Höllenfeuer von Feldteufel ================================================================================ Kapitel 1: Kapitel 01 --------------------- Kapitel 01 Die flackernden Röhren tauchten den Raum in bläulich fahles Licht. In den Röhren häuften sich die verwesenden Leichen einiger Motten und anderem Ungeziefer, das sich von dem ausstrahlenden Licht angezogen gefühlt hatte. Mit einem Tuch, welches er sich vor Mund und Nase hielt, folgte Ethos Turino, Gesandter des Vatikans, dem korpulenten Mann, der vor ihm her ging. In dessen Mund befand sich eine Zigarette, die fast bis zum Ende herunter gebrannt war. Nachdem die beiden Männer einige weitere Türen hinter sich gelassen hatten, blieb der mit der Zigarette stehen und drehte sich zu Ethos um. In dem engen Konstrukt aus feuchten Mauern zog ein eisiger Luftzug hindurch, welcher von der offen stehenden Metalltür direkt vor den beiden Männern erzeugt wurde. „Wir sind angekommen“, sagte der korpulente Mann mit dem blonden Schnauzbart. „Danke, Monsieur Leonce.“ Ohne weiterhin auf den Kommissar einzugehen, schob Ethos sich an diesem vorbei und achtete dabei peinlichst genau darauf, nicht mit seinem Gesprächspartner in Berührung zu kommen. Obwohl Ethos dem Kommissar nichts an Sympathie abgewinnen konnte, musste er doch zugeben, dass er es ihm hoch anrechnete, die Leichenhalle ohne Schutz vor dem Gestank zu betreten. Wahrscheinlich hatte der alte Knochen schon so einiges in seinem Leben gesehen – und gerochen – so dass ihm dieser kurze Gang in den Untergrund des Polizeireviers nichts mehr ausmachte. Ethos stellte seine Tasche auf den Boden und holte einige Utensilien heraus. Normalerweise waren zum Dokumentieren und für das Einsammeln von Proben und Beweisstücken andere Leute vorgesehen, doch der Vatikan hatte sich neuerdings mit einem leichten Personalmangel herumschlagen müssen. Nachdem die Kirche zum Ende des Großen Krieges hin vor einigen Jahren nicht alles hatte versprechen können, was sie zuvor angepriesen hatte, war es zu einer enormen Abwanderung der Angestellten in Ethos' Abteilung gekommen. „Wie Sie sehen können, befindet sich der Leichnam der jungen Frau in der Mitte des Raumes. Sie können sich gerne bei Fragen an Monsieur Pretout wenden, unseren Gerichtsmediziner.“ Ein kleiner untersetzter Mann mit einer dünnen Brille, der bisher still in der Ecke des Raumes gehockt hatte, hob die Hand zum Gruß. „Oder aber an mich, wenn nötig.“ Der quadratische Raum bot zwar nicht sonderlich viel Platz, aber er war ausreichend. An den Seiten türmten sich Regale mit allen möglichen Geräten. Ein kleines Waschbecken, das jedoch schon eine Ewigkeit nicht benutzt worden war und eine Ablage zum Schreiben rundeten die klinisch anmutende Einrichtung ab. Auch hier flackerten die Röhren an der Decke in einem wilden Tanz, doch spendeten sie um einiges mehr Licht als die Lampen in den Gängen. Vorsichtig zog Ethos das Leichentuch beiseite und musterte die junge Frau. Dazu hob er sein Diktiergerät und sprach einige Informationen hinein. „Ich befinde mich im Commissariat de Police in Joux. Vor mir liegt eine junge Frau, sechzehn Jahre alt zum Zeitpunkt des Todes, ihr Name ist Elise Picarde. Sie wurde gewaltsam durch einen Biss in den Hals getötet. An ihrem Körper befinden sich keine blauen Flecken. Dennoch muss sie sich vor ihrem Tod gegen jemanden gewehrt haben. Tiefe Kratzer an den Armen und Abschürfungen an den Oberschenkeln, deren Ränder keine Blutungen aufweisen, unterstreichen dies. Die Haut ist, aufgrund des fehlenden Blutes, extrem blass. Die Gesichtszüge der Frau sind erstarrt. Sie geben vermutlich den Ausdruck wieder, kurz bevor sie getötet wurde. Am besten lässt sich der Ausdruck als erschrocken, panisch und ängstlich, beinahe flehend beschreiben, die Frau wusste, dass sie dabei war, um ihr Leben zu kämpfen. Die komplette linke Seite ihres Halses ist heraus gerissen. Es stehen noch abgerissene Enden von durchtrennten Adern heraus. Durchtrennt wurden die besagten Adern und das Muskelfleisch wahrscheinlich durch tierähnliche Zähne, eher Fänge.“ Ethos diktierte alles, was ihm auffiel und was ihm Leonce an Wissen zur Verfügung gestellt hatte. „Gefunden wurde die Leiche von Passanten, die gerade die Rue Andrieux entlanggingen. Der Angreifer hat sein Opfer nicht in den nahe gelegenen Fluss geworfen, was vermuten lässt, dass er es durchaus darauf abgesehen haben könnte, dass man sie findet. Das Elternhaus des Opfers befindet sich jedoch einige Kilometer entfernt von der Fundstelle.“ Als Ethos mit den wichtigsten Informationen fertig war, holte er eine Dose und ein Messer hervor, um einige Haut- und Haarproben zu nehmen. Zudem machte er ein paar Fotos mit einer Kamera. Vorsichtig packte er alles wieder in seine Ledertasche zurück und hob sie an, um zu signalisieren, dass er fertig war. Kommissar Leonce hatte die gesamte Zeit daneben gestanden, zum Ärgernis des Gerichtsmediziners geraucht und mit glasigen Augen auf die Tote gestarrt. Erst als Ethos sich direkt vor ihn stellte, bemerkte er, dass der Priester mit ihm reden wollte. „Sie sagten, dass Sie noch etwas hätten, das mir bei meiner Suche behilflich sein könnte?“ „Sicher. Folgen Sie mir bitte.“ Indem er sich umwand und voranging, wies der Kommissar Ethos den Weg. Die zu einem wahren Labyrinth zusammengefügten Gänge mit ihren schmutzigen Wänden erinnerten den Priester an dunkle Katakomben. An einigen Stellen tropfte etwas Wasser auf den Boden und verursachte ein plätscherndes Geräusch. Immer wieder schaute Ethos hinauf, um zu vermeiden, von den Tropfen getroffen zu werden. Nachdem sie noch einige Male abgebogen waren, erstreckte sich eine Metalltreppe vor den beiden und Ethos war dankbar, dass sie anscheinend wieder nach oben gingen würden. Es war weniger die Gewissheit, dass um ihn herum Leichen lagen, als die unheilvolle Atmosphäre, die Ethos in Alarmbereitschaft versetzte. Als sie schließlich wieder in der Zentrale des Kommissariats angekommen waren, herrschte dort das altbekannte Chaos. Polizisten rannten sich gegenseitig fast über den Haufen, trugen Kaffeetassen durch die Gegend und behaupteten, dass ihr jeweiliger Auftrag das Höchstmaß aller Dinge darstellte. Die ausladende Halle fasste an die zweihundert Leute und es schien, als befänden sich auch genauso viele zurzeit in ihr. Tatsächlich wuselte nicht einmal die Hälfte an Menschen durch das Gebäude, aber ihre Hektik setzte die wenigen Individuen einem unaufhaltsamen Bienenschwarm gleich. Erneut führte Leonce Ethos durch einige Gänge, diesmal jedoch ohne große Umschweife direkt in sein Büro. „Bitte, nehmen Sie doch Platz.“ Indem er einen kleinen Eichenstuhl von dem riesigen Schreibtisch abrückte, bot der Kommissar seinem Besuch einen Platz an, der ihm gegenüber lag. Etwas widerwillig setzte Ethos sich, dann sah er dabei zu, wie sich Leonce eine weitere Zigarette ansteckte und sich ebenfalls hinsetzte. Kettenraucher, dachte Ethos ungerührt und legte die Hände in den Schoß. Nachdem Leonce einige unsinnige Sekunden verstreichen ließ, in dem Anliegen bemüht, alles so dramatisch wie möglich zu machen, öffnete er eine Schublade seines kahlen Schreibtisches und reichte tief hinein. Wenig später zog er seine Hand zurück, in ihr eine kleine Dose haltend. „Zuerst einmal - Sie wissen, womit wir es hier zu tun haben?“, fragte der Kommissar, nachdem er die Schublade wieder geschlossen und die Dose vor sich platziert hatte. „Sicher. Ich bin bestens aufgeklärt über das, was hier einige Straßen weiter vorgefallen sein soll. Und darüber, was Sie denken, wer oder was das gewesen ist.“ Um von dem Stuhl, auf dem er saß, an seine Tasche zu kommen, beugte sich Ethos etwas hinunter. Die Ledertasche auf seinem Schoss platzierend, griff er hinein und holte einige Dokumente heraus. „Der Papst ist gar nicht erfreut über Ihre Entdeckung. Konnten Sie sie wenigstens geheim halten?“ „Wir haben es so gut wie möglich versucht.“ „Versucht klingt für mich nicht nach einem eindeutigen Ja, Monsieur Leonce.“ Ein letztes Mal zog der Kommissar an seiner Zigarette, bevor er sie in dem Keramikaschenbecher, der neben ihm stand, legte. Er zog sich kurz am Kragen, an dem sich sichtbare Schweißflecken gebildet hatten. Bei einem weißen Hemd waren das eindeutige Nachteile. „Nun ja, Sie wissen, wie das heutzutage so ist, Monsieur Turino. Man kann noch so sauber arbeiten und alles unter Verschluss halten. Irgendjemand findet immer irgendetwas und lässt es an die Öffentlichkeit dringen.“ „Also weiß die Bevölkerung von Ihrem Verdacht?“ „Es gibt einige Gerüchte, aber ich denke nicht, dass diese sich lange halten werden. Wer glaubt schon an Vampire oder andere Monster?“ Mit einem hörbar aufgesetzten Lachen winkte Kommissar Leonce Ethos’ Einwände ab. Dazu zog er ein beflecktes Tuch aus seiner Tasche und tupfte sich den Schweiß von der Stirn. Hätte er die Gerüchte über den "Weißen Priester" nicht gehört – wer weiß, ob er diesen schmalen blonden Mann für die kaltblütige Person gehalten hätte, von der sich in seinen Kreisen erzählt wurde. Ethos Turino war ein schlanker Mann, dessen blonde Haare ihm bis knapp an die Schulter reichten. Die blauen Augen tasteten ihre Umgebung ab wie ein scharfer Laserstrahl und ließen nichts unentdeckt. Der goldene Ohrring, der in seinem linken Ohr steckte, hätte bei einem anderen Mann als unangemessen befunden werden können, doch der Priester wirkte keinesfalls lächerlich damit. In seinen Mundwinkeln hatte sich eine eisige Härte eingenistet, die selbst in den Momenten, in denen Ethos erfreut schien, nicht ganz verschwinden konnte. Wenn er lachte, was nicht allzu häufig vorkam, kam es mehr einem belustigten Grinsen gleich. Ein makelloser weißer Kleidungsstil, bestehend aus Mantel, Hemd und Tuchhose (die schwarzen Schuhe waren das einzige, das Ethos in einer anderen Farbe erwarb) und die dazu passenden Handschuhe rundeten sein Erscheinungsbild ab. Inzwischen hatte Ethos das oberste Papier von dem Stapel in die Hand genommen und reichte es an Leonce weiter. „Das hier ist der Auftrag seiner Heiligkeit persönlich. Entweder, Sie sagen mir die Wahrheit und kooperieren, oder aber ich bin dazu berechtigt, sie mit allen Mitteln herauszufinden.“ Indem er seine Hände hob, deutete Leonce seinem Gesprächspartner, dass er bereit war, ihm die Wahrheit zu sagen. Langsam drückte der Kommissar seinen Zigarettenstummel aus und sah dann wieder zu Ethos herüber. Er musste das Dokument nicht erst lesen um zu wissen, was in ihm stand. Die unbegründeten Drohungen ärgerten Leonce zwar, doch er ließ sich davon nicht allzu viel anmerken. „Also gut Herr Turino. Was wollen Sie wissen? Oder eher gesagt, was wissen Sie denn noch nicht?“ „Zuerst einmal ist es wichtig zu wissen, wie viele Menschen hier von den Gerüchten Kenntnis genommen haben.“ „Um ehrlich zu sein geht das Gerücht zwar seine Bahnen, jedoch werden diejenigen, die ernsthaft daran glauben, als Spinner und Idioten bezeichnet. Immerhin leben wir im zwanzigsten Jahrhundert. Da leider Bürger die Leiche entdeckt haben, ließen sich die Gerüchte jedoch nicht vermeiden. Die Presse hat sich auch eingeschaltet. Sie wurden von uns aber gezielt mit falschen Informationen gefüttert, um den Aufruhr abzuschwächen. Demnach gehe ich davon aus, dass der Großteil Kenntnis genommen hat, sich die Situation aber sehr bald wieder beruhigen wird.“ „Gut, dann wäre dieser Punkt geklärt.“ Mit einem goldenen Kugelschreiber hakte Ethos einen der Sätze, die sich auf dem Papier befanden, ab. „Was lässt Sie vermuten, dass die Verstorbene von Vampiren oder Monstern angegriffen wurde?“ In diesem Augenblick sah Ethos, wie sich etwas in dem Blick des Kommissars veränderte. Die Angst wich etwas aus seinen Augen und auch die Farbe kehrte allmählich in sein speckiges Gesicht zurück. Anscheinend hatte er sich seinen größten Triumph bis zum Schluss aufbewahrt. „Nun, um das zu klären, möchte ich gerne hierauf zu sprechen kommen“, sagte Leonce ruhig und nahm die Dose erneut in die Hand. „Wir haben dieses Beweisstück im Hals der jungen Frau gefunden, die Sie eben untersucht haben. Es handelt sich um einen Zahn. Einen Zahn mit unmenschlichen Ausmaßen.“ Lächelnd schob der Kommissar Ethos die Dose über den Tisch zu. Da das kleine Gebilde nicht durchsichtig war, öffnete Ethos den Deckel und griff vorsichtig hinein. Zwischen seinen Fingerspitzen förderte er einen braun-gelben Gegenstand zutage, der bei genauerer Betrachtung tatsächlich einem Zahn ähnlich sah. Zum Glück hatte er sich Handschuhe angezogen „Dieser Zahn sieht mir ziemlich abgenutzt aus. Was macht Sie so sicher, dass es sich nicht um den Zahn eines Hundes handelt?“ „Unsere Mediziner haben den Zahn bereits untersucht. Zuerst dachten wir, die junge Frau könnte auch von einem großen Hund oder einem Wolf angefallen worden sein. Jedoch konnte der Zahn keiner bekannten Rasse zugewiesen werden.“ „An sich ist das aber noch kein Beweis für Vampire.“ „Das nicht. Aber sie haben sich daran gemacht, das Alter des Zahns zu knacken. Und dieses liegt deutlich über hundert Jahre.“ Um sich wieder einmal eine Zigarette anzustecken, machte Kommissar Leonce eine Kunstpause. „Wir können nicht sagen, wie alt der Zahn genau ist, aber er ist definitiv älter, als ein Hund oder ein Wolf alt werden kann.“ „Sie haben nichts dagegen, wenn ich Ihren Fund mitnehme?“ Etwas widerwillig musterte Leonce den Priester, doch er wusste, dass es besser wäre, diesem seinen Willen diesbezüglich zu gewähren. „Sicher. Nehmen Sie den Zahn mit. Ich möchte Sie lediglich darum bitten, mir Bescheid zu geben, sobald Sie zu einem Ergebnis gekommen sind.“ „Natürlich.“ Mit diesen Worten legte Ethos den Zahn zurück in die Dose und verschloss diese sorgfältig. Danach verschwand der Gegenstand in seiner Tasche, zusammen mit all den anderen Utensilien. „Haben Sie sonst noch irgendwelche Fragen, Monsieur Turino?“ „Würden Sie mir freundlicherweise die Daten durchgeben, an welchem Ort die junge Frau Ihrer Meinung nach genau ums Leben gekommen und wo sie aufgefunden worden ist? Ich würde mir gerne in den nächsten Tagen den Tatort noch einmal genauer ansehen.“ „Aber sicher doch. Am Empfang habe ich einen Umschlag für Sie hinterlegen lassen. In diesem befinden sich die wichtigsten Informationen über den Fall in einer Zusammenfassung. Zudem habe ich Ihnen einige Angaben hinzugelegt, die Ihre Unterkunft für die nächsten Tage betreffen. Ich dachte mir, dass Sie möglicherweise interessiert daran sein könnten, wo genau wir Sie einquartiert haben. Ein Vorteil des Hauses, in dem Sie residieren, ist, dass es sich in der Nähe des Elternhauses des Opfers befindet. Für eventuelle Befragungen der Anwohner also eine überaus günstige Position.“ Ethos konnte den Stolz, mit dem Leonce ihm die Gründe seiner Wahl vortrug, geradezu spüren. „Vielen Dank. Ansonsten wäre ich soweit erst einmal fertig für heute.“ Indem er sich verabschiedete, stand Ethos auf und ließ sich von dem Kommissar noch bis zum Empfang bringen, bevor der Priester seiner eigenen Wege ging. Vor dem Kommissariat hatte er sein Pferd angebunden, eine Fuchsstute mit blonder Mähne, dem er nun die mitgebrachte Tasche überwarf und sich schließlich selbst in den Sattel schwang. Zwar war es inzwischen bei dem reicheren Teil der Bevölkerung in Mode gekommen, sich ein Automobil zuzulegen, doch bekanntlich dauerte es eine Weile, bis der Fortschritt auch in die Gefilde des Vatikans einzog. Zudem besaß Ethos keinen großen Anreiz, sich auf ein Stück Blech zu verlassen. Ihm gefiel das Reisen auf dem Rücken eines Pferdes. Langsam trottete die Fuchsstute, die auf den Namen Bellezza hörte, durch die schmutzigen Gassen der kleinen französischen Stadt, schnaubte zufrieden aus und ließ entspannt den Kopf hängen, während knatternd einige Autos an ihr und ihrem Reiter vorbeizogen. Durch den langen Ritt war das Tier so ruhig, dass es nicht einmal scheute, als ein lautes Hupen ertönte. Auch Ethos kümmerte sich nicht weiter darum, da der nervende Laut nicht ihm, sondern einem scharf bremsenden Fahrzeug auf der Straße gegolten hatte. Um seine Bleibe zu erreichen, musste Ethos in den Vorort von Joux reisen. Nur so war ein Stall für sein Tier gewährleistet, da sich die Stadt rasend schnell verändert hatte. Inzwischen war es schwierig, überhaupt noch in irgendwelchen Städten Stallungen für Pferde zu finden, die noch unbenutzt waren, selbst wenn sie nach wie vor bei Polizisten und Soldaten als geschätzte Tiere galten. Für sein Pferd hatten die Polizisten hier jedoch nichts übrig. Doch auch daran störte sich Ethos nicht, denn immerhin sicherte ihm eine Unterkunft außerhalb des städtischen Zentrums auch eine bessere Nachtruhe. Nach einer Stunde erreichte Ethos ein altes Herrenhaus, welches sich perfekt in die ländlich wirkende Silhouette der Vorstadt einzufügen schien. Soweit Ethos dies beurteilen konnte, lag das Haus zwar etwas weit ab vom Schuss, das würde ihn jedoch vorerst davor bewahren, allzu fragenden Blicken der ansässigen Bewohner ausgesetzt zu werden. Ob die Franzosen ihn als waschechten Italiener überhaupt schätzen würden, blieb ebenso fraglich. Ein langer Kiesweg führte hinauf zu dem Haus und war von verwilderten Büschen umrahmt. Einige Ranken hingen bis auf den Weg hinunter und Ethos stieg lieber ab, um die Fuchsstute an den Zügeln sicher um die Stolperfallen herumzuführen, außerdem musste er das schwarze Tor aus Gusseisen aufschließen, um Zugang zu dem Weg zu erlangen. Das fahle Mondlicht war die einzige Lichtquelle, die dem Priester gegeben war und er fluchte einige Male, als er über Wurzeln von festem Unkraut strauchelte. Nachdem er sich halbwegs über die Pflanzen hinweg gekämpft hatte, war Ethos an der ehemals weißen Haustür angekommen, die nun vor Dreck eine gräuliche Farbe angenommen hatte. Auch die Fensterrahmen sahen nicht besser aus und die roten Backsteine des zweistöckigen Gebäudes waren vereinzelt von Moos bedeckt. Ethos ging um das Haus herum, um zum Stall zu gelangen. Die Nase rümpfend öffnete er die dünne Holztür, die in das gelb gestrichene Gebilde führte. Einige Boxen waren zu erkennen und Ethos stellte die Stute in die größte, die er finden konnte. Zumindest hatte man seiner Bitte, frisches Stroh und Heu zur Verfügung zu stellen, Folge geleistet. Etwas abseits des Gemäuers lagen einige Ballen, die Ethos zu der Box schleppte und auf dem Boden verteilte. Als er fertig war und dem Tier Sattel und Zaumzeug abgenommen und frisches Wasser bereitgestellt hatte, machte Ethos sich auf den Weg in das Innere des Herrenhauses. Die Tür quietschte laut, als er sie öffnete. Sofort kam Ethos ein modriger Geruch entgegen. Elektrischen Strom schien es nicht zu geben, weshalb er eine Kerze anzündete, die glücklicherweise auf der Kommode am Eingang stand. Links neben dem Flur führte eine Treppe hinauf, doch Ethos schaute sich erst einmal unten um. Ein großes Kaminzimmer mit einem alten Billardtisch und Durchreiche zur großen Küche, ein Badezimmer, ein Lesezimmer und ein riesiger Wohnbereich, der komplett möbliert war, standen ihm hier zur Verfügung. Da er einen Kerzenständer entdeckt hatte, zündete Ethos erst einige von den halb herunter gebrannten Kerzen an und nahm den Ständer mit, bevor er in das Kaminzimmer ging. Dieses hatte er sich ausgesucht, da er in dem Schrank eine beachtliche Sammlung an exklusiven Schnäpsen entdeckt hatte, die passenden Gläser standen praktischerweise genau daneben. Aus dem Wohnbereich holte sich Ethos zudem einen kleinen Tisch und einen Stuhl, um seine Dokumente darauf zu verbreiten. Seinen weißen Mantel warf Ethos über die Lehne. Kurz darauf holte er die Plastikdose mit dem Zahn heraus und stellte sie neben die Dokumente auf den Tisch. Mit verschränkten Armen betrachtete Ethos das Fundstück. Er atmete tief durch, gähnte einmal laut und schüttelte dann den Kopf. Während er ein Glas Brandy an seine Lippen führte, öffnete er mit der anderen Hand die Dose. Mit einem ploppenden Geräusch flog der Deckel durch die Luft. Danach senkte Ethos das Behältnis und der Zahn purzelte auf den Tisch. Mehrere Male hielt er ihn gegen das Kerzenlicht, drehte und wendete ihn, bis er ihn schließlich wieder zurück in die Dose legte. Um sich die Papiere mit den zusätzlichen Informationen anzusehen, öffnete Ethos den Umschlag aus dem Kommissariat. Über den Fall Elise Picarde waren keine aufschlussreichen Besonderheiten herauszulesen. Mit der Ausnahme der Adresse des Elternhauses und einer Karte, auf der der Fundort des Leichnams markiert war, konnte Ethos nichts Neues entdecken. Leonce teilte ihm zudem mit, dass er sich in dem Anwesen der Familie Gargon befand. Das Haus stehe erst seit kurzem leer, zuvor habe sich ein Junge namens Christopher um seinen kranken Vater gekümmert. Nachdem der Vater verstorben war, habe es Christopher nicht mehr länger ausgehalten und sei wieder verzogen. Das Gut ging in den Besitz der Stadt über. Welche sich im Übrigen sehr erfreut darüber zeige, dass ein geweihter Mann sich des Problems annehmen würde. Die Menschen hier wären noch immer relativ abergläubisch und Ethos solle sich daher nicht von ihren Geschichten in die Irre führen lassen. Außerdem habe Leonce eine Einheit zusammengestellt, welche zusammen mit Ethos in den Wald, in dessen Nähe die Leiche gefunden worden war, reiten und nach merkwürdigen Erscheinungen Ausschau halten solle. Sie würden ihn morgen zum späten Nachmittag erwarten, damit sie zu Sonnenuntergang los reiten könnten. Ethos zerknüllte den Brief mit seiner Handfläche und warf ihn auf den Boden. Wahrscheinlich war Leonces Plan, irgendwelche Vampire zu finden, von denen er wohl glaubte, sie würden sich lediglich in der Nacht zu erkennen geben und im Wald verstecken. Aufgrund von so viel Ignoranz und Unwissen konnte Ethos nur den Kopf schütteln. Angeblich sollte die Patrouille in den Wald erfolgen, damit sich die Bewohner von Joux wieder sicherer fühlten. Vor einigen Stunden hatte der Kommissar noch versichert, dass es lediglich Gerüchte über Vampire gab, diese jedoch keine besonders hohe Wichtigkeit einnehmen würden. Möglicherweise war Leonce auch nur durcheinander gewesen oder hatte Angst vor Ethos‘ Erscheinungsbild gehabt. Ein Umstand, dem Ethos sich häufiger ausgesetzt sah. Andererseits eröffnete ihm genau dieser Umstand auch Möglichkeiten, die ihm dabei halfen, seine Aufträge schneller und effizienter zu erledigen. Seinen eigenen Plan, sich in der Nachbarschaft umzuhören, würde Ethos wohl trotzdem auf einen anderen Tag verlegen müssen. Obwohl Ethos sich bereits nach Schlaf sehnte, nahm er sich die Zeit, den Zahn noch einmal zu untersuchen und seine Echtheit zu überprüfen. Dafür holte er einige weitere Materialien aus seiner Tasche, unter anderem zwei verschiedene Flüssigkeiten. Eine davon träufelte er über den Zahn, wartete einige Minuten und packte ihn dann in die andere Flüssigkeit. Er wartete erneut, holte den Zahn heraus und trocknete ihn vorsichtig ab. Inzwischen hatte der Zahn eine leicht blaue Verfärbung angenommen, ähnlich der hässlichen Tapeten seiner Unterkunft. Er war also definitiv echt. Nun holte Ethos seufzend die Fotos und sein Diktiergerät heraus, um sich intensiver mit dem Fall der toten Elise Picarde vertraut zu machen. Vorher nahm er einen weiteren Schluck Brandy zu sich. Zwar hatte er es bereits befürchtet, doch die Überprüfung des Zahns hatte es noch einmal bestätigt – der Vatikan hatte es hier mit einer echten Ausgeburt der Hölle zu tun. Doch wie diese genau aussah und über welche übermenschlichen Fähigkeiten sie verfügte, würde sich erst noch herausstellen. Kapitel 2: Kapitel 02 --------------------- Kapitel 02 Als Ethos um die Nachmittagszeit sein Pferd sattelte, steckte ihm noch immer die Anstrengung des langen Rittes vom Vortag in den Knochen. Schwerfällig ließ er sich auf Bellezzas Rücken sinken und auch die Fuchsstute schien wenig begeistert darüber, sich erneut in Bewegung setzen zu müssen. Für Ethos war dies eine der ersten trügerischen Spuren, die das fortschreitende Alter mit sich brachte. Früher hatten ihm die oftmals tagelangen und anstrengenden Reisen nicht so viel ausgemacht. Die Pforte vor seiner Unterkunft ließ er offen, alles, das ihm wichtig erschien, führte der Priester mit sich. Bevor er das Gelände des Herrenhauses verlassen würde, ging Ethos den für den heutigen Abend geplanten Ablauf noch einmal in Gedanken durch. Um sich vor dem zu schützen, was möglicherweise auf ihn zukommen würde, trug Ethos einen geladenen Revolver bei sich. Sechs Schuss würden für einen einzelnen „Vampir“ ausreichen, zumal es sich um gesegnete Kugeln direkt aus dem Vatikan handelte. Zur Sicherheit steckten noch einige Patronen in seiner Satteltasche. Zusätzlich hatte er noch einen Dolch und einen spitz zu geschliffenen Holzpflock eingepackt. Eines der Dinge, die der Vatikan vehement unter Verschluss zu halten versuchte, war die Produktion eigener Waffen, die speziell für die Aufgaben der Abteilung ausgelegt waren. Langsam trottete Ethos' Pferd den abgesteckten Sandweg entlang. Hier würde bald eine geteerte Straße entstehen, um dem Vorort einen geeigneten Weg zur Innenstadt zu bereiten, auf welchem auch Autos ohne Probleme vorankamen. Nachdem er schon einige Minuten unterwegs war, hörte Ethos das laute Knarren von altem Holz. Am Horizont tauchte ein Karren auf, der von einem grauen Esel gezogen wurde. Auf der Ablage des Karren war ein großer Haufen Heu zu sehen, davor ein alter Bauer mit einer knollenartigen Nase, dicken Augenbrauen und buschigem schwarzen Haar. Ein Bart wuchs über seiner Oberlippe, seine Kleidung wirkte dreckig und abgenutzt. Als Ethos sich auf der Höhe des Bauern befand, hielt er an. „Entschuldigen Sie, aber Sie haben nicht zufällig vor, das Heu noch einige Kilometer weiter in den Osten von Joux zu transportieren oder?“ Sichtlich irritiert hielt der Bauer seinen Wagen ebenfalls an. „Doch, doch, Monsieur. Ich lebe dort und fahre jeden Tag das Heu in die Stadt, finde jedoch kaum noch Abnehmer außerhalb der umliegenden Gemeinden.“ „Nun, dann möchte ich Sie darum bitten, mir das Heu zu verkaufen. Für mein Pferd. Alles. Wie viel möchten Sie dafür haben und würden Sie es bis zu meinem Stall fahren?“ „Natürlich, gerne Monsieur“, begann der Bauer erfreut und seine Miene hellte sich auf. „Ich gebe Ihnen das gesamte Heu für fünf Franc. Wohin soll ich es denn bringen? Ich habe Sie noch nie hier in der Gegend gesehen. Sind Sie ein Priester?“ Dass es sich bei Ethos um einen Priester handelte, mochte der Mann lediglich an dem bronzenen Kreuz, welches er um den Hals trug, erkennen. Ethos griff in seine Tasche, um die fünf Franc heraus zu holen. „Mein Name ist Ethos Turino. Ich befinde mich einige Zeit im Lande, um einige... Vorkommnisse zu untersuchen. Ich bitte Sie darum, mir das Heu zu dem Anwesen der Gargons zu fahren. Sie wissen doch sicherlich, wo sich dieses befindet oder?“ Sofort war das Lachen aus dem Gesicht des Bauern verschwunden. Fast wäre ihm das Geld, welches Ethos ihm gegeben hatte, aus der Hand gefallen. Ethos sah, wie sich leichter Schweiß auf seiner Stirn bildete. „Das Anwesen der Gargons? Ich bringe Ihnen das Heu. Aber nur bis vor die Pforte. Keinesfalls werde ich dieses verfluchte Land betreten. Niemals.“ „Warum nicht?“ „Sie als Heiliger mögen der einzige sein, der sich auf dem Gelände bewegen kann, ohne verflucht zu werden. Aber nach dem, was dem armen Mädchen passiert ist... Nein, wie gesagt, ich werde Ihnen das Heu gerne bis an die Pforte bringen.“ „Aber dann könnte es sein, dass es mir jemand klaut, bevor ich zurück komme“, erwiderte Ethos. Das zufällige Gespräch, das er hier führte, erwies sich als äußerst informativ. „Ich denke nicht, dass sich jemand auch nur in die Nähe des Anwesens trauen wird. Sie werden das Heu mit Sicherheit vorfinden, wenn ich es davor ablagere. Niemand traut sich mehr auch nur einen Meter weiter an das Anwesen heran als nötig.“ „Wieso das?“, fragte Ethos und legte die Stirn in Falten. „Wussten Sie es nicht? Das Haus ist verflucht. Noch vor einigen Wochen haben die Gargons darin gewohnt. Christopher und sein Vater. Den Vater hat niemals jemand zu Gesicht bekommen. Ohnehin war der Junge merkwürdig. Die Frauen, diese dummen jungen Dinger, waren ihm natürlich alle der Reihe nach verfallen. Doch die Männer konnte er mit seinem Charme nicht täuschen. Wir wussten alle von Beginn an, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Kurz zuvor war die Familie mitsamt den Bediensteten, welche vorher auf dem Gut gelebt haben, verschwunden. Wahrscheinlich hat er sie getötet oder so etwas in der Art. Genau wie die Tochter vom Picarde.“ „Picardes Tochter soll von jemanden ermordet worden sein, der in diesem Haus gelebt hat?“ „Wissen tun wir es nicht. Aber man spürt es förmlich. Warum ist denn der Junge so schnell abgehauen, nachdem man Elises Leiche gefunden hatte? Das war bestimmt kein Zufall.“ „Und seitdem denken alle, das Haus sei verflucht?“ „Natürlich. Kaum eine Generation hat einen Einzug in das Haus jemals überlebt.“ Ethos zog eine goldene Taschenuhr aus der Brusttasche seines Hemdes und warf einen kurzen Blick darauf. Er würde dieses Gespräch vorzeitig abbrechen müssen, wenn er rechtzeitig bei dem vereinbarten Treffpunkt mit Leonce erscheinen wollte. „Wie ist Ihr Name?“ „Gerald Durand.“ „Hören Sie, Monsieur Durand, bitte bringen Sie das Heu so weit, wie Sie sich trauen zu dem Anwesen, in welchem ich residiere. Könnte ich morgen bei Ihnen vorbei kommen, um mich weiterhin über die mysteriösen Gegebenheiten des Anwesens zu informieren?“ Ethos holte weitere zehn Franc aus seiner Tasche und reichte sie Durand. Zwar war es in den meisten Fällen nicht nötig, den kleinen Mann zu bestechen, da Leute wie Durand sehr froh waren, wenn sie einen Priester in ihrem Haus wussten, doch Ethos wollte den Kontakt auf keinen Fall verlieren. „Ich wäre Ihnen äußerst verbunden für Ihre Hilfe. Allerdings muss ich heute einen wichtigen Termin wahrnehmen, weshalb ich dringend weiter muss.“ Durand starrte kurz das Geld an, bevor er es nahm und stumm zur Antwort nickte. Zufrieden verabschiedete sich Ethos, nachdem er sich darüber informiert hatte, wo Durand wohnte und setzte seinen Weg fort. Warum ihm Leonce nichts von diesem speziellen Umstand seiner Unterkunft hatte verlauten lassen, würde er zur nächstbesten Gelegenheit noch aus ihm heraus bekommen müssen. Möglicherweise handelte es sich um eine der Spinnereien, vor denen Leonce ihn in seinem Schreiben gewarnt hatte. Doch die Angst des Bauern kam Ethos durchaus real vor. Harmlose Spinner versuchten in der Regel ihre Geschichten mit übertriebenen Anekdoten auszuschmücken, dieser Mann wiederum hatte nicht den Anschein gemacht, besonders gerne über das Anwesen und dessen Bewohner zu sprechen. Irgendetwas war an diesem Auftrag faul. Und Ethos wusste, dass sein Gespür ihn noch nie betrogen hatte. Als Ethos bei dem Wald, der ihm als Treffpunkt genannt worden war, ankam, war eine halbe Armee an Polizisten gerade dabei, mit ihren Pferden anzurücken. An der Spitze des Unternehmens stand ein junger Leutnant mit dem Namen Marc Chantier, welcher die übrigen Polizisten führte. Lieber wäre es Ethos gewesen, alleine zu fahnden, doch das hatte der Kommissar ihm bereits einen Abend zuvor strikt untersagt. Es war immer das gleiche - die vor Ort ansässige Polizei bestand unbedingt darauf, bei allem dabei zu sein, was die Gesandten der Abteilung so trieben. Und der Vatikan machte nicht einmal die kleinsten Anstalten, dies zu verhindern. Genau genommen waren die Priester, welche für die Aufklärung und die Beseitigung der Ungetüme, mit denen sie sich herum schlagen mussten, beauftragt wurden, sogar den Zivilisten unterstellt. Wieder einmal eine der völlig nutzlosen Regelungen, die aufgestellt worden waren, um den Vatikan in ein besseres Licht zu rücken. Chantier streckte mit einem überheblichen Lächeln die Hand zum Gruß aus. Widerwillig gab Ethos ihm die seine. Auf der Brust des jungen gutaussehenden Mannes befanden sich allerlei Orden und Abzeichen. „Wenn wir heute Abend heraus reiten um einige Vampire zu töten, bleiben Sie lieber in der Mitte der Abteilung, die ich zu Ihrem Schutz zusammengestellt habe.