Last verse of dawn von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 1: 1 ------------ Ein Mensch wirkt anders, wenn mit jedem Atemzug das Leben aus ihm strömt. Sein Gesicht, das sich zu Lebzeiten zu unterschiedlichsten Mimiken verzog, offenbart nur noch eine erstarrte Maske. Eine hässliche, die dem Körper und der Seele dorthin folgt, wo sich Wille und Wunsch nach dem Tod vermuten. Ich denke, viele sehnen sich nach dem Himmel. Einfach nach einem Ort, an dem ihr subjektives Recht waltet und man Frevel durch kalkulierte Menschlichkeit tilgt. Der selbst dem unseligsten Wesen Erlösung bietet und ein warmes Bad aus Versöhnung und Erhabenheit, in das sie ihr groteskes Selbstbild erbrechen können. Jedes Geschöpf verlangt nach der eigenen Gerechtigkeit und während ich das zur Maske erstarrte Gesicht sehe und die letzten Zuckungen des Körpers, der sich windet, als wolle er sich an jeden Atemzug klammern, an jede Brise des Lebens, im Wissen, dass sie nimmer zu ihm zurückkehrt; während ich den kupfernen Geruch des Blutes atme und die Hitze der Flammen spüre, die den Sterbenden züngelnd versengen, da lasse ich mich umarmen von der Gerechtigkeit, die ich als richtig erachte. Ich spüre ihre Wärme, als sie sich um mich schließt, mir ihre Geborgenheit schenkt und die Auffassung, dass es so etwas wie einen Himmel niemals gab. Dass dieser Mann, so sehr er sich auch nach seinem Elysium sehnt, nur die Hölle findet. Dass die Qualen, die ihn noch vor wenigen Momenten schreien ließen, ihn bis über die Grenzen des Todes verfolgen und sich in gnadenloser Treue an ihn schmiegen. Dass die Abtragung der Schuld keine Rolle spielt, sondern allein die Bestrafung. Ich möchte, dass er leidet, doch nach einem letzten Röcheln ermattet der Körper, der weit über mir an die Fassade einer Kirche genagelt ist. Ein riesiger Sperr durchdrang seine Brust, durchdrang auch das Gestein und wie lange windete er sich dort oben, wie lange schrie er nach seinen Verbündeten, wie lange dauerte sein Tod und wie geduldig schaute ich zu. Für meinen Teil hatte er sich nicht zu beeilen, doch sein Blut war so rasch die Fassade hinab geronnen, dass seinem Körper nichts mehr blieb, das ihn an das Leben band. Der annähernd schwarze Rauch des Feuers brennt in meinen Augen und sticht in meinen Lungen, während goldene Funken mich umstieben und sich das morsche Krachen der in sich zusammenstürzenden Häuser erhebt. Ruß hat mein Gesicht annähernd schwarz gefärbt, mein Blut den Stoff meiner Uniform durchtränkt. Vielleicht gibt es Schmerzen in meinem Körper. Vielleicht sind die Wunden tief. Es existieren unzählige Möglichkeiten, jedoch nur eine Gewissheit. Der Tod ist das Beste, das diesem Mann geschehen konnte. Er kommt einer Flucht vor unserer Vergeltung gleich und lässt uns zurück mit dem bitteren Geschmack der Endgültigkeit. Die Tragödie hat bis zu diesem Punkt geführt. Wie endlos wirkte sie, um keine Grausamkeit verlegen, und noch immer blicke ich nach oben, als bräuchte mein Verstand diese Sicherheit. Als müsste ich meinen Augen die Gewissheit bieten, dass er nicht mehr atmet, sich nicht mehr regt. Mit seinem Tod wird die Welt um einen Deut heller. Keine Facette der Loyalität, die er schwor, rettete ihm das Leben. Der finstere Verbündete, der diesem Mann ein übermächtiger Heiliger war, tat nicht genug und bei weitem nicht, was für ihn erschwinglich wäre. Die Kadaver der Akuma, begraben unter den staubigen, verkohlten Ruinen der Häuser, machten es uns schwer, doch nicht unmöglich. Sie verletzten uns, erschöpften uns, doch töteten uns nicht. Wir zerschmetterten sie, zerstörten sie, erlösten sie und wie inniglich musste in uns das Verlangen pulsiert haben, den Broker, der drei unserer Kameraden zu Tode folterte, lebendig in die Hände zu bekommen. Ohne die schützende