, hätte man mich vor die Wahl gestellt. An meiner Seite ist der Eine, der an sie gehört und auch Marie habe ich gerne um mich. Ihn und seine Ruhe sowie Festigkeit, die verlangsamen und sichern. Unwillkürlich schöpfe ich tiefen Atem und annähernd ungläubig bleibe ich bald darauf stehen. Wir erreichen den Waldrand, somit unser Ziel und wie perplex bin ich, nachdem mich das Grau meines Argwohnes so treu begleitete. Zelená bedeutet „grün“, aber Sarkasmus hält sich zumeist ebenso treu an meiner Seite und ich wäre weitaus gefasster, würde sich vor uns ein dreckiges, vergessenes Nest erstrecken. Beiläufig dränge ich Tim zur Seite, als er in mein Blickfeld flattert. Ein solches Bild bestaunen Kinder, die sich durch Märchenbücher blättern. Es fehlen die Feen und das mysteriöse Glitzern, doch alle restlichen Faktoren sind an diesem Ort vertreten. Die Wiesen, die das Dorf umschließen, sind von einem annähernd unnatürlich satten Grün, während ein nahes Rapsfeld ein Gelb entsendet, das beinahe blendend in Gold übergeht. Bunte Blumen wiegen sich in den angenehmen Brisen und dann erkenne ich doch ein Glitzern, das das klare Wasser eines schmalen Baches entsendet. Die Häuser bestehen aus feinster Holzarbeit, die Wege sind sauber und akkurat gezogen, selbst der kleine Brunnen auf einem Hinterhof ist Beachtung wert. Alles an diesem Dorf wirkt so sauber und rein und unwillkürlich zuckt mein Gesicht zu einer Grimasse, als ich lachende Kinderhorden sehe und Frauen, die sich fanden, um offenbar amüsante Informationen auszutauschen. Körbe, gefüllt mit malerischem Obst, verraten, was sie taten, bevor sie hängen blieben. Auf einer nahen Bank haben es zwei ältere Herren bequem. Sie rauchen Pfeife und genießen den Anblick ihrer Heimat, als hätten sie sich nach wer weiß wie vielen Jahren immer noch nicht an ihn gewöhnt. „Wo sind die Feen?“, murmle ich. „Die Luft hier ist so klar“, bemerkt Marie neben mir. „Irgendwo wurde Lavendel gepflanzt.“ Kanda setzt sich in Bewegung und wir folgen ihm. Den kleinen Hügel hinab, dem Weg folgend, der sich durch die Wiese bahnt und ich begreife nicht, wie eine Wiese so schön sein kann. Ich starre auf das Gras, will mich fallen lassen und hineinlegen. Ich will diese gesunden Halme spüren, doch spüre nur Kandas Ellenbogen, der mich zur Seite drängt, als ich gegen ihn stoße. Wie ein staunender Idiot halte ich mich neben ihm und mein Gesicht zuckt noch des Öfteren, als wir durch das Dorf ziehen. Straßenstände verkaufen Obst und Gemüse, unnatürlich perfekt. Insgesamt scheint alles von höchster Qualität zu sein und die Mentalität der Dorfbewohner schließt sich diesem ganzen Glänzen und Glitzern an. Mit meinem Argwohn bin ich alleine und nicht immer reagiere ich rechtzeitig oder angemessen, wenn Fremde uns grüßen und willkommen heißen. Offenbar freut man sich über Besuch und stört sich wenig an der äußeren Erscheinung. Auch die Wegbeschreibung zum Gasthaus müssen wir nicht gerade erbetteln. Perplex blicke ich einer Frau nach, die an uns vorbeizieht. Natürlich nicht ohne uns zu grüßen und sie ist so alt, dass ich mich wundere, wie sie überhaupt noch die Hand heben kann. Es ist wohl wirklich, wie der Finder es meldete. Das Alter schreitet langsam voran und bringt offenbar wenig Krankheit und Schwäche mit sich. Ihr Rücken ist nicht krumm, ihre Augen sind nicht ergraut und sogar die Zähne gab ihr strahlendes Lächeln noch preis. Der Gastwirt, der uns bald darauf ein weiteres Mal willkommen heißt, passt ebenso in das Schema. „Ich war Arzt“, verrät er, während er die Zimmerschlüssel von den Haken nimmt. „Kam aus einem benachbarten Dorf, wollte hier praktizieren, Menschen heilen. Sie wissen schon.