“ Anstatt dem Mann ins Gesicht zu spucken, lächelte Ethos ihm in ebendies. „Sie sind dort besser aufgehoben, die Spitze wird aus erfahrenen Polizisten mit bester Bewaffnung bestehen.“ Wer noch wessen Hilfe benötigen würde, würde sich tatsächlich ein Wesen der Dunkelheit nähern, konnte Ethos später klären. Jetzt ging es erst einmal darum, zu verstehen, warum dieses sinnlose Unternehmen überhaupt ins Leben gerufen wurde. Hätte Leonce Ethos zu Rate gezogen bevor er seine Planung gemacht hatte, hätte Ethos ihm erklären können, wie unklug diese war. In der Nacht würden die Wesen der Finsternis einen klaren Vorteil beziehen können. Das fehlende Licht in einem dazu dicht bewachsenen Wald konnte zum Verhängnis werden. Besser wäre es gewesen, das Wesen der Dunkelheit aus seinem Versteck zu locken und auf einem besser zu überschauenden Gelände zu stellen. Zum Beispiel auf der von wenigen Bäumen unterbrochenen Wiese wie diejenige, auf der sie sich gerade befanden. Die Pferde der Polizisten wirkten ebenfalls sehr unruhig. Dies kümmerte zwar Ethos nicht sonderlich, da Bellezza ein Tier war, auf das er sich blind verlassen konnte, aber die Sicherheit der anderen Reiter war definitiv noch weniger gegeben als ohnehin schon. Nicht umsonst hatte er eine jahrelange Ausbildung absolvieren müssen, bevor er richtig in der Lage gewesen war, mit den übernatürlichen Kräften zu kämpfen. Reine Überlegenheit in den Zahlen konnte manchmal überhaupt gar nichts wert sein. „Monsieur Turino, wie ich sehe, haben Sie sich bereits mit Ihrem Begleiter bekannt gemacht“, ertönte Leonces Stimme hinter Ethos. „Ich habe Ihnen einen meiner besten und fähigsten Männer gegeben, um sicher zu sein, dass Sie bestmöglich geschützt sind.“ Leonce, mit einer obligatorischen Zigarette im Mundwinkel, trat an den mindestens einen Kopf größeren Leutnant heran und klopfte diesem auf die Schulter, nachdem er sich nach oben gestreckt hatte. Sichtlich geschmeichelt schwoll das Grinsen in Chantiers Gesicht weiter an. Auch Ethos rang sich zu einem weiteren Lächeln durch. „Glauben Sie mir, Monsieur Leonce, um mich müssen Sie sich am wenigstens Sorgen machen.“ Für einen kurzen Augenblick war ein erzürntes Flackern in den Augen Chantiers zu sehen. „Ich käme auch wunderbar allein zurecht. Ich möchte Sie gerne noch einmal darauf hinweisen, dass wir es hier eventuell nicht mit einem gemeinen Strauchdieb zu tun haben, der hinterher die Leiche eines unschuldigen Mädchens verunstaltet hat. Hier könnten übernatürliche Kräfte im Spiel sein. Kräfte, die denen Ihrer Männer weitaus überlegen sind.“ Nun entwich das Grinsen auf Chantiers Mund vollends. „Obwohl auch ich ein gläubiger Mensch bin und Priester wie Sie durchaus respektiere, möchte ich gerne wissen, wie ein schmächtiger Mann wie Sie, der sein Leben dem Studium der Bibel gewidmet hat, sich gegen ein Monster verteidigen will. Und das auch noch alleine.“ Ethos hätte Chantier viele Gründe nennen können, weshalb gerade er, einer der wenigen Priester die ein hartes Spezialtraining durchliefen, sich durchaus alleine verteidigen konnte. Nur zu gern hätte er den Leutnant am Arm gepackt, diesen auf den Rücken gedreht und ihn zu Boden gerungen. Doch da dies zu unnötigen Scherereien geführt hätte, mit der Folge einer Beschwerde, argumentierte Ethos mit den Sätzen, die man hier anscheinend von einem Priester erwartete. „Durch meinen Glauben. Mein Glaube ist mein Schild.“ Chantier begann lauthals zu lachen. „Ihr Glaube? Ich bitte Sie...“ „Sie sagten gerade, dass Sie ebenfalls ein Mann wären, der an Gott glaubt. Denken Sie nicht, dass Sie durch ihn geschützt werden?“ „So wie Madame Picarde? Auch unser letztes Opfer war ein gläubiges Mädchen, das jeden Sonntag brav in die Kirche ging. Hat sie das letztendlich vor ihrem Angreifer geschützt?“ „Das reicht jetzt“, sagte Leonce genervt und trat zwischen Ethos und Chantier, dabei warf er seine Zigarette auf den Boden und trampelte sie aus. „Sie, Monsieur Turino, möchte ich bitten, mit mir zu kommen, damit wir die Patrouille besprechen können. Und Sie, Leutnant Chantier, kümmern sich um Ihre Männer. Ich möchte, dass Sie in wenigen Minuten komplett einsatzbereit sind.“ „Jawohl. Monsieur Kommissar.“ Einen strammen und übertriebenen Gruß ausführend, wand sich Chantier ab und ging zurück zu der Ansammlung an Polizisten. Ethos dagegen folgte Leonce. Für ihn waren der Leutnant und sein Gefolge bereits eine Horde toter Männer. Während er Leonce folgte, schaute Ethos noch einmal zurück zu dem Wald. Die Sonne färbte die einzelnen Blätter der Kronen blutrot. Nicht mehr lange und das dichte Blattwerk würde jeden letzten Sonnenstrahl, der sich seinen Weg hindurch zu kämpfen versuchte, gnadenlos verschlucken. Auf der Westseite führte ein kleiner Weg in den Wald hinein. Es war der einzige bearbeitete Weg, auf dem er und die Polizisten mit den Pferden reiten konnten. Zu zweit nebeneinander würde es schon eng werden, ein weiterer Nachteil. In der Ferne plätscherte leise etwas Wasser, wahrscheinlich der Bach, an dem auch die Leiche von Elise Picarde gefunden wurde. Leonce war an einem kleinen Tisch angekommen, welchen er als improvisierte Kommandozentrale nutzte. Auf dem Tisch lag eine Karte, die das Wegenetz innerhalb des Waldes wiedergab. „Wir haben alles, was man benötigt, um einen Vampir, sollte es denn einer sein, zu töten. Weihwasser, Knoblauch, Holzpfähle. Es wäre doch gelacht, wenn wir den Bastard nicht zur Strecke bringen könnten. Selbst wenn es sich um einen Menschen handeln sollte, wie ich es vermute, wird er einen Pflock in seinem Herzen mit Sicherheit nicht überleben. Aber damit können wir den Abergläubigen in unserer Mitte vielleicht etwas zur Ruhe verhelfen.“ Nachdem er Ethos darüber aufgeklärt hatte, was in dem Wald genau passieren sollte, versuchte dieser den Kommissar davon zu überzeugen, dass er seine Männer in den sicheren Tod schicken würde, sollten sie auf einen „Vampir“ stoßen. Um die Ernsthaftigkeit der Situation zu unterstreichen, hatte es Ethos sogar damit versucht, Leonce die Definition der Kirche zu geben, die diese für ihre sogenannten Vampire erforscht hatte. „Genau genommen basiert das, was Sie über Vampire zu wissen glauben, auf den stumpfen Überlieferungen des Volksglaubens.“ „Wie meinen Sie das?“ Leonce zündete sich eine Zigarette an und lehnte sich an einem Baum zurück. „Weihwasser, Knoblauch, Holzpfähle...“ „Werden Ihren Männern nicht das Überleben sichern. Eine der wenigen Wahrheiten, die sich dahinter verstecken, ist, dass Vampire anfällig auf das Sonnenlicht reagieren. Ihre Kräfte werden dadurch geschwächt, das ist richtig. Aber die Sonne bringt sie längst nicht dazu, zu Staub zu zerfallen. Und die Sache mit dem Holzpflock ist ebenfalls relativ banal. Das überlebt in der Tat kein Lebewesen, wenn man ihm einen spitzen Gegenstand in das Herz rammt. In meinem Metier macht man keine Unterschiede zwischen Vampiren und Dämonen. Vampire sind Dämonen, die bestimmte Eigenschaften besitzen.“ Insgeheim hoffte Ethos, dass das Wort „Dämon“ Leonce dazu bewegen würde, die Sache anders zu sehen. Viele Menschen fürchteten sich noch mehr vor Dämonen als vor Vampiren. „In den Überlieferungen erscheinen einige Fetzen von Erzählungen, in denen es vielleicht einen von hunderttausenden Dämonen gegeben hat, der tatsächlich so dermaßen anfällig auf Sonnenstrahlen reagiert hat, dass er dadurch getötet wurde. Aufgrund der unterschiedlichen Erscheinungen hat man den Kreaturen verschiedene Namen gegeben. Dämonen, Werwölfe, Vampire. Es handelt sich immer nur um Dämonen. Der Zahn, welchen Sie mir gegeben haben, er ist echt. Das wiederum bedeutet, dass wir es mit einem echten Dämonen zu tun haben könnten.“ Der Ausdruck, mit dem Leonce Ethos ansah, wurde immer zweifelnder. Offensichtlich glaubte er Ethos nicht oder schätzte die Gefahr noch immer zu gering ein. „Welchen Unterschied macht es, ob wir einen Dämon jagen, der die Eigenschaften eines Vampirs besitzt oder einen tatsächlichen Vampir?“ „Einen sehr großen. Weil ein Dämon nicht so leicht zu töten ist wie das, was man im Volksmund einen Vampir nennt. Und die Gefahr, die von Vampiren ausgeht, somit deutlich unterschätzt wird.“ Noch immer wirkte Leonce nicht überzeugt. Er beugte sich vor und drückte seine Zigarette auf dem Boden aus. Eine Weile lang wirkte er, als hätte er nichts von dem, was Ethos ihm die letzten Minuten erzählt hatte, wahrgenommen. Nachdem er sich intensiv die Augen gerieben hatte, schien er endlich zu einer Antwort bereit. „Wie auch immer Sie die Sache sehen, wir werden sie so durchziehen, wie wir es geplant haben. Sie reiten mit meinen Männern in den Wald und finden die Bestie. Hoffentlich noch heute Nacht. Als mein Kollege die Kirche zu dem Fall hinzugezogen hat, muss ich Ihnen gestehen, war ich mehr als skeptisch. Bin es immer noch. Denn ich glaube eigentlich nicht an Geister, Vampire, oder sonstigen Mist. Meiner Meinung nach handelt es sich bei dem Täter um einen Psychopathen, der die Leiche hinterher so angeordnet hat, dass es nach irgendwelchem übernatürlichen Spuk aussieht. Was auch der Grund sein könnte, weshalb das Alter des Zahns nicht ermittelt werden kann. Wahrscheinlich eine Fälschung. Selbst wenn Sie behaupten er wäre echt mit Ihren komischen Methoden. Zugegeben, anfangs war ich noch überzeugt, dass es sich wirklich um eine übernatürliche Kreatur handeln könnte, doch nach intensivem Nachdenken bin ich zu dem Schluss gekommen, dass das unmöglich ist. Deshalb werde ich Sie nicht alleine in das Gebiet reiten lassen. Ich möchte nicht, dass bald die nächste Leiche auf meinem Tisch liegt.“ Ethos erkannte, dass das letzte Wort in der Sache für Leonce bereits gefallen war und nichts mehr seine Meinung ändern würde. Der Priester richtete sich auf, straffte sein weißes Hemd und machte sich auf den Weg in Richtung Eskorte. Ein letztes Mal drehte er sich um, sah über seine Schulter und sagte dem Beamten einige Worte, die dieser so schnell nicht vergessen würde. „Bedauerlicherweise muss ich Sie davor warnen, dass Sie bald mehr als nur eine Leiche auf Ihrem Tisch finden werden, Kommissar Leonce.“ Aufgrund der zu Beginn ihres Kennenlernens gefestigten Feindseligkeiten wechselten Ethos und Chantier kaum einen Satz, als sie sich auf dem Weg in den Forêt de Joux befanden, wie Ethos kürzlich gelernt hatte. Dazu mussten sie die lockere Sandstraße verlassen und auf den Waldwegen weiter reiten. Sollte es zu einem Hinterhalt kommen, wären sie mit den vielen Pferden im Nachteil, da die Wurzeln in der zunehmenden Dunkelheit kaum zu sehen waren. Leonce war wieder zurück in das Stadtzentrum geritten und hatte das Kommando an den jungen Leutnant übergeben. Ein zunehmender Halbmond erschien am Himmel und erfüllte die wenigen Stellen des Waldes, an denen es durchdringen konnte, mit etwas Licht. Vorsichtig bewegte sich die Gruppe voran, die Waffen immer griffbereit. Da niemand etwas sagte, herrschte eine gespenstische Stille, die nur von dem gelegentlichen Schnaufen eines der Pferde durchbrochen wurde. Als sie an einer Kreuzung ankamen, drängte Ethos zu einem Halt und stieg ab. So schnell er konnte ritt Chantier an ihn heran. „Was denken Sie sich dabei, einfach abzusteigen?“, zischte der Leutnant und stieg ebenfalls von seinem Pferd hinunter. „Kündigen Sie so etwas zukünftig an!“ Ethos ignorierte den Kommentar und ging gerade auf einen der Bäume zu. Langsam strich er mit den Fingerspitzen über die Rinde. Auf der Höhe seines Kopfes hielt er inne und überlegte. „Haben Sie etwas gefunden?“ „Ja. es befinden sich tiefe Kratzer in der Rinde des Baumes. Fühlen Sie.“ Auch Chantier erhob seine Hand und fuhr über die Stelle, an der vor wenigen Sekunden noch die Hand von Ethos verweilt hatte. Er schluckte hörbar und zog sich wieder zurück. „Das könnten Spuren von dem Dämon sein. Gibt es hier in der Nähe Bären?“ „Nein.“ „Dann kommen wir ihm vielleicht näher.“ Als Ethos sich erneut in den Sattel schwang, fiel sein Blick auf Chantier. Ganz so mutig wie noch einige Minuten zuvor wirkte er inzwischen nicht mehr. Sie setzten sich wieder in Bewegung, vorbei an dem Baum mit den tiefen Kratzspuren. Nach einiger Zeit ließ Chantier sich leicht zurück fallen, er wirkte äußerst beunruhigt. „Anhalten“, befahl er in normaler Lautstärke. „Wo ist Mansarde? Er sollte doch das Schlusslicht bilden.“ Verwirrt schauten sich die übrigen Polizisten an. Ihre Blicke gingen abwechselnd zwischen ihnen und dem Leutnant hin und her. Letztendlich traute sich einer der Polizisten zu antworten. „Wir wissen es nicht. Vor einer Minute war Mansarde noch hinter uns gewesen. Niemand hat gesehen, wie er sich entfernt hat.“ „Möglicherweise hat er den Anschluss zu uns verloren“, mischte sich ein weiterer Polizist ein. Chantier überlegte seine Optionen. „Mansarde ist ein guter Mann. Wenn er in fünf Minuten nicht aufschließt, werden wir weiter reiten. Ich denke er ist vernünftig genug, umzukehren, sollte er uns verloren haben und es ist nicht klug, den gleichen Weg zurück zu nehmen, den wir gekommen sind.“ Ethos mochte nicht viel vom Polizeihandwerk verstehen, aber in einer Situation wie der ihrigen war es lächerlich zu glauben, dass irgendeine Strategie ihnen hier nützen würde. Wahrscheinlich wollte Chantier nur etwas sagen, um schlau zu wirken. Aus den Reihen der Polizisten kam jedenfalls kein Widerspruch. Die fünf Minuten verstrichen, ohne dass der verlorene Mann wieder auftauchte. Somit ritten sie weiter. Je tiefer die Gruppe in dem Wald vorankam, desto schwieriger wurde es, sich zu orientieren. In der Dunkelheit sahen die auffälligsten Bäume trotzdem alle gleich aus und die Anhaltspunkte reduzierten sich im drastischen Maße. Plötzlich scheute eines der Pferde der vorderen Reiter. Der Wallach blieb mit einem Mal stehen und stieg, warf seinen Reiter dabei fast ab. Mehrere Versuche, ihn zu beruhigen, halfen nichts. Jedes Mal, wenn der Polizist auf seinem Rücken den Wallach vorantreiben wollte, stemmte sich dieser mit den Vorderbeinen auf den Boden und rührte sich nicht. „Ist das ein schlechtes Zeichen?“, fragte Chantier Ethos zugewandt. „Nein, Tiere können keine Unterschiede zwischen Menschen und Dämonen machen. Wenn sie nicht mit Dämonen aufgewachsen und dabei beeinflusst worden sind, erscheint ihnen der Dämon wie ein normales Lebewesen. Einen Werwolf wird ein Pferd zum Beispiel nicht von einem normalen Wolf trennen können.“ Ethos versuchte, sich auf die Umgebung zu konzentrieren. Irgendetwas hatte das Pferd verschreckt, das die anderen Pferde offensichtlich nicht gesehen hatten. Zwar waren Polizeipferde darauf trainiert, auch in angespannten Situationen die Nerven zu behalten, doch dies war jenseits aller normalen Einsätze. Durch seine Anspannung drohte der Polizist die Nerven zu verlieren. Er trieb das Pferd weiter an, drückte ihm die Sporen in die Flanken. Trotzdem bewegte es sich keinen Zentimeter weiter. Plötzlich schien etwas zur rechten Seite des Polizisten aufzublitzen. Es war nur für den Bruchteil einer Sekunde zu sehen, dann war es wieder verschwunden. Unter lautem und kaum zu ertragendem Schreien kippte das Pferd zur Seite und rollte mit den Augen. Durch seine Nüstern atmete es schwer ein und aus, wieherte noch einmal und warf dann seinen Kopf in den Sand. Auch der Polizist hatte zu schreien begonnen, da sein Bein unter der schweren Last des Tieres eingeklemmt worden war. Mehrere Polizisten stiegen ab, um den leblosen Körper des Wallachs anzuheben und ihn zur Seite zu rollen. Zum Glück war das Bein des Polizisten nur leicht gequetscht, ernsthafte Verletzungen zugezogen hatte er sich keine. Nachdem er wieder aufstehen konnte, humpelte der Mann zu dem Pferd und untersuchte es genauer. „Jemand, oder vielmehr Etwas, hat ihm den Bauch aufgeschnitten.“ Anscheinend hatte nur Ethos das kurze Aufblitzen vernommen, die Polizisten wirkten zwar verstört, aber, blieben allerdings weitestgehend ruhig. Ethos ritt ein wenig näher heran und betrachtete die Wunde von seinem Pferd aus. Die Bauchdecke war mit einem dilettantisch wirkenden Schnitt geradezu aufgeschlitzt worden, so dass sie die Gedärme des Tieres nicht mehr halten konnte. Auch die Innereien wiesen Verletzungen auf, die zwar tödlich, aber nicht allzu tief waren. Ethos wanderte mit seinem Blick über den Rest des Kadavers, bis er an dem linken Vorderhuf angekommen war. „Es ist eine Falle ausgelegt worden, in die das Pferd getreten ist. Das Seil hat sich mit jeder Bewegung stärker um das Bein des Pferdes gezogen, weshalb es stehen geblieben ist und angefangen hat zu bocken. Sind solche Tierfallen für diese Umgebung üblich?“ „Es gibt welche, doch die Jäger sind dazu verpflichtet, solche Fallen durch Hinweise auf den Wegen zu kennzeichnen. Abgesehen davon, dass sie auf frequentierten Wegen selbst, wie diesem hier, gar nicht erst gelegt werden dürfen. Sobald wir zurück sind werde ich melden, dass es hier illegale Jäger gibt.“ Inzwischen war auch Chantier von seinem Pferd gestiegen, um sich das tote Pferd zu besehen. Ethos wollte gerade eine Warnung aussprechen, als der Polizist, der zuvor unter seinem Reittier begraben worden war, röchelnd zu Boden sank. Aus seinem Mund lief Blut und er hielt sich die Luftröhre, welche durchgeschnitten worden war und ebenfalls vor Blut geradezu triefte. Ethos hatte ihm noch vor einem dunklen Schatten warnen wollen, der durch das seichte Mondlicht gehuscht war, jetzt war es zu spät. Panik brach aus. Bis auf Ethos befand sich jedoch keiner der Männer auf seinem Pferd. Die Pferde rissen sich los und galoppierten davon, so dass Ethos Mühe hatte, seine Stute unter Kontrolle zu halten. Natürlich war es einkalkuliert gewesen, dass die Männer absetzten und sich einigermaßen verteilten. Nur so hatte ihr Angreifer sicherstellen können, dass eine schnelle Flucht unmöglich wurde und der Schutz der Gruppe für längere Zeit gestört blieb. Ziellos umher laufend, stoben die Polizisten auseinander. Vergeblich versuchte Chantier, seine Männer wieder zur Vernunft zu bringen, als er jedoch merkte, dass ihm dies nicht gelang, verfiel auch er in blinde Panik. Lange dauerte es nicht und Ethos stand alleine neben dem toten Pferd, die Augen wachsam auf seine unmittelbare Umgebung gerichtet. Langsam zog er seinen Revolver und lud die Waffe durch. Das sonst so leise Klicken durchbrach die Stille wie ein Donnerhall, danach war es erneut unheimlich ruhig. Beängstigend ruhig. Normalerweise hätte Ethos die Schreie und Schritte der anderen hören müssen. Er trieb seine Fuchsstute an, damit er den Wald wieder verlassen konnte. Chantiers Männer hatten sicherlich das gleiche getan, insofern sie noch am Leben waren. Kaum war Ethos einige Meter weit geritten, ertönte ein lautes Knacken, gefolgt von donnerndem Trampeln, welches eindeutig den Hufen von Pferden zuzuschreiben war. Abrupt hielt er an und sah, wie über die Lichtung vor ihm eines der weißen Pferde galoppierte, das einmal einem Polizisten gehört hatte. Zaumzeug und Sattel waren noch darauf, allerdings keine Spur eines Menschen. Ethos wandte Bellezza zur entgegengesetzten Richtung um und erstarrte. Keine zehn Meter von ihm entfernt stand ein Mann, dessen Augen rot in der Nacht glühten. Durch das Licht des Mondes konnte Ethos erkennen, dass ihm Blut vom Mund herunter triefte und auch seine Kleidung von Blut durchtränkt war. „Wer bist du?“, fragte Ethos und richtete seine Waffe auf den Mann. Anstatt zu antworten setzte sich dieser in Bewegung. „Ich warne dich. Bleib' stehen oder ich schieße!“ Völlig unbeeindruckt von dieser Warnung kam der Mann weiterhin schweren Schrittes auf Ethos zu. „Nun gut, du lässt mir keine Wahl“, murmelte Ethos eher zu sich als zu seinem Gegenüber und drückte ab. Die Kugel traf in den Boden, da der Mann sich blitzschnell zur Seite gerettet hatte und nun zu Ethos Rechten stand. Doch der Priester hatte sich bereits darauf vorbereitet. Sofort nachdem er geschossen hatte, hatte er seinen Arm zur Seite gestreckt und zielte erneut auf den Kopf des Mannes. „Also ein Dämon, genau wie ich es vermutet hatte. Wer bist du und wem bist du unterstellt?“ Wieder keine Antwort. Ethos drückte erneut ab, doch auch diesmal war der Dämon zu schnell verschwunden, um getroffen zu werden. Diesmal tauchte er nicht wieder auf. Um ein schlechteres Ziel abzugeben, drückte Ethos seine Hacken in die Seite seines Pferdes, damit dieses los hetzte. Je eher er aus diesem verfluchten Wald heraus kommen würde, desto besser. Ab und an schlugen ihm einige Äste in das Gesicht, doch er ließ sich davon nicht ausbremsen. Als er das Ende der dichten Baumkronen sah, trieb er sein Pferd noch weiter an. Nur noch das Ende des Waldes im Blick, hätte Ethos fast übersehen, dass ihm der Dämon folgte, indem er zwischen den Bäumen hin und her sprang. Kurz bevor er die offene Wiese erreichte, ließ sich der Dämon nach unten fallen, um sich auf Ethos und sein Pferd zu stürzen. Doch auch hierauf war Ethos bereits vorbereitet. Indem er den Holzpflock, welchen er vorsorglich im obersten Teil seiner Satteltasche versteckt hatte, zutage förderte, konnte er sich retten. Er drehte die Spitze nach oben, so dass der Dämon ihn mit seinem Gewicht in seinen eigenen Körper bohrte, während der sich nach unten fallen ließ. Laut fauchend rollte er sich ab und schlug hart auf dem Boden auf, wo er kurz liegen blieb. Am Übergang zwischen Wald und Wiese angelangt, riss Ethos sein Pferd herum, zielte und wollte gerade schießen, doch wo vor einigen Sekunden noch der Dämon gewesen war, erinnerte nur noch eine kleine blutige Kuhle mit einem Holzpflock daran, dass hier jemand gelegen haben und sich wieder aufgerappelt haben könnte. Ethos wartete noch einige Minuten, in der Hoffnung, dass ihm zumindest einige Polizisten entgegen kommen würden, diese Hoffnungen stellten sich allerdings schnell als vergeblich heraus. Wütend über den misslungenen Einsatz trieb Ethos sein Pferd in einen Trab. Das, was hier geschehen war, konnte er kaum seine eigene Schuld nennen. Mehr als einmal hatte er Leonce darum gebeten, ihn alleine gehen zu lassen. Niemand wäre zu Schaden gekommen, hätte der Kommissar von Anfang an auf ihn gehört. Ein Jammer, dass er seine Lektion auf diese Weise lernen musste. Nachdem Ethos zurück in die Stadt gekehrt war, wunderte sich Leonce, dass er von seinen elf Leuten lediglich einen vor seiner Tür stehen sah. Völlig außer Atem schaute Ethos den Kommissar mit hasserfüllten Augen an. „Ich habe Ihnen gesagt, dass es schwachsinnig wäre, wie Sie die Sache angegangen sind!“ „Aber Monsieur Turino, möchten Sie sich nicht setzen, bevor Sie mich anbrüllen?“ Die durchaus freundlich gemeinte Geste machte den Priester nur noch wütender. Ethos schlug mit beiden Handflächen auf den Schreibtisch, bevor er erneut das Wort ergriff. „In dieser Nacht haben Sie zehn Ihrer Männer verloren, ich werde mich bestimmt nicht setzen.“ Leonce erblasste sichtlich, als er diese Nachricht hörte und verlor vor Schreck fast die Zigarette, die sich in seinem Mund befand. „Zehn? Alle meine Männer? Chantier eingeschlossen?“ „Chantier und vielleicht sogar alle Pferde.“ „Wie... wie ist das möglich...?“ Völlig verstört sank Leonce in seinen Stuhl zurück und verlor ein großes Stück Asche, das sich auf der Lehne verteilte. „Chantier war ein erfahrener Polizist.“ „Erfahrung im Kampf gegen das Verbrechen nützt im Kampf mit Dämonen überhaupt nichts, wenn man noch nie einem gegenüber stand. Und ich bezweifle stark, dass Chantier oder einer der anderen Polizisten jemals zuvor auf einen Dämon getroffen ist. Ich habe Ihnen bereits mehrfach gesagt, dass ich den Auftrag alleine durchführen sollte. Ohne Ihre Hilfe im direkten Kampf.“ „Erzählen Sie mir, was genau geschehen ist.“ Nun setzte Ethos sich doch. Er begann dem Kommissar zu berichten, was er gesehen hatte und was er in Bezug auf ihren Angreifer vermutete. Wie es zu dem schrecklichen Vorfall kommen und man diese zukünftig vermeiden könne. Im Glauben daran, dass Leonce ihm in den nachfolgenden Einsätzen freie Hand lassen würde, erzählte Ethos alles, sah wie sich der Ausdruck in Leonces Augen veränderte. Zuerst schien der Kommissar am Boden zerstört, fing sich jedoch mit der Zeit immer mehr. Seine anfängliche Trauer ging erst in Skepsis über, dann zu schier unbändiger Wut und Zorn. „Das ist alles, wovon Sie mir berichten können? Zehn wahrscheinlich tote Männer, deren Leichen Sie jedoch noch nicht finden konnten und ein verwunderter Vampir?“ „Dämon.“ „Was auch immer. Ich habe Sie nicht rufen lassen, damit Sie einen angeschlagenen Vampir weiterhin frei herum laufen lassen. Warum sind Sie nicht zurückgegangen und haben ihn getötet?! Wenn es denn angeblich so nutzlos ist, ihn mit Holz zu durchbohren, warum haben Sie es denn getan und ihn nicht gleich erschossen?!“ Jetzt war es an Ethos, dem Kommissar seine gesamte Wut zu zeigen. „Dieses Unternehmen war von Beginn an völliger Nonsens. Es ist nicht meine Schuld, dass Ihre Leute wahrscheinlich tot sind. Auch wenn ich mich diesbezüglich wiederholen mag, hatte ich alles unternommen, um Sie davon abzubringen, Sie mit mir zusammen gehen zu lassen. Sie waren derjenige, der nicht auf mich hören wollte und dies ist nun das Ergebnis. Und Holzpflöcke benutzen wir, da sie im Nahkampf nützlicher sind, als Schusswaffen. Ihre stabile Form und der Überraschungsmoment sprechen für sich. Auch wenn das gerade nebensächlich ist. Ich konnte den Dämonen nicht töten, nicht in der Nacht und mit einer solchen Vielzahl an Menschen, auf die ich aufpassen musste.“ "Was Ihnen anscheinend nicht gelungen ist", sagte Leonce und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Dieser Kommentar traf Ethos mehr, als er in diesem Augenblick zeigen konnte. Es kränkte ihn für den Tod so vieler Menschen verantwortlich gemacht zu werden. Allerdings wusste er nicht, was er noch erwidern sollte. Die ständigen Wiederholungen gegenüber Leonce mit der Betonung, dass der Fehler nicht bei Ethos zu suchen wäre, führten nicht zu dem gewünschten Ziel. Weitere Überredungskünste waren auch nicht vonnöten. Leonce stand auf und verwies Ethos zur Tür, um den Priester aus seinem Büro zu schmeißen. Wütend nahm Ethos seine Sachen, ging nach draußen und machte sich auf den Weg zu seiner Unterkunft. Als er sich ein letztes Mal hinauf sah, war der silbern leuchtende Mond zu sehen, der sich seinen Weg durch die morgendlichen Wolken bahnte. Die Sonne würde bald aufgehen und somit die ersten Leichen, die der Tribut dieser verhängnisvollen Nacht gewesen waren, gefunden werden. Kaum hatte Ethos sein Pferd mit dem gekauften Heu versorgt und war in dem Herrenhaus angekommen, fiel er auch schon auf das Sofa. Kurz raffte er sich auf, um die Fenster zu öffnen und die morgendliche Luft tief einzuatmen. Zwar war der Sommer bereits in seinen letzten Zügen, dennoch war es zum Sonnenaufgang noch angenehm warm. Um die frische Luft genießen zu können, zog Ethos das Sofa unter das Fenster und legte sich dann erneut darauf. Der Tod der Männer war nicht seine Schuld. Doch warum fühlte er sich dann so schuldig? Was hätte er mehr machen können, als Leonce davon zu überzeugen, dass er sich alleine der Kreatur stellen würde? Vermutlich war genau das sein Fehler gewesen, dass er nicht überzeugend genug argumentiert hatte. Ein winziger Fehler, der so vielen Menschen das Leben gekostet hatte. Ethos schrieb sich zumindest eine gewisse Mitschuld daran zu. Eine weitere Sünde, die er zu seinen vielen anderen zählen konnte. Da ihm das Einschlafen trotz der Müdigkeit schwer fiel, stand Ethos erneut auf und begab sich in die Küche. Er entnahm dem Schrank ein weiteres altes Glas und durchsuchte die übrigen. Bei dem dritten hatte er Glück und fand einen alten und starken Whisky. Mit den beiden Utensilien bewaffnet kehrte er zu dem Sofa zurück, setzte sich und füllte sich etwas von dem Alkohol in sein Glas. Während er den Whisky mit einem Schluck herunter kippte, kreisten sich die Gedanken in Ethos' Kopf. Natürlich hätte er den Dämon töten müssen. Nur das Wie war etwas komplizierter als die Einsicht selbst. In einem Territorium, das Ethos nicht kannte, dazu bei Nacht und ohne die Möglichkeit, die Gruppe selbst zu führen, war selbst ein erfahrener Priester wie er auf verlorenem Posten gewesen. Es handelte sich bei diesem Auftrag weiß Gott nicht um seine schwerste Aufgabe, dennoch verkomplizierte dieser Kommissar alles unnötig. Es war jedes Mal das gleiche, wenn Ethos bei einem seiner Aufträge mit Zivilisten kooperieren musste. Immer wussten sie alles besser, immer wollten sie ihm dazwischen funken und die Führung übernehmen. Niemals durfte er sich dagegen effektiv zur Wehr setzen. Nachdem er noch einige weitere Gläser getrunken hatte, warf Ethos das Glas an die Wand, wo es krachend zersprang. Er war wütend. Wütend auf den Dämon, auf Leonce, auf den Auftrag und zuletzt auch auf sich selbst. Diese Ohnmacht, in welcher er sich heute Nacht befunden hatte, raubte ihm nahezu den Verstand. Zehn Menschen. Tot. Seine Schuld. Mit diesen letzten Gedanken sank Ethos auf dem Sofa nieder, endlich dazu bereit, sich seinen Alpträumen hinzugeben. Kapitel 3: Kapitel 03 --------------------- Kapitel 03 „Verdammt noch mal, ich bin ja schon da!“ Das laute Klopfen, welches Ethos unsanft aus seiner Meditation gerissen hatte, wollte trotz einer Vielzahl an beleidigenden Zurufen nicht verstummen. Immer wieder hämmerte jemand mit der Faust gegen das Holz der Eingangstür, so dass es ein Wunder war, dass diese unter der Last nicht in seine Einzelteile zerfiel. So schnell er konnte verstaute Ethos seinen Rosenkranz in der Hosentasche. Von Kopfschmerzen geplagt, riss er die Tür auf und holte tief Luft, um seinem Ärger über die unangekündigte Visite Luft zu machen. „Wer bist du und was willst du hier?