Mauer aus Akuma. Nur wir, er, und unsere Gerechtigkeit. Das lose Gestein unter meinen Füßen beginnt zu bröckeln. Ich spüre, wie der Boden unter mir zerfließt, als Lavi und Chaoji zu mir treten. Ihr Atem erreicht mich gedrungen, auch sie umgibt der Brodem aus Blut und Schmerz und nur andeutungsweise begegnen sich unsere Blicke, bevor wir alle drei empor spähen. Schutt rieselt von einem nahen Dach, krachend unterliegt ein Dachstuhl den noch immer wütenden Flammen und wie gebannt betrachte ich mir das Glänzen des Blutes, das über die Kirchenmauer rinnt. Der Tote wurde zu einem Schatten. Sein Körper verliert an Bedeutung, wenn der widerliche Geist nicht mehr in ihm wohnt. Wir würden nach ihm greifen, bevor er entflieht, würden ihn zurückzerren in unsere Welt, doch unsere Hände bleiben gesenkt. Bald werden wir uns den dritten Sarg betrachten. Sie werden ihn im Hauptquartier aufbahren, in feierlichem Gedenken, und sie werden den Verstorbenen als Exorzisten in Erinnerung behalten, obgleich er noch keiner war. Er war kompatibel, er war jung und er war arglos. Für ihn war die Welt viel schöner, als es der Realität entspricht. Für ihn existierte die göttliche Gerechtigkeit, auf ihn warteten Wege und Ziele, doch sein Leben endete so früh, dass sein Glaube belanglos wurde und sein Tod zu bitterem Sarkasmus. Zwei Monate nutzte er den Schutz, den Marshall Sokaro ihm als Meister bot. Zwei Monate bewegte er sich in seiner sicheren Nähe, bevor der Glaube an die göttliche Gerechtigkeit ihm überschwängliches Selbstvertrauen verlieh und die Idee von Unabhängigkeit und Stärke. Wie ein Vögelchen, das, von der Sonne geblendet, seine unterentwickelten Flügel übersieht, aus dem Nest stürzt und sich nackt und hilflos auf dem Boden windet, bis ein Fuß es zertritt oder eine Hand es aufhebt. In diesem Fall traf der junge Exorzist auf einen Gegner, dem er nicht gewachsen war. Ein ungleicher Kampf führte zu schweren Wunden und wie froh war er, als er zu sich kam und das Zimmer eines Krankenhauses erkannte. Die göttliche Gerechtigkeit schien noch gegenwärtig, doch wie erbärmlich muss es ihm in den nächsten Wochen erschienen sein, sich an diesen Glauben zu klammern. Als er in die Obhut eines Arztes geriet und Opfer diverser, bestialischer Versuche wurde. Während Drähte und Schläuche in ihn geschoben, seine Haut durchbohrt und seine Gedärme durchschnitten wurden. Während Chemikalien ihn verätzten, Gifte ihn zerfraßen und sich unermüdlich der Stift über das Papier bewegte. Im Auftrag des Grafen, doch auch mit erheblicher, eigener Motivation, hatte der Arzt den jungen Mann zum Utensil degradiert, und obgleich ein sehr wichtiges Testobjekt, war er innerhalb weniger Wochen qualvoll gestorben und hatte allerhand Thesen widerlegt. Für den jungen Mann war der Kampf vorbei noch bevor er begann und vermutlich ahnte er es nicht, als er auf dem Untersuchungstisch lag, dass er der dritte war, der sich auf dem kalten Stahl windete. Im Labor des Arztes gab es Aufzeichnungen, die das Geheimnis um das frühere Verschwinden zweier Exorzisten auf tragische Weise lüfteten. Die Recherchen der Finder führten zu dem Mann, der in seinem Kittel in engelhaftem Weiß erstrahlte und hohe Posten bekleidete. Der lächelte und dessen irrsinniges Blitzen in den Augen mit Wachheit verwechselt wurde. Ermittlungen führten lediglich zu leisen Kritikpunkten und Unstimmigkeiten, doch die Brisanz hatte Komui keinen Augenblick zögern lassen. Möglicherweise war es zu früh zu Chaoji. Soeben erst aus der Obhut Tiedolls entlassen, hätte er Missionen für ihn bevorzugt, die sich in ihrer Schwierigkeit langsam steigerten, doch die Gefahren waren Chaoji bekannt, als er sich bereit erklärte und gemeinsam mit Lavi die Recherchen der Finder mit Nachdruck fortsetzte. Sie stellten Fragen, sie