“ „Ja“, sage ich, den abgeschliffenen und lackierten Holzboden mit der Schuhsohle erforschend. „Aber es gab keine Arbeit für mich.“ Der Mann lacht. „Am Ende gefiel es mir hier so gut, dass ich dieses Haus baute, um Reisende aufzunehmen und zu verköstigen. Es könnte mir nicht besser gehen. Aber wenn Sie sich nicht gut fühlen, dann scheuen Sie sich nicht.“ Für diesen Eifer danke ich ihm, während Kanda die Schlüssel entgegen nimmt. Somit sind wir am Ziel und wie undankbar registriere ich den weiteren, absolut reibungslosen Verlauf. Der Finder, mit dem wir verabredet sind, verschwand nicht auf mysteriöse Weise, sondern sitzt im Restaurant des Hauses und seit er sich bei Komui meldete, geschah auch nichts Tragisches. Ebenso wenig wie zuvor. Wir lassen uns nieder, werden sofort bedient und ich blicke nur kurz in die Karte, bevor sie ich zur Seite lege, denn vermutlich wird hier alles ganz wundervoll schmecken. „Ich war zuerst nicht sicher, ob diese Angelegenheit wirklich eine Meldung wert ist“, gesteht der Finder, während wir auf unsere Bestellung warten. „Ich meine, es gibt auf der Welt nun einmal schöne Orte und glückliche Menschen. Aber hier passt alles so seltsam zusammen. Es gibt hier keine Probleme, keine Krankheiten. Stirbt ein alter Mensch, dann tut er es nachts ganz friedlich im Bett. Der Junge des Bäckers hat sich vor wenigen Tagen schwer am Ofen verbrannt und die Wunden heilen so rasant und ohne Infektion. Und nicht zuletzt die Tochter des Gastwirtes. Ich schwöre es, sie hat sich nicht verändert seit meinem letzten Besuch vor einem Jahr.“ „Wie geht es den Tieren?“, erkundigt sich Marie. Neben mir blickt Kanda nachdenklich ins Leere. „Bei den Tieren ist es genauso. Die Kühe geben die beste Milch, die Schweine das köstlichste Fleisch. Es gibt nicht einmal Wölfe, die die Herden anfallen.“ „Recherchen sind hier wohl auch sehr leicht.“ Ächzend reibe ich meinen Nacken und werde nicht enttäuscht. „Hier freut sich jeder darüber, Fragen zu beantworten“, erwidert der Finder. „Aber die Auffälligkeiten sind scheinbar schon so lange Teil des Dorfes, dass es keine Auffälligkeiten mehr sind. Ich hörte alles über positive Einstellungen zum Leben, gesunde Ernährung, heilende Sonnenstrahlen und dankbare Koexistenz zwischen Mensch, Natur und Tier.“ Hinter dem nächsten Hügel, denke ich mir, ragt bestimmt eine blutrote Götterstatue gen Himmel, vor der man Opfergaben bringt, damit den Menschen weiterhin diese Herrlichkeit geschenkt wird. Wir aus einer Welt, die wohl als normal zu bezeichnen ist, sehen hier herzlich wenig Normalität und durchaus Anlass für eine Meldung. Wie oft stand schon ein Innocence hinter übernatürlichen Phänomenen? Hier blendet es uns geradezu durch seine Gegenwart. Das Essen ist selbstverständlich keine Ausnahme und so unterbrechen wir die etwas schleppende Besprechung. Es gibt kein Gefühl der Hast oder einer nahen Bedrohung. Wir könnten wohl wochenlang hierbleiben, ohne dass etwas geschieht, doch vielleicht auch ohne etwas herauszufinden. Ich koste den Braten, befürchte viel