“, fragte Ethos schroff, was den Jungen mit den Sommersprossen und dem roten Haar nur mäßig beruhigte. Allem Anschein nach handelte es sich um einen Rekruten der Polizei in Ausbildung, jedenfalls ließ seine Uniform dies vermuten. Auch wenn er sich alle Mühe dabei gab, sein Unbehagen zu verbergen, zitterte er leicht, als er Ethos einen Zettel entgegen hielt. Ein plötzliches Gefühl von Wehmut durchflutete Ethos' Innerstes, als er den Zettel entgegen genommen hatte. Auf diesem prangte am unteren Ende die Unterschrift von Leonce. Somit war der arme Junge nichts weiter als ein einfacher Laufbursche für den fetten Kommissar. Es sah ihm ähnlich, sich nicht selbst bei dem Priester blicken zu lassen. „Ich soll Ihnen mitteilen, dass der ehrenwerte Kommissar Monsieur Leonce sich dazu entschieden hat, Ihnen erneut die Chance zu geben, Ihren Auftrag abzuschließen.“ Einen entnervten Seufzer ausstoßend öffnete Ethos die Tür so weit, dass er einen Schritt nach draußen machen konnte. „Er hat sich dazu entschieden? Was Sie nicht sagen...“ „Allerdings wird es eine Änderung geben bezüglich Ihrer Arbeitsweise.“ „Tatsächlich? Hat er also endlich dazu gelernt.“ Der Rekrut redete nervös weiter, als habe er den letzten Kommentar einfach überhört. „Und deshalb hat sich der Kommissar dazu entschieden, Ihnen jemanden zur Hilfe zur Seite zu stellen um Sie zu unterstützen.“ Mit einem Schlag war Ethos wieder wach und schenkte dem Rekruten seine gesamte Aufmerksamkeit. Das durfte doch nicht wahr sein, es würde der nächste arme Kerl sein, der den Dämonen zum Opfer fallen würde. Anscheinend hatte Leonce doch kein bisschen dazu gelernt. Gerade, als Ethos widersprechen wollte, setzte der junge Mann erneut zu einem Satz an. „Damit sich der Fehlschlag der letzten Nacht nicht wiederholt, hat der Kommissar einen Anruf im Vatikan getätigt und nach weiterer Unterstützung verlangt. Man versicherte uns, dass einer der Priester Ihrer Abteilung gerade mit einem Auftrag ganz in der Nähe abgeschlossen habe und uns somit zur Verfügung stehen würde. Der besagte Priester ist inzwischen bei uns eingetroffen.“ Ethos war, als benötigte er ein starkes alkoholisches Getränk. Mehrfach hatte er Pater Nikolas gegenüber erwähnt, dass er alleine am besten arbeitete. Scheinbar hatte der alte Kauz nur noch Watte in den Ohren oder wollte ihn verärgern. „Warten Sie einen Augenblick, ich sattele mein Pferd und folge Ihnen dann in die Stadt.“ „Das wird nicht nötig sein. Ich habe ihn bereits hierher geführt.“ Der Rekrut machte einen Schritt zur Seite, so dass Ethos das erste Mal sehen konnte, was sich hinter diesem abspielte. Ein Mann trat aus dem Schatten, in seinen Händen hielt er die Zügel, welche zu dem Zaumzeug eines Rappen gehörten. Sein rechtes Auge war unter einer Augenklappe verborgen, die langen hellbraunen Haare zu einem Zopf gebunden. Im Gegensatz zu Ethos trug dieser Priester den schwarzen Talar als traditionelles Priestergewand mit dem weißen Kragen, welcher seine stattliche Figur weitestgehend verdeckte. Sein verbleibendes blaues Auge musterte Ethos kurz, dann erhellten sich seine Gesichtszüge. „Darf ich Ihnen vorstellen, Monsieur Artemis Dal Monte.“ „Machen Sie sich keine großen Mühen“, sagte Ethos in einem bemüht gelangweilt klingenden Tonfall. „Ich kenne diesen Mann bereits.“ Es dauerte eine Weile bis Ethos die Nachricht, welche ihm soeben überbracht worden war, richtig realisieren konnte. Nicht nur, dass man der Meinung war, er hätte versagt, der Vatikan schickte ihm auch noch Unterstützung, um seine angeblichen Fehler wieder auszubügeln. Nach einem kurzen Austausch mit dem Rekruten war dieser wieder abgezogen, den neu eingetroffenen Priester mit seinem Pferd hatte er bei Ethos gelassen. Nachdem Ethos Artemis die Stallungen gezeigt hatte, folgte der Neuankömmling seinem Kollegen in das riesige Haus. „Nicht schlecht wohnst du“, sagte Artemis und schaute sich um. „Nur der Geruch nach altem abgestandenem Zeug ist doch etwas... gewöhnungsbedürftig.“ „Daran solltest du dich aber gewöhnen. Stundenlanges Lüften hilft auch nicht viel. Möchtest du einen Drink?“ „Da fragst du noch?“ Artemis folgte Ethos in das Kaminzimmer und setzte sich auf die Kante des Billardtisches, während er auf seinen Drink wartete. Grinsend nahm er Ethos das Glas ab und wenige Augenblicke später hatte er sich den Inhalt bereits mit einem kräftigen Zug einverleibt. „Wie kommt es, dass du einen Auftrag hier in der Nähe hattest?“, fragte Ethos und setzte sich an den Stuhl am Tisch, Artemis zugewandt. Er trank ebenfalls ein Glas Whisky. „Nun, ich wurde in eine kleine Stadt weiter westlich geschickt, weil dort angeblich merkwürdige Dinge in einem Haus vorgingen. Die Bewohner meinten, der Geist eines kürzlich verstorbenen Familienmitgliedes hätte herum gespuckt und würde ihnen gerade nachts keine Ruhe schenken. Tatsächlich war ein Dämon in besagtes Familienmitglied eingefahren, seine Kräfte waren jedoch noch nicht besonders ausgereift. Den Rest kannst du dir vorstellen. Ich habe den Dämon lokalisiert und ihn zur Strecke gebracht. War ja nur ein kleiner.“ Artemis schenkte sich ein weiteres Glas ein, bis die Flasche mit dem Whisky leer war und setzte sich auf seinen alten Platz zurück. „Jedenfalls war die Familie glücklich, besonders die Tochter des Verstorbenen, ein weiterer Dämon ist Geschichte und mein Einkommen für die nächsten Monate ist wieder einmal gesichert.“ Das Glas in Artemis' Hand war bereits schon wieder halb leer. „Moment... Was soll das heißen, die Tochter des Verstorbenen?“ „Ach Ethos, nun tu nicht so, als müsse ich dir das noch lang und breit erklären. Du kennst mich. Länger und besser als mich sonst jemand jemals gekannt hat oder kennen lernen würde.“ Dass es sich bei Artemis um einen äußerst fähigen Dämonenjäger handelte, stand völlig außer Frage. Im Aufspüren und Festsetzen von Dämonen mochte Artemis Ethos in manchen Dingen sogar durchaus überlegen gewesen sein, doch Artemis besaß genau zwei Schwächen, die ihm noch einmal den Kopf kosten würden. Eine davon war Alkohol. Die andere Frauen. Genau genommen gab es noch eine dritte, doch seine Spielsucht hatte der andere Priester inzwischen ganz gut in den Griff bekommen, was unter anderem auch daran lag, dass er aufgrund gestiegener Arbeitszeiten keine Zeit mehr dafür übrig hatte. „Sie war ein hübsches kleines Ding, mit blonden Haaren und hellen Augen. Elisabeth hieß sie, meine ich jedenfalls. Oder Isabelle? Egal. Alle Namen kann ich mir auch nicht merken.“ Obwohl ihm nicht dazu zumute war, musste selbst Ethos ein wenig lachen. „Ich hoffe, du hast dem armen Mädchen keine Hoffnungen gemacht? Ich weiß zwar nicht, was sie an einem alten Mann wie dir reizt, aber dein Erfolg spricht für dich.“ „Danke“, sagte Artemis und zeigte auf seine Augenklappe. „Die hier lässt mich gefährlich aussehen. Zusammen mit den Narben. Das macht die Frauen wohl irgendwie an. Und ich bin nur drei Jahre älter als du und mit zweiunddreißig zähle ich mich noch lange nicht zu den alten Männern.“ „Im Gegensatz zu dir reiße ich aber nicht jedes Mädchen auf, das mir über den Weg läuft und seinen Rock hebt.“ „Solltest du vielleicht aber, damit du mal ein wenig aus deinem dunklen Verlies heraus kommst.“ Damit spielte Artemis auf die Kammer an, welche Ethos im Vatikan bezog. Diese lag weiter hinten, in einem Teil des Komplexes, der weniger gut beleuchtet war. Alle Mitarbeiter aus der Abteilung lebten in diesem Trakt, der Großteil zog es jedoch vor, eine Kammer mit großem Fenster oder sogar einem separaten Ausgang zu beziehen. Zudem wurde oftmals Wert darauf gelegt, dass es viel Platz gab, um sich ein wenig einzurichten. Während Priester wie Artemis einen großen Teil ihres Gehaltes dafür nutzten, ihre Habseligkeiten um Raritäten wie extravagante Teppiche oder Antiquitäten von hohem Wert zu erweitern, gab sich Ethos mit den wenigen privaten Dingen zufrieden, die er aus dem Waisenhaus mitgebracht hatte. Und dies war weiß Gott nicht viel. Demnach gab er sich mit einer kleineren Kammer zufrieden, die von Artemis aufgrund ihrer Eigenschaften immer nur „Das Verlies“ genannt wurde. Dabei waren von den zehn Kammern einige durchgängig unbesetzt, so dass es ein leichtes gewesen wäre, zu wechseln. Bei Ethos' Stand in der Abteilung sowieso. Ethos erwiderte nichts auf Artemis' Kommentar und holte stattdessen die Dose mit dem Zahn hervor. „Dies hier ist ein Zahn, der aus dem ersten mir bekannten Opfer gezogen wurde. Ich habe ihn bereits auf seine Echtheit untersucht. Er gehört definitiv einem Dämon.“ Artemis war inzwischen aufgestanden und begutachtete lieber den Queue als den Zahn. „Ein weiteres Mal in meiner Vermutung bestätigt sah ich mich, als wir nach draußen in den Wald geritten waren.“ „Ich habe davon gehört. Der Kommissar tobte regelrecht vor Wut. Man sollte uns mehr Freiheiten einräumen was die Dämonenjagd oder den Exorzismus betrifft. Als ich eintraf haben sie gerade die Leichen, welche sie gefunden hatten, in Säcke getan und aufgestapelt.“ „Wie viele?“ „Alle, die mit dir unterwegs gewesen waren, sind tot.“ Artemis drehte sich um und legte den Queue zur Seite. Erneut sah sich Ethos mit der bitteren Wahrheit konfrontiert, dass die Menschen, die er eigentlich hätte beschützen müssen, tot waren. Ausnahmslos. „Mir wurde auch davon berichtet, wie sehr du dich dagegen gesträubt hast, mit den Polizisten zu arbeiten. Ich weiß, dass es kein richtiger Trost ist, aber du hattest Recht. Und du hast getan, was du tun konntest. Wenn die Zivilisten nicht dazu lernen, können wir da auch nichts für. Sie gehen nicht auf dein Konto.“ Auch dieses Mal äußerte sich Ethos nicht. Er schaute Artemis lediglich an und fühlte sich unangenehm aufgrund dieser Fähigkeit, die Artemis zu besitzen schien, was das Durchschauen von Menschen anbelangte. Da Artemis merkte, wie unangenehm Ethos das Thema war, nahm er diesem den Zahn ab und betrachtete ihn. Kaum hatte er den Zahn aus der Plastikdose befreit, rümpfte er auch schon die Nase. „Stinkt fast so stark wie die Luft hier drinnen.“ Vorsichtig legte Artemis den Zahn zurück und reichte ihn an Ethos weiter. „Ich denke, dass wir noch ein wenig Zeit haben werden, bis wir uns das nächste Mal mit Leonce treffen. Er meinte, er habe erst wieder gegen Abend Zeit. Wir könnten oben nachschauen, ob ich mich dort nicht für die Zeit, welche wir hier sind, einquartieren könnte.“ „Ich würde dich nur zu gern begleiten, aber ich habe noch eine wichtige Angelegenheit zu klären“, meinte Ethos und warf sich seine Satteltasche über die Schulter. „Du bist kein besonders guter Gastgeber“, bemerkte Artemis mit einem gespielt schmollenden Gesichtsausdruck. „Immerhin bin ich dein Gast.“ „Wenn es jemanden gibt, dem ich zutraue, alleine zurecht zu kommen, dann bist du es mein lieber Artemis. Ich muss zu einem Anwohner und diesen einige Dinge über dieses Haus hier fragen. Und danach werde ich unserem Kommissar einen Besuch abstatten. Anscheinend hat er mich nicht über alles informiert, was dieses verlassene Herrenhaus betrifft.“ „Ist das hier etwa ein Geisterhaus?“ Artemis‘ amüsiertes Grinsen hatte etwas Ansteckendes. Doch Ethos ließ sich nicht beirren und machte sich auf den Weg in Richtung Ausgang. „Alles, was ich weiß, ist in einem Brief von Leonce höchstpersönlich niedergeschrieben worden. Du findest das Dokument bei den übrigen Beweisstücken. Wir sehen uns dann heute Abend im Büro des Kommissars.“ Und noch bevor Artemis eine Frage hätte stellen können, war die Eingangstür bereits zugefallen und Ethos verschwunden. Seufzend stemmte der hinterbliebene Priester die Hände in die Hüften und schaute sich fragend um. Nach einigem Zögern setzte er sich und nahm die Papiere zur Hand, welche Ethos zurück gelassen hatte. Er hasste es, wenn Ethos sich nicht die Zeit nahm, ihn in die Geschehnisse einzuweihen. Somit würde ihm nichts anderes übrig bleiben, als seine Zeit damit zu verschwenden, selbst in Erfahrung zu bringen, was es in diesem Haus alles zu entdecken gab. Rechts neben Ethos erfüllte eine große Standuhr den Raum mit einem systematischen Ticken. Vor ihm zog der seichte und verführerische Duft von starkem Kaffee in die Luft und vermischte sich mit dem Aroma selbst gebackener Kekse. Zwar mochte es Ethos weniger, sich mit Zeugen zu unterhalten und reichte diese Aufgabe gerne an andere weiter, doch in diesem Fall hatte er Artemis erst einmal Zeit zur Orientierung geben müssen. Außerdem änderte sich seine Meinung, als er den ersten Schluck seines Kaffees zu sich nahm. Ethos gegenüber saß der Bauer Durand, den er am Vortag angesprochen hatte. Seine Frau, eine kleine, mit Falten übersäte, aber überaus höfliche und nette Dame, huschte zwischen der Küche und dem Wohnzimmer hin und her, damit der Vorrat an Keksen und Kaffee nicht verebbte. Sie war sichtlich erfreut darüber, einen Priester zu Besuch zu haben. Ansonsten hielt sie sich aus dem Gespräch größtenteils heraus und verbrachte die meiste Zeit in der Küche. „Sie sind also fest der Meinung, das Haus, in dem ich wohne, wäre verflucht?“ „Ganz recht“, antwortete Durand mit einem Kopfnicken. „Ich habe viele Familien ein- und ausziehen sehen. Seitdem ich ein Kind bin, lebe ich auf diesem Hof. Da bekommt man so einiges mit, was sich in der Nachbarshaft tut.“ „Aber mir wurde dieses Haus von der Polizei zur Verfügung gestellt“, sagte Ethos und legte dazu einen verwirrten Blick auf. „Wie kann es sein, dass mir so etwas verschwiegen wird?“ „Die Polizisten in dieser Stadt glauben wahrscheinlich nicht an das Böse. Zumindest nicht in dem Maße, in dem wir daran glauben.“ „Wir?“ „Meine Frau und ich. Und einige der anderen hier im Vorort lebenden Personen. Hier leben noch viele Gläubige. Im Gegensatz zu der Stadt.“ Während er seinen letzten Satz wütend vor sich hin brummte, nahm Durand einen Schluck Kaffee. Nachdem er die Tasse abgesetzt hatte, fuhr er mit seiner Erzählung fort. „Jedenfalls waren vor der Familie Gargon schon fünf Familien in dem Anwesen gewesen. Allerdings waren die Gargons am auffälligsten. Der Sohn, Christopher, hatte sich um seinen kranken Vater gekümmert, soweit ich weiß. Diesen Vater hat jedoch niemals einer zu Gesicht bekommen.“ „An sich ist das doch aber nicht ungewöhnlich. Wenn er wirklich so krank war, dass er intensiv gepflegt werden musste, konnte er vielleicht nicht vor die Tür.“ Durand räusperte sich und schaute Ethos für einen Augenblick prüfend in die Augen. „Da mögen Sie Recht haben. Aber der Junge hat niemals viel gekauft, wenn er auf dem Markt war. Das, was er einkaufte, hätte niemals im Leben für zwei Personen gereicht. Selbst wenn der Vater nicht viel gegessen haben sollte. Viel Zeit kann er nicht aufgebracht haben, um sich um sein eigen Fleisch und Blut zu kümmern. Lieber verabredete er sich mit allerlei Mädchen aus der Umgebung.“ So sehr sich Ethos auch bemühte, etwas Ungewöhnliches in der Erzählung des alten Bauern zu finden, es blieb erfolglos. Selbst wenn sich Christopher nicht besonders gut um seinen eigenen Vater gekümmert haben sollte, machte ihn das noch längst nicht zu einem Mörder. „An Elise Picarde zeigte er ein besonderes Interesse.“ „Wissen Sie, warum?“ „Sie war ein sehr hübsches Mädchen. Jeder junge Mann in der Umgebung hatte sich an ihr interessiert.“ Also musste Ethos auch diesen Anhaltspunkt vorerst als trivial abwerten. „Hübsch und schlau war sie. Ich weiß noch, wie sich der Sohn meines Bruders mit ihr verabreden wollte. Er ist ein echter Taugenichts und um ihr zu gefallen, hat er sich eine Geschichte ausgedacht, mit der er sie hatte beeindrucken wollen.“ Während er in seinen Erinnerungen schwelgte, überkam ein unbekümmertes Lachen Durand. Er wand seine Augen an die Decke, als reiche der alleinige Wunsch an die damalige Zeit aus, alles wieder wie früher werden zu lassen. Kurz darauf wand er sich wieder Ethos zu. „Sie hatte ihn fast sofort durchschaut. Nicht nur ihn, auch die anderen Jungs, die sie ähnlich versucht haben zu beeindrucken. Das Mädchen wollte Lehrerin werden. Das Zeug dazu hatte sie allemal.“ „Vielleicht hat sie Gargon ebenfalls durchschauen können“, sagte Ethos zu sich selbst und machte sich einige Notizen. „Hat sie jemals den Eindruck gemacht, als stimme etwas mit Christopher Gargon nicht? Hat sie vielleicht mal etwas zu Ihnen gesagt?“ „Nicht, dass ich wüsste“, antwortete Durand und kratzte sich am Kinn. „Sie war dem jungen Mann so sehr verfallen, ich glaube kaum, dass sie sich auf seine Merkwürdigkeiten konzentrieren konnte. Obwohl es schon sehr auffällig war, dass er sich meistens nachts oder zu Zeiten der Dämmerung zeigte. Wenn er nicht gerade etwas brauchte, setzte er nur sehr selten vor Einbruch der Dunkelheit einen Fuß aus dem Haus. Genauso wie der Großteil der Vorbesitzer des Herrenhauses. Und wie immer wurde das Haus verlassen aufgefunden, kurz nachdem sich ein Mordfall ereignet hat.“ „Moment.“ Ethos schaute von seinem Notizbuch auf und legte es beiseite. „Es haben sich noch weitere Morde hier ereignet?“ „Nicht direkt hier, aber in der Nähe. An fünf kann ich mich erinnern und nie wurde der oder die Täter geschnappt.“ „Wissen Sie, ob die Leichen verstümmelt wurden?“ „Genau weiß ich es nicht. Aber es waren auf jeden Fall verschiedene Todesursachen. Bei Elise war es eine Wunde am Hals. Der Junge, der zuvor tot aufgefunden wurde, war vergiftet worden. Ein anderes Opfer erwürgt. Das seltsame waren aber nicht die Ursachen, sondern die Aufklärung der Morde. Soweit ich mich erinnere, wurden sie niemals aufgedeckt. Im Gegenteil, die Polizei hat viel unternommen, um die Morde zu vertuschen. Wann immer einer der Anwohner sich besorgt zeigte, aufgrund mysteriöser Umstände, die die Leichen betrafen, wurden diese abgewiegelt. Als der vergiftete Junge aufgefunden wurde, hatten hunderte kleiner Einstichlöcher seinen Körper übersäht. Die Polizisten meinten, er wäre mit Sicherheit von einer Schlange angefallen worden. So ein Schwachsinn, weder gibt es hier giftige Schlangen, noch solche, die sich trauen würden, Menschen anzugreifen. Es war als bemühe man sich mehr darum, die Gerüchte in den Griff zu bekommen, als sich um den Fall an sich zu kümmern. “ Ethos dachte für einen Moment nach. Jede einzelne Schilderung für sich genommen, ergab keinen Anhaltspunkt darauf, ob wirklich Dämonen an den Morden beteiligt waren. Er musste einen anderen Beweis finden, um seine Theorie zu bestätigen. Plötzlich kam Ethos ein Gedanke, der ihm interessant erschien. „Sagen Sie, seit wann ist Kommissar Leonce in Joux eingesetzt worden.“ „Ich glaube, er ist vor fünf Jahren hierher versetzt worden.“ Noch während er diesen Satz aussprach, erkannte auch Durand einen gewissen Zusammenhang, konnte ihn allerdings noch nicht richtig deuten. „Hat das etwas zu bedeuten?“ „Das kann ich Ihnen noch nicht sagen, Monsieur Durand. Aber ich bin mir sicher, dass Sie mich der Wahrheit schon ein Stück näher gebracht haben.“ Während er aufstand, nahm Ethos seine Unterlagen auf und stopfte sie hastig in seine Manteltasche. „Es tut mir sehr leid, aber ich muss mich jetzt von Ihnen verabschieden, Monsieur. Ich muss Ihnen danken, das Gespräch mit Ihnen war äußerst hilfreich.“ Lächelnd streckte der Bauer Ethos seine Hand entgegen und verabschiedete sich ebenfalls. Er und seine Frau begleiteten den Priester noch bis zum Ausgangstor, wo sich dessen Pferd befand und zufrieden graste. Zum Abschied winkend schwang sich Ethos auf sein Reittier und galoppierte in Richtung Stadt davon. Da Kommissar Leonce ihm eines Briefings unterzogen hatte, bevor er den Geistlichen zum Herrenhaus geschickt hatte, brauchte Artemis sich nicht allzu lange mit Ethos‘ Notizen zu beschäftigen. Es gab nicht viel Neues für ihn, so dass er sich voll und ganz der Erkundung des Hauses widmen konnte. Für ihn war das ohnehin viel spannender. Artemis liebte es, fremde Plätze zu begutachten und vielleicht das eine oder andere herauszufinden, das ihm bei der Aufklärung seiner Fälle helfen konnte. Um sich umsehen zu können, nahm Artemis eine Kerze auf und machte sich daran, die obere Etage zu erkunden. Kurz nachdem er die Treppen hinauf gestiegen war, fand er sich auf einem langen Flur wieder. Sowohl zur rechten, als auch zur linken Seite schienen endlos viele Türen zu führen. Nach kurzem Zögern entschied sich Artemis dafür, diese systematisch abzugehen. Dazu ging er an das hintere Ende des Flurs. Vorsichtig öffnete er die erste Tür und stieß sie dann langsam auf. Da die Gardinen zugezogen waren, bot nicht einmal das Licht von außen eine kleine Lichtquelle. Artemis stellte seine Kerze auf dem Kaminsims ab, welcher in der Mitte des Raumes in die Wand eingelassen war. Danach zog er die Gardinen auf, was ihm sofort eine dicke Ladung Staub in das Gesicht beförderte. Niesend zog er das große Fenster auf, was nicht nur eine guttuende kühlende Brise nach sich zog, sondern auch den Vorteil von etwas zusätzlichem Licht brachte. Erst jetzt schaute sich der Priester genauer im Raum um. Neben dem Kamin am obersten Ende des Zimmers befand sich auf der gegenüberliegenden Seite eine große Holztür, die bis an die Decke reichte und zur Seite hin aufgezogen werden konnte. Nicht unweit entfernt befand sich ein Spiegel auf Füßen, über den eine Decke geworfen worden war. Auf dem Boden und dem Kamin standen einige Behälter herum, die anscheinend Duftöl beinhalteten. Bei der Anzahl grenzte es an ein kleines Wunder, dass Artemis keines der Gläser oder Töpfchen umgeworfen hatte, als er das Fenster geöffnet hatte. Allem Anschein nach hatte jemand aus diesem Zimmer eine Art Anziehzimmer mit begehbarem Kleiderschrank gemacht und es später zweckentfremdet. Möglicherweise hatte hier eine Dame gehaust, die sämtliche ihrer Klamotten gelagert und sie mit Mottenkugeln zu sichern versucht hatte. Noch immer mit vorsichtigen Bewegungen, rückte Artemis näher an die Holztür heran. Er drückte die Tür zur Seite, zuerst nur einen kleinen Spalt breit, um sehen zu können, was ihm jeden Moment entgegen treten würde. Da er so jedoch nichts sehen konnte und sich in dem Schrank nichts zu rühren schien, stieß er die Tür vollständig auf. Sofort machte er einen Satz nach hinten, denn kaum war die Tür geöffnet, strömte ihm mindestens ein Dutzend lebloser Körper entgegen. Die Leiber fielen übereinander, schlugen laut auf dem Boden auf und blieben dort reglos liegen. Einer der Körper war auf den Rücken gedreht worden und starrte Artemis mit seinen kalten toten Augen an. Der Kopf war unnatürlich stark in den Nacken gefallen. Erschrocken wich Artemis noch weiter zurück. Es dauerte jedoch nicht lange, bis sich der Priester wieder einigermaßen in den Griff bekam. Bei den nun kreuz und quer auf dem Boden verteilten Körpern handelte es sich keinesfalls um Leichen, sondern um Puppen. Wahrscheinlich alte Anziehpuppen, die, nachdem sie nicht mehr gebraucht wurden, in den Schrank gestopft worden waren. Noch immer ein wenig erregt, bewegte sich Artemis auf das Fenster zu, um frische Luft zu schnappen. Zunächst konzentrierte er sich lediglich darauf, den Schrecken zu bekämpfen, doch dann fiel ihm etwas anderes ins Auge. Um besser nach draußen sehen zu können, lehnte sich der Priester leicht aus dem Fenster. Der Teil des Hauses, in dem Artemis sich gerade aufhielt, war nach Osten ausgelegt, die Stallungen, in denen die beiden Pferde untergebracht waren, nach Westen. Somit konnte Artemis nun einen anderen Teil des Grundstückes einsehen. Es handelte sich um einen weitläufigen Garten, dessen Beete schon seit langer Zeit nicht mehr gepflegt worden waren. Zwischen den Beeten, deren Pflanzen bereits die Oberhand gewonnen hatten und in alle Richtungen wuchsen, zog sich ein kleiner, mit hellem Stein gepflasterter Weg entlang. Am Ende des Weges lag eine kleine Wiese, an deren Ende sich eine Holzhütte befand. Sie war nicht sonderlich groß, hätte einem Bediensteten aber durchaus als Unterkunft dienen können. Je länger Artemis auf die kleine Hütte blickte, desto stärker wurde seine Neugierde. Irgendwie zog die Hütte seine Aufmerksamkeit stärker auf sich, als das Innere des Haupthauses. Möglicherweise war es Artemis‘ Instinkt, der sich in ihm zu rühren schien und dem er sich nicht entziehen konnte. Er schloss die Fenster und ging nach unten, nahm die Hintertür in den Garten und schritt vorsichtig den dünnen Weg durch die Beete entlang. Bei der roten Tür angekommen, dessen Holz bereits zu verwittern begann und die Farbe langsam abplatzte, hielt Artemis kurz inne. Mit einem kräftigen Ruck zog Artemis an der Tür, doch bis auf ein Knacken geschah vorerst nichts. Die Tür schien abgeschlossen, das Holz war jedoch morsch genug, um sie trotzdem auf zu bekommen. Artemis nahm beide Hände zur Hilfe, um das Hindernis aus dem Weg zu räumen. Er stemmte seine Füße fest in den Boden, lehnte sich zurück und zog mit aller Kraft an der Tür. Zuerst knackte sie nur leise, dann begann das Holz unter der Last nachzugeben. Es bog sich nach vorne, splitterte und brach schließlich aus seinen Angeln. Dabei hatte Artemis Glück gehabt, dass sich die ganze Tür und nicht nur der Griff gelöst hatte. Kaum hatte er die lose Tür zur Seite gelegt, strömte ihm ein süßlich fauliger Gestank entgegen. Trotzdem wagte er es, den Schuppen zu betreten, seine Neugierde war einfach zu stark. Als Artemis spürte, wie er auf etwas Hartes trat, das unter seinem Gewicht leicht nachzugeben schien, machte er einen Satz nach hinten. Zwar waren die Gardinen zugezogen, doch er konnte genau erkennen, auf was er dort gerade getreten war. Eine Hand lag auf dem Boden und als Artemis seinen Blick zur Seite wand, konnte er den dazugehörigen Körper sehen. Doch bei einem Körper sollte es nicht bleiben. Die Leichen stapelten sich so weit, dass sie den Weg in die dahinter liegenden Räume verschlossen. Einige der Personen erkannte Artemis, trotz der starken Verwesung, wieder. Er hatte ihre Gesichter bereits auf einigen Porträts gesehen, die an der Treppe hingen. Nachdem der erste Schock verklungen war, durchfuhr es Artemis wie ein Blitz. Normalerweise würde er in dieser Situation die Leichen näher begutachten, sie fotografieren und alles ganz genau dokumentieren, doch ihm ging ein anderer Gedanke durch den Kopf. Der Hinterhof des Hauses, in dem sie untergebracht worden waren, steckte also voller Leichen. Das konnte selbst einem so großen Stümper wie Leonce nicht entgangen sein. Artemis ärgerte sich, dass er und anscheinend auch Ethos so stark darauf vertraut hatten, dass es an der Identität des Kommissars keinen Zweifel geben könne. Sobald sich Dämonen als Menschen tarnten, gab es immer irgendetwas, das sie sehr schnell verriet. Eine unangemessene Reaktion auf Blut oder aber anderes auffälliges Verhalten wie Sodomie enttarnte einen unter den Menschen lebenden Dämon äußerst rapide. Sie waren nicht gerade Meister darin, ihre unnatürlichen Triebe zu verstecken. Leonce wiederum hatte, bis auf seine enorme Idiotie, nicht besonders auffällig gewirkt. Anstatt weitere Zeit damit zu vergeuden, sich Gedanken zu machen, stürzte Artemis hinaus, nahm den kurzen Weg durch das Haus, schnappte sich den Vampirzahn und wollte durch den Flur zum Stall hechten, als er merkte, dass sein Talar auf Höhe des Knöchels hängen geblieben war. Artemis kam ins Stolpern, schaffte es aber gerade noch, sich auf den Beinen zu halten. Um sich zu befreien, beugte er sich hinunter. Dabei konnte der Priester sehen, dass seine Kleidung sich an einem Stück hervorstehender Tapete verfangen hatte. Da er keine Zeit hatte, sich großartig aufhalten zu lassen, zog Artemis mit einer kräftigen Bewegung an seinem Talar. Die Tapete riss ruckartig ein und legte den Blick auf weitere Grausamkeiten frei. „Oh mein Gott...“, hauchte Artemis und hielt sich die Hand vor den Mund. Vor ihm befand sich keine Wand, sondern eine Art Abstellkammer, bei der die Tür fehlte. In dieser Abstellkammer waren die halb zerfetzten und ausgebluteten Körper von mindestens fünf menschlich aussehenden Wesen an Stahlseilen aufgehangen worden. Sie baumelten, den Hals unnatürlich lang gestreckt, an Fleischerhaken herunter, die durch ihr Genick gezogen worden waren. Einen der Menschen erkannte Artemis mehr als deutlich. Er hatte das Gesicht des jungen Mannes schon einmal gesehen. Weder an den Wänden des Hauses, noch innerhalb des Dorfes, in dem die Residenz stand, noch unter den Männern im Polizeipräsidium. Es war ein kleines Bild gewesen, schwarz-weiß, aber Artemis war sich zu hundert Prozent sicher, dass er das Bild von Leonce bei seiner Ankunft unter die Nase gehalten bekommen hatte. Außerdem fehlte dem Mann ein Zahn. „Christopher Gargon“, stellte Artemis flüsternd fest. Genau in dem Moment, als er den Namen ausgesprochen hatte, wurde sich der Geistliche darüber bewusst, was dies für ihn und Ethos bedeutete. Sofort riss Artemis sich los und stürmte nach draußen zu seinem Pferd. Er durfte keine einzige Sekunde mehr verlieren. Kapitel 4: Kapitel 04 --------------------- Kapitel 04 Inzwischen hatte die Dämmerung eingesetzt und den Himmel in ein leichtes Lila getaucht. Zwar war es Ethos gewohnt, zu warten, doch dieser unfähige Kommissar überspannte den Bogen allmählich. Nicht nur, dass er zu dieser unsinnigen Zeit Besseres zu tun hatte, nun ließ man ihn, erneut ohne Informationen, draußen vor dem Büro stehen und behandelte ihn wie einen ungewollten Gast. Sonderlich willkommen hatte man ihn bereits von Beginn an nicht geheißen, aber er war auch da, um seine Arbeit zu vollbringen, nicht um sich neue Freunde zu suchen. Doch das hier kam selbst ihm mehr als nur unhöflich vor. Nachdem er angekommen war, hatte ihn ein Polizist bis zu dem Büro des Kommissars begleitet und dann gemeint, er solle so lange warten, bis Leonce hinaus kommen würde. Es würde nicht mehr lange dauern, bis er sich Zeit für den Priester nehmen könne. Bisher war allerdings nichts dergleichen passiert. Fest entschlossen, dem endlich einen Riegel vorzuschieben, erhob Ethos seine Faust und bereitete sich darauf vor, die Tür nahezu einzuhämmern. Artemis‘ Rappe Coraggio war beinahe am Ende seiner Kräfte angelangt. Weißer Schaum hatte sich an den Flanken gebildet und das Tier pumpte mit voller Kraft Luft in seine Lungen. Der Priester erblickte die Fuchsstute von Ethos und stellte sein Pferd daneben. Erst jetzt fiel ihm auf, wie gespenstisch still es in den Straßen war. In den umliegenden Häusern brannte kein einziges Licht, alles wirkte wie ausgestorben. Einen Fluch ausstoßend, lief Artemis los und stürmte in das Polizeigebäude. Auch hier war nirgendwo eine Menschenseele zu erblicken. Ein überaus schlechtes Zeichen. So schnell er konnte hechtete Artemis die Treppe hinauf und sah im ersten Stock Ethos vor dem Büro des Kommissars stehen. Der war kurz davor, an die Tür zu klopfen. „Ethos!“ Erstaunt wandte sich Ethos der Gestalt zu, die seinen Namen geflüstert hatte und entfernte sich wieder von der Tür. „Artemis? Was machst du hier?“ Als Artemis einen Anflug von Zorn in Ethos‘ blauen Augen sah, hielt er sofort seinen Finger vor den Mund und hob dann beschwichtigend die Hände. „Ich bin dir nicht nachgeritten, um dich zu kontrollieren.“ Ethos entfernte sich von der Bürotür und kam auf Artemis zu. „Und was machst du denn hier?“, zischte er wütend. „Ich bin hier, weil ich eine nicht gerade positive Entdeckung gemacht habe. Da waren Leichen, Ethos. Und die lagen nicht nur im Haus, sondern auch hinten im Hof in einer Hütte. Ich weiß nicht, wie lange die schon da liegen oder hängen, aber so, wie sie aussehen, hätten sie eigentlich so stark riechen müssen, dass uns das hätte auffallen müssen. Vielleicht sind sie auch irgendwie konserviert worden, das habe ich mir auf die Schnelle nicht mehr näher angesehen.