waren achtsam und sie ahnten, dass die Lunte entzündet war. Nur mit einer so frühen Explosion hatten sie nicht gerechnet. Natürlich war es schwer für Chaoji, doch die düsterste Grausamkeit repräsentierte, was vor ihm lag und stellte sicher, dass er nicht selbst zu einem Vogel wurde, der seine Flügel überschätzte. Kurz bevor es in Bangkok eskalierte, war Sokaro selbst nicht weit entfernt und meine ebenso nahe Mission von geringerer Priorität. Nur wenige Worte hatte Komui am Telefon zu verlieren, bevor ich alles zurückließ, das ich begann, und wenn die hastige Reise auch an meinen Kräften zehrte, zur rechten Zeit war ich einer von jenen, die beendeten, was nie einen Anfang hätte haben dürfen. Zu viert gierten wir nach dem Feind aus Fleisch und Blut. Wir trachteten nach ihm, als hätte sich der Zorn der toten Kameraden in uns manifestiert und wie gnadenlos schlugen wir uns durch die Reihen der Akuma, die ihn hinter sich bargen. Wir ertrugen viel für unsere Vergeltung, doch der Impuls war übermächtig und wie wärmend auch der Gedanke, jeden unserer Freunde vor einem solchen Schicksal zu bewahren. Niemand sollte einem solchen Wahnsinn zum Opfer fallen, niemand auf eine solche Weise sterben. Reglos starren Chaoji und Lavi noch immer empor, als ich zur Seite spähe und den Schatten erkenne, der sich auf einem nahen Dach niederließ. Wie eine schwarze Krähe hockt Sokaro außerhalb des Feuerscheins, leicht geduckt, sich auf die riesige Klinge stützend und so reglos wie ein deplatzierter Wasserspeier. Sein Gesicht bleibt hinter der stählernen Maske verborgen und obgleich ich ihn als fremdes, undurchschaubares Wesen empfinde, stelle ich mir die Frage, weshalb er dem Broker seine Klinge verwehrte und seinen Tod stattdessen mit einer Lanze an dieser Kirchfassade improvisierte. Die Methode ist reicher an Qual, ist auch reicher an Zeit und wie seltsam ist es, in dem erbarmungslosen Akt eine menschliche Regung zu vermuten. Möglicherweise ist es ein winziges, fragiles Fragment von Sympathie, das bald mit dem Sarg seines Schülers begraben wird. Der Stahl seiner Klinge blitzt auf. Er scheint sich zu regen und neben mir erwacht auch Lavi zum Leben. Sein Blick wird dem toten Schatten untreu. Abermals begegne ich ihm, bevor sich mein Kamerad abwendet und nach seinen Ärmeln tastet. Seine Hände sind überzogen mit einer porösen Schicht aus Blut und inmitten des Gestankes und des Drecks streift er den Stoff höher und legt Wunden an seinem Unterarm frei. Ich höre ihn zischen. Das Gestein unter seinen Schuhen knirscht, als er wenige Schritte geht und unweigerlich werde ich auf Chaoji aufmerksam. Er rückt an der Uniform, als wäre ihre Ordnung das einzige, das sein Bewusstsein derzeit entsendet. Seine Hände zittern, als er den Kragen richtet und kaum begegnet er meinem Blick, da zieht ein unsicheres Lächeln an seinen Lippen. „Wird es einfacher?“, fragt er dann und während ich ihn ansehe, stelle ich mir diese Frage selbst. Beinahe höre ich die Worte in meinem Kopf, auf die mein Verstand keine sofortige Antwort kennt. Wird es einfacher? Gegen einen Feind zu kämpfen bedeutet gleichzeitig, das eigene Leben zu schützen und ich tat es, seit ich die schwarze Uniform trage. Jeder Handgriff, mit dem ich die Reißverschlüsse schloss und die Knöpfe in den Löchern versenkte, brachte mich dem Fallbeil näher und nahm mir jedes Anrecht auf Sicherheit. Ich gewähre dem Menschen Schutz und der missbrauchten Seele Erlösung und dem Schicksal indessen mein Leben als Blutzeuge. Es braucht nur die Hand zu strecken und danach zu greifen. Ich würde mich ergeben, ohne eine Absolution zu suchen für die Taten, die notwendig sind oder für den Preis, den ich zahle. Ich töte. Das ist es, worauf es hinausläuft und jeder hat selbst zu entscheiden, ob er diese Bestimmung nur mit Rechtfertigung erträgt. „Einfacher, ja“, antworte ich Chaoji letztendlich. „Aber niemals leicht.