und werde trotzdem übermannt. Noch nie schmeckte Fleisch so intensiv, noch nie war es so saftig und keines der Gerichte steht dem in etwas nach. Das Gemüse ist perfekt gekocht und gewürzt und doch kaue ich schon wieder mit Misstrauen. Das alles ist nicht möglich. Mit einem solchen Essen muss etwas nicht stimmen. Auch Marie isst recht gefasst. Wir alle kommen nicht umhin, es zu bemerken. Neben mir stochert Kanda unentschlossen in seinem Gemüse und beiläufig befreie ich die Untertasse seines Tees vom unnötigen Gebäck und Zucker. So oder so werden wir nach dieser Mahlzeit der Routine verfallen. Vier Augenpaare sehen mehr als eines und so werden wir uns die Umwelt näher betrachten und Fragen stellen, hoffentlich präzise und bald auch richtungsorientiert. Die nächsten Tage werden ungewohnt, soviel ist sicher und möglicherweise werden wir eine Mission beenden, an die wir uns später als Urlaub erinnern. Auf der anderen Seite des Fensters schlägt ein Schmetterling mit den Flügeln. Kauend blicke ich von ihm zum Himmel und natürlich ist auch der strahlend blau. Bald darauf lassen wir die leeren Schalen und Teller zurück, kommen auf die Beine und treten wieder hinaus in die helle schöne Welt. Marie und der Finder widmen sich den Bauernhöfen, während Kanda und ich die Stadt erkunden. Viele Stunden bleiben nicht bis zur Dämmerung, doch es würde mich wundern, würde die Geschäftigkeit auf den Straßen am Abend nachlassen. Das wäre zu normal. Träge reibe ich meinen Bauch, während ich mich neben Kanda halte. Ich habe reichlich gegessen, wohl zu viel, um jetzt einen langen Spaziergang zu unternehmen. Tims Gewicht macht es mir nicht leichter und flüchtig neige ich den Kopf und lasse ihn hinabrutschen. So bewegen wir uns durch all diese Freude und all die Farben, gekleidet in die schwarzen Roben des Ordens und auch sonst nicht zugehörig. Niemand gibt uns dieses Gefühl, doch es ist stark genug in uns selbst. Auch unsere Fragen suchen nach einem Grund, doch niemand der Dorfbewohner hat je etwas bemerkt, das hervorstach. Kein Leuchten, kein unübliches Wetter. Im Winter ist es nicht zu warm, im Sommer nicht zu kalt und so drehen wir uns im Kreis, obwohl es nicht an Gesprächspartnern und Auskünften mangelt. Letztendlich wird uns dasselbe geboten wie dem Finder. Es gibt keine Krankheiten, weil man sich gesund ernährt und weshalb sollte das Vieh von Wölfen gerissen werden oder zu wenig Milch produzieren? Irgendwann stehen wir vor einer weiteren dieser Wiesen. Kanda betrachtet sich den fernen Waldrand, ich zwei kleine Mädchen, die Graspuppen basteln. Wieder findet meine Hand zum Bauch. „Ist das nicht bitter?“, sage ich kurz darauf und schöpfe tiefen Atem. „Uns wird so oft gezeigt, dass die Welt viel finsterer sein kann als sie es normalerweise ist. Wieso kann sie nicht auch viel heller und schöner sein? Hier versteckt sich ein Paradies und wir suchen nach dem Fehler.“ „Das hier ist nicht real.“ Kanda antwortet ernüchternd schnell. Kichernd vergleichen die Mädchen ihre Kreationen und weiterhin betrachte ich sie mir, bevor ich ein Nicken andeute. „Wann haben wir begonnen, so zu denken?“ „Mm.“ Kanda wird es nicht mehr wissen, denn selbst ich erinnere mich nicht daran. Vielleicht war es nie anders. „Komm.