“ Auch Ethos' Gehirn begann aufgrund dieser Informationen kräftig zu arbeiten. „Irgendjemand hat den bescheuerten Versuch unternommen, die Leichen schlicht und einfach weg zu schließen und mit einer Tapete zu überdecken. An wen erinnert dich so ein stümperhaftes Vorgehen?“ „Leonce“, antwortete Ethos wie aus der Pistole geschossen. „Richtig. Ich vermute, dass Leonce in diese ganze Angelegenheit wesentlich tiefer verstrickt ist, als bisher angenommen. Mich wundert es nur, dass wir das Offensichtliche nicht früher gesehen haben.“ „Du meinst...“ „Ja, ich glaube, dass es sich bei Leonce um einen Dämonen handelt. Zumal du niemals errätst, wessen Leiche ich ebenfalls in dem Haus gefunden habe. Die von Christopher Gargon. Aufgespießt an einem Haken.“ Ethos wartete noch einen Augenblick, da er vermutete, dass Artemis sich einen unangemessenen Scherz mit ihm erlaubte. Als der ernste Ausdruck nicht aus dem Gesicht des anderen weichen wollte, schien selbst Ethos für einen kurzen Moment wie erschlagen. „Demnach bestätigt sich meine Theorie, die ich heute nach dem Gespräch mit dem alten Bauern aufgestellt habe. Sehr interessant.“ „Es wirkt zwar ein wenig lächerlich, da Leonce so viele Fehler begangen hat, doch das gehört möglicherweise zu seiner Tarnung. Menschen machen immer Fehler. Dämonen auch, aber die haben mehr mit ihrer Natur zu tun, als die Art von Fehlern, die wir Menschen machen. Abgesehen davon, dass er sich wie ein Idiot anstellt, ist der Dämon, mit dem wir es hier zu tun haben, vielleicht wesentlich schlauer, als wir gedacht haben.“ „Er hat versucht, uns eine Falle zu stellen“, sagte Ethos ohne weitere Umschweife. „Wie meinst du das?“, fragte Artemis sichtlich überrascht, dass Ethos anscheinend über alles Bescheid wusste. „Nun, wie bereits gesagt habe ich mich heute mit einem Bauern unterhalten, der nicht nur von einem Mord gesprochen hat, sondern von einer ganzen Serie. Es würde jetzt zu lange dauern, dir das alles im Detail zu erläutern, aber ich gehe davon aus, dass Leonce in alle involviert war. Und dass wir diese Leichen, die du gerade erwähnt hast, finden sollten. Ich weiß zwar nicht, was er genau damit bezwecken wollte, aber wer platziert schon Leichen in einem Haus zusammen mit denjenigen, die die Mordserie bezüglich der Leichen auflösen sollen?“ „Wir sind also das erste Mal von einem Dämon verarscht worden?“ Artemis sprach mehr zu sich selbst als zu seinem Kollegen. Der Gedanke, dass ausgerechnet so ein minderbemitteltes Wesen wie ein Dämon, der noch nicht mal zu den Schlausten unter seiner Art gehörte, sie verarscht hatte, machte ihn ziemlich wütend. Auch Ethos wirkte etwas fassungslos. „Ist der Typ gerade da drinnen?“, fragte Artemis und zeigte auf die Tür von Leonces Büro. „Ja und er ist vielleicht nicht alleine.“ Ethos brauchte nur Artemis' verschmitztes Lächeln zu sehen, um zu wissen, was der Priester im Kopf hatte. „Schauen wir doch einfach mal, was wir noch so herausfinden können. Du bleibst am besten hier. Wenn Leonce mich herein bittet, kann es nicht schaden, den Überraschungsmoment auf meiner Seite zu haben, sollte er mich angreifen.“ Artemis nickte bloß und zog sich bis zur nächsten Treppe zurück, um sich hinter einem Balken zu verstecken. Ethos wiederum trat erneut an die Tür heran und lehnte sich leicht dagegen. Er nahm aus dem Inneren des Büros gedämpfte Stimmen wahr. Es handelte sich dabei um die Stimme von Leonce und eine weitere, die Ethos nicht identifizieren konnte. Der Fremde redete in einem tiefen und strengen Ton, er wirkte zudem sehr gereizt. „Hast du jetzt alles, was du brauchst? Du bist ein echter Vollidiot! Du kannst wirklich froh sein, dass Esrada mich geschickt hat und nicht selbst vorbei gekommen ist. Der hätte dich bereits gegrillt. Besonders dafür, dass du den zweiten Priester vorschnell hierher gelockt hast.“ „A-Aber Monsieur Blackcage. Das können wir uns doch genauso gut zum Nutzen machen oder etwa nicht?“, stammelte Leonce kleinlaut. „Können wir, aber schlau war es trotzdem nicht“, fauchte der andere Mann geradezu. „Vor allem traue ich es dir nicht wirklich zu, sowohl Turino, als auch dazu noch Dal Monte zu töten. Du solltest, die beiden voneinander trennen, bevor du dich mit ihnen anlegst. So dass du dich erst um den einen, dann um den anderen kümmern kannst, aber das macht die Angelegenheit nicht wirklich leichter.“ „Überlassen Sie das nur mir.“ „Werde ich auch. Ich habe dir alles gegeben, um diese beiden lästigen Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Ich selbst kann mich nicht darum kümmern, ich habe Wichtigeres in England zu erledigen. Deshalb werde ich dir auch nicht beistehen können, wenn du es vermasselst. Selbst wenn ich dies wollte. Und jetzt werde ich gehen.“ Noch bevor Leonce etwas hätte erwidern können, hörte Ethos, wie sich schwere Schritte auf die Tür zubewegten. Der Priester wich zurück und tat, als habe er niemals an der Tür gestanden und gelauscht. Allerdings wartete Ethos vergeblich darauf, dass jemand hinaus und ihm entgegen trat. Stattdessen ging die Tür auf und lediglich Leonce stand ihm gegenüber. In seinen Augen spiegelten sich Angst und Unbehagen. Zudem schwitzte er schon wieder so stark, dass sich auf seinem Hemd eindeutige Flecken bildeten. „Herr Turino? Was machen Sie denn hier?“ „Haben Sie es denn schon vergessen? Sie haben mich darüber unterrichten lassen, dass Sie sich heute Abend noch einmal mit mir zusammensetzen und das weitere Vorgehen besprechen möchten.“ „Ach ja, stimmt“, quetschte Leonce hervor und schaute sich nervös um. „Wo ist Pater Dal Monte?“ „Oh, er wird sich leider verspäten, schätze ich. Seinem Pferd scheint es nicht gut zu gehen. Vermutlich bekam ihm die lange Reise nicht und nun versucht er bei den ansässigen Bauern ein neues Reittier zu erwerben.“ Sichtlich erleichtert öffnete Leonce die Tür und bat Ethos hinein. Der bemühte sich beim Eintreten darum, sich nicht anmerken zu lassen, was er bereits wusste. Dennoch verschaffte er sich einen Überblick, als er in das Büro trat, ob sich nicht der eben erwähnte Blackcage irgendwo befand und nur darauf wartete, ihm die Kehle heraus zu reißen. Die Tür des Büros schloss sich, ohne dass eine weitere Person zu sehen war. Artemis hörte, wie die Tür in ihre Angeln fiel. Er wollte sich gerade aus seinem Versteck hervor wagen, um ebenfalls zu lauschen, als er etwas bemerkte. Vor der Tür erschien leichter Rauch, der sich nach und nach verdichtete. Zuerst war es nur ein wildes Gemisch aus einzelnen Rauchfaden, die aus dem Boden hervor schlängelten, dann bildeten sie schemenhaft den Umriss einer Gestalt. Der Qualm weitete sich in immer größer werdenden Zügen aus, bis er schließlich wie ein Mensch wirkte. Ein Lodern erschien im Inneren des Rauchgebildes und eine Flamme flackerte für den Bruchteil einer Sekunde auf. Kurz darauf stand ein Mann auf dem Flur, gekleidet in einen schwarzen Trenchcoat, der fast bis zum Boden reichte. Seine schwarzen, etwas länger gewachsenen dicken Haare waren zurück gekämmt, dennoch fielen ihm vereinzelt einige Strähnen in die Stirn. Die dunklen braunen Augen waren voller Zorn, das konnte Artemis selbst auf die Distanz erkennen. Der Mann schnaubte einmal in Richtung Büro, dann wandte er sich ab, um zu gehen. Da er genau auf Artemis zuzukommen drohte, flüchtete dieser sich hinter den Balken und presste sich mit dem Rücken dagegen, zudem fischte er ein Messer aus seinem Talar. Die Pistole war für ihn immer das zweite Mittel, um sich noch eine stärkere Waffe aufzuheben, falls er mit dem Messer keinen Erfolg erzielen konnte. Das war bisher erst wenige Male vorgekommen. Je näher der Mann kam, desto stärker spürte Artemis ein Brennen unter seiner Augenklappe. Das war ein weiteres schlechtes Omen. Waren die Dämonen schwach, meldete sich Artemis' Auge für gewöhnlich nicht. Leonces Anwesenheit hatte beispielsweise nicht mal ein leichtes Kratzen bei ihm ausgelöst. Nur wenn eine starke Aura in seiner Nähe erwachte, reagierte das rechte Auge und begann zu brennen, jucken oder sich anderweitig bemerkbar zu machen. Anscheinend handelte es sich bei diesem Mann um einen recht starken Dämonen, so dass Artemis kurz überlegte, ob er nicht doch lieber zu der Pistole greifen sollte. Zu spät, denn der Mann war bereits auf einer Höhe mit Artemis. Würde er nun seinen Kopf drehen, würde er dem Priester geradezu ins Gesicht starren. Auch wenn ihm dies einiges abverlangte, rührte sich Artemis nicht. Er hatte den Dämonen ganz genau im Blickfeld. Da Dämonen wiederum ihre Schwierigkeiten hatten, Menschen auf die Art wahrzunehmen, wie er die Dämonen wahrnehmen konnte, hatte Artemis noch das Element der Überraschung auf seiner Seite. Doch das Problem löste sich geradezu von alleine. Genauso, wie der Dämon aufgetaucht war, verschwand er auch wieder. Während er einige Schritte vorwärts ging, bildete sich neuer Rauch und kaum hatte der Dämon einen Fuß in diesen getan, war er auch bereits wie durch ein Portal verschwunden. Bis auf einige Rauchschwaden war nichts mehr von ihm zurück geblieben. Erleichtert sank Artemis ein Stück nach unten. Das Messer rutschte ihm geradezu aus der Hand und fiel leise auf den Boden. Zum Glück war dieser aus weichem Holz, so dass es kaum Geräusche verursachte. Als Artemis nach unten sah, bemerkte er, dass sich Schweiß auf seinen Handflächen gebildet hatte. „Warum haben Sie mich so lange warten lassen?“ Ethos machte sich gar nicht erst die Mühe, seine Verärgerung zu kaschieren. „Sehen Sie, ich habe momentan viel zu tun“, bemerkte Leonce und rieb nervös die Hände ineinander. „Die ganzen toten Polizisten, die übrigen Fälle in der Stadt und den umliegenden Gemeinden...“ „Besäßen vielleicht nicht so ein hohes Potential, würden Sie mich endlich meine Arbeit machen lassen.“ Ethos spielte zunächst das Spiel, welches Leonce begonnen hatte, weiter. Bei dem, was er gehört hatte, würde es nicht mehr lange dauern, bis sich der Kommissar als das zu erkennen geben würde, was er tatsächlich war. „Sie sagen das so, aber ich befolge schließlich auch nur die Vorschriften.“ „Die Vorschriften? Wo steht dort bitte geschrieben, dass Sie einen oder sogar zwei katholische Priester anheuern, bloß weil Sie denken, dass eines Ihrer Schäfchen von einem Vampir gerissen wurde? Ich bitte Sie, Sie wollen sich doch nur selbst die Lorbeeren einheimsen, dass Sie den Fall lösen. Deshalb stellen Sie sich so quer.“ Der Köder, den Ethos sich zurecht gelegt hatte, funktionierte und Leonce biss tatsächlich an. Um nicht zu zeigen, wie viel er wusste, spielte er Leonce absichtlich in die Hände und argumentierte mit falschen Erkenntnissen. Ethos sah, dass es wirkte, denn der Kommissar schien sich mehr und mehr zu beruhigen. „Was soll ich sagen... Sie haben mich anscheinend erwischt.“ „Schämen Sie sich nicht? Aus so einem niederen Grund so viele Ihrer eigenen Leute geopfert zu haben? Eines steht fest, in den Himmel kommen Sie bestimmt nicht.“ „Ich denke auch nicht, dass das nötig sein wird.“ Genervt rollte Ethos mit den Augen. Nicht nur, dass der Mann ohnehin ein Idiot war, er leitete seine Enttarnung auch noch mit solch einem platten Satz ein. Mit einer für seine Verhältnisse nicht unbeachtlichen Geschwindigkeit stürzte sich Leonce auf den Geistlichen. Dabei entblößte er ein Paar langer Reißzähne, die es auf Ethos' Hals abgesehen hatten. Der Abstand zwischen den beiden war jedoch groß genug, um Ethos die Möglichkeit zu geben, auf seinen Angreifer zu reagieren. Der Priester drehte sich zur Seite und zog seine Pistole, dessen Visier er auf den Kopf des Kommissars' richtete. Allerdings schien Leonce darauf vorbereitet gewesen zu sein, denn als Ethos seinen ersten Schuss abgab, wich er diesem gekonnt aus. Ethos machte einen Schritt zurück, um den Klauen des falschen Kommissars' zu entkommen. Leonce blieb stehen und hob seine Hände, die mit langen Fingernägeln besetzten Finger wanden sich in einem grotesken Winkel. Dazu starrte er den Priester mit leblosen, schwarzen Augen an. „Du sitzt in der Falle, Priester!“ „Was du nicht sagst“, entgegnete Ethos gelangweilt. „Etwas schneller, als ich dachte, aber kein Grund, in Panik zu verfallen.“ Leonce erwiderte nichts darauf, sondern stürmte ein zweites Mal auf Ethos zu. Diesmal machte sich Ethos nicht die Mühe, auszuweichen, sondern zielte auf den Dämon. Wieder wich Leonce aus, genau wie Ethos es geplant hatte. Um seinen Gegner abfangen zu können, sprang Ethos ebenfalls zur Seite, stand demnach genau vor Leonce. Der fauchte den Priester laut an und versuchte, ihm in das Gesicht zu spucken. Gerade noch rechtzeitig konnte Ethos dem Speichel ausweichen. Als dieser auf die weiße Wand hinter ihm traf, war ein leichtes Zischen zu hören. Die grüne Flüssigkeit brannte sich mit einem üblen Geruch in die Wand. Angewidert schaute Ethos zurück nach vorne. Leonce hatte in der Zwischenzeit den letzten Abstand zwischen sich und Ethos überbrückt und erhob seine riesigen Pranken. Ethos packte die Handgelenke von Leonce, damit er den Kommissar von sich fernhalten konnte. Indem er sein gesamtes Körpergewicht auf Ethos drückte, versuchte Leonce, diesen in die Knie zu zwingen. Gerade, als Leonce ein weiteres Mal Luft holte, damit er Ethos anspucken konnte, flog die Tür auf. Für den Bruchteil einer Sekunde von seinem Opfer abgelenkt, schaute Leonce zur Seite. Mit einer geschickten Bewegung schleuderte Artemis sein Messer auf Leonce, was diesen dazu brachte, von Ethos abzulassen. Ethos dagegen wand sich mit einer geschickten Bewegung aus den Händen des Dämons und brachte sich in eine wesentlich günstigere Position. Als Leonce bemerkte, dass Ethos nun hinter ihm stand und er somit von den beiden Priestern eingekreist worden war, war es bereits zu spät. Artemis hatte ein weiteres Messer unter seinem Talar hervor gezogen und kam mit einer bedrohlichen Miene auf Leonce zu. „Was meinst du, Ethos, können wir etwas aus diesem Clown hier heraus quetschen?“ Für gewöhnlich war es nicht Ethos' Art, Dämonen in irgendeiner Art und Weise zu verhören, da er dafür niemals die nötige Geduld hatte aufbringen können. Durch seinen Hass auf diese Kreaturen waren sie meist tot, bevor er auch nur die kleinste Information von ihnen hätte erhalten können. Meistens war dies auch nicht nötig, da sie es selten mit kooperierenden Dämonen zu tun hatten. Außerdem waren die Priester durchaus in der Lage, ihre Anliegen ohne fremde Hilfe zu regeln, zudem waren sie zu stolz, um Hilfe aus der Unterwelt anzunehmen. In diesem Fall konnte er vielleicht eine kleine Ausnahme machen, weil dieser Dämon ihm besonders stark auf die Nerven gegangen war. „Ich denke, dass wir das bald erfahren werden“, antwortete Ethos, steckte seine Waffe in das Holster zurück und zog das Messer, das Artemis zuvor geworfen hatte, aus dem Schreibtisch heraus. Erneut fiel Ethos auf, wie bedrohlich Artemis wirken konnte, wenn dieser wütend war. Dabei hatte Artemis nicht einmal seine Augenklappe abgenommen. Bisher hatte Ethos erst eine Hand voll Einsätze erlebt, bei denen es Artemis als nötig erachtet hatte, seine Augenklappe zu entfernen und die mehr oder weniger geheime Waffe, die sich darunter verbarg, einzusetzen. Jetzt funkelte Artemis' blaues Auge geradezu vor Zorn, seine zu einem hässlichen Lächeln gekräuselten Lippen verrieten jedoch die bizarre Freude, die dahinter steckte. Ungeachtet seiner lockeren und eher friedlichen Persönlichkeit besaß Artemis einige Charaktereigenschaften, die, ausgenommen von seinen menschlichen Schwächen, dämonischen Zügen zu glichen schienen. Ethos war es bis dato nicht gelungen herauszufinden, ob dies an Artemis selbst oder aber seinem Fluch lag. „Wer ist der Mann, der vorhin aus deinem Büro gekommen ist?“, begann Artemis das Verhör. „Der Typ in Schwarz.“ Leonce schwieg. „Komm schon, erzähl uns einfach, was wir wissen wollen. Du hast eh bereits verloren.“ Artemis stand nun direkt vor dem Dämon und fuhr mit dem Finger vorsichtig die Klinge seines Messers ganz leicht hinunter und verursachte ein kaum zu vernehmendes Geräusch. Immer, wenn dieses Geräusch ertönte, schien es Leonce eiskalt den Rücken herunter zu laufen. Dennoch brach er sein Schweigen nicht. „Offensichtlich ist die Strafe, falls er redet, schlimmer als alles, was wir ihm antun könnten“, bemerkte Ethos. Abwechselnd drehte sich Leonce Artemis, dann wieder Ethos zu, je nachdem, welcher der beiden Priester gerade mit ihm sprach. Obwohl er ganz genau wusste, dass er in der Falle saß und nur wenige Optionen übrig blieben, konnte sich anhand seines Blickes sehr gut nachvollziehen lassen, wie er fieberhaft nach einem Plan suchte, um sich zu retten. „Ich werde auf gar keinen Fall reden!“, zischte Leonce. Er beugte sich leicht nach vorne, damit er in die Hocke gehen und zu einem Sprung ansetzen konnte. Da Ethos, im Gegensatz zu seinem Kollegen, bereits Bekanntschaft mit Leonces Speichel gemacht hatte, reagierte der in weiß gekleidete Priester zuerst. Noch bevor sich Leonce hätte in Sicherheit bringen können, war Ethos hinter ihn getreten, hatte seine Arme ergriffen und nach hinten gezogen. Mit aller Kraft versuchte Leonce, sich aus diesem Griff zu befreien. Artemis wollte seinem Partner gerade zur Hilfe kommen, als dieser ihn anschrie: „Nicht!“ Abrupt blieb Artemis stehen. Leonce dagegen drehte seinen Kopf und spuckte nun den in seiner Haltung nahezu erstarrten Artemis an. Als hätte der bereits gewusst, was auf ihn zukommen würde, griff er in einer unmenschlich schnell erscheinenden Geste zur Seite, nahm sich einen der alten Stühle, die in dem Büro standen und hielt sich diesen vor seinen Oberkörper. Der Speichel traf auf den ohnehin ramponiert wirkenden Stoffbezug der Rückenlehne und ätzte sofort ein kleines Loch hinein. Artemis‘ Gesicht erreichte die säurehaltige Flüssigkeit allerdings nicht mehr. Sofort drehte Ethos Leonce nach hinten, presste ihn mit der Vorderseite auf den Schreibtisch und warf sich mit seinem Gewicht auf den Dämonen, damit er diesen in Zaum halten konnte. Noch immer zappelte Leonce heftig hin und her, dazu stieß er laut mehrere Flüche und Verwünschungen aus. Wütend warf Artemis den Stuhl zur Seite, wo er heftig krachend gegen einen Tisch flog und an diesem zerschellte. Langsam kam er auf Leonce zu, beugte sich in einem sicheren Abstand nach unten und sammelte selbst genügend Speichel, um dem Dämon in das Gesicht zu spucken. „Wie gefällt dir das, du niedere Kreatur?“, fragte Artemis höhnisch und stellte sich wieder auf. Dazu verschränkte er die Hände hinter seinem Rücken. „Scheiß Priester! Ich werde dich töten! Ich werde euch beide töten! Und auf eure Kadaver pissen!“ Artemis zog eine Augenbraue nach oben. „Ach so einer bist du? Sogar für einen Dämonen ist das ein ziemlich kranker Fetisch.“ Da Leonce inzwischen in die für Dämonen typische Rage verfallen war, brachte er nichts weiter außer einem wütenden Heulen hervor. Dazu zog er immer stärker seine Hände nach vorne, in dem Versuch, sich zu befreien. Seine Augen leuchteten mittlerweile in einem hellen Rot, das unter anderem dann zutage kam, sobald ein Dämon seine volle Kraft auszuspielen begann. Oder aber sehr verzweifelt war. „Könnte Herr Dal Monte langsam mit dem Verhör beginnen?“, presste Ethos unter zusammengepressten Zähnen hervor. „Auch ich kann den nicht ewig in Schach halten.“ „Natürlich. Sehr gern, Herr Turino.“ Zum zweiten Mal nahm Artemis das Messer auf und kam auf Leonce zu. Als dieser Artemis anspucken wollte, drückte Artemis Leonces Kopf zur Seite und lehnte sich spielerisch mit der linken Hand darauf, in der anderen wog er das Messer. Wie beiläufig betrachtete Artemis das Messer von allen Seiten, während er sprach. „Also, sagst du uns jetzt, wer der Typ war, der hier raus spaziert ist?“ „Blackcage ist sein Name“, meldete sich Ethos zu Wort. Jetzt, da Artemis sich auf den Kopf des Dämons lehnte, konnte er ein wenig von dem Druck nehmen, mit dem er auf Leonce einwirken musste, damit er oder Artemis nicht selbst verletzt werden würden. „Und der Name Esrada fiel ebenfalls.“ „Ich werde euch gar nichts sagen“, lachte Leonce. „Das ist die schlechtere Wahl für dich. Eindeutig.“ „Ihr wisst doch gar nicht, mit wem ihr euch da anlegt. Ihr werdet mich sowieso töten. Und wenn Esrada erst einmal herausfindet, dass ich geplaudert habe, wird mein Tot nur umso grausamer.“ „Demnach steht er eindeutig über dir. Gehört er einem Clan an?“, fragte Artemis weiter. Dabei erhöhte er leicht den Druck, den er auf Leonces Kopf ausübte. „Wie ich schon sagte, aus mir bekommt ihr nichts heraus.“ Artemis umfasste den Griff des Messers und bohrte die Klinge tief in Leonces Schulter. Dieser heulte wild auf vor Schmerz, besonders, als Artemis das Messer ganz langsam wieder hinaus zog. Trotzdem warteten die beiden Priester vergeblich darauf, dass Leonce redete. „Ich kann auch woanders hin stechen.“ Prüfend ließ Artemis seinen Blick über den Körper des Gefangenen wandern. Noch während er sich eine geeignete Stelle suchte, die Leonce wirklich Schmerzen bereiten würde, vernahm er ein gurgelndes Geräusch. Grüner Schaum trat Leonce über die Lippen und seine Augen drehten sich unnatürlich weit nach hinten, dass bald nur noch das Weiße in ihnen zu sehen war. „Der wird doch nicht...“, begann Artemis, doch es war bereits zu spät. Ethos merkte, wie der Widerstand unter ihm abebbte. Die Gliedmaßen von Leonce erschlafften und der beißende Gestank von Urin legte sich in die Luft. Sofort ließ Ethos Leonce los und trat nach hinten. Artemis griff dessen Kopf an dem dünnen Haar und riss ihn nach oben. Dort, wo der Adamsapfel sitzen sollte, klaffte ein großes Loch, rosa Fäden aus Fleisch hingen heraus. Innerhalb weniger Sekunden hatte sich die ätzende Säure am Rand der dünnen Haut des Halses einmal herum und durch die Wirbelsäule gefressen und Artemis hielt nun den Kopf abgetrennt in der Hand. Fluchend drehte Artemis sich um und schleuderte dabei den Kopf zur Seite, der einige Meter über den Boden rollte, an einer der Wände abprallte und die beiden Priester leblos anstarrte. Am liebsten wäre Artemis noch einmal hinterher gesprungen, um die tote Kugel durch den Raum zu treten, doch Ethos war hinter ihn getreten und legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter. „Lass es gut sein. Kümmern wir uns lieber darum, einige Hinweise zu finden.“ Artemis zählte bis Drei, atmete mehrere Male tief durch und steckte das Messer schließlich zurück in seinen Talar. „Dieser miese Wichser.“ „Mich ärgert es auch, aber wir können nichts daran ändern, dass Leonce sich selbst umgebracht hat, indem er sich an seinen eigenen Säurespeichel erstickt hat. Das ist eine Leistung, die man beinahe schon wieder anerkennen müsste.“ „Ich würde mein verbleibendes Auge darauf verwetten, dass er wichtige Informationen gehabt hat, die uns hätten weiterhelfen könnten.“ „Das sehe ich genauso. Wer auch immer derjenige war, mit dem er sich unterhalten hatte, seine Angst sprach ganze Bände. Wer lieber so unehrenhaft stirbt, als das Risiko einzugehen, in die Hände eines anderen Dämonen zu fallen, muss eine riesen Furcht gehabt haben.“ Es kam selten vor, dass sich Dämonen offen voreinander fürchteten. Ähnlich wie Menschen in höheren Machtpositionen schienen sie jeweils von sich selbst zu denken, in der besseren Lage zu sein und die größere Fähigkeit zu besitzen oder durch ihre Verbündeten unangreifbar zu werden. Sie versuchten zumindest, diesen Eindruck zu vermitteln. Wie es wirklich im Inneren eines Dämons aussah, wusste wohl nur der Teufel höchstpersönlich. Aber auch unter den Dämonen gab es Ausnahmen, die sich schnell unterordneten. Diese mussten jedoch besonders schwach oder anderweitig in die Kreise besonders mächtiger Dämonen geraten sein, denn normalerweise gingen schwächere Dämonen ihren überlegenen Verwandten eher aus dem Weg, wenn sie keinen Clan um sich geschert hatten. So verhinderten sie es auch, in die Abhängigkeit zu geraten. Wiederum schwache Dämonen taten sich recht oft zusammen und bildeten Clans, wahrscheinlich, weil es ihnen in einigen Situationen das Leben retten konnte und ihr Selbstbewusstsein stärkte. Eine große Rotte schwacher Dämonen konnte selbst einem stärkeren Dämon gefährlich werden. Plötzlich fiel Ethos etwas Wichtiges auf. „Wo wir gerade dabei sind... Die Erfahrung hat uns einiges gelehrt, mitunter, dass wo ein schwacher Dämon auftaucht, meist andere schwache Dämonen nicht weit entfernt sind. Wenn ich mich nicht irre, war der Dämon, der mir im Wald begegnet ist, nicht Leonce. Es ist jedenfalls keine Wunde durch einen Pflock zu sehen.“ „Die gesamte Polizeistation könnte also betroffen sein?“ Wie um Artemis‘ Frage zu bestätigen, erklangen draußen Schritte. Den Geräuschen nach zu urteilen, war eine ganze Schar an Polizisten auf dem Weg zu den beiden Priestern. Mit einem großen Knall flog die Tür auf und das erste Wesen der Dunkelheit betrat kreischend den Raum. Hinter ihm folgte mindestens ein Dutzend weiterer Kreaturen, allesamt mit langen Zähnen und Fingernägeln ausgestattet. Die Dämonen drängten sich in den Flur vor dem Büro, während die beiden Priester sich bereit machten - Artemis auffordernd grinsend, Ethos den Blick streng nach vorn gerichtet - einen weiteren Kampf auf sich zu nehmen. Anstatt den umständlichen Weg zu nehmen, zogen beide ihre Pistolen und nutzten die geringe Beweglichkeit, die ihre Gegner beim Passieren des Türrahmens hatten. Einer nach dem anderen fiel kreischend zu Boden, bis sowohl alle Patronen aufgebraucht, als auch alle Dämonen beseitigt waren. „Passt perfekt“, stellte Artemis zufrieden fest und steckte, zusammen mit Ethos, seine Waffe wieder ein. Sofort machte Ethos sich daran, den Schreibtisch von Leonce zu durchsuchen, während Artemis weiterhin Wache stand. „Als ich Leonce und Blackcage belauscht habe, sagte er irgendwas davon, dass er Leonce alles gegeben hätte, um uns entsprechend zu entgegen zu treten. Irgendetwas muss es also geben, das Leonce eigentlich als Waffe hätte dienen sollen.“ Da er nichts fand, riss Ethos sämtliche Dokumente, die er finden konnte, aus den Schubladen heraus. Durch den harten Stoß wirbelten die Papiere durch die Luft und verteilten sich im ganzen Raum. Wie ein Regen prasselten die einzelnen Blätter auf Artemis herunter. Zuerst schenkte er diesen kaum Beachtung, doch als Ethos die Schubladen aus lauter Verzweiflung und Wut darüber, dass er nichts fand, heraus gezogen hatte, bückte sich Artemis, um eines der Papiere aufzuheben. Er las sich einige Zeilen durch und hielt erschrocken den Atem an. „Ethos, ich glaube, du kannst aufhören zu suchen.“ Fragend kam Ethos näher. „Ich denke, die wissen ganz gut über uns Bescheid.“ Artemis reichte Ethos den Zettel. Während Ethos las, wurde sein Blick immer stärker von Skepsis durchzogen. „Wie kommen die an solche Informationen? Das, was hier über mich geschrieben wurde, kann nur vom Vatikan selbst stammen. Niemand sonst kann solche Sachen über mich wissen.“ Artemis hatte in der Zwischenzeit weitere Dokumente aufgesammelt. „Hier steht sogar etwas über meine Ehe, nicht nur über dich haben sie Fakten zusammengestellt, die eigentlich niemand haben dürfte. Außerdem habe ich hier eine Auflistung von allen möglichen Dingen, denen wir uns bedienen, um die Biester auszuschalten. Irgendetwas stimmt hier nicht, Ethos.“ Auch Ethos war geschockt und machte sich daran, alles, was er in dem Büro verstreut hatte, wieder zusammen zu tragen. Als er und Artemis damit fertig waren, alle Dokumente wieder einzusammeln, band Ethos diese zu einem Stapel zusammen und klemmte ihn sich unter die Achseln. „Blackcage hatte zu Leonce gesagt "Ich habe dir alles gegeben, um diese beiden lästigen Hindernisse aus dem Weg zu räumen". Ich dachte zuerst, dass von einer Waffe die Rede gewesen sein müsse, da habe ich mich anscheinend getäuscht.“ „Du hast dich nicht getäuscht. Welche Waffe könnte stärker sein, als alles, was es an Informationen über uns gibt, zu sammeln und daraus vielleicht den entscheidenden Vorteil zu ziehen?“, fragte Artemis und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Ethos nickte nur geistesabwesend und überflog noch einmal, was er gerade in den Händen hielt. „Wir sollten dieses Material schnellstmöglich Monsignore Nikolas in die Hände geben und hoffen, dass er etwas damit anzufangen weiß. Oder einen Hinweis daraus ziehen kann, mit wem wir es zu tun haben.“ Anstatt sich weiterhin mit Kleinigkeiten aufzuhalten, ging Artemis voran und stieg über die toten Dämonen, damit er auf den Flur gehen konnte. Als Ethos ihm folgen wollte, blieb sein Blick auf einem der Dämonen haften. Es handelte sich um Monsieur Pretout, den Gerichtsmediziner. Aus einer Intuition heraus bückte sich Ethos herunter und zog den blutverschmierten Kittel, den dieser trug, nach oben. Wie er es bereits vermutet hatte, kam ein runder Abdruck auf dem unteren Teil des Bauches zum Vorschein, der gut von einem Holzpflock stammen konnte. Während das Innere ganz gut verheilt zu sein schien, war dennoch das gereizte blutrote Gewebe darunter zu erkennen. Die Stelle war zudem noch immer eingedrückt. „Kommst du jetzt?“, drängte Artemis, der noch einmal zurückgekommen war. „Ich würde mir gerne noch einmal den Keller ansehen. Möglicherweise finden wir in der Gerichtsmedizin noch weitere Hinweise, die uns nützlich sein könnten.