“ „Ich verstehe.“ Ich sehe ihn schlucken, bevor seine Augen abermals nach dem Blut suchen. Er betrachtet es sich, als wäre es die Hürde, die es zu überwinden gilt. Bisher zögerte er niemals, bevor er zum Sprung ansetzte und kurz erreicht meine Hand seine Schulter, bevor ich mich abwende und mir einen Weg bahne vom Berg aus Schutt und Asche. Die Stadt um mich herum brennt, doch es ist ruhiger geworden und kurz suche ich bewusst nach dieser Stille und atme ihre leere Gegenwart. Sie begegnet mir oft und an jedem Ort, an dem das Gift der Akuma in den Erdboden sickert. Sobald die Explosionen verstummen, bleibt nur noch das sanftmütige Knistern des Feuers und würde man die Augen schließen, fernab vom beißenden Rauch, so würde man die Lautlosigkeit mit Frieden verwechseln und zumindest innerlich lächeln. Wohltuende Brisen erreichen mich, als sich Timcanpy nahe an meinem Gesicht vorbeibewegt. Fast berühren seine goldenen Flügel meine Haut. Er, denke ich mir unterdessen, ist der einzige von uns, der niemals den Verstand verlieren wird, denn um bei Sinnen zu bleiben, hat man ein Objekt zu sein und durch Schaltkreise zu funktionieren. Was atmet und fühlt, ist der Zerstörung geweiht. Auf dem Weg dorthin versuche ich die Tatsache auszublenden, dass dieser Ort, an dem geschah, was nicht der alltäglichen Vernichtung entspricht, erschreckend schnell einem Anblick verfällt, der beinahe zu diesem Trugschluss zwingt. Die Leiche an der Kirchenmauer wird ohne all die Aufmerksamkeit zu einem banalen, grauen Teil der Trümmer. Es wird auch nicht lange dauern, bis die Finder durch die Stadt ziehen. Ihre beigen Mäntel werden sich wie Ameisen durch die Trümmer bewegen und sie werden retten, was zu retten ist. Das ist die Aufgabe der Nachhut. Wir, die am Anfang stehen, kommen oft nur zum Verwüsten. Und kaum dass die Brände erlöschen und der Rauch sich legt, beginnt sich das Bild zu drehen. Sokaro, soeben noch ein schwarzer Schatten auf dem Dach, ist verschwunden. Einem Wunder kam es gleich, dass er sich überhaupt am Kampf beteiligte und bei diesem einen Wunder bleibt es. Das Kapitel ist beendet, und wenn er weiterblättert in seinem finsteren Buch, dann tut er es woanders. Wie eine schwarze Krähe zieht es ihn weiter und während er in Bewegung bleibt, halten Chaoji, Lavi und ich noch immer inne. Unsere müden Schritte führen uns in ein nahes Krankenhaus, eines der wenigen Gebäude, deren Zustand vertrauensselig genug ist, um es zu betreten. Und wie schauerlich ist das, was kurz darauf geschieht. Zuerst ist es nur offensichtlich, makaber wird es erst durch meine Gedanken. Chaoji trennt sich von uns, um nach einem Telefon zu suchen. Das Hauptquartier zu kontaktieren, hat für ihn eine hohe Priorität, doch noch höher mag die sein, eine kurze Distanz zu schaffen und mit den Gedanken alleine zu sein. Es ist eine Maske, die er sich über sein wahres Gesicht streift. Die Motive bleiben ihm überlassen und sind in jedem Fall recht. Bei Lavi mag es nicht sehr viel anders sein. Ich höre ihn seufzen, während ich die Schränke des Behandlungszimmers nach Verbandsmaterial durchsuche. Er sitzt hinter mir, sank in einen der Stühle, kaum dass wir den Raum betraten. „Vor zwei Monaten war ich mit dem Panda in Griechenland“, höre ich ihn dann sagen. „Die Mission war nicht lang. Auch nicht wirklich wichtig. Aber es musste getan werden, du weißt schon.“ „Ja.“ „Jedenfalls, als wir fertig waren, musste der Panda noch woanders hin und Komui sagte, ich könne mir Zeit lassen, mich irgendwo einquartieren, ordentlich schlafen. Ich fand eine gute Herberge und dann, als ich in der Gaststätte saß, da sah ich sie.