“ Er wendet sich ab und ich folge ihm. Vier Augenpaare, denke ich bald darauf. Selbst sie sehen nicht mehr als eines, wenn es nichts zu sehen gibt. Dabei sind unsere Blicke so geschult, so vertraut mit allem, das aus dem Raster fällt. Wir erkennen Abnormitäten, erkennen so viel, doch in diesem Dorf überhaupt nichts. Natürlich sind es auch ausschließlich Menschen, die hier leben. Es gibt keine Reaktion meines Auges, keine gefesselten Seelen und wie bizarr wäre es gewesen, hätte ich einen solchen Schatten erkannt über den heiteren Gesichtern der Bewohner. Bald schon wird das Licht schwächer und mit ihm auch unser Drang, das Dorf zu erforschen. Es gibt keinen Anhaltspunkt. Es gibt überhaupt nichts und ächzend lasse ich mich auf eine dieser kunstvollen Holzbänke sinken, als wir das andere Ende des Dorfes erreichen. Ich suche nach Entspannung und lehne mich zurück. Mein Magen ist noch immer in das alte Gefecht vertieft. Flüchtig erreichen mich Kandas Augen. „Ich habe wohl zu viel gegessen“, kommentiere ich seinen Blick. Unter einem tiefen Durchatmen stemmt er die Hände in die Hüften, späht abermals um sich, suchend doch gleichzeitig mit leichter Ratlosigkeit. „Was machen wir?“ Träge sinkt mein Hinterkopf auf die Rückenlehne. „Um solche Auswirkungen zu haben müsste das Innocence sich hier im Dorf befinden. Wäre es hier, würde es auffallen und die Leute sehen nicht aus als würden sie lügen. Den Wald zu durchforsten, fände ich sinnlos. Mein Bauch bringt mich um.“ Wieder spüre ich seinen Blick und wie selbstverständlich ist es in der Zwischenzeit, dass er das wahre Ich erkennt. Vor Kanda verstelle ich mich nicht, da allein der Versuch schon lächerlich wäre. „Mm“, raunt er letztendlich nur, doch mustert mich noch einen Moment länger, bevor er sich den Mund reibt. Möglicherweise frustriert es ihn etwas, dass seine übliche Motivation und Direktheit sich hier als absolut vergeblich herausstellen. Vorerst kehren wir zurück in die Herberge und natürlich können auch Marie und der Finder nichts berichten. Wir warten also ab, lassen den Tag enden und hoffen auf den nächsten. Was auch immer er bringt. Ich jedenfalls vermisse keinen weiteren Weg, lasse mich auf mein Bett sinken und registriere nur am Rande, dass die Matratze perfekt für mich ist. Nicht zu hart oder weich. Natürlich nicht. Vor dem Fenster meines Zimmers liegt die Dämmerung, doch mein Tag kann getrost enden und eine Weile liege ich noch dort, müde gen Zimmerdecke blinzelnd und meinen Bauch reibend. Das einzig offensichtlich Sonderbare an diesem Ort, ist bisher die Tatsache, dass mein Magen wohl an seine Grenzen gestoßen ist. Dabei war es tatsächlich nicht so viel. Es rumort und als es draußen bereits finster ist, liege ich auf der Seite und starre auf den hölzernen Tisch. Während sich eine Wärme in meinem Bauch ausgebreitet zu haben scheint, sind es eher Kälteschauer, die meine Glieder durchfluten und mich wach halten. Ich bin nicht einmal besonders müde, vielleicht auch nur abgelenkt von der Schwere meiner Lider. Wie oft stoße ich auf, schmecke die bittere Galle auf der Zunge, quäle mich auf die Beine, um einen Schluck Wasser zu trinken und anschließend zurück in das Bett. Meinem Körper fehlt die Ruhe, als fühle er sich tief im Kern gestört und wie regungslos hockt Timcanpy auf dem Bettgiebel und scheint mich zu fokussieren. Mit einem Mal ist alles abnorm, obwohl schlaflose Nächte mir nicht unbekannt sind. Dennoch verlasse ich nicht das Zimmer, um