“ Ohne etwas darauf zu erwidern trat Artemis zurück auf den Flur. Er machte sich bereits Gedanken darüber, wie die Dämonen an die Informationen über ihn und Ethos kommen konnten. Die meisten Dinge, die er gelesen hatte, waren nur wenigen Menschen geläufig, die sich rund um die Uhr im Vatikan aufzuhalten hatten. Ranghöhere Priester, die einer strengen Kontrolle unterlaufen waren, um überhaupt auf ihren Posten zu kommen, hatten Zugriff auf diese sensiblen Fakten, die die Vergangenheit und Persönlichkeit der Mitarbeiter der Abteilung enthielten. Artemis erschauderte aufgrund der Tatsache, dass irgendjemand, der über mächtige Fähigkeiten zu verfügen schien, solch intime Dinge über ihn wusste. Umso wichtiger war es, den unbekannten Feind aufzudecken und diesen zu eliminieren. Inzwischen hatte Ethos zu Artemis aufgeholt und trottete, genauso schweigend und in seine Gedanken versunken, neben dem anderen Priester her. Auch Ethos fasste in diesem Moment den Schluss, den unbekannten Gegner schnellstmöglich zur Strecke zu bringen. Allerdings würde er vorher höchstpersönlich dafür sorgen, dass derjenige, der diese Dokumente über ihn und seinen Kollegen verfasst hatte, seine ganz eigenen Höllenqualen durchleben würde, bevor Ethos ihn durch den gnädigen Tod erlösen würde. Kapitel 5: Kapitel 05 --------------------- Kapitel 05 Den Kopf gesenkt und schnaufend aufgrund der Hitze, trottete Artemis' Pferd gemächlich neben dem von Ethos her. Auch die Fuchsstute Bellazza schritt gemütlich und geradezu desinteressiert voran, ungeachtet der vielen Menschen um sie herum. Ethos und Artemis waren nun bereits mehrere Tage unterwegs und in Rom angekommen, so dass sie bald den Vatikan erreichen würden. Manchmal blieb der eine oder andere Passant erschrocken stehen und zeigte auf die beiden Priester. Kein Wunder, denn an Ethos' Kleidung klebte getrocknetes Blut. Sehr zum Bedauern der Dämonen des französischen Polizeidirektoriums nicht sein eigenes, aber das konnten die Passanten so nicht wahrnehmen. Es hatte sich herausgestellt, dass nicht alle Polizisten des Präsidiums von Dämonen besessen gewesen waren. Zwar war die Anzahl durchaus beachtlich, doch hatten sie sich gut vor ihren menschlichen Kollegen verstecken können. Diejenigen, die mit Ethos zusammen in den Wald geritten waren, hatten überhaupt keine Ahnung, was die wahre Natur einiger ihrer Kollegen anging. Das wiederum hatten sich die Dämonen zunutze gemacht, um Ethos glaubhaft zu machen, sich unter Menschen zu befinden. Einmal mehr verfluchte Ethos die Schmach, die er und Artemis aufgrund fehlender Aufmerksamkeit hatten erdulden müssen. Das durfte ihnen niemals wieder passieren. Artemis hatte seine Kleidung gewechselt und trug nun ein schwarzes Hemd und eine dazu passende Hose, da es sich in einem Talar schlecht reiten ließ. Zudem war die Entsorgung der vielen Leichen ebenfalls eine blutige Angelegenheit gewesen und Artemis war sich sicher, das angetrocknete Blut ohnehin niemals wieder aus den Sachen heraus zu bekommen. Ein wesentlich größeres Problem würde jedoch noch dem Vatikan selbst bevorstehen. Wie das plötzliche Verschwinden der Polizisten erklärt werden würde, lag glücklicherweise nicht in den Händen von Ethos oder Artemis. Die Abteilung besaß eigens dafür ausgebildete Angestellte, die die Kunst beherrschten, jede noch so unlogisch erscheinende Gegebenheit in das richtige Licht zu rücken. Ohne die sogenannten Geschichtenerzähler, wie sie scherzhaft genannt wurden, wäre der Großteil der Missionen unmöglich. Aus diesem Grund genossen sie eine besondere Form des Respektes, obwohl die meisten unter ihnen noch nie an einem Einsatz außerhalb der schützenden Mauern des Vatikans teilgenommen hatten. Für Ethos und Artemis war die Situation, von den Passanten angestarrt zu werden, nichts Ungewöhnliches mehr, hatten sie diese doch bereits mehrere Male erlebt. So kam es, dass sie sich weiter unterhielten, ohne den auf sie gerichteten Fingern noch irgendeine Art von Beachtung zu schenken. „Dein Auge hat sich erst bemerkbar gemacht, als der Dämon hinaus getreten ist?“ „Allerdings. Vorher habe ich nichts gespürt. Erst, nachdem er sich auf dem Flur materialisiert hatte. Aber nicht nur das empfinde ich als außergewöhnlich. Leonce war eine echte Enttäuschung, zumindest kann ich von mir behaupten, schon gegen wesentlich stärkere Dämonen gekämpft zu haben. Demnach war er wahrscheinlich nur eine Farce.“ „Außerdem hätte der andere Dämon dich bemerken müssen. Er stand doch genau neben dir oder etwa nicht?“ „Doch, er war nur wenige Meter von mir entfernt. Normalerweise hätte er wissen müssen, dass ich dort stehe.“ „Und trotzdem hat er nicht reagiert.“ „Nein.“ „Mir kommt das Ganze genauso unsinnig vor wie dir. Ich sehe keinen Grund, weshalb der Dämon einen von uns hätte absichtlich verschonen wollen. Es steht fest, dass der Dämon gerade uns beide tot sehen wollte. Er kennt unsere Namen, sammelt alles Mögliche über uns, erkennt wohl auch, dass wir eine Gefahr für ihn darstellen und schickt einen solchen Stümper, um uns zu erledigen. Von dem er auch noch vermutet, dass er nicht in der Lage sein würde, uns ohne Hilfe zu töten.“ „Vielleicht gibt einer der Namen, welche du aufgeschnappt hast, einen Hinweis darauf. Mir sagt Esrada nichts, genauso wenig wie Blackcage, aber möglicherweise weiß Prälat Nikolas etwas damit anzufangen. Wenn jemand etwas darüber wissen könnte, dann er.“ Tief in seine eigenen Gedanken versunken nickte Ethos zustimmend. Er konnte sich nicht helfen, er hatte den Namen Esrada bereits irgendwo schon einmal gehört. Das einzige, das er mit Bestimmtheit sagen konnte, war, dass es nicht im Zusammenhang mit seiner Arbeit für den Vatikan gewesen ist. Doch woher kannte er ihn dann? Noch bevor Ethos sich weiter den Kopf darüber zerbrechen konnte, waren sie bereits vor den Toren des Vatikans angekommen. Sie ritten bis vor den Giardini Vaticani und übergaben dort ihre Pferde an einen anderen Priester, der die Tiere ab satteln und in die Stallungen bringen würde. Ethos und Artemis wollten daraufhin zu ihrem Quartier gehen, dem Domus Sanctae Marthae, um sich zu waschen. Auf halben Wege kam ihnen ein alter Mann entgegen, der sich beim Gehen auf einen Stock stützte. Seine Haare waren bereits ergraut und an vielen Stellen ausgefallen, lediglich an den Seiten waren noch einige Büschel zu erkennen. Auf seinem Kopf befand sich ein schwarzes Birett, seine Kleidung schmückten violette Knöpfe und ein violettes Zingulum. Die alten grauen Augen strahlten eine Ruhe aus, wie sie selten in der gegenwärtigen Welt zu sehen waren. Die vielen Falten in dem Gesicht des in einen schwarzen Talar gekleideten Mannes machten es schwer, seine Gesichtszüge zu deuten. Als er jedoch Ethos und Artemis erblickte, hellten sie sich merklich auf. „Pater Ethos, Pater Artemis. Willkommen zurück“, rief der alte Mann freudig und steuerte direkt auf die beiden Priester zu. „Hochwürdigster Herr Prälat“, antworteten Ethos und Artemis gleichzeitig. Als der alte Mann vor den beiden angekommen war, deuteten sie eine leichte Verbeugung an, die dem Angesprochenen ein kehliges Lachen entlockte. „Nicht doch, Sie wissen, dass ich außerhalb der Messe keinen besonderen Wert auf Etikette lege.“ Auch Artemis und Ethos lachten nun, wenn auch wesentlich zurück haltender als ihr Gegenüber. „Wie auch immer, ich bin gespannt, was Sie mir von Ihrem Auftrag zu berichten haben. Die letzte Nachricht, die ich aus Frankreich erhalten habe, ist nicht nur mehrere Tage alt, sondern verwirrt mich, muss ich gestehen.“ Um seine Aussage zu unterstreichen, kratzte sich der alte Mann an der Stirn. „Aber kommen Sie doch erst einmal mit, ich werde einen Tee aufsetzen lassen, dann können wir alles ganz in Ruhe besprechen.“ Mit einer ausladenden Bewegung drehte sich der Alte um und bedeutete Ethos und Artemis, dass die beiden ihm folgen sollten. Obwohl er sich beim Laufen auf seinen Stock stützen musste, besaßen die humpelnden Bewegungen des Alten eine erstaunliche Schnelligkeit. Die Via del Seminario Etiopico war bereits bis zur Hälfte geschafft, als Artemis und Ethos langsam aufgeholt hatten. „Wenn Sie weiterhin so rennen, dann werden wir kaum noch Gelegenheit dazu haben, Ihnen von unserem kleinen Ausflug zu erzählen, Monsignore Nikolas.“ „Ach, warum denn das nicht?“ „Weil Sie entweder noch mal stolpern und sich das zweite Mal Ihre Hüfte brechen oder aber an einem Herzinfarkt sterben“, antwortete Artemis grinsend. Nikolas tat, als habe er den Kommentar des braunhaarigen Priesters überhört, wie er dies bereits hunderte von Malen getan hatte. Ethos dagegen strafte seinen Kollegen lediglich mit einem missbilligenden Blick, auch er hatte es aufgegeben, Artemis den nötigen Respekt beizubringen. Dass es sich bei Artemis um einen der wenigen Priester im Vatikan handelte, der es sogar fertig brachte, dem Papst einen dämlichen Spruch an den Kopf zu werfen, wurde komischerweise von allen mehr oder weniger akzeptiert. Inzwischen war das ungleiche Trio am Palast des Domkapitels angekommen, der dem Vatikan als Schatzkammer diente. Hier zog sich Nikolas gerne zu Besprechungen zurück, die nicht für jedermann Ohren bestimmt waren. Für gewöhnlich hielt sich hier selten eine Menschenseele auf, zudem hatten nur sehr wenige Personen überhaupt Zutritt zu diesem Gebäude. Während Nikolas in seiner Hosentasche nach dem Schlüssel nestelte, kam ein junger Bursche angerannt. Seine kurzen roten Haare standen ihm in nahezu alle Richtungen ab, seine blasse Haut war im Gesicht nahezu übersät von Sommersprossen. Fast wäre er über seinen eigenen Talar gestolpert, sogar Artemis musste zugeben, dass Prälat Nikolas die bessere Agilität besaß. Kaum war der Junge an der Tür angekommen, blieb er erst einmal stehen, um zu verschnaufen. Nach wenigen Sekunden straffte er sich, richtete sich wieder auf und fixierte Nikolas mit seinen schmalen grünen Augen. „Hochwürdigster Herr Prälat, bitte entschuldigen Sie meine Verspätung, aber ich...“ „Lieber Steve, würdest du uns bitte eine Kanne Kamillentee und drei Tassen bringen?“, unterbrach Nikolas den Jungen. „Aber sicher, Hochwürdigster Herr Prälat. Ich eile“, sagte Steve kleinlaut und war kurz darauf wieder verschwunden. Dabei behielt er das gleiche Tempo bei, in dem er angekommen war. Einen letzten Blick auf den in Weiß gekleideten Priester konnte er jedoch nicht vermeiden. Als er das Blut entdeckte, richtete Steve seinen Kopf jedoch schnellstmöglich geradeaus und tat, als habe er nichts bemerkt. Bei Steve handelte es sich um einen der wenigen jüngeren Menschen im Vatikan. „Wer ist denn das?“, fragte Artemis beiläufig, als er nach Ethos in den kleinen Besprechungssaal eingetreten war, der sich in einem kleinen geheimen Zimmer des Gebäudes befand. „Das war Steve. Einer unserer Neuzugänge. Hat in Irland auf einem Bauernhof gelebt, bevor er sich dazu entschlossen hat, Priester zu werden.“ Nikolas setzte sich an den runden Tisch aus massiven Eichenholz, der die gesamte Mitte des Raumes ausfüllte. Seinen Gehstock lehnte er an die Tischkante und wartete, bis die beiden anderen Priester sich ebenfalls gesetzt hatten. „Wie ihr wisst, existiert unsere Abteilung offiziell nicht. Demnach müssen wir uns selbst darum kümmern, früh genug mit der Ausbildung unseres Nachwuchses zu beginnen.“ Noch im gleichen Moment, als Nikolas diesen Satz ausgesprochen hatte, ärgerte er sich auch schon darüber, ihn nicht wieder zurück nehmen zu können. „Ist dieser Punkt bei Ihnen nicht bereits um einige Jahre überschritten?“ „Pater Artemis, wenn Sie nichts Konstruktives vorzubringen haben, würde ich Sie bitten, uns mit Schweigen zu beglücken.“ „Ich hätte diesbezüglich eine ernst gemeinte Frage, Monsignore“, mischte sich nun auch Ethos ein. „Heißt das, dass Sie diesen Jungen auserwählt haben, Ihre Nachfolge anzutreten?“ „Genau das habe ich mir dabei gedacht, Ethos. Steves Hintergrund wurde ausreichend durchleuchtet, um sicherzugehen, dass ihm vertraut werden kann. Da er niemals etwas anderes als den Bauernhof seines Vaters, die Dorfschule und die nahe gelegene Kirche kennen gelernt hat, sollte in seiner Vita auch kaum mehr als Trivia zu erwarten sein." „Was bewegt einen so jungen Mann dazu, der Kirche beizutreten?“ „Was hat Sie damals dazu bewegt?“, fragte Nikolas und sah, dass sich in Ethos' Gesicht etwas bei der Frage zu regen schien. Sie nahm ihm kurz die Fassung, doch es dauerte nicht lange, bis Ethos seinen Gesprächspartner wieder mit der altbekannten Schärfe ansah, die ihm zu eigen war. „Nun, der Vater des Jungen fiel im Großen Krieg auf französischem Gebiet. Seine Leiche wurde, wie viele andere, niemals gefunden. Seine Mutter dagegen starb an einer Infektion und seine Schwester an einer schweren Lungenentzündung. Der einzige, der ihm wirklich Trost spenden konnte, war der örtliche Priester. Trotz der ganzen Vorfälle, die seine Familie dahin gerafft haben, besitzt der Junge einen unglaublich starken Glauben an Gott. Das und die Tatsache, dass er bisher kaum Einflüssen unterlegen war, die ihn hätten formen können, machte ihn in meinen Augen zu einem geeigneten Kandidaten für den Posten.“ Ethos genügte diese Antwort fürs Erste. Gerade in diesem Augenblick kam Steve zurück mit dem Tee, stellte diesen und die Tassen an ihren Platz, nur um sich kurz darauf zu verbeugen und mit gesenktem Haupt wieder zu verschwinden. „Mit den Jahren wird er mutiger werden. Immerhin ist sein Benehmen jetzt schon um einiges besser, als das von Pater Artemis“, stellte Nikolas fest, als er sah, dass Artemis bereits dabei war, sich selbst einen Tee einzugießen ohne zu fragen, ob jemand anderes auch etwas trinken wolle. Doch anstatt seinen tadelnden Ton beizubehalten, musste Nikolas anfangen zu lachen und es war ein fröhliches Lachen. Wann immer er den Priester mit der Augenklappe tadelte oder durch einen Kommentar zurecht weisen wollte, wussten beide, dass dies hauptsächlich gespielt war. Niemand konnte Artemis lange sauer sein. Zumindest inoffiziell nicht. Niemand, außer zwei Menschen, die sich regelmäßig im Vatikan aufhielten. Nur einer von diesen beiden konnte Artemis irgendwann wirklich gefährlich werden, doch im Moment ging für ihn - in seinen Augen - keine große Gefahr von dieser Person aus. „Nun denn“, begann Nikolas und nippte an seinem Tee und lehnte sich in dem Stuhl zurück. „Berichten Sie mir.“ Ethos war derjenige, der zuerst das Wort ergriff. „Sie haben sicherlich die Nachricht von Leonce erhalten, dass ich Verstärkung benötigen würde, welche Sie mir in Form von Pater Artemis geschickt haben.“ Nikolas nickte wissend. „Gut, dann erkläre ich Ihnen, was sich zwischen dieser und meiner letzten Nachricht ereignet hat.“ Nachdem Ethos alles, was er und Artemis erlebt hatten, geschildert hatte, war nicht nur einiges an Zeit vergangen, sein Tee war auch bereits seit über einer halben Stunde erkaltet. „Esrada...“ Nikolas' Gemurmel war kaum zu hören, da er den Kopf nachdenklich nach unten gesenkt hatte. „Nein, der Name sagt mir nichts. Genauso wenig wie Blackcage. Aufgrund der Besonderheit des ersten Namens, der eher wie ein Vorname und älter klingt, und dem, was Sie mir geschildert haben Ethos, würde ich fast behaupten, dass Esrada den anderen beiden Dämonen überlegen ist.“ „Das denken wir auch.“ „Der einzige Anhaltspunkt, den wir im Grunde genommen haben, ist, dass dieser Blackcage irgendetwas in England vorhat“, schaltete sich Artemis hinzu. „Bisher haben wir keine beunruhigende Korrespondenz von unseren Kollegen in England erhalten.“ „Wie stehen wir mit denen in Verbindung?“, wollte Artemis wissen. „Hat sich seine Heiligkeit bereits durchringen können, uns eine vernünftige und schnelle Art der Kommunikation zur Verfügung zu stellen oder müssen wir erst auf eine Taube warten, wenn es vermutlich eh schon zu spät ist?“ Dieser Kommentar war ausnahmsweise keine von Artemis' zynischen Äußerungen, sondern durchaus eine berechtigte Frage. Viele der Berater des Papstes, der immer das letzte Wort hatte, wenn es um die Modernisierung oder Neuanschaffungen der Spezialabteilung ging, waren absolute Technikgegner. Sie taten, was sie konnten, um den Papst davon abzuhalten, seinen Mitarbeitern modernes Gerät an die Hand zu geben. Oftmals war es der Überredungskunst von Nikolas zu verdanken, dass Ethos und Artemis überhaupt etwas an Technik besaßen, das sie im Kampf gegen die Dämonen einsetzen konnten. Zuletzt genannte scheuten sich nämlich mitunter nicht dagegen, von Menschenhand gefertigte Gewehre oder sogar Sprengstoffe einzusetzen. „In diesem Fall kann ich Sie beruhigen. Seit einigen Tagen besitzen wir endlich eine Telefonverbindung nach England. Weitere Verbindungen werden folgen, ich bin mit Nachdruck an der Sache dran.“ Erleichtert nickend spielte Artemis an dem Henkel seiner schneeweißen Porzellantasse. „Wenn sich bisher noch niemand aus England gemeldet hat, beruhigt mich das ungemein. Nachdem wir die Dämonen in dem Revier ausgeschaltet haben und in den Keller des Gerichtsmediziners gegangen waren, haben wir dort überall Spuren von anderen Dämonen gefunden. Kratzspuren an den Wänden und an weiterem Material und einen Haufen langer Zähne. Es haben sich also eine Menge "Vampire" zusammen getan, um gegen uns vorzugehen. Wahrscheinlich stellte das Revier einen ganzen Clan schwacher Dämonen dar, die sich irgendwann einmal gefunden haben.“ „Und ihre eigenen Leute töten, wenn ich Sie vorhin richtig verstanden habe.“ „Richtig. Neben den organischen Funden habe ich noch einen Bericht entdeckt, der beschreibt, weshalb Christopher Gargon sterben musste. Durch sein zügelloses Vorgehen war er zu auffällig geworden. Zwar wollte Leonce uns anlocken, das steht außer Frage, aber so eine große Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollte er dann doch nicht. Gleiches trifft auf weitere Dämonen zu, die aus dem Weg geräumt werden mussten. Allerdings ist es merkwürdig, dass den meisten von ihnen Zähne gezogen und diese dazu auch noch aufbewahrt wurden.“ „Im Erstellen von Dokumenten scheinen die ja ohnehin große Klasse zu sein“, warf Artemis ein. „Wie kann es sein, dass jemand so sensible Informationen über uns außerhalb des Vatikans zusammenstellen kann?“ „Darauf habe ich leider keine Antwort.“ Drückende Stille legte sich auf die drei Priester. Keiner von ihnen traute sich auszusprechen, was offensichtlich war, bis Artemis erneut das Wort erhob. „Wir müssen also davon ausgehen, dass der Informant aus dem Vatikan kommt?“ „Ich befürchte, dass wir diese Option durchaus in Betracht ziehen müssen. Solange wir nichts Genaues wissen, werden wir vorsichtiger sein müssen. Ab jetzt werde ich alle unsere Unternehmen nur noch selbst erstellen, unterzeichnen und dem Papst zur Unterschrift vorlegen.“ „Geht das denn ohne den Geheimen Rat?“ „In einem Notfall wie diesem sicher. Es sei denn, der Papst stimmt dem nicht zu.“ Normalerweise mussten alle Dokumente, die sich mit einem Belang der Spezialabteilung befassten, erst dem Geheimen Rat, bestehend aus fünf Mitgliedern, vorgelegt werden, bevor er überhaupt in die Nähe des Papstes gelangte. Diese fünf Mitglieder besaßen allesamt den gleichen Rang, damit sie theoretisch gleichberechtigt waren in der Abstimmung und konnten nur mit "Ja" oder "Nein" stimmen, um Pattsituationen zu verhindern. Eine der Notfallbestimmungen sah es jedoch vor, dass das Oberhaupt, das die Abteilung leitete, in besonderen Fällen über dem Rat stand, dessen übrige Mitglieder, um mehrere Sichtweisen zuzulassen, in der Regel aus anderen Bereichen stammten. Jedes Mitglied wurde vorher genauestens überprüft, bevor es eine Tätigkeit im Geheimen Rat annehmen durfte. Dass sich ausgerechnet unter ihnen ein Maulwurf befinden sollte, gab dem Prälat besonders zu denken. „Können die Hintergründe der übrigen Ratsmitglieder nicht einfach noch mal überprüft werden?“ „Wenn es nur so einfach wäre, Ethos... Aber ich denke, dabei wird kaum etwas herum kommen. Zudem reicht ein reiner Verdacht, dass etwas mit einem der Ratsmitglieder nicht stimmen könnte, nicht aus, um eine Untersuchung einzuleiten. Wie Sie wissen, ist das Fundament unserer Kirche vor allem auf Vertrauen aufgebaut. Und solange es keinen handfesten Beweis gibt, wird nichts weiter geschehen. Den Rat aufgrund einer drohenden Gefahr zu verkleinern ist bereits ein Hindernis, aber gegen die Mitglieder zu ermitteln, das ist ein ganz anderes Kaliber.“ „Ich finde, dass diese Dokumente Beweis genug sind“, sagte Ethos und zeigte auf den Stapel Papier, den er auf dem Tisch aufgebaut hatte. „Und wem sollen diese Dokumente zugeschrieben werden? Es ist ja nicht so, dass jemand seinen Namen darunter gesetzt hätte.“ „Fragen Sie doch mal den ehrwürdigen Prälat Dominic“, zischte Artemis. Marcus Dominic war einer der Männer, die Artemis von Grund auf hassten. Zwar beruhte dieser Hass auf Gegenseitigkeit, jedoch war Artemis wesentlich subtiler, was die offene Abneigung gegenüber dem Prälat anbelangte, als dies andersherum der Fall gewesen wäre. Auch Marcus Dominic versuchte, die Spezialabteilung für sich zu gewinnen, was Nikolas zu verhindern suchte, doch galt Dominic als vielversprechender Kandidat. Die Ansage, dass eine der ersten Amtshandlungen seinerseits sein würde, Artemis vor die Pforten des Vatikan zu setzen, hatte seine Sympathie unterhalb der Abteilungsmitglieder zwar nicht sonderlich vorangetrieben, doch das war auch nicht nötig. Denjenigen, die darüber entscheiden würden, wer die Nachfolge von Nikolas antreten würde, war Artemis' Schicksal herzlich egal. Dies war einer der vielen Gründe, weshalb Nikolas damit begonnen hatte, einen eigenen möglichen Nachfolger auszubilden. „Leider steht auch sein Name nirgendwo auf einem dieser Papiere“, seufzte Nikolas. „Ich kann Ihnen höchstens vorschlagen, dass Sie sich zurück auf Ihre Kammern begeben und ich werde in der Zwischenzeit in der Bibliothek nachsehen, ob ich dort nicht etwas über Esrada herausfinden kann. Blackcage wirkt auf mich nicht allzu vielversprechend. Wenn wir herausfinden können, um wen oder was es sich handelt, können wir daraus vielleicht Rückschlüsse schließen, woher die sensiblen Informationen über Sie stammen könnten. Wie Sie ja selbst wissen, haben Dämonen so viele verschiedene Fähigkeiten, dass es fast unmöglich ist, sie alle in einem Leben zu entdecken.“ Ethos trank noch schnell seinen kalt gewordenen Tee, dann erhob er sich, genau wie Artemis und Nikolas. Wenig später erschien auch Steve, der die Tassen und die leere Kanne abräumte. Er ging damit in die entgegen gesetzte Richtung wie Artemis und Ethos, die gleich nach rechts zum Domus Sanctae Marthae abbiegen wollten, als der Prälat sich noch einmal räusperte. „Ach und Pater Ethos… Ich weiß, dass Sie auf Ihren eigenen Kleidungsstil bestehen, allerdings macht sich Blut darauf nicht besonders gut. Besonders, wenn Sie damit durch die Straßen unserer Heimat reiten.“ „Ich werde beim nächsten Mal daran denken. Entschuldigen Sie.“ Mit diesen Worten wand sich Ethos wieder seinem Kollegen zu und setzte sich wieder in Bewegung in Richtung Unterkunft. Dort angekommen gingen die Priester auf dem Flur ihrer eigenen Wege, denn sie besaßen Kammern in jeweils unterschiedlicher Lage. Ethos konnte es kaum erwarten, sich heiß zu duschen, um den Gestank des Blutes abzuwaschen. Der einzige Gedanke, der ihn am heutigen Tage etwas Freude geschenkt hatte, war die Gewissheit, dass sein Anliegen bezüglich der klaffenden Lücke im Informationsnetz des Vatikans offensichtlich ernst genommen wurde. Müde schloss Ethos die kleine Tür, die zu seinen Räumlichkeiten führte, auf. Der mit Gold verzierte Bogen war das vermutlich Wertvollste an der gesamten Kammer. Es handelte sich um einen einfachen quadratischen Raum von einer Größe von 9 m². Außer einem Bett, einem Schreibtisch und einem Schrank, die bereits vor Ethos' Einzug vorhanden gewesen waren, reichte der Platz gerade einmal für ein kleines Regal an der Fensterseite des Zimmers. In diesem Regal hatte Ethos einige seiner wenigen persönlichen Sachen untergebracht, voll war es allerdings noch lange nicht. Unter anderem befand sich ein kleines Schmuckkästchen darunter, das mit künstlichen Perlen und einigen Muscheln verziert war. Bevor er zu seinem Schrank ging, um sich neue Klamotten und ein Handtuch zu nehmen, blieb Ethos kurz stehen und schaute das Kästchen an. Es hatte seiner Mutter - seiner leiblichen Mutter - gehört, weshalb Ethos es wie seinen Augapfel hütete. Vorsichtig strich er über den Deckel und betrachtete es lange Zeit schweigend, bevor er noch einige Sachen zusammen suchte, damit er sich auf den Weg in das Badezimmer machen konnte. Als Ethos in einer alten abgetragenen Stoffhose und einem einfachen weißen Shirt zurück in seine Unterkunft trat, hörte er von draußen das Gepöbel eines Offiziers der Schweizergarde. Manchmal gingen einige der Gardisten abends noch joggen und wenn ihm seine Männer zu langsam waren, äußerte der zuständige Offizier seine Meinung darüber ziemlich lautstark und deutlich. Um zu sehen, wer diesmal die Truppe durch den Vatikan scheuchen musste, damit die Fitness der Gardisten weiterhin bestmöglich gewahrt wurde, sah Ethos aus seinem Fenster. Allen voran lief ein großer stämmiger Mann mit einem breiten Kreuz, dessen Oberkörper sein Sportshirt vor Muskelmaße nahezu zu zerreißen schien. Auch seine Hose lag sehr eng an, was weniger an der Weite der Hose, als an dem Umfang der Beine des Offiziers lag. Mit seinem kurzen Haarschnitt und den tief liegenden braunen Augen wirkte der Offizier Matteo Nino Roth eher wie ein Elitesoldat, denn wie ein Gardist der Schweizergarde. Als Leutnant übernahm er oft die Ausbildung der neuen Rekruten, was ihm einen gefürchteten Ruf eingebracht hatte. Abseits seiner dienstlichen Pflichten war Roth allerdings ein sehr umgänglicher und freundlicher Mensch, jedenfalls hatte Ethos ihn als solchen kennen lernen dürfen. Roth trennte seine private und dienstliche Seite so konsequent voneinander, dass die wenigen, die ihn privat kannten, schon fast der Meinung waren, er wäre schizophren. Ethos schätzte genau das an dem Offizier. Vor der ersten Riege von laufenden Rekruten, direkt hinter Roth, sah Ethos Artemis laufen. An einigen Tagen ging Artemis mit den Gardisten laufen, da er sich fit halten wollte, alleine konnte er sich dazu aber kaum aufraffen. Demnach kamen ihm die abendlichen Trainingseinheiten ganz recht. Kaum hatte Ethos die kleine Gruppe entdeckt, war diese auch schon wieder aus seinem Sichtfeld verschwunden. Er selbst hatte es glücklicherweise nicht so sehr nötig, sich durch körperliche Aktivitäten gesund zu halten. Artemis zog ihn ab und an mit seiner dünnen und schmalen Statur auf, doch das kümmerte Ethos nicht sonderlich. Irgendwie schien die übernatürliche Fähigkeit, die er besaß, seinen Körper und Geist zu stärken. Zwar besaß Ethos keine besonders ausgeprägte Muskelmaße, doch ein Hungerhaken war er ebenfalls nicht. Da er durch seine Überlegungen gerade daran erinnert wurde, nahm Ethos die kleine Schachtel seiner Mutter aus dem Regal und stellte sie vor sich auf den Tisch. Er öffnete sie und holte eine kleine perlenbesetzte Kette mit einem Holzkreuz heraus. Dann nahm er die Perlenkette, schloss die Augen und konzentrierte sich. Vor seinem inneren Auge sah er die kleinen Kugeln, die durch seine Finger wanderten, genau vor sich. Leise murmelte er das Vater Unser vor sich her, das er immer und immer wieder wiederholte. Während er die Worte vor sich hin zitierte, drängte Ethos mit seinen Gedanken tiefer in sein Innerstes vor. Bald sah Ethos nur noch eine schwarze Fläche vor sich, von seinen eigenen Gedankengängen und den äußeren Umwelteinflüssen gereinigt. Er schritt auf diese Fläche zu, wurde nahezu in die Dunkelheit hinein gesaugt. Kaum hatte sich Ethos dieser Dunkelheit hingegeben, fiel ein Schatten von oben herab. Ethos schaffte es im letzten Augenblick, einen Schritt zurück zu machen, so dass der Schatten vor ihm auf dem Boden aufkam, wo er sich langsam aufrichtete. Wenige Sekunden später stand eine graue Masse vor ihm, aus der rote Augen Ethos anstarrten. Aus dem Rücken der Kreatur wuchsen riesige Schwingen heraus, die nur schemenhaft als diese zu erkennen waren. Der Schatten richtete sich so weit auf, dass er mindestens zwei Köpfe größer als Ethos maß. Als er auf Ethos zukam, bildeten sich lange Klauen an seinen Händen, aus seinem Kopf schienen schwarze Hörner zu wachsen. Erschrocken wich Ethos einige weitere Schritte zurück. „Ethos“, rief die Stimme mit einem säuselnden Unterton, als habe die Kreatur vor, mit ihm zu spielen. „Ethos, ich habe dich so vermisst.“ Die Stimme, das wusste Ethos, war nicht die Stimme des Dämonen, der sich vor ihm aufgebaut hatte, sondern die seines Stiefvaters. Des Mannes, den er vor einer gefühlten Ewigkeit erschossen hatte. Der Mann, der ihn aus dem Waisenhaus adoptiert hatte und ihn mehr zu lieben glaubte, als es einem Sohn gut tat. „Ethos, komm zu mir. Ich habe dich so sehr vermisst. Komm, wir gehen in mein Zimmer und dann spielen wir etwas zusammen.“ Anstatt etwas darauf zu erwidern, drehte Ethos sich um und ging weg. Er versuchte einen Weg zurück in das Licht zu finden, das er in seiner Trance ausgeblendet hatte. Zuerst ging Ethos nur langsam, doch als er bemerkte, dass der Schatten ihn verfolgte, wurde sein Gang immer schneller. Wenig später rannte er, ohne es richtig wahrzunehmen. Wie ein kalter Wind fühlte es sich an, als die Kreatur bereits so nahe war, dass Ethos dessen Atem im Nacken spüren konnte. Innerlich durchzog ihn ein Schauer. Noch bevor er den Bereich mit dem Licht erreichen konnte, spürte Ethos eine kalte Umarmung. Der Dämon hatte seine Arme um seinen Oberkörper gelegt und presste den Priester nun an sich heran. Die Kraft, sich zu wehren, wich mit einem Mal aus Ethos' gesamten Körper. Es war, als nehme ihm die bloße Berührung sämtliche Kräfte. Erst, als er die Lippen des Dämons an seinem Ohr spüren konnte, riss es Ethos aus seiner Trance heraus. Schweißgebadet sah der Priester sich um. Ethos saß nicht mehr an dem Tisch, sondern lag nun in seinem Bett. Mit hechelndem Atem stand Ethos auf und nahm sich sein Handtuch, mit dem er sich das Gesicht abtrocknete. Danach stützte er seine Stirn auf die Hände, atmete mehrfach tief ein und schaute seufzend zur Decke. So hätte es eigentlich nicht laufen sollen. Normalerweise nutzte Ethos den tranceähnlichen Zustand, in den er sich durch die betende Meditation begab, um seine Fähigkeiten zu trainieren. Dann stellte er sich einen Dämonen vor, zwang diesen, mit der reinen Kraft seiner Gedanken und unter Zuhilfenahme des Rosenkreuzes, in einen vorgestellten Gegenstand, den er anschließend mit einer, ebenfalls imaginären, silbernen Nadel durchstach, um den Dämonen so gefangen zu halten. Die Erinnerung an die Konfrontation mit dem Dämon, nachdem er seinen Vater getötet hatte, schlummerte tief in seinem Inneren, kam allerdings nur selten an die Oberfläche zurück. Bisher war es Ethos immer sehr gut gelungen, durch die Säuberung seiner Gedanken die Erinnerung an seinen Stiefvater in den hintersten Teil seines Bewusstseins zu drängen und dort unter Verschluss zu halten. So intensiv wie heute hatte er die damit im Zusammenhang stehenden Bilder schon lange nicht mehr wahrgenommen. Möglicherweise hatten die getöteten Menschen in Frankreich Ethos so aufgewühlt, dass er seine Gedanken nicht richtig unter Kontrolle bekam. Zwar glaubte Ethos nicht daran, dass es nur daran lag, das meinte er zu spüren, doch eine andere Erklärung hatte er dafür nicht. Aufgrund seiner Übung darin, ungewollte Bilder schnellstmöglich wieder zu verdrängen, klärten sich Ethos' Gedanken schnell wieder auf. Statt ihrer fühlte Ethos nun eine leichte Wut darüber, dass er bei seinem letzten Auftrag so versagt hatte. Er hatte sich gerade neue Sachen zum Anziehen heraus gesucht, als es an der Tür klopfte. Ohne eine Antwort abzuwarten, schob sich der Junge, den Ethos heute als Steve kennen gelernt hatte, durch die Tür. Er war bereits wieder erblasst und mindestens genauso verschwitzt wie Ethos einige Minuten zuvor. „Ent- Entschuldigen Sie, Pater Turino“, stammelte Steve verlegen. „Ich... ich soll Ihnen eine Nachricht vom Hochwürdigsten Herrn Prälat Nikolas überbringen.“ „Zu solch einer unchristlichen Uhrzeit?“ „E-Es tut ihm wirklich sehr leid, aber Sie sollen sich sofort in dem Büro von Prälat Nikolas einfinden. Wir haben eine Nachricht aus England erhalten.