“ Ich komme nicht um ein Schmunzeln, als er eine dramaturgische Pause einlegt. „Das schönste Geschöpf. Volles schwarzes Haar, blaue Augen. Du hättest sie sehen müssen. Ihr Englisch war ganz gut und wir haben uns unterhalten. Sie mochte mich anscheinend und wir sprachen fast die ganze Nacht über alles Mögliche. Es war toll und erst als wir kaum noch die Augen offen halten konnten, trennten wir uns. Aber am nächsten Morgen wollten wir uns wiedersehen.“ Er lächelt bei der Erinnerung, als ich mich zu ihm setze. Meine Fundstücke reichen für eine provisorische Versorgung und er lächelt immer noch, als ich mir seine Wunden betrachte. Sie sind tief. Es ist ein Wunder, dass die Blutung versiegte. „Wie ging es weiter?“, frage ich, als ich die Verletzungen notdürftig zu reinigen beginne. „Gar nicht. Mitten in der Nacht brach ich auf, weil Crowley Hilfe brauchte. Ich war der Einzige, der in der Nähe war und als ich die Nachricht bekam, zögerte ich nicht. Damals waren die Prioritäten klar aber im Nachhinein tut’s weh. Ich glaube, sie hat mich wirklich gemocht, Allen. Das ist mein Ernst.“ „Ich weiß.“ „Das waren Schmerzen“, fährt er fort und weist auf seinen Arm. „Dagegen ist das hier gar nichts.“ Ich nicke verstehend, zücke eine Verbandsrolle und frage mich gleichzeitig, wie er es sich vorgestellt hätte, eine solche Beziehung am Leben zu erhalten. Vermutlich war es nie mehr als ein Traum und eine Sehnsucht nach etwas, das für jeden objektiven Verstand utopisch ist. Er seufzt, als denke er noch immer an das schöne Geschöpf mit den blauen Augen, doch durch den Schleier seiner Worte hindurch sehe ich nur eine weitere Maske. Während Chaoji sich die Stille sucht, die sein sensibler Charakter benötigt, bevorzugt es Lavi, die Aufmerksamkeit nachdrücklich umzulenken. Es ist nicht das schöne Geschöpf, das derzeit sein Bewusstsein beherrscht, eher ist es wohl der Wunsch, den Geschmack des Geschehenen zu verwässern, wenn er ihn schon nicht ausmerzen kann. Unter seiner Haut spannen sich keine Drähte. Auch Chaojis Empfindungen lassen sich nicht programmieren und so sahen wir ein, dass wir eine Lösung benötigen, um unser Überleben zu sichern. Wir alle begaben uns auf die Suche, wir alle folgten einem Weg, den wir für gut und richtig erachteten und wenn es auch nur scheinheilige Masken sind, die wir fanden, wir nahmen sie an uns und geben sie nicht mehr her. Verborgen verwahren Chaoji und Lavi das falsche Angesicht in ihrer Nähe, angewiesen auf die Sicherheit des Wissens, es bei jeder Angewiesenheit sofort zu erreichen. Doch makaber ist nicht die Gegebenheit, dass meine Kameraden Gebrauch von der schützenden Bigotterie machen, es ist meine Wahrnehmung, die sich vorrangig in Momenten wie diesen so hochkonzentriert in meinem Kopf staut, dass sie mir aus den Augen treten müsste, aus dem Mund und den Ohren. Alle drei tragen wir derzeit eine Maske, denke ich mir, als ich den Verband über Lavis Wunden streife. Doch nur zwei von uns setzten sie gerade auf und werden sich schon bald wieder von ihr lösen. So grotesk es auch scheint, ich genieße die Anlässe, in denen meine Maske nicht die einzige ist und meine Freunde sich dem Spiel anschließen. Ich werde unauffällig in diesen Momenten, bilde ich mir ein. Ein normaler, ehrlicher und simultaner Teil des Ganzen. Allzu oft ist das Betreten des Hauptquartiers nicht nur die Heimkehr, sondern die Verdeutlichung all dessen, das Verlust bedeutet. Viel zu oft streifen wir durch die Gänge und vorbei an Türen, hinter denen sich einst unsere Freunde und Kameraden Zuhause fühlten. Wenn ihre Existenz erlosch und sich auf mehrere Stunden dezimierte, innerhalb eines Sarges und aufgebahrt in der Halle, in der man ihr die letzte Ehre erweist, dann stellen jene Türen nur noch etwas dar, hinter dem sich leerer Raum erstreckt und Erinnerungen. Man betrachtet sie sich, bevor man an