mich in ein anderes zu schleichen. Marie würde es hören, das Klicken der Türen, doch darum geht es nicht, denn mein Kamerad weiß genug, um würdevoll zu schweigen. Viel eher spüre ich die Sicherheit, dass Kandas Gegenwart an diesem Problem scheitern könnte, doch meine nicht daran, seinen Schlaf zu stören. Also bleibe ich liegen, stelle mir Fragen, stelle mir verbissene Fragen und fluche, als meine müden Augen die Dämmerung hinter dem Fenster ausmachen. Meine Arme sind schwer und meine Beine matt und wieder greife ich nach dem Krug und trinke das Wasser, das so erfrischend und angenehm in meinen Bauch strömt. Die Begründung, zu viel gegessen zu haben, verliert spätestens jetzt an Kraft. Mein ganzer Körper ist ausgelaugt, mehr noch, wirkt gehemmt und krank, herausgerissen aus jedem normalen Rhythmus. Etwas stimmt nicht und weiterhin schlucke ich, schlucke die Magensäure und zähle die Krämpfe meines Bauches. Noch nie mir war der Gedanke an das Frühstück so zuwider und letztendlich komme ich nicht viel weiter als zur Türschwelle des Restaurants. Bis auf meine Freunde ist es verlassen, doch die Köche sind bereits fleißig und wie lieblich liegen die Gerüche der Speisen in der Luft. Der Duft von Kaffee und frisch gebackenen Brötchen, Marmeladen und anderen Aufstrichen. In voller Intensität erreichen sie mich und nur kurz erfassen mich Kandas Augen, bevor ich mich umdrehe und zügig einen anderen Weg wähle. Es ist eine neue Erfahrung, sich über das WC zu beugen und um das Keramik zu klammern, während starke Krämpfe meinen Bauch heimsuchen und ich mich endlos übergebe. Ich ächze, röchle, habe das Gefühl, mindestens so viel zu erbrechen, wie ich gestern zu mir nahm. Als hätte mein Körper nichts aufgenommen. Hustend richte ich mich um ein Stück auf, schnappe nach Luft, sinke ich mich zusammen und nur wenige Momente dauert es, bis ich erneut würge und das Bild der Erbärmlichkeit vervollständige. Schweigend leistet mir Kanda Gesellschaft. Er kauert auf einem nahen Schemel. Ich spüre seinen Blick, spüre seine konzentrierte Fixierung und störe mich auch daran nicht. Die Kunst des Verstellens würde ohnehin an diesem Punkt enden. Die Kontrolle verließ mich längst und ich weiß nicht, wie lange ich dort kaure, wie lange ich stöhne und breche, doch irgendwann rutsche ich zurück, matt wie eine Puppe, zu schwer für die eigenen Kräfte. Obwohl er sich befreite, wirkt mein Leib so ausgezehrt wie nie zuvor. So schwach und seltsam schwer zu kontrollieren, als hätte sich eine Hürde erhoben zwischen meinem Willen und der Folgsamkeit meiner Glieder. Matt trifft meine Stirn auf den Rand des WCs und weiterhin kaure ich nur dort, ächzend und obwohl komplett nüchtern, noch immer mit der Übelkeit ringend. „Wie geht es ihm?“, höre ich Maries Stimme. Er neigt sich in das Bad, wartete vor der Tür. „Es ist das Essen“, antwortet Kanda neben mir. „Es kann nichts anderes sein.“ „Uns geht es gut“, bemerkt Marie und wie erschöpft ergebe ich mich dem Druck der Hände, die sich auf meine Schultern betten. Kanda zieht mich zurück, lehnt mich gegen die Kacheln der Badewanne und überzeugt sich von meinem Halt, bevor er abermals die Spülung zieht und den Deckel der Toilette schließt. Das Blinzeln fällt mir schwer, doch letztendlich öffne ich die Augen und erkenne Marie, der konzentriert in meine Richtung lauscht. „Ich fühle mich tatsächlich nicht schlecht.