“ Kapitel 6: Kapitel 06 --------------------- Kapitel 06 Nachdem er sich etwas Besseres angezogen hatte, hatte Ethos dem Befehl des Prälaten sofort Folge geleistet und sich in dessen Büro eingefunden. Neben ihm saß Artemis, der sich offenbar weniger Mühe mit seiner Garderobe gegeben hatte. In einem viel zu weiten T-Shirt mit schwarz-grauem Muster, einer dünnen Stoffhose und Schlappen an den Füßen, hatte er seine Beine überkreuz auf dem Schreibtisch aus Mahagoni vor sich abgelegt. Dazu verschränkte Artemis seine Arme hinter dem Kopf mit den noch immer nassen Haaren, wodurch er mit dem Stuhl leicht nach hinten kippeln konnte. Ethos' Blick fiel auf die Narben, die sich auf Artemis' Unterarm befanden. Er wusste, dass der Priester solche Narben an seinem gesamten Körper aufwies, nur sein Gesicht war bisher wie durch ein Wunder verschont geblieben. „Wenn du nicht aufpasst, wirst du noch mal hinten über fallen und dir den Kopf aufschlagen“, brummte Ethos genervt. Das leise Ticken der riesigen Standuhr hinter den beiden trug nicht gerade zur Besserung seiner Laune bei. Genauso wenig wie der mangelnde Respekt, den er immer wieder bei Artemis sah. „Marcus Dominic würde sich darüber sicherlich freuen.“ „Das ist ein Argument.“ Sofort hörte Artemis auf, die Beine des Stuhls über ihr Limit hinaus zu belasten uns setzte sich gerade hin. Kurz darauf erschien Nikolas in seinem Büro. „Entschuldigen Sie die Verspätung, ich habe Steve sofort los geschickt, als ich das Telefonat in meiner privaten Kammer entgegen genommen hatte. Der schnelle Weg aus der Bibliothek hatte doch etwas an meinen Kräften gezerrt und ich habe erst vor ein paar Minuten auflegen können.“ Nikolas setzte sich in den großen, mit purpurnen Samt bearbeiteten Stuhl hinter dem Schreibtisch, während Ethos überlegte, seit wann Nikolas einen eigenen Anschluss in seiner Kammer besaß. Anscheinend ging die Modernisierung wesentlich schneller vonstatten, als er dies für möglich gehalten hätte. Der Prälat atmete ein paar Mal kräftig ein und aus, sammelte sich und schaute in die fragenden Gesichter der beiden Priester. „Es kam zu einem Zwischenfall in England. Einer meiner Kollegen hat uns angerufen, nachdem eines der Museen in London überfallen worden ist.“ „Was haben wir mit einem gemeinen Museumsraub zu tun?“, fragte Artemis skeptisch. „Wenn Sie mich ausreden lassen, werde ich Ihnen die Frage gerne beantworten“, entgegnete Nikolas, diesmal wesentlich barscher, als Ethos oder Artemis es von ihm gewohnt waren. „Das Victoria and Albert Museum wurde überfallen. Nachdem sich jemand gewaltsam Zugriff zu dem Museum verschafft hat, wurden zwei der Nachtwächter getötet. Ein dritter schaffte es, die Polizei zu verständigen, wurde allerdings schwer verletzt und schwebt nach wie vor in Lebensgefahr. Er ist nicht ansprechbar. Zwei Streifenpolizisten, die gerade in der Nähe waren, trafen ein und versuchten, den Eindringling festzunehmen. Bei dem Versuch wurde ein weiterer Polizist getötet. Nachdem der Einbrecher verschwunden war, wurden die Teile des Gebäudes besichtigt, in denen er sich aufgehalten hatte. Es wurde nur ein einziger Gegenstand entwendet. Dabei handelt es sich um eine handgeblasene Glaskugel aus dem 17. Jahrhundert, die zwar keinen besonders hohen Geldwert besitzt, aber aus einem anderen Grund extrem wertvoll ist. Sie wissen sicher, wie der Vatikan es zu verhindern versucht, dass Diebstähle besonders wertvoller Gegenstände getätigt werden oder?“ Artemis und Ethos nickten wissend. Es gab einige Gegenstände, die Priester der vergangenen Jahrhunderte angefertigt hatten, um besonders mächtige Dämonen bannen und somit fangen zu können. Ethos war einer der Wenigen, die mit solchen Gegenständen umgehen konnten, was seine Persönlichkeit für den Vatikan nahezu unbezahlbar machte. Er war dazu in der Lage, den Geist eines Dämons in einen solchen Fänger, wie er im Vatikan genannt wurde, zu zwingen und so zu verschließen, dass er ihn mühelos durch die Welt transportieren konnte, ohne dass noch eine Gefahr von dem jeweiligen Dämon ausging. Meistens führten ihn seine Reisen direkt in den Vatikan zurück, um den Dämonen dort, in dem von den Priestern „Höllenfeuer“ genannten Schrein, zu vernichten. Einen anderen Ort, die Stärksten unter den Dämonen aus der Welt zu schaffen, gab es nicht. Wurde der Gastkörper eines schwachen Dämons (wie etwa der von Leonce) getötet, starb auch dessen Geist. Das waren die einfachen und die wesentlich häufigeren Fälle. Von den Dämonen, die nur durch das Höllenfeuer endgültig getötet werden konnten, gab es nur wenige Exemplare und nicht wenige Priester, die über die gleichen Fähigkeiten wie Ethos verfügt hatten, waren gestorben, ohne jemals einen Dämon solcher Stärke zu Gesicht bekommen zu haben. Um zu verhindern, dass sich sämtliche Dämonen auf den Vatikan stürzten, um diese Fänger zu zerstören, waren sie über die gesamte Welt verstreut worden. Meistens wurden sie in Museen aufbewahrt, da sie dort kaum von den anderen epochentypischen Gegenständen zu trennen waren. Anscheinend hatten sie es hier mit einem besonders schlauen Dämon zu tun, der seine Hausaufgaben durchaus zu machen wusste. „Nun, das scheint nicht wirklich geholfen zu haben. Es ist das erste Mal, dass einer unserer Fänger aus einem Museum gestohlen wurde.“ „Gibt es irgendwelche Besonderheiten an den Leichen? Möglicherweise können wir Hinweise auf die Fähigkeit des Dämons daraus ziehen“, meinte Ethos. „An den Toten wurden Brandspuren festgestellt. Gestorben sind sie alle durch den Einsatz eines Messers oder einer messerähnlichen Waffe. Doch die einzige Überlebende, einer der beiden Polizisten, die den Täter noch sehen konnte, ist wie durch ein Wunder ohne einen einzigen Kratzer davon gekommen. Momentan befindet sie sich unter psychologischer Beobachtung. Sie meint, dass in dem Augenblick, in dem der Einbrecher die Haut der Menschen berührt habe, diese zu rauchen anfing und sobald der Angreifer seine Opfer losgelassen hatte, habe sie nur noch verbrannte Haut gesehen. Wenn die Opfer noch am Leben waren, hätten sie entsetzliche Schmerzensschreie von sich gegeben.“ „Eine "Sie"?“ Artemis' Aufmerksamkeit für den nächsten Auftrag war spätestens jetzt geweckt. „Eine Polizistin? Das ist selten.“ „Da gebe ich Ihnen Recht. Es soll sich bei der Frau allerdings um eine sehr fähige Polizistin handeln. Ebenso soll ihr Kollege ein guter Mann gewesen sein.“ „Was einem im direkten Kampf mit Dämonen jedoch nicht unbedingt etwas nützt.“ „Sie wussten nicht, dass es sich um einen Dämonen handelte. Deshalb sitzt die junge Frau nun in einer Psychiatrie. Niemand glaubt ihr die Geschichte, die sie erzählt. Nachdem unser Geistlicher vor Ort von der Angelegenheit gehört hat, hat er die Polizistin besucht und sie befragt. Das war nicht leicht zu bewerkstelligen zu dieser Uhrzeit, aber dringend nötig. Die Beschreibung, die sie gab, passt auf den Mann namens Blackcage, von dem Sie erzählt haben, Artemis.“ Auch wenn es keinen Anlass zur Freude gab, konnte sich Ethos ein Grinsen gerade so eben verkneifen. Zu sehr amüsierte es ihn, dass dieser Blackcage sich so schnell selbst verraten hatte. Das ersparte ihm und auch den Kollegen eine lange Suche mit entsprechendem Aufwand an Recherche. Außerdem hatte er noch etwas Persönliches mit diesem Dämon zu klären, denn niemand sammelte ungestraft Informationen über ihn und den Vorfall mit seinem Stiefvater. „Das passt zusammen“, stellte Artemis fest. „Dass die Opfer Brandwunden aufweisen. Der Kerl hatte sich durch Rauchschwaden materialisiert, da liegt es nahe, dass seine besondere Fähigkeit etwas mit Feuer zu tun hat.“ „Wann sollen wir nach London aufbrechen, Monsignore?“ „Leider habe ich noch keine Bestätigung vom Papst erhalten. Weder zu diesem Auftrag, noch zu dem Vorschlag, von nun an alleine darüber zu bestimmen, was Sie wann, wo und wie machen. Aus diesem Grund schlage ich vor, dass Sie sich morgen zu Chino Estevez begeben und mit ihm sprechen. Senior Estevez weiß bereits Bescheid, dass Sie kommen werden. Noch hat er seine Unterstützung nicht zugesagt, ich hoffe, dass Sie beide etwas daran ändern können. Für den Auftrag könnte er sehr nützlich sein, als leitender Arzt einer Psychiatrie wird er Ihnen bestimmt helfen können, mit der Polizistin zu reden. Vielleicht schafft er es sogar, sie da heraus zu holen. Unser Geistlicher konnte das leider nicht. Besagter Priester wird Sie übrigens vom Flughafen abholen, sobald Sie in London eintreffen. Weitere Einzelheiten werde ich Ihnen per Auftrag entgegen kommen lassen. Haben Sie noch weitere Fragen?“ Beide Priester verneinten und Nikolas stand auf, um das Ende der Besprechung anzukündigen. Ethos half dem alten Prälaten beim Aufstehen und reichte ihm seinen Stock. „Haben Sie dank, Pater Ethos. Sie sehen müde aus, es tut mir leid, dass ich Ihre Nachtruhe gestört habe.“ Anstatt etwas darauf zu erwidern, lächelte Ethos den alten Mann an und half ihm durch die Tür auf den Gang. Nikolas wusste, wie stark Ethos manchmal von seiner Vergangenheit eingeholt wurde und versuchte, sich seine Sorge nicht anmerken zu lassen. Dafür war Ethos überaus dankbar. Das letzte, das er gebrauchen konnte, war die tiefere Auseinandersetzung mit anderen Menschen darüber, was ihn beschäftigte. Ethos verabschiedete sich von dem Prälaten und ging nach draußen. Auch Artemis war bereits verschwunden, er wusste, wann er Ethos lieber in Ruhe lassen sollte. Seufzend schaute Ethos hinauf in den Nachthimmel. Einige Sterne waren am schwarzen Firmament zu erkennen, wenn auch nur schwach. Die Lichter des umliegenden Rom nahmen jedem, der die weit entfernten runden Himmelskörper beobachten wollte, die Möglichkeit, diese richtig wahrzunehmen. Als er meinte, eine Sternschnuppe gesichtet zu haben, setzte sich Ethos wieder in Bewegung. Die Hände in die Hosentaschen gestützt, schlenderte er die Via dell'Aquilone herunter. Einsam gab er sich seinen Gedanken hin und fragte sich dabei einmal mehr, warum das Schicksal gerade ihn auserwählt hatte, Dämonen bannen zu können. Jeder andere Mann - oder von ihm aus auch jede Frau - wäre genauso gut gewesen wie er. Ab und zu litt Ethos unter seinen Fähigkeiten, doch niemand konnte es wirklich nachvollziehen. Alle dachten, er wäre gesegnet mit dieser Fähigkeit, er wäre der einzige, der auserkoren worden wäre, Gottes weniger geliebte Aufträge auszuführen. Der einzige, der echtes Verständnis für ihn aufbringen konnte, war Artemis. Durch seinen eigenen Fluch hatte Artemis Ethos in einigen Momenten Trost spenden und die richtigen Worte finden können, um ihn wieder etwas aufzumuntern. Natürlich konnte man ihrer beiden Leiden nicht miteinander vergleichen, während es sich bei Ethos' Fluch eher um etwas Gutes handelte, war das, womit Artemis sich herumzuschlagen hatte, alles andere als erstrebenswert. Als Ethos auf seine Uhr schaute, beschleunigte er seine Schritte. Es würde nicht mehr lange dauern, bis der nächste Morgen anbrechen würde und da er einen Auftrag zu erledigen hatte, sollte er sich noch etwas Ruhe gönnen. Bei Chino würde er sein Bestes an Überredungskünsten geben müssen, wenn er nur den Hauch einer Chance haben wollte, den Arzt zu der Reise nach London zu bewegen. Ethos bezahlte noch schnell den Fahrer des tassisti mit einigen Scheinen, danach kehrte er neben Artemis zurück. Die beiden waren schon des Öfteren hier gewesen, doch noch immer hatte das Gelände eine eigenartige Wirkung auf Ethos. Sobald er vor dem großen Eingangstor aus Eisen stand, das nur elektronisch geöffnet werden konnte und links und rechts die hohen Mauern sah, fühlte er sich nahezu erdrückt. An den beiden Enden der Mauern, die mit dem Tor verbunden waren, hockten auf zwei Säulen graue Wasserspeier, dessen steinerne Gesichter mit einer verzogener Fratze nach unten schauten. Zusammen mit den Flügeln, den Hörnern, dem lang gezogenen Maul und der Schlangenzunge erweckten sie einen äußerst morbiden Eindruck. Weder Ethos, noch Artemis konnten sich vorstellen, dass es jemals einer der Patienten wagen würde, bis hierher zu fliehen, ohne vor Angst zu erstarren. Wobei keiner von den beiden behaupten konnte, einen Geistesgestörten wirklich einschätzen zu können. Ethos ging zu der Klingel an der rechten Seite und betätigte sie. Einige Sekunden später hörte er eine Frauenstimme, die sich nach den Namen der beiden Priester erkundigte. Nachdem diese sich zu erkennen gegeben hatten, schwang das schwere Tor auch schon zur Seite. Der Blick auf das Innere wurde freigegeben und Ethos und Artemis standen nun in einer weitläufigen Parkanlage. Auf den ersten Blick wirkte die Anstalt nicht mehr ganz so unheimlich. Einige Bäume standen vereinzelt auf den großzügig angelegten Wiesen, die von einem Netz aus Sandwegen durchzogen wurden. An einer Stelle befand sich eine kleine Freifläche, als Ethos sich einmal danach erkundigt hatte, hatte Chino ihm gesagt, dass sich dort einmal ein Teich befunden hätte. Allerdings war einer seiner Patienten darin ertrunken, weshalb er ihn hatte zuschütten lassen müssen. Ethos hatte sich damals gefragt, was einen dazu veranlassen würde, einen Teich auf dem Gelände einer Irrenanstalt zu errichten, doch nachdem er Chino besser kennen gelernt hatte, verwunderte ihn fast nichts mehr. Nicht, dass Chino kein guter Arzt gewesen wäre, doch in einigen Fällen waren sein Zynismus und der Sinn für das Morbide eine äußerst gefährliche Kombination. Zumal es auch ganz deutlich zeigte, was er eigentlich war. Nach einem längeren Fußmarsch und vielen perfekt gepflegten Grünflächen sowie phantasielosen braunen Parkbänke später, erreichten Ethos und Artemis das Herz der Anstalt. In einem alten Anwesen befand sich das Büro von Chino, seine Patienten brachte er weit davon entfernt unter. Ethos wusste bis heute nicht, ob er es bereuen oder gutheißen sollte, dass Chino ihm noch nie die Unterkunft gezeigt hatte, in der er seine Patienten versorgte. Als Ethos an die Tür des unteren Stockwerkes klopfte, meinte er ein leises Knirschen zu vernehmen. Das Anwesen war bereits sehr alt. Chino hatte es nie für nötig gehalten, mehr Renovierungsarbeiten hinein zu stecken als unbedingt notwendig, so dass es noch immer wirkte, als würde es jeden Augenblick auseinander fallen. Von Innen war ein "Einen Moment bitte!" zu hören, wenig später öffnete sich die Tür. Die Holztür schwang in einer so großzügigen Bewegung auf, dass sie beinahe wieder zugefallen wäre, hätte Ethos sie nicht mit seiner Hand aufgehalten. Ein kühler Luftzug war zu spüren, anscheinend war Chino bereits schon wieder verschwunden. Damit er ebenfalls eintreten konnte, hielt Ethos seinem Kollegen die Tür auf. Wie immer roch es recht muffig in dem Anwesen, dass Chino einen schlechten Geschmack hatte, konnte diesem allerdings nicht nachgesagt werden. Auf Podesten und Hockern befanden sich teuer aussehende Vasen und Statuen. In einem Regal aus edlem Tropenholz stapelten sich alte in Leder eingeschlagene Bücher, die allesamt einen äußerst gepflegten Eindruck machten. Hier und da lugte eine grüne Topfpflanze hervor, die dem Inneren des Anwesens ein wenig Leben einhauchten. Auf dem Boden wies ein länglicher Perserteppich den Weg in Chinos Büro, das gleichzeitig die Rezeption darstellte. Sofort legte Artemis seine Hand auf das rechte Auge. Unterhalb seiner Augenklappe fühlte es sich an, als würde seine Haut gerade verbrennen. Ein leichtes Stechen gesellte sich hinzu, doch als Ethos zur Seite schaute, hatte Artemis seine Hand wieder entfernt und zeigte keinerlei Anzeichen, dass es ihm schlecht gehen könnte. Der einzige Hinweis auf das, was gerade in Artemis vorgehen mochte, lieferte der angespannte und strenge Blick des Priesters. Wenig später wurde jedoch auch dieser aus seinem Gesicht verbannt. Artemis sah nun aus, als käme er gerade von einem entspannten Spaziergang durch die Gärten des Vatikans. „Willkommen, Señor Ethos und Señor Artemis. Kann ich euch etwas zu Trinken oder zu Essen anbieten?“ Vor Ethos und Artemis erstreckte sich eine lange Theke, die ihnen bis zur Hüfte reichte. Auf diese Theke mit den Ellenbogen aufgelehnt, grinste sie ein junger Mann an. Seine braunen Augen blinzelten über den Rand einer Lesebrille von unten herauf, die braun-roten Haare waren zu einem kleinen Zopf gebunden, dennoch standen einige Haare unkontrolliert zu allen Seiten hin ab. Die Haut des Mannes war leicht gebräunt, was allerdings nur seine Hände und sein Gesicht verrieten, da der Rest seines Körpers in die für Ärzte typische weiße Kleidung gehüllt war. Ein Kittel machte den Eindruck, es mit einem professionellen Arzt zu tun zu haben, perfekt. Chino erhob sich wieder, wodurch seine schlanke Statur sichtbar wurde, die unter dem Kittel verborgen gewesen war. Er war ungefähr einen Kopf kleiner als Ethos, doch wusste dieser, dass Chino seine geringe Körpergröße durch Schnelligkeit durchaus wieder wettmachen konnte. „Wohnst du immer noch an deinem Arbeitsplatz?“, fragte Artemis, während er sich umsah. Unweit der Theke entfernt stand ein einfacher runder Tisch mit genauso einfachen Stühlen. Bevor er sich setzte, streckte Artemis Chino, der inzwischen herum gekommen war, die Hand zu. Ethos machte es ihm gleich. „Mit den ganzen Verrückten um dich herum? Ich glaube, ich könnte keine Nacht ruhig schlafen.“ „Sagt jemand wie du...“, winkte Chino ab. „Und wie geht es dir, Ethos? Du siehst aus, als hättest du nicht gerade viel geschlafen.“ „Als wir unseren nächsten Auftrag bekommen haben, war es schon mitten in der Nacht.“ „Kommt ihr deshalb zu mir?“ Da keiner der beiden Priester einen Wunsch bezüglich seiner Nachfrage geäußert hatte, setzte Chino sich zu ihnen, anstatt in die nahegelegene Küche zu gehen. „Ihr habt einen neuen Auftrag und wollt sicherlich etwas von mir wissen. Schießt los.“ „Also, das trifft es nicht ganz“, begann Artemis kleinlaut. „Diesmal geht es um ein bisschen mehr als deine Kontakte zu den Dämonen. Wir brauchen dringend deine Hilfe. In London kam es zu einem Überfall auf ein Museum. Einer der Fänger wurde entwendet. Einer der Zeugen hat den Angriff überlebt, wahrscheinlich steckt ein Dämon dahinter.“ „Schön, aber was habe ich mit der Sache zu tun?“ „Nun ja, die eben genannte Zeugin sitzt leider in einer Psychiatrie.“ Artemis machte eine kurze Pause. Ethos dagegen schwieg vollkommen, er wusste, dass Artemis einen etwas besseren Draht zu Chino besaß, als er selbst. „Wir denken, dass du sie vielleicht da herausholen kannst.“ „Das kann ich nur, wenn ich persönlich dort vorspreche, ein einfaches Schreiben wird nicht ausreichen, um eine Patientin zu verlegen.“ „Eben, das ist der Punkt.“ Insgeheim hegte Artemis keine großen Hoffnungen, Chino dazu zu bewegen, mit ihnen zu kommen. Weder hatte er einen Grund, noch ließ Chino seine Patienten gerne in den Händen einer Vertretung oder seiner Assistentin. Wenn er sich tatsächlich nicht überreden lassen würde, mit nach London zu kommen, würden er und Ethos zwar sicherlich auf Chinos gute Kontakte zurückgreifen können, was aber lediglich einem Teilerfolg gleichgekommen wäre. Sie brauchten Chino unbedingt. „Ich kann hier nicht so einfach weg, wenn es das ist, was ihr wollt“, sagte Chino schließlich zögerlich. „Wir wissen das. Deshalb kommen wir auch nicht wegen einer Kleinigkeit zu dir, sondern weil wir wirklich deine Hilfe brauchen, Chino. Diese Zeugin ist extrem wichtig für uns. Nur wenn wir ihre Aussage haben, können wir den Fänger vielleicht zurückbekommen.“ „Warum redet ihr nicht vor Ort mit ihr? Ich bin mir sicher, dass der Vatikan genügend Kontakte besitzt, damit ihr zu ihr gelassen werdet.“ „Das mit Sicherheit, aber ich denke, dass sie viel mehr erzählt, wenn wir es schaffen, sie aus der Psychiatrie zu holen.“ „Ihr wollt ihr also helfen, damit sie euch im Gegenzug Informationen gibt. Wo sind nur die selbstlosen Priester hin, die noch für das Gute gekämpft haben?“ Obwohl Chino weiterhin vor sich hin grinste, merkten die beiden Priester, dass ihr Gegenüber angestrengt über die Sache nachdachte. „Es gibt Momente, da zweifle ich an den guten Absichten eurer Abteilung. Ganz ehrlich, Artemis.“ „Das sagt jemand wie du?“ Artemis musste laut lachen und auch Ethos konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Du bist ein Dämon, der noch dazu seine eigene Sippschaft verrät. Wer von uns sollte an wessen Absichten zweifeln? Ich glaube nicht, dass du dich da allzu weit aus dem Fenster lehnen solltest.“ „Was soll ich sagen. Ich versuche auch nur zu überleben.“ „Dann hast du dir mit Rom aber einen sehr schlechten Platz dafür ausgesucht. Im direkten Einflussgebiet des Vatikans und unter so vielen Katholiken. Wüsste ich nicht, dass wir uns auf dich verlassen können, würde ich sagen, dass du uns verarscht. Aber ganz gewaltig.“ Nun brach auch Chino in lautes Gelächter aus und erhob sich, um doch Kaffee und zwei Tassen aus der Küche zu holen. Dankbar nahmen seine beiden Gäste das heiße Getränk an. Dazu stellte er etwas Gebäck in die Mitte des Tisches. Auch Chino war nun wohl bewusst, dass das Gespräch länger dauern könnte. „Also, um wieder auf das Wesentliche zurück zu kommen... Es tut mir sehr leid, aber ich werde meine Anstalt nicht verlassen.“ „Aber du hast doch eine gute Vertretung. Und es sind nur wenige Tage. Die Verrückten werden nicht mal merken, dass du weg warst.“ „Das mag alles sein, aber ich werde trotzdem nicht gehen. Ich wohne nicht umsonst hier, Artemis. Ich habe mich meinen Patienten mit Leib und Seele verschrieben. Ich habe etwas wieder gut zu machen, aus meinem alten und meinem neuen Leben.“ „Wer hätte gedacht, dass ihr Dämonen ein so ausgeprägtes Gewissen haben könnt“, sagte Artemis, nahm sich einen Keks und lehnte sich zurück. Dieser Satz war keinesfalls als Beleidigung gemeint gewesen, was glücklicherweise auch Chino so aufnahm. Zwar wussten Ethos und Artemis nicht, was vorgefallen war, als der Dämon den menschlichen Körper übernommen hatte, der sich fortan Chino Estevez nannte, doch es musste etwas wirklich Grausames gewesen sein. Bei Chino handelte es sich um einen ziemlich starken Dämonen, obwohl seine Fähigkeiten jene Merkmale aufwiesen, die eher schwachen Dämonen zu eigen waren. Deshalb mochte er es wohl auch nicht mal im Scherz, wenn er "Vampir" genannt wurde, aber Chino unterschied sich deutlich von seinen Artgenossen. Seinen Blutdurst hatte er weitestgehend unter Kontrolle. Chino trank nur, wenn es wirklich nötig war und achtete darauf, seine Opfer dabei nicht zu töten. Dies klappte zwar nicht immer, war aber immer noch besser als die Einstellung, die Chinos blutrünstigen Artgenossen an den Tag legten. Er lebte wohl schon sehr lange unter den Menschen, war von Barcelona nach Rom gekommen und vegetierte so unauffällig vor sich hin, dass der Vatikan erst sehr spät auf Chino aufmerksam geworden war. Vom ersten Aufeinandertreffen an hatte Chino eingewilligt, eine Art Kontaktmann zu spielen. Er konnte sich seit mehreren Jahren unter den Dämonen bewegen, ohne jemals einen Verdacht auf sich gezogen zu haben und erwies sich somit als treuer und wertvoller Verbündeter. Was genau dabei seine Beweggründe waren, darüber äußerte sich Chino allerdings nicht. Ethos hatte einmal die Vermutung geäußert, dass er sich dafür vollen Schutz von der Kirche versprach, was noch die wahrscheinlichste aller Möglichkeiten war. Doch diesmal sollte Chino mehr tun, als einfach nur einen Kontaktmann zu spielen, was diesem sichtlich unangenehm war. „Hör zu, Chino“, ergriff Ethos zum ersten Mal das Wort. „Wir respektieren es, dass du für die Patienten da sein willst. Aber ich muss dir auch sagen, dass mich das, was sich da gerade zu entwickeln scheint, extrem beunruhigt. Den Rest des Vatikans ebenso. Wer auch immer hinter dem Diebstahl steckt, scheint sehr viele Informationen über uns und den Vatikan zu besitzen. Es würde mich nicht wundern, wenn derjenige sogar wüsste, dass du einer unserer Kontaktmänner bist.“ Für den Bruchteil einer Sekunde meinte Ethos, ein erzürntes Glitzern in Chinos sonst so freundlichen Augen erkannt zu haben. „Genau wissen tue ich das natürlich nicht. Als Artemis und ich in Frankreich waren, haben wir einige Dokumente gefunden, in denen nahezu unsere gesamte Vergangenheit aufgezeichnet war. Dazu kommt, dass sie anscheinend wissen, wo sich Fänger befinden. Daher liegt die Vermutung nahe, dass sie wirklich alles über uns wissen könnten.“ „Und wer ist dafür verantwortlich, dass solch vertrauliche Informationen an die Außenwelt gelangen können?“ „Das ist eine berechtigte Frage. Prälat Nikolas kümmert sich gerade darum, das herauszufinden. Mehr kann ich dir zurzeit leider nicht sagen, da wir selbst nicht mehr wissen. Sobald wir etwas herausfinden, werden wir es dir selbstverständlich sofort mitteilen. Aber du kannst uns dabei helfen, dass genau das schneller passiert.“ Chino verschränkte die Arme vor der Brust und schaute seine Besucher skeptisch und abschätzend an. Sein Blick huschte kurz unruhig zwischen Ethos und Artemis hin und her, dann stieß er einen tiefen Seufzer aus und senkte leicht den Kopf. „Selbst wenn ich wollte, ich kann euch nicht begleiten. Dass Informationen nach außen sickern, ist eine Angelegenheit des Vatikans. Mir wurde versprochen, dass niemand erfahren würde, welche Rolle ich als Doppelagent spiele. Wenn wirklich Informationen über mich im Umlauf sein sollten, dann werde ich meine Dienste bald zurückziehen, um mich selbst schützen zu können. Sollten einige schwache Clans vor meinem Anwesen auftauchen, ist mir das relativ schnuppe. Aber die Chance, dass einer der stärkeren unserer Art mal vor meiner Tür steht, ist dann ebenso groß.“ Zerknirscht schaute Artemis auf den Boden. Er hatte nicht wirklich damit gerechnet, dass Chino sich großartig kooperativ zeigen würde in dieser Angelegenheit, aber Ethos' Geständnis hatte es nahezu unmöglich gemacht, ihn zu überreden. Obwohl sie Chinos Hilfe definitiv gebraucht hätten, würden sie ohne ihn nach London aufbrechen müssen, so viel stand fest. „Ich kann deinen Standpunkt absolut nachvollziehen. Trotzdem muss ich zugeben, dass ich mir mehr erhofft hatte von diesem Treffen“, gab Ethos zu und trank von seinem Kaffee. „Vielleicht kannst du uns aber anderweitig weiter helfen.“ Er würde es zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal versuchen, den Dämonen zu einer Kooperation zu überreden. „Gerne.“ Chino nahm die Kanne und verschwand in der Küche, um neuen Kaffee zu holen. Artemis nannte daraufhin den von ihnen gesuchten Dämonen. „Blackcage ist sein Name. Hast du diesen Namen schon einmal irgendwo gehört?“ „Nein“, rief Chino aus der Küche hinaus. „Verdammt.“ „Höre ich da etwa einen Priester fluchen?“ Chino war mit einer zweiten Kanne in der Hand zurückgekehrt und schenkte Ethos eine weitere Tasse Kaffee ein. „In einigen Fällen kommt es vor, dass Dämonen ihre Identität wechseln. Sag mir doch einfach mal, wie der Typ aussieht. Vielleicht habe ich ihn schon mal irgendwo gesehen und mir nur seinen Namen nicht gemerkt oder ihn unter einem anderen Namen kennen gelernt.“ „Der Dämon, dem wir auf den Fersen sind und in London aufgetaucht ist, hat schwarze Haare, die er mit einer Pomade zurück kämmt. Die Haare sind ganz leicht gelockt, seine Augen braun und besitzen sie einen kalten und abweisenden Ausdruck. Schmaler Mund und schmales Gesicht mit einer leichten Hakennase. Außerdem scheint er meistens in dünnen schwarzen Trenchcoats herum zu laufen. Er ist ungefähr einen Meter achtzig groß, trägt ansonsten wahrscheinlich normale Kleidung. Auch die ist vollkommen schwarz. So habe ich ihn zumindest gesehen, als wir in Frankreich gewesen waren.“ Chino war bei Artemis' Tasse angekommen und füllte auch diese mit dem heißen Getränk aus der Kanne. „Den Berichten zufolge, die wir aus England erhalten haben, muss die spezielle Fähigkeit dieses Dämons irgendetwas mit Feuer zu tun haben. Sämtliche Leichen, die gefunden wurden, wiesen Brandwunden auf. Außerdem hat er... Chino?“ Mitten in seinem Satz hielt Artemis plötzlich inne. Obwohl die Tasse vor Artemis bereits gefüllt war, hielt der Dämon noch immer die Kanne gesenkt, so dass der Kaffee über die Ränder getreten war und mittlerweile einen großen Teil des Tisches beschmutzt hatte. Dazu starrte Chino Artemis mit weit aufgerissenen Augen an. „Chino? Alles in Ordnung mit dir?“ „Was?“ „Ob alles in Ordnung ist. Ich habe deinen Kaffee schon fast auf meinem Schoß.“ „Wie... Oh, entschuldige.“ Sofort hob Chino die Kanne an und holte einen Lappen, um das Missgeschick aufzuwischen. Ethos schenkte Artemis unterdessen nur einen fragenden Blick, woraufhin Artemis unwissend mit den Schultern zuckte. „Feuer, sagtest du? Und Opfer mit Brandwunden?“ „Genau das sagte ich.“ Artemis holte ein Taschentuch hervor, um Chino beim Wischen zu helfen und um zu verhindern, dass der vom Tisch herunter tropfende Kaffee auf seine Hose kam. „Was war denn vorhin mit dir los? So schockiert habe ich dich noch nicht einmal gesehen, als wir dir erzählt hatten, dass Dominic Nikolas' Posten übernehmen will.“ Direkt nach dem Ziel, Artemis aus dem Vatikan zu werfen, kam für Dominic das Vorhaben, sämtliche dämonisch geprägte Kontaktmänner, die der Vatikan besaß, zu vernichten. Chino ließ sich mit seiner Antwort Zeit, bis er alle hässlichen Kaffeeflecken von seinem Tisch entfernt hatte. Danach verfrachtete er den dreckigen Lappen in die leere Kanne. „Wann gedenkt ihr abzureisen?“ „Das wissen wir noch nicht. Nikolas wartet nur noch auf die Bestätigung des Papstes." „Bis Morgen werde ich meine Vertretung eingewiesen haben. Señora Mariposa weiß glücklicherweise bereits Bescheid, wie sie mit meinen Patienten umzugehen hat. Ich hoffe, dass euer Prälat sich noch so lange gedulden kann. Ich komme mit euch und werde dafür sorgen, dass die Patientin aus der Anstalt heraus kommt und bei Bedarf sogar nach Rom verlegt werden kann.“ Ethos und Artemis erhoben sich und schauten sich erneut fragend an. „Woher der plötzliche Sinneswandel?“, wollte Ethos wissen. „Das ist etwas Persönliches. Ich muss mir sicher sein, dass es sich auch wirklich um ihn handelt.“ Artemis hatte bereits den Mund für eine Frage geöffnet, verstummte jedoch, bevor er diese stellen konnte. In diesem Augenblick wirkte Chino nicht wie sonst. Irgendetwas Bedrohliches schien von ihm auszugehen, von dem beide Priester wussten, dass es nicht gegen sie gerichtet war, aber jederzeit dazu führen konnte, dass Chino völlig in Rage geraten würde. Seine Atmung wirkte schwer, seine braunen Augen funkelten wie wütende Flammen. Eine Weile lang standen sich die drei nur gegenüber, keiner sagte ein Wort. Unter Artemis' Augenklappe regte sich sein Fluch immer heftiger. Das zuvor nur noch als leichtes Jucken wahrzunehmende Gefühl wandelte sich in stechende Schmerzen. Sein rechtes Auge schrie geradezu danach, von der Augenklappe befreit zu werden, um es mit der feindlichen Aura, die den Raum inzwischen erfüllte, aufzunehmen. Plötzlich, als es für Artemis kaum noch auszuhalten war, ließ Chino entspannt die Schultern sinken und legte ein freundliches Lächeln auf. „Also dann, ich schätze, wir hören spätestens morgen voneinander. Es hat mich gefreut, dass ihr mal wieder vorbei geschaut habt. Leider habe ich noch so einiges zu tun, weshalb ich meine Gastfreundschaft nicht länger anbieten kann. Ich hoffe, dass ihr dafür Verständnis habt.