ihnen vorbeizieht. Der eine oder andere bleibt vermutlich stehen, doch letztendlich entsinnen wir uns alle nur daran, dass unser Leben von Beginn an auf Messers Schneide basiert und tödliche Verletzungen davonträgt, sollte es durch eine Übermacht an Gleichgewicht verlieren. Es ist Stärke, die uns Balance schenkt. Auch der Wille, einander Schutz zu spenden und die Mauer unserer Gemeinschaft zu festigen. Obgleich jeder von uns nur ein Fragment ist, bilden wir zusammen doch das Ganze und rücken nur noch näher zusammen mit jedem Teil, das uns entrissen wird. Auch diesmal umgibt uns dumpf die Atmosphäre der bewussten Zerstreuung, als sich die Türen des Fahrstuhles vor uns öffnen und dann schenken wir uns ein knappes Lächeln. Eine Hand berührt die Schulter eines anderen, ein schwer zu deutendes Nicken und so strömen wir auseinander, allesamt müde und in matten Schritten. Lavis Weg führt zur Krankenstation, Chaoji verschwindet in seinem Zimmer und wie gedankenvoll mustere ich den Boden, der unter meinen Füßen vorüberzieht, als ich mich dem Speiseraum nähere. Nur begleitet von Timcanpys Flügelschlägen und dem leisen Kratzen meiner Stiefel. Einen Tag ist es her, dass man den Körper unseres Kameraden in der Dunkelheit dieser Mauern verbrannte und seine Existenz auf graue Asche begrenzte. Wir waren nicht hier, als der Sarg, bedeckt mit dem Banner, zur makabren Zierde der Gedenkhalle wurde. Während so mancher stehen blieb und den Kopf senkte, zerstörten wir, was unseren Freund zerstörte und nun, da wir heimkehren, ist jede Spur des Kameraden ausgelöscht. Absent mustere ich die verschiedenen Steine, über die ich hinwegziehe. Der vertraute Geruch nähert sich bereits. Auch allerhand Geräusche dringen an meine Ohren und verkünden das nahe Ziel. Es ist in den frühen Morgenstunden und das Leben an diesem Ort längst erwacht. Bekannte Gesichter begegneten mir in den letzten Momenten. Vertraute Stimmen begrüßten mich und ebenso vertraut war die freundliche Geste meiner Erwiderung. Alles zeugt von dem, was hier als Alltag gilt. Auch Jerrys Lächeln verlor nicht an Herzlichkeit und letztendlich bleibt auch mein Appetit unverändert. Wie immer wechsle ich gerne Worte, bevor ich mein Essen entgegennehme. Wie immer erwidere ich diverse Grüße auf meinem Weg zu einem freien Platz und als ich mich dann niederlasse inmitten der gewohnten Kulisse aus Regung und Geräusch, da heben und senken sich meine Schultern unter einem tiefen Durchatmen. Meine gedankliche Absenz endete, als ich diesen Saal betrat und natürlich und ganz unweigerlich sondierten meine Augen die Umgebung. Sie taten es unauffällig und ebenso unscheinbar war die Enttäuschung, als sie lediglich die beigen Mäntel der Finder erspähten, durchwoben von vereinzelten weißen Kitteln. Zum erneuten Mal bleibt die Schwärze meiner Uniform die Einzige, doch es geschieht so oft, dass ich mich längst daran gewöhnte. Als sich meine Hände dem Essen widmen, bemerke ich den Schmutz, der noch immer auf meiner Haut haftet. Der Dreck des Schlachtfeldes ist ein treuer Begleiter, doch geduldet aufgrund meiner Prioritäten. Wenn mein Bauch gefüllt ist, denke ich mir, als ich den Löffel in einen Pudding tauche, werde ich duschen, werde mir saubere Kleidung überziehen und gleichsam alles von mir streifen, was mit der Mission zu tun hat. Die Treue des Vergangenen ist stets nicht lange erwünscht und sobald ich dann äußerlich wieder rein und hell bin, wird es auch mein Inneres sein und mein Wille bereit für alles, was in der Zukunft liegt. Als ich den Saal nach zwei Stunden verlasse und zurückkehre in die Kühle der grauen Gänge, da fühle ich nicht die kalte Luft und sehe nicht die fehlenden Farben. Meine Rückkehr an diesen Ort ist wohltuend. Sie ist es jedes Mal, denn wie oft driften meine Augen über das