“ Kanda rückt in mein Blickfeld. Er hockt sich vor mich, faltet ein Stück Papier und wischt über meinen Mund, mein Kinn. „Ich fühle mich schlecht“, nuschle ich, als wäre es nötig, das zu erwähnen. Ich befürchte, mein Gehirn nahm nicht weniger Schaden als mein Magen. Kanda geht auch nicht darauf ein. „Einen besseren Hinweis könnte es nicht geben.“ Beiläufig streift er eine Strähne aus meiner Stirn und ich bin ihm dankbar, denn sie hing in meinem Auge. „Es gibt ein Innocence. Vielleicht im Boden, vielleicht im Wasser. Uns schadet es nicht aber sein Innocence ist parasitärer Art.“ „Es stößt das andere ab.“ Marie nickt. „Möglicherweise gibt es hier nichts, das er verträgt.“ „Oh Gott, nein“, stöhne ich. Flüchtig reibt sich Kanda den Mund. Er ist nachdenklich, ich nur müde. Auch mein Kopf ist nicht in der Lage, einen produktiven Beitrag zu leisten, also konzentriere ich mich darauf, mich nicht erneut zu übergeben. „Das Wasser wäre die Erklärung für alles.“ Marie lehnt mit verschränkten Armen im Türrahmen. „Das Dorf bezieht es von einer Quelle im Berg. Die Felder werden so bewässert, die Tiere getränkt und natürlich versorgt es auch die Obstbäume und alles andere, das hier wächst. Das Wasser befindet sich überall.“ Kanda späht zu ihm, bevor ich die Augen schließe. „Einen anderen oder besseren Hinweis haben wir nicht“, höre ich Marie sagen. Kanda brummt und es klingt nach einer Zustimmung. „Finden wir es heraus.“ Trübe verfolge ich, wie er auf die Beine kommt. „Ich schaue mir diese Quelle mal an.“ „Nimm den Finder mit“, schlägt Marie vor. „Ich bleibe bei Allen.“ „Auf den Finder kann ich verzichten.“ Natürlich spüre ich den abrupten Drang in mir, ihn zu begleiten und natürlich entpuppt er sich lediglich als Sehnsucht, nicht so nutzlos zu sein. Innerhalb dieser wunderschönen, glänzenden Welt wird es wohl kaum Gefahren geben, die auf Kanda lauern und doch ist er es, der den entscheidenden Schritt unternimmt, während ich nur aß und mich übergab. Ich würde mitkommen und helfen – er müsste mich nur tragen. Vermutlich gibt es ein Zucken in meinem Gesicht, vermutlich eine flüchtige Mimik, jedenfalls spüre ich plötzlich seinen Blick und erwidere ihn mit der Unbeholfenheit eines Kindes, das etwas verbirgt. Als müsste ich es ihm gegenüber noch immer versuchen. Als wäre es nicht schon zu spät. „Warum so unzufrieden?“, erkundigt er sich nach wenigen Momenten den Schweigens. „Sollte sich in der Quelle wirklich ein Innocence befinden, haben wir es alleine deinem selbstlosen Einsatz zu verdanken, überhaupt darauf gestoßen zu sein.“ „Oh.“ Ich verliere die letzte Körperspannung und rutsche tiefer und ich fühle mich weder besänftigt noch gelobt. Viel eher so, als würde ich bereits am Boden sein und dadurch zu verlockend, als dass man nicht noch einmal zutreten könnte. Kanda tut es jedenfalls gern. „Ich verstehe. Keine Ursache.