“ Von dem neuerlichen Wandel seiner Stimmung sichtlich verwirrt, verabschiedeten sich Ethos und Artemis von Chino. Als die beiden den Hauptweg so weit herunter marschiert waren, dass sie sich außerhalb der Reichweite des Anwesens befanden, drehte sich Artemis zu Ethos um. „Das war... etwas merkwürdig. Weißt du, was Chino meinte, als er sagte, dass er sichergehen müsse, dass es sich um ihn handelt?“ „Ich habe absolut keine Ahnung. Aber ich habe das Gefühl, dass zwischen Chino und diesem Blackcage eine Verbindung bestehen könnte.“ „Was du nicht sagst“, murmelte Artemis sarkastisch. „So langsam frage ich mich, ob es wirklich eine gute Idee war, Chino dazu zu bringen, uns zu begleiten.“ Ethos sagte nichts dazu. Nachdem Chino sich so seltsam benommen hatte, war ihm zwar der gleiche Gedanke gekommen, andererseits stiegen ihre Chancen, zu einem brauchbaren Ergebnis zu kommen, durch Chino gewaltig. Das konnte und wollte Ethos nicht aufs Spiel setzen. Er würde seinen Auftrag in jedem Fall zu Ende bringen, komme was da wolle. Wer auch immer Informationen über ihn zusammen trug, würde er sicherlich nicht ohne weiteres davonkommen lassen. An dem Tor angekommen, hatte Artemis bereits ein tassisti gerufen, so dass die beiden Priester sofort einsteigen und fahren konnten. Die gesamte Zeit der Fahrt lang wechselten die beiden nicht ein einziges Wort miteinander. In dem fahlen Licht seiner Kammer stand Artemis vor einem Spiegel, den er oberhalb der ausladenden Kommode angebracht hatte. Einen Arm auf die obere Platte gestützt, fingerte er in den Schubladen herum, bis er eine kleine weiße Dose zu fassen bekam. Mit einem leisen Ausruf des Triumphs hob Artemis die Dose vor sein Gesicht, nur um kurz darauf resigniert erkennen zu müssen, dass sie leer war. Wütend schleuderte er den kleinen Plastikgegenstand in die entgegengesetzte Ecke seiner Kammer. Als er den Kopf wieder gehoben hatte, konnte er sich in dem Spiegel sehen. Unter seinem linken Auge hatten sich inzwischen tiefe Augenringe gebildet, seine Lippen waren vor Trockenheit bereits an einigen Stellen aufgerissen. Seine Haut wirkte zudem blasser als sonst, einzelne Strähnen seiner langen Haare klebten ihm nass auf der Stirn. Seufzend drückte sich Artemis von der Kommode weg, stemmte die Hände in die Hüften und schaute sich um. In seinem aus dunklem Holz bestehendem Schrank bewahrte er keine Medikamente auf, dieser half ihm also schon mal nicht weiter. In den Kisten unter seinem sauber gemachten Bett mit der Bettwäsche aus rotem Satin befanden sich allenfalls noch einige Schlucke Alkohol. Dass er in seinem Schreibtisch oder unter dem Teppich etwas hätte lagern können, schied von vorne herein aus. Seufzend stellte Artemis fest, dass er wohl oder übel dazu gezwungen war, in die Stadt zu gehen und sich dort neue Medikamente zu holen. Sein Schädel pulsierte so stark, dass es ihm vorkam, als würde er jeden Augenblick zerbarsten. Hinzu kam, dass sein Auge noch immer keine Ruhe gab, seit er vor wenigen Stunden mit Chino gesprochen hatte. Wann immer sich das Auge unter seiner Klappe meldete, waren nur allzu häufig unerträgliche Kopfschmerzen mit ihm verbunden. Nur wenn Artemis dazu bereit war, die Augenklappe zu entfernen und so dem Fluch freien Lauf zu lassen, konnte er Milderung erwarten. Doch das war die letzte aller Möglichkeiten, die Artemis in Betracht zog. Er schnappte sich eine leichte und unauffällige Stoffjacke, die in seinem Schrank hing und ging nach draußen. Wenn er es noch in eine Apotheke schaffen wollte, musste er sich beeilen. Auf seinem Weg zum Haupteingang des Vatikans traf Artemis einige Priester, die er flüchtig grüßte. Mit dem Großteil seiner Kollegen hatte er nicht viel zu tun, denn auch, wenn er im Allgemeinen gemocht wurde, arbeiteten Leute wie er eher selten mit den übrigen traditionellen Geistlichen zusammen. Als Artemis den Vatikan schon fast verlassen hatte, erregte allerdings jemand seine Aufmerksamkeit. Vor dem Ausgang stand eine kleine Traube an Frauen, deren Körper in das schwarze Gewand der Nonnen gehüllt waren, dazu trugen alle die Haube, die ihre Haare verschleierte. Zwar konnte so keine der Nonnen auf den ersten Blick identifiziert werden, doch Artemis war in der Analyse einer bestimmten Nonne bereits geübt genug, um diese als die Frau zu erkennen, die sein Interesse auf sich zog. Artemis blieb stehen und änderte die Richtung, in die sein Weg ihn führte. Die Nonnen schwatzten gut gelaunt miteinander und lachten, bis die erste von ihnen Artemis bereits in der Ferne erkennen konnte. Sofort verschränkten drei der fünf Nonnen ihre Arme vor der Brust, eine zeigte mit dem Finger auf ihn und die letzte im Bunde lehnte sich zur Seite, um ihrer Schwester etwas in das Ohr flüstern zu können. Kaum war Artemis bei der kleinen Versammlung angekommen, strömte diese auch schon auseinander, bis nur noch eine Frau übrig blieb. Es verstrichen einige peinliche Atemzüge, bis Artemis sich dazu durchringen konnte, etwas zu sagen. „Lydia... Hallo, wie geht es dir?“ „Ein noch plumperer Spruch ist dir wohl nicht eingefallen, was? Sprichst du deine billigen Mädchen auch immer so an?“, giftete die Nonne in einem aggressiven Tonfall. Ihre grünen Augen blickten Artemis zornig an, die Haltung ihres schlanken Körpers ließ Abneigung erkennen, trotz der weiten schwarzen Robe. Die Haare waren zu einem strengen Zopf zurück gebunden, damit diese nicht unter Haube hervorschauen konnten. Sie wirkte angespannt, ihre zarten rosa Lippen presste sie so hart aufeinander, dass sie nur noch einen dünnen Strich zu bilden schienen. Ihr rundes Gesicht mit der kleinen Nase und den leichten Sommersprossen verhinderten allerdings, dass die Nonne allzu bösartig aussah, obwohl ihre Stirn sich durch den zornigen Blick stark zusammen gezogen hatte. Artemis versuchte, die Nonne namens Lydia durch ein warmes und herzliches Lächeln zu erweichen. „Du siehst schön aus.“ „Danke. War es das?“ Wieder schien Artemis zu zögern. Er wusste nicht genau, was er sagten sollte. Wobei, das stimmte nicht wirklich, er wusste ganz genau, was er sagen wollte, nur erschien ihm dieser Platz dafür nicht der richtige zu sein. In seinen Händen bildete sich kalter Schweiß, was er erst bemerkte, als er anfing nervös mit den Fingern zu spielen. „Vielleicht möchtest du dich ja mal auf einen Kaffee mit mir treffen? So ganz unverbindlich? Ich habe dir noch eine ganze Menge zu sagen“, säuselte Artemis und hoffte, dass ihm seine Verzweiflung nicht in das Gesicht geschrieben stand. Lydia überlegte kurz, was Artemis Hoffnungen bereitete, dass sie zusagen würde. „Nein. Was auch immer du zu sagen hast, kannst du auch genauso gut für dich behalten. Es interessiert mich nicht mehr. Lass mich einfach in Ruhe.“ Mit erhobenem Haupt schritt Lydia davon und noch bevor Artemis ihr hätte nachrufen können, war sie bereits wieder bei den anderen Schwestern, die ein paar Meter weiter auf sie gewartet hatten. Es dauerte noch eine Weile, bis Artemis seinen Blick von der Stelle, an der Lydia noch vor wenigen Sekunden gestanden hatte, abwenden konnte. Nachdenklich nickte er stumm vor sich hin, als stünde die Nonne noch vor ihm, um ihr zu bedeuten, dass er ihre Entscheidung akzeptierte. Mit leerem Blick setzte Artemis sich wieder in Bewegung und verließ den Vatikan mit gesenktem Haupt, so dass er nicht bemerkte, dass Ethos ihn aus einiger Entfernung beobachtet hatte. Für den Bruchteil einer Sekunde überlegte Ethos, ob er Artemis nachgehen sollte, entschied sich dann jedoch dagegen. Immerhin wusste er, was Artemis nun die nächsten Stunden über tun würde und abhalten konnte er ihn davon ohnehin nicht. Wenn die Erkenntnis, dass exzessives negatives Verhalten nicht darüber hinweg trösten konnte, was mit Lydia geschehen war, nicht von ihm aus kam, würde es nichts bringen, auf Artemis einzureden. In seinem tiefsten Inneren hoffte Ethos, dass Artemis seinen Weg noch finden konnte, er selbst hatte ihn immerhin noch nicht aufgegeben. Nachdem Artemis sein Rezept eingelöst und sich ein paar der Tabletten einverleibt hatte, war er noch ein wenig durch die Straßen Roms gewandert. Die meiste Zeit über hatte er die Hände in den Hosentaschen vergraben und mit düsterem Blick die ihm entgegen kommenden Menschen effektiv auf Abstand gehalten. Seitdem der Große Krieg vorbei war, herrschte ohnehin eine trübe Stimmung und die wenigsten Menschen waren darauf aus, mit anderen großartig ins Gespräch zu kommen. Mit Ausnahme des Ortes, an den es Artemis nun verschlug. In einer der vielen Seitengassen entdeckte Artemis ein unauffälliges herabhängendes Schild, das den Kunden der kleinen Kneipe den Weg weisen sollte. So, wie es quietschend in dem leichten Windzug hin und her baumelte, besaß es etwas kindlich Ironisches, stellte Artemis kurz fest, bevor er sich in das Innere der hinter einer brüchig wirkenden Hausmauer versteckten Kneipe begab. Die Fenster waren von außen nicht einsehbar, so dreckig waren sie bereits. Kaum war Artemis eingetreten, wurde er auch schon von einem einsilbigen und ungepflegt wirkenden Barmann begrüßt, der ihm einen Drink einschenkte und ohne weitere Fragen von dannen ziehen ließ. Um an seinen Stammplatz zu gelangen, passierte Artemis mehrere durch Holzplatten voneinander getrennte Kabinen. An den Wänden in den Kabinen hingen glitzernde Automaten, die den Spielern, die auf kleinen unbequemen Hockern davor Platz genommen hatten, lautstark verkündeten, dass sie verloren hatten. Oft hörte man sich die Männer mindestens genauso lautstark über eben diesen Umstand beschweren. Artemis suchte jene Kabine auf, die sich im hintersten Teil der Kneipe befand, ließ sich auf den Hocker sinken und stellte sein Glas auf einer kleinen Ablage aus Holz ab, die sich zu seiner linken befand. Die rechte Hand benötigte er, um den Einarmigen Banditen bedienen zu können. Hinter Artemis befand sich ein weitläufiger Raum, der eine große Sitzecke beherbergte, an dem einige Männer Poker spielten. Ein paar Frauen saßen entweder neben den Herren oder auf ihren Schößen, um sie anzufeuern. Als Artemis sich kurz umsah, da er den Vorhang hinter seinem Rücken zuzuziehen gedachte, zwinkerte ihm eine der Damen zu. Sie hatte schwarze Haare, die sie säuberlich hochgesteckt hatte und auch ihre Kleidung bestand ausschließlich aus schwarzem Stoff. Artemis grinste seine neue Bekanntschaft vielsagend an, dann zog er ruckartig den billigen gelben Stoff zur Seite und versperrte damit die Sicht auf ihn. Nun konnte er seine Privatsphäre genießen, nahm einen tiefen Schluck von dem Scotch und machte sich daran, einige Münzen aus seiner Hosentasche zu fischen. Das linke Bein lässig über das andere gelehnt, machte es sich Artemis in seiner Kabine gemütlich. Die erste Münze wurde von ihm in den Schlitz geworfen und die bunten Räder begannen sich wild zu drehen. Nachdem er ein paar Sekunden gewartet hatte, zog Artemis an dem Hebel des Automaten, verlor diese Runde allerdings. Der Priester wiederholte diesen Vorgang noch einige Male, verlor aber auch weitere zwanzig Runden. Nichts, das ihn beunruhigte oder davor abgeschreckt hätte, es noch ein weiteres Mal zu versuchen. Münze um Münze landete in dem Automaten, ohne dass Artemis auch nur einen einzigen Gewinn hätte erzielen können. Dann, bei dem fünfzigsten Versuch, nahm das Klingeln zum ersten Mal einen anderen Ton an und spuckte blinkend einige Münzen aus. Artemis zählte sie Münzen und stellte fest, dass es sich lediglich um einen kleinen Gewinn handelte, also musste er wohl noch einige Male weiter spielen. Gerade, als er einen Teil seines gerade erst erworbenen Geldes erneut investieren wollte, hörte er ein leises Kratzen. Er drehte sich um und sah die Frau von dem Pokertisch neben dem Vorhang stehen. Ihr einfaches schwarzes Kleid reichte ihr auch im Stehen nicht weiter, als knapp über die Knie, der Effekt ihrer nahezu unendlich langen Beine wurde durch die hochhackigen Schuhe, die sie trug, noch verstärkt. Mit ihren braunen Augen schaute sie Artemis kokett grinsend an. Das starke Make-Up, das sie trug, ließ ihre Mimik manchmal etwas unecht aussehen, doch das war nichts, woran sich Artemis störte. Er hatte gewusst, dass die Frau noch zu ihm herüber kommen würde. Immerhin war er der am besten gekleidete Mann in der Kneipe und vermutlich auch der jüngste. Dazu wohl auch der mit dem geringsten Potential an ansteckbaren Krankheiten. „Und du bist...?“ „Mein Name ist Violetta, wenn es das ist, was du hören möchtest.“ Garantiert nicht ihr richtiger Name, dachte sich Artemis, breitete aber trotzdem wohlwollend seinen rechten Arm aus. „Komm doch rein in meine bescheidene Kabine. Vielleicht bringst du mir ja noch etwas Glück heute Abend.“ Obwohl Artemis sich dessen gewahr war, dass seine Anmache mehr als dürftig war, schlüpfte Violetta am Vorhang vorbei und setzte sich auf Artemis' Schoß, wie sie es wenige Minuten zuvor bei dem anderen Mann getan hatte. Eine billige Anmache für ein billiges Mädchen. Es sollte Artemis nur recht sein, wenn er sich an diesem Abend keine besonders große Mühe mehr zu geben brauchte. „Möchtest du etwas trinken?“ „Gerne.“ Lächelnd nahm die Schwarzhaarige Artemis sein Getränk ab und nippte vorsichtig daran. Nur mit Mühe konnte sie es unterdrücken, das Gesicht zu verziehen. Etwas verunsichert daraufhin, reichte sie das Glas an Artemis zurück und konzentrierte sich darauf, das Geschehen am Einarmigen Banditen zu verfolgen. Nachdem Artemis die nächste Münze eingeworfen hatte, drehten sich die Räder ein weiteres Mal und der Priester schien an Glück dazugewonnen zu haben. Wieder rieselten einige Münzen aus dem Automaten heraus, die er sich sofort schnappte und einsteckte. „Ich glaube, du bringst mir Glück, Süße.“ „Das hoffe ich doch“, antwortete die Angesprochene grinsend und legte beiläufig die Hand auf Artemis' Brust ab. Dazu stütze sie sich mit ihrem Kopf auf seine Schulter. „Müde?“ „Ein wenig vielleicht.“ Auch die geringe Bereitschaft zur Unterhaltung der jungen Frau, die garantiert dem Gewerbe der Prostitution nachging, störte Artemis nicht weiter. Bei dieser Art von Frau legte er Wert auf andere Dinge. Er ließ den Banditen noch einige Runden lang rotieren, dann wand er sich an Violetta, die auf seinem Schoß schon fast einzuschlafen drohte. „Wollen wir vielleicht irgendwo hin gehen, wo wir ungestört sind?“, fragte Artemis, dazu fasste er Violetta vorsichtig unter das Kinn und hob ihren Kopf an, damit er ihr in die Augen sehen konnte. Anscheinend war die Frau völlig zu gedröhnt, so wie sie ihn anstarrte. Nicht einmal eine Sekunde lang die Augen geradeaus halten konnte sie, ihre Pupillen sahen aus wie zwei riesige schwarze Löcher. Violetta nickte kurz und ließ sich dabei helfen aufzustehen. Schnell sammelte Artemis einige seiner Münzen ein und gab dem Barmann Bescheid, dass er sich in eines der oberen Quartiere zurückziehen würde. Dieser nickte nur grimmig, warf Artemis einen Schlüssel zu und widmete sich schnellstmöglich wieder seinen Kunden, die direkt am Tresen saßen. Oben angekommen, schloss Artemis die erste Tür auf, schubste die Prostituierte hinein und verriegelte die Tür danach wieder. Als er sich umdrehte, rekelte Violetta sich bereits in einigen lasziven Posen auf dem Bett, jedenfalls versuchte sie es. In ihrem Zustand sah sie dabei eher lächerlich als anreizend aus. Das Zimmer war identisch mit den anderen Räumlichkeiten dieser Etage, die Artemis kannte - ein Bett, ein Nachtschrank und ein Stuhl reichten anscheinend aus, um auch die Stammkunden dieser zwielichtigen Kneipe abzufertigen. Bei der nächsten Gelegenheit würde Artemis sich darüber beschweren. Momentan hatte er allerdings besseres zu tun. Er zog sich seine Jacke und die Schuhe aus, dann legte er sich zu Violetta auf das Bett. Während er sie küsste, streichelte er über ihre glatten Beine, schob dabei den Saum ihres Kleides immer höher. Als er an der Hüfte der jungen Frau angekommen war, hielt Artemis plötzlich inne. „Leg dich auf den Bauch“, flüsterte er und Violetta gehorchte. Er wollte diesen Abend nicht in das Gesicht der Frau sehen. Er wollte ihren Namen nicht wissen, nicht erfahren, woher sie kam oder wer sie überhaupt war. Das einzige, das er wollte, war den Körper der Frau mit einer Erinnerung füllen, die ihm vor Jahren abhandengekommen war. Die Erinnerung an Lydia. „Manchmal mache ich mir ernsthafte Sorgen um Pater Artemis, Monsignore“, seufzte Ethos, während er neben Prälat Nikolas einen Spaziergang machte. Die beiden waren sich zufällig über den Weg gelaufen und ins Gespräch gekommen. „Warum?“ „Wegen Schwester Lydia. Die beiden begegnen sich häufig auf diesem Gelände und ich weiß nicht, wie lange das noch gut gehen soll.“ „Was beunruhigt Sie denn an dem Verhalten von Pater Artemis?“, fragte der Prälat und setzte sich auf eine Bank, da er eine kurze Pause benötigte. Ethos nahm ebenfalls Platz und blinzelte der untergehenden Sonne entgegen. „Immer, wenn er auf Lydia trifft, verlässt er den Vatikan für längere Zeit. Wenn er wiederkommt, ist er meistens betrunken, kann sich nur noch an die Hälfte erinnern und hat entweder all sein Geld verspielt oder es in Frauen investiert.“ „Machen Sie sich Sorgen um seine Einsatzfähigkeit?“ Aufgrund dieser Frage wirkte Ethos leicht empört. Er hatte mit einer ganz anderen Reaktion gerechnet. „Nicht direkt. Pater Artemis ist überaus zuverlässig. Meistens gönnt er sich solche Ausfälle nur, wenn am nächsten Tag kein Auftrag ansteht.“ „Das Privatleben meiner Leute sollte auch privat bleiben, Ethos. Mich interessieren nur die Einschnitte, die die Ausführung unserer Aufträge bedrohen.“ „Auch, wenn einer Ihrer Leute gerade dabei ist, sein Leben zu zerstören?“, fragte Ethos mit einem provozierenden Unterton und schaute Nikolas mit ernstem Blick in die Augen. Für einen kurzen Augenblick wusste der Prälat nicht, was er antworten sollte. Er fuhr sich mit der Zunge einige Male über die Lippen, dann sprach er weiter. „Es ist nicht so, dass mich das Leben von Pater Artemis nicht interessieren würde. Allerdings muss ich über einige Dinge hinweg sehen, um garantieren zu können, dass der eine oder andere Priester weiterhin in unserer Abteilung arbeiten kann. Bei Ihnen genauso, wenn ich Sie daran erinnern darf. Auch mir fällt es nicht leicht zu ignorieren, was in Artemis' Inneren vor sich geht. Was mich bisher aber ungemein beruhigt hat, ist, dass Sie ihm zur Seite stehen, Ethos. Sie und Artemis unterstützen sich gegenseitig. Kein anderer Priester hier kann diese beiden Aufgaben übernehmen. Sie selbst lassen niemanden an sich heran und Artemis ist ohnehin ein sehr spezieller Fall.“ Als hätte sich das Gespräch somit für ihn erledigt, schaute nun auch Prälat Nikolas dem Sonnenuntergang entgegen. Ein leichtes Zittern durchfuhr ihn, als ein Windstoß aufkam. Noch zeigte sich der Spätsommer von seiner besten Seite, bald würde der Herbst jedoch die Überhand gewinnen, das war bereits spürbar. Ethos schwieg eine Weile, bis er aufstand und Nikolas anbot, ihn in seine Kammer zu begleiten. Dankbar nahm dieser das Angebot an und ließ sich beim Aufrichten helfen. „Verstehen Sie mich nicht falsch, Ethos. Könnte ich es, würde ich Ihnen beiden nur zu gerne helfen. Aber das kann ich nicht. Artemis braucht Sie und Sie brauchen Artemis. Vielleicht ist das einer der Gründe, der sie zu dem effizientesten Team meiner Abteilung macht, was nur einen weiteren Beweis darstellen dürfte, dass Sie sich um den jeweils anderen kümmern müssen.“ „Ich verstehe Sie nicht ganz...“ „Sie und Artemis sind die einzigen beiden Priester, die den Versuch einer Übernahme durch einen Dämonen überlebt haben. Dieses Ereignis hat Sie, auch wenn Sie es zu verschiedenen Zeitpunkten und an verschiedenen Orten, sowie durch verschiedene Dämonen erlebt haben, dennoch zusammen geschweißt. Trotz meiner jahrelangen Erfahrung in diesem speziellen Metier könnte ich weder nachvollziehen, was in Ihnen vorgeht, wenn Sie in die Fänge Ihrer alptraumartigen Trance geraten, noch was Artemis durchlebt, wenn er sein Auge von der Klappe befreit.“ Inzwischen waren die beiden Geistlichen vor dem Gebäude, das die Kammer des Prälaten beherbergte, angekommen. Steve wartete bereits geduldig, um Nikolas hinein zu geleiten. „Was ich damit sagen möchte, ist, dass es niemanden gibt, der Pater Artemis besser auf den richtigen Weg zurück leiten kann, als Sie.“ „Oder Lydia.“ „Vergessen Sie Lydia.“ Die Nonnen, die sich im Vatikan aufhielten, besaßen keinen besonders guten Ruf. Das lag weder an ihren Fähigkeiten, noch daran, dass sie die männlichen Priester in irgendeiner Art ablenken würden. Doch Frauen hatten, in den Augen der meisten Priester, nichts in dem brutalen Kampf gegen die Dämonen zu suchen. Sooft sie auch das Gegenteil bewiesen, sie stiegen in ihrem Ansehen kaum auf. Bei Lydia kam hinzu, dass sie ohnehin gespalten betrachtet wurde. Artemis hatte seine Vision der Dinge und da es mehr Männer als Frauen im Vatikan gab, somit auch die größere Anzahl an Leuten auf seiner Seite. „Sie kann nichts tun, sie redet doch noch nicht einmal mit Pater Artemis. Passen Sie auf ihn auf und versuchen Sie ihm das eine oder andere beizubringen. Lernen Sie im Gegenzug dazu einige Dinge von Pater Artemis, das würde Ihnen ebenso wenig schaden. Gute Nacht, Pater Ethos.“ „Gute Nacht Hochwürdigster Prälat Nikolas.“ Ethos vollführte eine leichte Verbeugung, verabschiedete sich von Steve und machte sich auf den Weg in sein eigenes Quartier. Er war ausnahmsweise müde und hatte erfahren, dass ihr Flugzeug nach London am nächsten Tag in aller Frühe gehen würde. Zum Glück hatte auch Chino daran nichts auszusetzen gehabt, so dass der Auftrag mit etwas Zutun von Fortuna vielleicht innerhalb eines Tages abgeschlossen werden konnte. In seiner Kammer angekommen, warf sich Ethos direkt mit dem Rücken auf das Bett und starrte mit hinter dem Kopf verschränkten Armen an die Decke. Das, was Nikolas zu ihm gesagt hatte, ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Irgendwo hatte der Prälat sicherlich Recht, aber er konnte doch nicht einfach so wegsehen, wie Artemis sich verhielt. Viele fanden den Priester mit der Augenklappe unheimlich sympathisch, lachten, wenn er Witze machte, erfreuten sich an seiner Offenheit oder seinen Geschichten und respektierten ihn für seine Stärke. Und dennoch war Artemis in Situationen wie dieser völlig allein. Im Gegensatz zu Ethos hatte er sich diese Einsamkeit allerdings nicht gewünscht. Einmal hatte Artemis Ethos gestanden, dass die meisten Menschen Angst vor dem hatten, was sich da unter seiner Augenklappe abspielte. Solange es sich nur um flüchtige Bekanntschaften handelte, konnte er diese damit noch beeindrucken, aber jeder, der wirklich wusste, was sich darunter verbarg, begegnete ihm mit einem mulmigen Gefühl. Ethos war es nicht anders ergangen, als er das erste Mal auf Artemis getroffen war. Irgendwann hatte er jedoch erkennen müssen, dass er mit Artemis einiges gemein hatte. Während sein Stiefvater ihn zu dem schlimmsten genötigt hatte, das Ethos sich vorstellen konnte, war Artemis von seinem Vater über Jahre hinweg auf eine seelische Art misshandelt worden, an die er sich jedes Mal erinnerte, sobald ihn jemand bei seinem Namen rief. Auch die Dämonen haben, wenn auch nicht gewollt, mehrfach einen großen Teil dazu beigetragen, dass Ethos eine Freundschaft zu seinem Kollegen hatte aufbauen können. Ein Auftrag, der völlig aus dem Ruder lief, war dafür verantwortlich, dass sich die beiden inzwischen so gut verstanden. Wäre Artemis damals nicht gewesen, wäre Ethos vermutlich tot. Andersherum hatte auch Ethos die Lebensspanne von Artemis bedeutend erhöht, wodurch sie irgendwann in ein tieferes Gespräch über die prägenden Erlebnisse ihres Lebens gestolpert waren. Alle beide waren an jenem Tag fürchterlich betrunken gewesen, da sie einen besonders nervenaufreibenden Auftrag abgeschlossen hatten und dies gebührend hatten feiern wollen. Ein Lächeln huschte über Ethos' Gesicht, wenn er sich an diesen Abend zurück erinnerte. Es war der wohl ausgelassenste Tag seines Lebens gewesen, den er damals mit Artemis verbracht hatte und auch der, der ihm eine große Last genommen hatte. Zugegebenermaßen konnte es wirklich gut tun, mit jemandem darüber zu reden, was einem im tiefsten Inneren belastete. Allzu häufig verweigerte Ethos dennoch die Zusammenarbeit mit den meisten Kollegen, da ihm an ihnen nicht besonders viel lag. Nur wenige Menschen bildeten Ausnahmen, auf die Ethos sich einlassen konnte. Vielleicht hatte Nikolas wirklich Recht mit dem, was er vorhin Ethos gegenüber erwähnt hatte. Beim nächsten Mal würde er Artemis nachgehen und versuchen, mit ihm zu sprechen, bevor er ihn seinen Süchten überließ. Kapitel 7: Kapitel 07 --------------------- Kapitel 07 Mit einer Schießbrille auf der Nase inspizierte Ethos die Waffe, die ihm kurz zuvor von Steve übergeben worden war. Der junge Mann hatte Ethos, als dieser sich pünktlich zu seinem Auftrag gemeldet hatte, mit auf die hauseigene Schießbahn genommen, die sich in einem der vielen geheimen Untergrundräume befand, die der Vatikan für solche Zwecke angelegt hatte. Artemis war noch nicht aufgetaucht, Chino hingegen würde erst in einer Stunde dazu stoßen, ganz wie vereinbart. „Sie sieht ein wenig altmodisch aus“, bemerkte Ethos und hob mit einer Hand die Armbrust an, damit er ein imaginäres Ziel anvisieren konnte. „Lassen Sie sich von dem Aussehen nicht täuschen. Diese Armbrust wurde aus bestem Eibenholz gefertigt. Da sie nicht besonders groß ist und ich einen dazu passenden Koffer zur Aufbewahrung gebaut habe, sollte sie auf langen Wegen gut zu transportieren sein. Leider gilt das nicht für den Kampf selbst, da Sie keinen Talar tragen, wird es schwer sein, sie zu kaschieren. Das ist jedoch auch nicht Sinn der Sache. Nachdem Sie von ihrer Konfrontation mit Leonce berichtet haben, hatte mich der hochwürdigste Prälat damit beauftragt, Ihnen eine Waffe anzufertigen, mit der Sie sich im Notfall im Nahkampf etwas effektiver verteidigen können als mit dem Revolver.“ Steve nahm Ethos die Armbrust wieder ab. „Zwar ist die Nachladezeit noch immer ein kritischer Faktor, der sich nicht so einfach eindämmen lässt, aber ich habe mir da ein wenig was einfallen lassen.“ Indem er sich leicht nach hinten lehnte, griff Steve nach dem silbernen Objekt, das unweit von ihm entfernt auf der Nachladebank lag. Mit geschickten Fingern justierte er das silberne Etwas auf die Armbrust, dann wand er sich wieder Ethos zu. Durch die Drehung wurde die Kette, die an der Munition der Armbrust hing, in Bewegung gebracht. Bevor sie jedoch den Boden berühren konnte, hatte Steve sie mit der freien Hand aufgefangen und während er zu der Theke der Schussbahn ging, warf er sich die Kette locker über die Schulter. Bei näherem Hinsehen konnte Ethos erkennen, dass es sich um kleine Schussbolzen aus Silber handelte. Die nadelähnliche Spitze der Geschosse jagte Ethos bereits bei´dem bloßen Anblick einen kalten Schauer über den Rücken. „Hast du dich von einem Arzt inspirieren lassen? Vielleicht wäre das die richtige Waffe für Doktor Estevez.“ „Nicht ganz“, lachte Steve und hob die Armbrust vor sein rechtes Auge. Einige Meter weiter klappte ein Pappkamerad auf. Steve drückte den Abzug durch und ließ den Bolzen so mit einem leisen Zischen fliegen. Einen Lidschlag später steckte er bereits in der Stirn der Zielscheibe. Anstatt die Armbrust zu spannen, drückte Steve noch ein paar Mal ab, um sein Ziel einige weitere Male zu durchlöchern. Ethos pfiff anerkennend durch die Zähne. „Du hast eine Armbrust entwickelt, die erst nach mehreren Schüssen nachgespannt werden muss? Und noch dazu so schnell schießen kann? Alle Achtung. Wo hast du das gelernt?“ „Mein Vater war in technischen Dingen einigermaßen bewandert und hat mir das beigebracht“, sagte Steve kleinlaut und legte die Armbrust beiseite. „Manchmal ging er jagen. Und diese beiden Vorlieben zusammen genommen, da ergab sich das eine aus dem anderen. Und er hat viel von seinem Wissen an mich weitergeben können, bevor er ermordet wurde.“ „Ermordet?“ Ethos konnte sich daran erinnern, dass Nikolas ihm mitgeteilt hatte, dass Steves Vater im Krieg gefallen wäre. „Ja, von den Deutschen.“ Bei seiner Antwort hatte Steve die Hände zu Fäusten geballt und wütend auf den Boden gestarrt. Seine Stimme kippte leicht und sein Atem wurde so schwer, dass Ethos vermutete, dass der Junge jeden Augenblick zu weinen anfangen könnte. Um ihn nicht weiter zu provozieren, wechselte Ethos das Thema und klopfte Steve anerkennend auf die Schulter. „Du hast wirklich hervorragende Arbeit geleistet. Ich bin sehr froh darüber, dass Prälat Nikolas dich in die Abteilung aufgenommen hat.“ Als wäre dies das größte Lob gewesen, das Steve jemals in seinem Leben bekommen hatte, lächelte er Ethos aus vollem Herzen heraus an. Er nahm sich erneut die Armbrust und wog sie bedeutungsschwer in seiner Hand. „Probieren Sie sie doch selbst einmal aus. Sie ist wirklich sehr leicht. Damit sie nicht nachgespannt werden muss, habe ich einen Mechanismus aus Zahnrädern in ihrem Innenkörper verbaut. Die Zahnräder bestehen aus einem besonders leichten Metall, damit die Waffe insgesamt nicht zu schwer wird. Die Patronen aus Silber dagegen sind ein wenig massiger, aber das Gewicht des gesamten Gürtels sollte trotzdem kein Hindernis für Euch sein.“ Steve übergab Ethos die Waffe, welche dieser mit Freuden entgegen nahm. Wie Steve es gesagt hatte, war sie unglaublich leicht und auch als der Junge ihm den Gürtel auf die Schulter legte, kam ihm das Gewicht angemessen vor. „Mit dieser Armbrust werden Sie sich das nächste Mal auf kurzer Distanz wesentlich besser verteidigen können, als mit Ihrem Revolver. Fünfzig Schuss können abgefeuert werden, dann ist der Gurt leer. Leider muss dann auch die Armbrust nachgespannt werden, aber bis dahin sollte das Ziel bereits eliminiert sein.“ Begierig darauf, die Waffe endlich auszuprobieren, hob Ethos erneut den Arm mit der Armbrust. Sie lag wirklich außerordentlich gut in der Hand und nachdem er einige Schüsse abgegeben hatte, überzeugte ihn dazu die Präzession, mit der sich die Waffe bedienen ließ. Auch nach mehreren abgefeuerten Bolzen traf die Armbrust weiterhin direkt ins Schwarze. Als er den Gurt leer geschossen hatte, gab Ethos die Armbrust an Steve zurück, ebenso die Schießbrille. „Ich möchte, dass du sowohl mir, als auch Pater Artemis die Armbrust fertig machst und so viele Gürtel wie möglich auffüllst, bevor wir nach London aufbrechen.“ „Das würde ich gerne, aber leider habe ich es bisher geschafft, nur eine Armbrust zu bauen. Während Sie unterwegs sind, werde ich schnellstmöglich eine weitere konstruieren.