Gestein der Wände und des Bodens. Wie oft betrachte ich mir Türen und Durchgänge und sehe die Vergangenheit vor ihrem tristen Bildnis. Erinnerungen begleiten mich, nehmen die Kälte und ersetzen die Farben. Fast meine ich sogar einen vertrauten Geruch wahrzunehmen, dem ich witternd folge. Kein Parfüm, auch keine andere aufdringliche Note. Es ist ein Duft voller Natürlichkeit und doch so reich an Intensität und Einmaligkeit. Ich nehme ihn wahr, als ich die Duschen verlasse, als ich das runde Treppenhaus betrete und unweigerlich zieht es meine Schritte zur Seite. Tür um Tür lasse ich hinter mir und nur kurz betrachte ich mir die eine, bevor ich auch an ihr vorbeiziehe. Es geschieht oft, dass mich meine Sinne narren und sich das Dasein humorvoll an meiner Hoffnung ergötzt. Wie gerne schickt es mir dann diese Impressionen und wie muss es sich amüsieren, wenn ich wie ein Tier der Fährte folge, dem instinktiven Drang nicht wiederstehend. Er ist hier. Das glaube ich auch diesmal zu wissen, bis ich an seiner Tür vorübergehe. Er ist es nicht, weiß ich dann und betrete meinen eigenen Raum. Jedes Mal hoffe ich. Jedes Mal wähne ich mich in Sicherheit, wenn ich meine Sinne dem Wiedersehen entgegendriften und die Gegenwart vernachlässigen lasse. Es sind schöne Momente voll Hoffnung und Leichtigkeit und sie dauern an, bis ich letztendlich schmunzle und den Kopf über mich selbst schüttle. Davon auszugehen, das Schicksal sei uns gewogen, ist allmählich über das Bizarre hinaus und angelangt im Gebiet der Albernheit. Lachhaft, dass es die Dauer von sechsundzwanzig Tagen als eine zu lange Spanne empfindet. Dem Schicksal ist die Beschaffenheit seiner Zahnräder gleich, denke ich mir, als ich kurz darauf auf dem Weg zu einem der Bäder bin. Unter meinem Arm klemmt die saubere Kleidung, nach der meine Haut sich sehnt. Wir sind ausreichend, solange wir ineinandergreifen und die Maschinerie der Welt am Leben erhalten. Wieder erreiche ich ein Ziel, wieder greife ich nach einer Klinke und nur Timcanpys Flügelschläge mischen sich unter mein leises Ächzen, als ich eine der Bänke erreiche. Es ist der letzte Schritt, bevor ich mich dem Notwendigen ergebe. Den Dreck von meiner Haut zu waschen und mit ihm alles, das mich mit der Vergangenheit verbindet. Im Gegensatz zu meinen Gedanken kann ich meinem Körper Reinheit schenken. Die Luft um mich herum ist schwer von Feuchtigkeit. Aus einer der Duschbrausen lösen sich vereinzelte Tropfen, die das triste Bild der Atmosphäre erweitern. Vor kurzem war noch jemand hier. Vor kurzem gab es hier noch Regung, vielleicht auch Worte. Ich blicke um mich, während ich die Uniform von mir streife. Auch diesmal ist es Befreiung, den robusten schwarzen Stoff von den Schultern zu lösen und wie atme ich daraufhin die Stille dieses Ortes, den ich mit keiner fremden Gegenwart zu teilen habe. Mit geschlossenen Augen harre ich aus im heißen Schutzmantel des Wasser, vollends versunken im Prasseln, das auf meinen Kopf niedergeht und dem Rauschen, das meine Ohren erfüllt. Es ist, als würde ich mich trennen, als würde ich versinken in einem Morast aus Wärme und Frieden und dieses Gefühl bleibt treu an meiner Seite, bis ich die Decke über mich streife und auf die Matratze sinke. Beinahe könnte man meinen, man erwache zu neuem Leben und ebenso naheliegend ist die Vermutung, dass man ein- ums andere Mal aufersteht, um kurz darauf abermals zu sterben. Zielstrebig findet meine Hand zu Tim, bettet sich auf seinem Körper und lässt das Rauschen seiner Flügel verstummen. Noch immer sehne ich mich nach der Stille, da sie ein Teil der Finsternis ist und inmitten dieses schwarzen Nichts genieße ich tief und inbrünstig den Geruch, der mich wie eine liebliche Hülle umgibt. In jedem Winkel meines Umfeldes durchflutet und sättigt die