“ Trübe betrachte ich mir das Paradies, das mich umgibt. Ich zerfloss auf einem gepolsterten Stuhl, vor mir erstreckt sich der wunderschöne Garten der Herberge und wie genüsslich scheint Marie die Geräusche in sich aufzunehmen. Mit geschlossenen Augen sitzt er neben mir, hin und wieder tiefen Atem schöpfend, während die Blätter rascheln und die Vögel zwitschern und ich gelegentlich stöhne. Es wurde nicht sehr viel besser durch das ganze Würgen und Erbrechen. Mein Bauch ist nur gefüllt mit Hunger und Brennen, während stetig die Kräfte aus mir fließen und ich das Gefühl habe, selbst die Luft würde mich vergiften. Aber deswegen murre ich nicht. Die Mission frustriert mich, da sie mich in sämtliche Rollen zwingt, die ich verachte. Kanda ist seit einer Stunde fort und selbst wenn sein Weg ohne Vorkommnisse verläuft, es wird seine Zeit brauchen, bis er den Berg erreicht, besteigt, das Innocence findet und zurückkehrt. Und ich werde hier liegen und verhungern. Mein Mund ist trocken und unweigerlich beginne ich wieder nachzusinnen, welche Lebensmittel nichts mit dem Wasser zu tun haben. Etwas, das nicht hier wächst und verarbeitet wird. Etwas, das auch nicht von den Tieren stammt, die auf den Wiesen grasen. Natürlich werde ich nicht fündig und letztendlich denke ich immer wieder verbittert daran, dass ich sämtlichen Proviant auf der Hinfahrt aß. Nicht nur meinen. Auch der Weg ins nächste Dorf oder in die nächste Stadt würde Tage dauern, also stöhne ich in all meiner Nutzlosigkeit. „Wenn es regnen würde“, sagt Marie da neben mir, „könntest du das Wasser trinken aber es macht nicht den Eindruck, als könnten wir darauf hoffen.“ „Mm“, brumme ich und blinzle zum klaren, blauen Himmel. Friedlich und wunderschön liegt er über meiner ganz persönlichen Hölle. Marie regt sich, macht es sich bequem. Er scheint den Moment zu genießen und das kann er auch, da er mein Gesicht nicht sieht und die wabernden, finsteren Strömungen, die von mir ausgehen, besänftigt er durch Nichtbeachtung. Ein langes Schweigen legt sich abermals über uns, nur beherrscht von den Geräuschen der Idylle und dem Knurren meines Magens. „Vor zwei Wochen waren Kanda und ich in Spanien“, erhebt Marie dann abermals die Stimme. Er spricht leise und sofort spähe ich zu ihm. „In einer Kleinstadt wurden Finder wiederholt von Akuma angegriffen und getötet. Es war eine dieser Missionen, die man nicht einschätzen kann, also waren wir auf alles gefasst. Es gab kein Innocence in dieser Stadt, nur einen Level-2, der ganz automatisch niedere Akuma anzog und letztendlich war es leicht, die Stadt zu säubern. Wir zerstörten die Akuma bis auf den Letzten. Die Mission war innerhalb von zwei Tagen beendet und trotzdem werden wir sie nie vergessen. Ich lebe mit meiner Blindheit und ich lebe gut mit ihr, aber nur selten war ich ihr bisher dankbar.“ Er schürzt die Lippen, befeuchtet sie mit der Zunge und noch immer sehe ich ihn an, verfolge, wie er tief durchatmet und sich seine stumpfen Augen auf den Boden richten. „Am ersten Abend war ich es, denn ich spürte sie zwar, sah sie aber nicht - die unzähligen Leichen kleiner Kinder, nachdem der Akuma eine Schule dem Erdboden gleichmachte.“ Langsam wende ich den Kopf auf dem Polster und spähe zurück in den Garten. Es wirkt so konträr. Dieses Bild und diese Geschichte. Sieht man diese Farben und Schönheit, mag man kaum glauben, dass auch so etwas existiert. Menschen sterben selten vor meinen Augen und nur flüchtig versuche ich mir vorzustellen, welches Bild sich Kanda bot. „Er sagte es nicht“, fährt Marie fort, „aber ich weiß, dass er sich bittere Vorwürfe machte, während er vom Unvermeidlichen sprach. Er wäre gerne dort gewesen, bevor es geschah und er hätte nicht zugelassen, dass den Kindern auch nur ein Haar gekrümmt wird.“ Ich deute ein Nicken an, reibe mir träge den Mund. Natürlich erzählte er mir nichts davon und umso dankbarer bin ich, dass Marie es übernimmt. Unweigerlich kommt mir Bingen in den Sinn und so fülle ich die wiederholte Stille vorerst nicht mit Worten. Bisher erfuhr nur Komui von den Vorkommnissen in diesem fernen Dorf. Er ist einer von uns, doch erlebt nicht dasselbe und ich zögere nicht lange, bevor ich dem Drang nachgebe. Ich möchte es erzählen, möchte, dass Marie es weiß. „Wir haben Menschen verletzt und einen getötet“, erhebe ich die Stimme. „Vor wenigen Tagen in einem Dorf, in dem ein Finder verschwand. Er wurde ermordet von den Dorfbewohnern, die einem extremen Kult zum Opfer fielen. Kandas Weg führte nur durch Zufall dorthin und kurz darauf wurde auch sein Finder getötet. Ihn begruben sie lebendig und als wir uns an diesem verfluchten Ort trafen, stand fest, was zu tun war. Wir töteten den fanatischen Prediger, der die Dorfbewohner manipulierte. Weil es richtig war und der einzige Weg, Gerechtigkeit walten zu lassen und die Menschen von diesem Bann zu befreien.“ Natürlich erzählte Kanda Marie nichts davon und umso dankbarer wird er sein, dass ich es übernehme. Wieder ist es eine Weile still zwischen uns. Wir sind nachdenklich und sind es lange, bevor Marie sich räuspert. „Menschen sind nicht erhaben über Zweifel und Leid“, sagt er dann. „Und Kanda ist ein Mensch.“ „Ja“, flüstere ich. „Er verlangt nie nach etwas und umso mehr müssen wir ihm geben. Wenn du bei ihm bist, Allen, pass bitte auf ihn auf.“ Wieder blicke ich zu Marie und werde daran erinnert, wie sein Gesicht unter Sorgen aussieht. Er presst flüchtig die Lippen zusammen, während sich seine Stirn in Falten legt. „Er lebt schon so lange in dieser Welt. Wir dürfen nicht zulassen, dass sie ihn zerstört. Nicht noch mehr.“ Ein weiteres Mal offenbart mir Marie sein Wissen um die Nähe zwischen Kanda und mir. Letztendlich sagt er, dass er und ich die Einzigen sind, die ihn schützen können, da kaum jemand Einfluss auf ihn hat, kaum jemand ihn kennt, wie wir es tun. Wir sind verantwortlich, doch lieben diese Pflicht. Kanda rettete nicht nur Marie, er rettete auch mich und selbst wenn es anders wäre, ich würde mich endlos bluten lassen, könnte ich Leid von ihm abwenden. Jede Verletzung würde ich auf mich nehmen, um ihn vor ihr zu verschonen und würde er es zulassen, würde ich die Arme um ihn schließen und nie wieder loslassen. Doch was ist mit diesen Bildern? Marie war an seiner Seite, doch konnte nicht verhindern, dass er die toten Kinder sah. Und ich war an seiner Seite, als er den Priester tötete. Nicht alles lässt sich abwenden und wir beide wissen um die Schwierigkeit, wenn es darum geht, Kanda zu unterstützen. Zu lange war er alleine und zu viel hat er erlebt, als dass er sich fallen lassen und auf Sorgen basierende Zuwendung annehmen könnte. Möglicherweise fällt es ihm gar schwer anzuerkennen, wenn er die Grenze überschreitet und aus Erfahrung weiß ich von seiner kompletten Unfähigkeit, um Hilfe zu bitten. Er wirkt so stark, so kraftvoll und gefestigt und umso dankbarer bin ich Marie, dass er mich daran erinnert, hinter die Fassade zu blicken. Hier und jetzt fassen wir ein Bündnis in Worte, das bisher nur schweigend zwischen uns existierte. Ein Bündnis zwischen zwei Menschen, die Kanda auf unterschiedliche Weise lieben. -tbc- Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)