vertraute Aura die Luft. Es braucht keine Augen für diese Wahrnehmung, da sie zu stumpf sind und niemals durch das dringen, das sich als bloßer Gegenstand offenbart. Ich brauche mir nicht den Tisch zu betrachten, nicht den matten Glanz der Lotusblüte hinter dem reinen Glas der Sanduhr. Nicht den Kleiderständer oder den privaten Mantel, den er trägt. Ebenso wenig achte ich auf die Farben des Fensters oder den Riss des Glases, der im Laufe der Zeit wuchs. Es zog mich nur zu dem Bett meines geliebten Kameraden und schemenhaft scheint er sich zu mir zu legen und den Arm auf meinem Bauch zu betten. Und so wie er mir nahe kommt und sich die Tür seines Zimmers schließt, so erhebt sich eine Mauer, die kein Grauen zu überwinden vermag. Ich schlafe gut inmitten des Stoffes, der so angereichert ist mit der Präsenz seines Besitzers, dass dessen tatsächliche Gegenwart nur eine geringfügige Erweiterung wäre. Nicht ein einziges Mal kroch der schwarze Alb in diesen Raum und auch diesmal versinke ich friedlich und steige zurück an die Oberfläche, als die Morgensonne die schwarzen Schatten sterben lässt und die Welt erstrahlt. Dann sitze ich dort, meine Umwelt wahrnehmend und mit ihr die anhaltende Stille dieses Raumes. Er kehrte nicht zurück. Flüchtig richte ich das Bett, bevor ich mich hinausstehle, zuvor an der Tür lauschend wie ein Mensch mit Schuldbewusstsein oder Geheimnissen. So kehre ich zurück in den Alltag, der unbekanntes für mich bereithält. Nicht mehr weit davon entfernt, in Komuis Büro zu treten und mich erneut auf den Weg zu machen in weite Ferne. Vielleicht werde ich alleine gehen, vielleicht auch an der Seite eines Kameraden, doch als ich den Speiseraum betrete, sehe ich noch immer keinen von ihnen. Finder nehmen die Plätze ein, auch der eine oder andere Wissenschaftler. Soldaten sehe ich, Ärzte, doch keine schwarze Uniform oder eines der Gesichter, die mir am vertrautesten sind. Jerry seufzt, als ich mich nach meinen Freunden erkundige. „Ach, Schätzchen.“ Er stemmt sich auf die Theke. „In letzter Zeit sind so wenige von euch hier. Vor einer Woche sah ich Miranda und vor ihr verköstigte ich Crowley aber du bist seit einigen Tagen der Erste. Es gibt viel für euch zu tun, nicht wahr? Was darf ich dir zaubern?“ Mitunter genieße ich es, alleine vor all meinen Tellern und Schalen zu sitzen, doch dieser Tag gehört nicht zu jenen, an denen ich die Abgeschiedenheit bevorzuge. Mir steht der Sinn nach Worten, nach einem Lächeln und Unterhaltungen der Art, die ich nachvollziehen kann. Wie gerne würde ich Erlebnisse tauschen, erfahren, was sich in den Winkeln der Welt zuträgt, auf die ich keinen Blick habe. Doch heute esse ich alleine und tue es ohne den rechten Sinn für Appetit oder Muße. Selbstverständlich schmeckt es, selbstverständlich leere ich auch jeden Teller, doch als ich den Saal bald darauf verlasse, ertappe ich mich bei einem tiefen Durchatmen. Die steinernen Flure begrüßen mich mit ihrer kühlen Luft und ihrer Stille und wie gedankenverloren gehe ich meinen Weg, ziehe um Ecken und drifte gedanklich fort. Manchmal höre ich Schritte, einmal grüße ich einen Wissenschaftler, doch wache kaum auf dadurch. Wie oft ist man an diesem Ort alleine, obgleich die Zahl der Freunde so hoch ist. Nur eine Begegnung wünsche ich mir, bevor ich mich abermals auf den Weg mache und wie perplex bin ich, als ich um eine weitere Ecke ziehe, absent und ohne jede Erwartung, doch stehenbleibe im Angesicht eines seltsamen Zufalles. Mit einem Mal blicke ich auf, mit einem Mal bin ich wach und zu meinem ersten Lächeln fähig. Es ist Marie, der vor mir steht, der innehielt, da er mich weitaus früher bemerkte und genüsslich erfüllt mein Seufzen das triste Gestein der Umgebung mit Leben. -tbc- Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)