“ Mit einem verständnisvollen Nicken wand Ethos sich von dem Jungen ab und stieg die Treppen hinauf. Um mit dem Prälaten die letzten Details der nächsten Mission abzusprechen musste er sich von Steve verabschieden, damit er nicht zu spät kommen würde. Als Ethos die Tür zum Büro des Prälaten schloss, erblickte er nicht nur Nikolas, sondern auch einen in sich zusammen gesunkenen Artemis. Vor dem Priester, der in einem schwarzen Hemd und schwarze Jeans gekleidet war und damit einen starken Kontrast zu seinem in Weiß gehüllten Kollegen darstellte, stand ein dampfender Kaffee auf dem Tisch. Der anscheinend nicht viel nützte, denn nachdem Artemis den Kopf gehoben hatte, um seinen Kollegen zu begrüßen, hätte Ethos ihn mit dem Tod höchstpersönlich verwechseln können. Das mochte nicht nur an dem gestrigen Abend gelegen haben, sondern ebenso an ihrem Gast. Chino, der in seinem Arztkittel daneben saß, war hingegen aufmerksam und fit wie jeher. Zwar wirkte er leicht nervös, doch Ethos wusste, dass dies an dem Ort lag, an dem er sich gerade befand. Der Vatikan war aus mehreren Gründen kein geeigneter Ort für einen Dämonen. Stumm setzte sich Ethos auf den noch verbliebenen freien Platz und schaute den Prälaten mit durchdringendem Augen an. Doch Nikolas ignorierte Ethos' strafenden Blick und ging sofort zur Missionsbesprechung über. „Sobald Sie in London ankommen, werden Sie von Pater Winston Berry in Empfang genommen. Er wird Sie vom Flughafen abholen und direkt in die Psychiatrie fahren lassen, wo Sie mit einer Frau namens Marylin Moore reden werden. Dank der Unterstützung von Herrn Estevez können Sie Frau Moore nach Italien überführen. Die nötigen Formulare dafür wird Herr Estevez fertig machen und unterschreiben. Später haben Sie dann die Gelegenheit, Frau Moore ein erstes Mal zu befragen. Sollte alles soweit klappen, werden Sie sich noch heute Nachmittag auf dem Weg zurück nach Italien befinden. Wenn Sie aus irgendwelchen schwerwiegenden Gründen noch einen Tag länger bleiben müssen, können Sie sich selbst um eine Übernachtungsmöglichkeit kümmern. Sollten die Hinweise es zulassen, dass Sie vor Ort ermitteln müssen oder sogar einen Dämonen stellen können, bleiben Sie natürlich ebenfalls länger. Ich möchte außerdem, dass Sie, Ethos, Pater Berry einem intensiven Gespräch unterziehen. Vielleicht hat er etwas zu sagen, das er sich am Telefon nicht getraut hat zu berichten. Haben Sie weitere Fragen?“ Allgemeines Schweigen. Nikolas' Blick ruhte dabei besonders auf Artemis, der nach kurzem Zögern leicht nickte und seinen Kaffee leerte. „Gut. Dann wünsche ich Ihnen viel Erfolg auf der nächsten Mission. Kommen Sie unverletzt wieder. Ich werde in Ihrer Abwesenheit für Sie und Ihr Wohlbefinden beten.“ Nachdem das Flugzeug mit den beiden Priestern und dem Dämon an Bord abgehoben hatte, machte es sich Artemis in dem Sitz so gemütlich, wie dieser es gerade hergab. Eigentlich hatte er vorgehabt, die Zeit des Fluges über zu schlafen, doch Ethos hatte andere Pläne. „Wo warst du diese Nacht?“ „Was glaubst du denn“, grummelte Artemis hörbar genervt. „Meine Verfassung sollte doch Bände sprechen.“ „Ich habe gesehen, wie du dich gestern mit Lydia unterhalten hast.“ Kaum hatte Ethos seinen Satz beendet, funkelte Artemis ihn zornig an. „Warum sprichst du sie überhaupt noch an? Sie will eh nicht mit dir reden und es tut dir zudem auch nicht wirklich gut.“ „Bist du so eine Art Kindermädchen, das den Auftrag hat, mir hinterher zu spionieren und danach eine Predigt zu halten? Das kannst du dir sparen. Ich weiß schon, was ich tue.“ Und mit diesen Worten wandte Artemis Ethos den Rücken zu, um endlich seinen verpassten Schlaf nachholen zu können. Obwohl es durchaus Ethos' Recht gewesen wäre, diese unflätigen Bemerkungen ihm gegenüber richtig zu stellen, hielt er den Mund und lehnte sich in seinen Sitz. Wenn Artemis seine Hilfe nicht annehmen wollte, konnte er dagegen vorerst nichts machen. Zwar hatte er bereits vorher gewusst, ein sehr unangenehmes Thema für Artemis anzusprechen, doch einen Versuch war es immerhin wert gewesen. Möglicherweise sollte er sein Vorhaben, sich in die Belange anderer Menschen einzumischen, doch noch einmal überdenken. Wie auf ein Stichwort meldete sich plötzlich Chino zu Wort, welcher zu Ethos' Linken saß. „Entschuldige, aber habt ihr vielleicht schon etwas mehr über diesen Blackcage herausgefunden?“ „Nein“, entgegnete Ethos knapp. „Schade.“ Chino wirkte nun deutlich unruhiger als einigen Stunden zuvor, als er im Büro des Prälaten gesessen hatte. Sein Blick war konzentriert nach vorn gerichtet, als blendete er alles, das um ihn herum geschah, bewusst aus. An seinen Fingernägeln spielend, rutschte er leicht nervös über seinen Sitz. Ethos sah dem seltenen Spektakel noch eine kurze Weile zu, dann versuchte auch er, noch etwas zur Ruhe zu kommen vor der Landung. Als das Flugzeug in London zur Landung ansetzte und durch die dicke Wolkendecke brach, begrüßte die Stadt seine Besucher mit einem heftigen Regenschauer. Dicke Tropfen perlten an den Fenstern der Maschine ab und verschwanden kurz darauf im Nichts, nur damit Sekunden danach ein weiterer Schwall Wasser über die glatte Oberfläche laufen konnte. Die drei Gesandten des Vatikans stiegen aus, holten ihre Koffer von einem separaten Band und verließen den Flughafen Heathrow. Durch ihren Status hatten sie alle Sicherheitskontrollen, auch die in Italien, umlaufen können. Auch bei diesem Auftrag bestand ihr Reisegepäck hauptsächlich aus Waffen. Ihr Kontaktmann war sofort auszumachen, unterschied sich ein in einen braunen Mantel gewickelter Pfarrer mit schwarzem Regenschirm doch deutlich von dem anderen, etwas modebewussteren Publikum, das draußen auf seine Angehörigen wartete. Pater Winston Berry war ein großer, schlaksiger blonder Mann mit rosa Wangen, einem dicken Schnauzbart und freundlichen braunen Augen. Die Falten in seinem Gesicht verrieten, dass er schon einige Jahre gelebt hatte, trotzdem war seine Haltung aufrecht und er wirkte auch sonst völlig fit. Jedenfalls funktionierten seine Augen noch hervorragend, denn als er Ethos, Artemis und Chino sah, winkte er dem Trio zu und kam ihm entgegen. „Pater Turino, Pater Dal Monte“, grüßte Berry mit rauer Stimme und gab den Angesprochenen nacheinander die Hände. „Mister Estevez. Mein Name ist Winston Berry, einer der katholischen Priester hier in London und seit langer Zeit im geheimen Dienst des Vatikans. Unser Fahrer steht bereits zur Verfügung, wir sollten ihn nicht länger warten lassen.“ Berry holte einen weiteren Schirm hervor und reichte diesen an Artemis weiter. Während der sich mit Chino den Schirm teilte, ging Ethos direkt neben Berry. An der Straße wartete eine schwarze Limousine auf sie und Pater Berry hielt die Tür auf, damit seine Besucher einsteigen konnten. Die Fenster zur Fahrerkabine waren verdunkelt, die Sitze aus einem weichen cremefarbenen Stoff. Erst, als sich alle Personen in der Limousine befanden, die Tür geschlossen war und der Wagen anfuhr, begann Berry das Gespräch. „Die Umstände, aus denen Sie hier sind, sind Ihnen sicherlich bekannt, weshalb ich keine Zeit damit vergeuden möchte, Ihnen alles noch einmal zu erklären. Vielmehr möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, dass wir es hier mit einem starken Dämon zu tun haben. Ich habe mir die Opfer persönlich angeschaut. Auch der Mann, der sich noch in Lebensgefahr befand, ist inzwischen verstorben. Die Brandwunden, die ihnen zugefügt wurden, sahen mehr als schrecklich aus. Glücklicherweise sind die meisten Personen zuvor getötet worden und nicht den Brandwunden erlegen, ob dies einen Akt der Humanität darstellt, wage ich dennoch stark zu bezweifeln." „Diese Brandwunden“, mischte sich Chino zuerst ein. „Gibt es jemanden, der beobachtet hat, wie der Dämon seinen Opfern die Wunden zugefügt hat?“ „Die Zeugin, zu der wir gerade gefahren werden, wird Ihnen vermutlich alles darüber erzählen können“, antwortete Berry mit einem leicht gekränkten und missbilligenden Unterton. Anscheinend wurde er nicht gerne unterbrochen und fuhr schnell fort. "Jedenfalls, von dem entwendeten Objekt wissen Sie ebenfalls. Und wie rar die Fänger aufgrund des Prozedere bei der Vernichtung von mächtigen Dämonen heutzutage geworden sind, werde ich Ihnen ebenso wenig erklären müssen. Wir werden deshalb zuerst in die Psychiatrie fahren, in der sich Marylin Moore befindet. Mr. Estevez wird hineingehen und die nötigen Formulare unterschreiben, damit Mrs. Moore die Anstalt verlassen und mit uns fahren kann. Nachdem Sie die Zeugin aus der Anstalt herausgeholt haben, werden wir sie zu ihrer Wohnung begleiten. Dort soll sie ihre Sachen packen, die sie benötigt, um mit Ihnen nach Italien zu kommen. Danach werde ich mich mit Pater Turino in mein Büro zurückziehen, um die letzten Details vor Ihrer Abreise zu besprechen. Pater Dal Monte und Mr. Estevez können in dieser Zeit die Zeugin befragen, falls erwünscht. Ich denke, dass Sie schon heute Abend wieder in Rom landen werden. Haben Sie irgendwelche Fragen?“ Berry ließ seinen Blick über die Anwesenden schweifen. Bei Chino hielt er kurz inne, beäugte ihn skeptisch und richtete sich dann erneut an Ethos. „Wir werden noch eine Zeit lang unterwegs sein, Sie alle sehen ein wenig müde aus. Erholen Sie sich doch so lange, bis wir da sind.“ Gelangweilt schaute Artemis aus dem Fenster. Dank Chinos Anwesenheit brummte sein Schädel bereits so stark, dass er das Gefühl hatte, er würde gerade entzwei gebohrt. Seit einer halben Stunde waren die tristen grauen Häuser mit den Schornsteinen, aus denen schwarzer Rauch in den Himmel stieg wie ein wütender Schwarm Insekten, grünen Wiesen und ungenutzten Äckern gewichen. Auf der Landstraße, über die sie nun fuhren, war die Limousine sicherlich ein ungewohnter Anblick. Wären nicht ohnehin so wenige Autos unterwegs gewesen, hätten sie bestimmt eine Menge Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Nach einiger Zeit bog das Fahrzeug auf einen Kiesweg ab und kam, vor einem riesigen Gebäude, zum Stehen. Die Anlage bestand lediglich aus einem großen Haus, auch hier schienen die Zellen, in denen die Verrückten untergebracht wurden, weiter hinten zu liegen und somit nicht einsehbar zu sein. Die graubraune Fassade ließ jedenfalls nicht darauf schließen, dass sich in ihrem Inneren eine Psychiatrie befand. Chino stieg als einziger, mit einem Regenschirm bewaffnet, aus, um seine Aufgabe zu erfüllen. Wenige Sekunden später war er in dem Inneren des Hauses verschwunden. „Wie konnte es passieren, dass einer der Fänger gestohlen wurde? Ich dachte, wo immer sich ein wichtiges Objekt des Vatikans aufhält, ist auch jemand in der Nähe, der es beschützt“, bemerkte Ethos, nachdem Chino aus seinem Blickfeld verschwunden war. „Einer der beiden toten Wächter. Darunter war ein Geweihter.“ Sofort wurde Artemis aus seinem andauernden Tagtraum gerissen und auch Ethos wirkte mit einem mal seltsam erregt. „Anscheinend kein besonders großes Hindernis für diesen Dämon. Damit hätte niemand von uns gerechnet.“ „Ein Geweihter?“ „Exakt. Unter den Nachtwächtern war an diesem Abend ein Geweihter“, wiederholte Berry noch einmal, als er in die ungläubigen Gesichter seiner Kollegen blickte. „Es gibt doch kaum noch Geweihte“, sagte Artemis. „Hier in England war dies der letzte lebende Geweihte, von dem wir wissen. Möglicherweise gibt es noch welche, wenn haben sie sich aber nicht oder noch nicht dem Dienst der Kirche verschrieben.“ „Das ist wirklich bitter", seufzte Ethos und dachte darüber nach, was das für sie bedeutete. Bisher gab es sieben Geweihte, die dem Vatikan bekannt waren. Zwei davon waren Ethos und Artemis. Einer der gefallene Priester hier in London. Blieben nur noch vier weitere. Und von diesen vier hatten gerade einmal zwei die Fähigkeiten, die mit denen von Ethos vergleichbar waren. Soweit Ethos es wusste, wurden die Geweihten nicht immer im Vatikan ausgebildet. Bei ihm und Artemis hatte sich dies angeboten, da sie beide in Rom geboren waren. Das Hauptziel war es, die Geweihten in der Nähe der besonderen Artefakte, wie die Fänger, einzusetzen. Die Namen und die Herkunft wurden dabei strickt verschwiegen, um die Geweihten nicht zu gefährden und ihre Mission, die heiligen Objekte zu schützen, ebenso wenig in unnötige Gefahr zu bringen. Es passte jedoch damit zusammen, dass die Dämonen, von denen er und Artemis in Frankreich angegriffen worden waren, alle relevanten Informationen über sie besaßen. Darüber, dass der Dämon wahrscheinlich auch die Aufenthaltsorte anderer Geweihter kannte, musste er dringend Nikolas informieren. Mit einem Blick zur Seite erkannte Ethos, dass Artemis gerade stillschweigend zur gleichen Erkenntnis gelangt sein musste. Etwas in dem vorher so trüben Blick des anderen Priesters hatte sich verändert. Wut und Entschlossenheit schienen ihn nun zu durchströmen. „Wenn ich diesen Wichser in die Finger kriege, wird er dafür bluten.“ Überrascht von diesem Fluch fuhr Pater Berry zu Artemis herum und machte den Mund auf, um etwas zu sagen, als sich die Tür der Limousine öffnete, woraufhin er verstummte. Eine zarte, in einen schwarzen Mantel gehüllte Gestalt kroch hinein und setzte sich, gefolgt von Chino, der eilig die Tür hinter sich schloss. Erneut setzte sich der Wagen in Bewegung. Die Gestalt mit dem schwarzen Mantel warf die Kapuze nach hinten, wodurch einige Regentropfen durch die Luft geschleudert wurden. Zum Anschein kam das Gesicht einer jungen Frau. Ihre Haare waren zu einem Pagenschnitt frisiert und von einem hellen Blond, das ihre Haare fast weiß wirken ließ. Durch ihre hohen Wangenknochen sah sie etwas zu dünn aus, was durch ihre großen grünen Augen noch unterstrichen wurde. Die langen Wimpern ließen sie etwas kindlich aussehen, lediglich ihre strenge Körperhaltung verriet auf den ersten Blick, dass sie es hier mit einer erwachsenen Frau zu tun hatten. Etwas verängstigt blickte sich die Frau um. „Wer... wer sind Sie?“ „Mein Name ist Pater Ethos Turino. Rechts neben mir sitzt Pater Artemis Dal Monte, der Herr gegenüber ist Pater Winston Berry und Doktor Chino Estevez haben Sie bereits kennen gelernt. Wir sind hier, um Sie aus der Psychiatrie zu befreien, in der sie zu Unrecht gesessen haben.“ Anstatt eine beruhigende Wirkung auf Marylin zu erzielen, sah diese verwirrter aus, als kurze Zeit zuvor. „Wir wollen Ihnen helfen.“ „Einfach so? Warum tun Sie das?“ „Wir werden jetzt zu Ihrer Wohnung fahren“, fuhr Ethos ungerührt fort und ignorierte die Frage der Blondine. „Dort können Sie die Sachen, die Sie benötigen und mitnehmen wollen, einpacken. Bevor wir Sie nach Italien mitnehmen, werden Ihnen meine beiden Kollegen Pater Dal Monte und Doktor Estevez noch einige Fragen stellen.“ Mit jedem Wort, das der Priester an sie wandte, wurde der Ausdruck in Marylins Gesicht skeptischer. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und ließ ihre hellen grünen Augen über jeden einzelnen der Anwesenden schweifen, bis er schließlich an Artemis haften blieb. Zwar wusste sie nicht, warum der Priester mit der Augenklappe sie so dämlich angrinste, aber sie hatte das Gefühl, dies bald zu erfahren. Von dem einen auf den anderen Moment wurde die junge Frau von einer seltsamen Panik ergriffen. Was, wenn diese Männer zu dem schwarzhaarigen Monster gehörten? Sie musste dringend einen Weg finden, diesen Wagen zu verlassen. Plötzlich wurde Artemis wieder ernst. Er konnte spüren, wie unangenehm es Marilyn war, mit all den fremden Personen in einer Limousine zu sitzen. „Hat man Ihnen nichts von uns erzählt?“ „Ich weiß weder, wer Sie sind, noch, was Sie von mir wollen.“ „Über unser Vorhaben, Sie mit nach Italien zu nehmen, wurden Sie ebenso wenig informiert?“ Anstatt etwas darauf zu erwidern, zog Marylin ihre Arme an den Körper, als wolle sie sich wärmen. Eine unbekannte Kälte durchfuhr sie und hätte sie sich nicht so gut unter Kontrolle gehabt, hätte sie längst angefangen zu weinen. Sie war nicht dem einen Monster entkommen, um nun den nächsten Unmenschen in die Arme zu laufen. Es war schon schlimm genug gewesen, dass niemand ihr geglaubt hatte. Stattdessen wurde sie wie eine Irre behandelt, sie nicht mehr dazu in der Lage war, ihre eigenen Gedanken zu kontrollieren. Dass nicht einmal die Kollegen, von denen sie gedacht hatte, sie wären gute Freunde, ihr geglaubt hatten, hatte sie besonders hart getroffen. Da ihre Familie sich bereits vor langer Zeit von ihr abgewandt hatte, war die Polizeistation die einzige Familie gewesen, die sie in dieser großen Stadt gekannt hatte. Eines der treusten Mitglieder dieser Familie war Dan gewesen. Ihr Partner, der auch an dem schrecklichen Abend dabei gewesen war, als sie zu dem Überfall auf das Victoria and Albert Museum gerufen worden waren. Die bloße Erinnerung an die Vorfälle riefen eine Sentimentalität in Marilyn hervor, dass ihr die Tränen in die Augen zu schießen drohten. „Warum hat man ihr nichts davon gesagt?“, zischte der in Weiß gekleidete Priester den älteren Mann an. Dieser hob abwehrend die Hände und schüttelte leicht den Kopf. „Ich habe es den Angestellten gesagt. Wenn diese es nicht weiterleiten, trifft mich keine Schuld.“ Indem sie einen Plan in ihrem Kopf zusammen stellte, wie sie entkommen konnte, erwachte Marylin aus ihrer kurzen Starre, als ihr Blick die Tür streifte. Doch konnte sie es schaffen, diese zu öffnen? Sie befand sich immerhin zwischen zwei erwachsenen Männern, zudem fuhr die Limousine mindestens fünfzig Stunden Kilometer. Für einige Sekunden fand Marylin sich damit ab, in der Falle zu sitzen. Nein, daran durfte sie nicht einmal denken. Sie musste von hier entkommen, koste es, was es wolle. Die Bewegung von Marylin war so schnell, dass selbst Chino Probleme hatte, ihr zu folgen. In dem Moment, in dem sich seine Hand um die von der Polizisten schloss, hatte sie bereits den Griff der Tür zu fassen bekommen. Hastig drückte Marylin den Hebel nach unten, so dass die Tür der Limousine sich öffnete und im Fahrtwind leicht hin und her schaukelte. Kaum hatte der Fahrer dies bemerkt, verlangsamte er das Tempo, um letztendlich zum Stehen zu kommen. Marilyn nutzte diese Gelegenheit, um ihren Körper mit aller Kraft gegen den von Chino zu drücken, welcher sich davon jedoch nicht beirren ließ und dem Druck standhielt. Daraufhin stieß die junge Frau einen lauten Schrei aus, erhob sich und kletterte über den Schoß des verblüfften Chino, bis sie den harten Asphalt unter ihren Füßen spüren konnte. Wenig später hatte sie ihren Arm, durch mehrfaches Drehen und Wenden, aus Chinos Griff befreit und sich umgedreht, um davon laufen zu können. Das alles mochte ihr in Zeitlupe vorgekommen sein, für Ethos, Artemis, Chino und Berry war das alles innerhalb weniger Sekunden passiert. Sofort sprang Chino nach draußen, gefolgt von Ethos und Artemis. „Du hattest sie doch festgehalten! Wie konnte das passieren?!“, schrie Ethos über den Regen hinweg. „Was hätte ich denn tun sollen? Sie soll doch nicht verletzt werden!“ Noch bevor Ethos die Frage stellen konnte, inwiefern das Festhalten eines Armes dazu führen könnte, jemanden ernsthaft zu verletzen, lieferte ihm die Erinnerung an Chinos Abstammung die Antwort. Wenn der Jagdinstinkt des Dämons geweckt wurde, konnte er sich kaum beherrschen. Dies war auch der Grund, warum sich lediglich Artemis mit Ethos zusammen an der Verfolgung von Marylin beteiligte. Zusammen liefen die beiden Priester hinter der Polizistin her, die zugegebenermaßen sehr schnell und wendig zu sein schien. Ihre verzweifelte Flucht hatte Marylin über die angrenzenden Wiesen geführt, direkt auf das Unterholz zu. Würde sie bis dahin kommen, stünden die Chancen, dass die Frau doch noch entwischen würde, ziemlich hoch. Marylin rannte so schnell, dass sie spürte, wie ihre Lungen anfingen zu brennen. Der Regen peitschte ihr geradezu in das Gesicht, so dass sie ihre Augen kaum öffnen konnte. Ein richtiges Ziel hatte sie nicht, nur den Wunsch, nicht sterben zu müssen oder in Gefangenschaft zu geraten. Ein Wald erschien am Horizont, was ihre Hoffnungen deutlich steigen ließ. Von neuer Euphorie gepackt, holte Marylin alles aus ihren Beinen heraus, lief schneller, als sie es sich jemals zugetraut hätte. Das Adrenalin, das ihr Körper ausschüttete, half ihr dabei, sich auf die rettende Silhouette des Waldes zu konzentrieren. Ihr Ziel war zum Greifen nahe, nur noch wenige Meter und die Schatten der Bäume würden sie verschlucken. Allerdings hatte Marylin ihre Pläne ohne die kleine hervorstehende Wurzel gemacht, die sich wenige Schritte vor ihr ausbreitete. Einen leichten Widerstand spürend, kam Marylin erst leicht ins Straucheln, dann stolperte sie über ihre eigenen Füße und schlug der Länge nach auf dem weichen, von dem Regen durchweichten Rasen hin. Der aufgeweichte Boden bremste ihren Sturz zwar, doch der Schock darüber, die einzige ihr verbliebene Chance, aus den Fängen der ihr unbekannten Männer zu entkommen, vertan zu haben, schmerzte nur umso stärker. In ihren Augen sammelten sich Tränen und diesmal war sie nicht mehr in der Lage, die salzigen Tropfen zurück zu halten. Die Kälte kroch zurück in ihre Glieder und zwang sie dazu, Arme und Beine an sich heran zu ziehen, wie ein kleines verletzliches Kind. Als Ethos und Artemis bei Marylin ankamen, erschien ihnen die junge Frau nur noch ein kleines Häufchen Elend zu sein, das sich verzweifelt auf dem durchnässten Rasen zusammen krümmte. Die helle Jeans, welche sie unter ihrem Mantel trug, war bereits so nass, dass sie keinen Regen mehr aufnehmen konnte. Ethos schaute Artemis mit einem vielsagenden Blick an. Dieser nickte nur und ging in die Hocke, legte vorsichtig eine Hand auf Marylins Schulter und redete beruhigend auf die junge Frau ein. „Sie müssen wirklich keine Angst haben. Wir sind nicht gekommen, um Ihnen weh zu tun, Sie zu entführen, oder in irgendeiner anderen Art zu schaden.“ Es fiel Artemis schwer, über das laute Schluchzen und das Prasseln des Regens hinweg Marylins Gehör zu finden. „Wir sind vor allem daran interessiert, den Mord an Ihrem Kollegen aufzudecken. Wir glauben Ihnen.“ Die letzten drei Worte brachten Marylin dazu, mit dem Weinen innezuhalten. Ruckartig richtete sie sich auf und schaute Artemis fragend und überrascht an. „Sie glauben mir?“ „Ja, das tun wir“, bestätigte nun auch Ethos. „Was auch immer Sie gesehen haben, ist keine Einbildung gewesen. Es gibt Kräfte auf dieser Erde, die jenseits unserer Vorstellungskraft liegen. Um diese Kräfte kümmern wir uns. Wir wollen sie bekämpfen, aber dafür benötigen wir Ihre Hilfe. Sie müssen uns alles erzählen, was Sie gesehen haben. Nur so können wir uns daran machen, das Monster, das Ihren Partner getötet hat, aufzuspüren und einer gerechten Strafe zu unterziehen. Ich gebe Ihnen mein Wort darauf, dass wir Ihren Partner rächen werden.“ „Pah, rächen, was Sie nicht sagen“, sagte Marylin mit einem ironischen und giftigen Unterton, während sie sich von Ethos aufhelfen ließ. „Und eine gerechte Strafe? Dass ich nicht lache! Es gibt keine Strafe, die grausam genug sein könnte, dass sie das Verbrechen, das dieses Biest begangen hat, sühnen würde.“ „Seien Sie sich da bloß nicht so sicher.“ Das Lächeln in Artemis Gesicht ging in ein schadenfrohes Grinsen über. „Ich kann Ihnen versichern, dass die Strafen, die mein Partner und ich Monstern wie diesem auferlegen, alles andere als der Vergebung oder der Sühne dienen.“ Als Marylin zu Ethos sah, konnte sie auch bei ihm ein leichtes Grinsen erkennen, kaum mehr, als das Zucken einer seiner Mundwinkel. Unsicher rieb sich Marylin über ihre Handgelenke und schaute sich um. Die beiden Priester schienen sie jedenfalls zu nichts zwingen zu wollen, nachdem der Mann in Weiß ihr aufgeholfen hatte, hatte er sie nicht mehr berührt. Auch der andere Priester sah nun, da er sie nicht mehr so lüstern anstarrte und trotz seiner Augenklappe, wesentlich vertrauenswürdiger aus. Um sich vor dem Regen zu schützen, schlug Marylin ihre Kapuze erneut über ihren Kopf. Sie ging zurück in Richtung Limousine, gefolgt von den beiden Priestern. Der Mann, den sie als Doktor Chino Estevez kennen gelernt hatte, wartete bereits auf die Drei und kam ihr mit seinem Regenschirm entgegen. „Es tut mir sehr leid, dass es zu dieser Verfolgung kommen musste“, entschuldigte sich Chino sofort und reichte ihr den Schirm. „Ich wollte Sie nicht verängstigen, nur davon abhalten, sich aus dem rollenden Fahrzeug zu stürzen. Das hätte auch ganz anders für Sie ausgehen können. Wenn Sie wollen, können Sie jederzeit freiwillig gehen. Wir werden Sie nicht dazu zwingen, mit uns zu kommen. Wenn Sie möchten, fahren wir Sie zu Ihrer Wohnung und verschwinden dann gleich wieder.“ Zum ersten Mal, seitdem Chino die junge Frau gesehen hatte, rang sich Marylin zu einem Lächeln durch. Zwar wirkte dieses durch ihre roten und verheulten Augen leicht verzweifelt, aber sie entspannte sich wenigstens etwas, nahm ihm den Schirm aus der Hand und ging weiter zum Auto. „Das wird nicht nötig sein. Ich habe mich dazu entschlossen, Ihnen erst einmal zuzuhören. Aber wenn Sie tatsächlich dazu in der Lage sein sollten, meinen Partner zu rächen, werde ich Ihnen alle Informationen geben, die dazu beitragen, seinen Mörder zu finden.“ Mit diesem Worten klappte Marylin den Schirm zusammen und nahm wieder auf der Rückbank der Limousine Platz. Ihr war bewusst, dass sie weiterhin auf der Hut bleiben musste, immerhin kannte sie diese Männer nicht und wirklich vertrauen tat sie ihnen ebenfalls nicht. Aber sie waren die einzigen, die ihr Glauben schenkten und sie nicht wie eine Verrückte behandelten. Im Gegenteil, sie boten ihr Hilfe dabei an, den Mord an Dan aufzudecken. Sichtbar überrascht stiegen auch Chino, Artemis und Ethos wieder ein. Pater Berry hatte die ganze Zeit im Inneren gewartet, um sich nicht dem Regen aussetzen zu müssen. Das Fahrzeug setzte sich in Bewegung. Marylin, tief in ihre Gedanken versunken, sah durch das Fenster, wie hinter der am Horizont auftauchenden Stadt die Sonne die bedrohliche Wolkendecke durchbrach und die ersten wärmenden Lichtstrahlen auf die Erde sandte. Nicht mehr lange und sie würde endlich wieder in ihrer Wohnung sein. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Mund aus und als Artemis sie von der Seite erblickte, stellte er fest, dass die junge Polizistin eine der schönsten Frauen war, die er jemals gesehen hatte. Kapitel 8: Kapitel 08 --------------------- Kapitel 08 Marylin wusste, dass es pure Verzweiflung war, sich auf diese Priester und den südländisch wirkenden Arzt einzulassen, doch es war die einzige Option, die ihr blieb. Nachdem sie ins Irrenhaus eingeliefert worden war, waren ihre Angehörigen darüber informiert worden. Allerdings hatten diese sich einen Dreck darum geschert, was aus Marylin wurde und so hatte sie sich damit abgefunden, dass ihr absolut niemand helfen würde. Dass ausgerechnet diese seltsamen Männer ihre letzte Hoffnung darstellen würden, hätte sie sich allerdings niemals träumen lassen. Derjenige, der in Weiß gekleidet war, immerzu grimmig blickte und einen goldenen Ohrring trug, war inzwischen mit dem älteren Mann zusammen weiter in die Stadt gefahren. Als sie Marylins Wohnung am Stadtrand erreicht hatten, waren lediglich der Typ mit der Augenklappe und der Arzt mit ihr ausgestiegen. Zuerst war es ihr etwas peinlich gewesen, die beiden mit in ihr schäbiges Reich zu nehmen, doch im Angesicht der Tatsache, dass sie sie in einer Irrenanstalt kennen gelernt hatte, erschien ihr die Wohnung bald als die geringere Scham. Die Tapeten an den Wänden bogen sich bereits aufgrund der Feuchtigkeit, die in den Beton darunter gezogen war. Der hellbraune Farbton, der fast wie einzelne Kaffeeflecken aussah, wirkte wenig einladend. Zudem war der Teppich über und über mit den sich hartnäckig jeder Reinigung entziehenden Hinterlassenschaften ehemaliger Vormieter beschmiert, um was es sich dabei im Einzelnen hatte, hatte Marylin nie versucht herauszufinden. Unter dem Ventil der Heizung der Einzimmerwohnung stand ein kleiner Eimer, der bereits bis zur Hälfte vollgelaufen war. Die spärliche Einrichtung erinnerte Artemis ein wenig an die Kammer von Ethos, bis auf die zweckmäßigen und alten Möbel und einer winzigen Küchenecke gab es wenig, das die Wohnung auf irgendeine Art und Weise verschönert hätte. Nichts, außer seiner Bewohnerin. Diese hatte gerade eine große Tasche unter ihrem Bett hervor geholt, um einige Klamotten einzupacken. „Verdienen weibliche Polizisten heute nicht mehr so gut?“, fragte Artemis und schaute an die Decke, als habe er Angst, dass diese jeden Augenblick nach unten stürzen könnte. „Haben wir jemals gut verdient? Ich glaube nicht.“ Damit war das Gespräch für Marylin bereits beendet. Sie würde nicht mehr erzählen, als unbedingt nötig. Immerhin war sie vorrangig daran interessiert, den Mord an Dan aufzuklären und nicht Smalltalk zu führen. Es dauerte nicht lange, bis Marylin alle nötigen Dinge eingepackt hatte. Sie zog den schwarzen Mantel aus, warf ihn auf den Boden und schnappte sich eine neue Hose sowie eine braune Bluse, dann verschwand sie kurz im Badezimmer. Als sie wieder zurückkam, sah sie bereits wesentlich besser aus. Ihr Gesicht war frisch gewaschen und die durchnässte Jeans war einer dunklen Tuchhose gewichen. Die Bluse, die sie nun trug, schmeichelte ihrer sportlichen Figur wesentlich mehr als das neutrale Shirt, das sie in der Anstalt getragen hatte. Lustlos setzte sich die junge Frau auf ihre Tasche und stützte das Kinn in ihre Handflächen. „Ich würde Ihnen ja etwas zu essen oder einen Stuhl anbieten, aber ich befürchte, dass ich nichts in meinem Kühlschrank finden werde, das ich Ihnen anbieten könnte. Und wie Sie sehen, besitze ich nur wenige Möbel.“ „Kein Problem“, meinte Chino und lehnte sich gegen einen der wenigen Punkte an der Wand, der nicht von Flecken übersät war. „Wir werden nachher noch genug sitzen, wenn wir im Flugzeug sind.“ „Wie soll das eigentlich funktionieren? Wenn ich im Vatikan bin, wo soll ich denn schlafen? Und warum ist es überhaupt notwendig, dorthin zu reisen?“ „Wie Sie es sicherlich selbst schon vermutet haben, befinden Sie sich momentan in Gefahr. Der Mann könnte zurückkommen und Sie töten wollen. Machen Sie sich über Ihre Unterbringung keine Gedanken. Wir haben genügend Gästebetten, um Sie entsprechend zu versorgen. Sogar besser, als Sie hier leben.“ Zwar hatte Artemis seinen Kommentar nicht bösartig gemeint, der wütende Blick von Marylin entging ihm allerdings keinesfalls. „Kommen Sie schon. Sie können mir nicht erzählen, dass Sie freiwillig in einer Wohnung wie dieser hier leben. Es ist eine Schande, dass Beamte, die einen treuen und guten Dienst leisten, so leben müssen.“ Plötzlich senkte Marylin ihren Kopf. Sie merkte, dass sich erneut einige Tränen in ihren Augen sammelten, sie wollte diese aber nicht zeigen. Mit dem Handrücken rieb sie über ihre Augen, um die Anzeichen ihrer Traurigkeit fort zu wischen. Danach richtete sie ihren Blick wieder auf Chino und Artemis. „Etwas Besseres habe ich nicht kriegen können. Die Mieten in der Innenstadt sind verdammt hoch. Als ich vom Land hierher gezogen bin, nachdem ich bei der Polizei angenommen worden war, hatte ich mir das auch etwas anders vorgestellt.“ Innerlich verfluchte sich Marylin, dass sie gegen ihren Willen doch angefangen hatte, von ihrem Privatleben zu erzählen, es tat jedoch gut mit jemandem reden zu können, der nicht völlig durchgeknallt war und sie für wahnsinnig erklärt hatte. „Wenigstens ist es ein Dach über dem Kopf, wenn auch kein besonders gutes.“ Ein Schulterzucken symbolisierte, dass es Marylin tatsächlich relativ egal war, wo sie lebte. „Ihr Job scheint Ihnen viel zu bedeuten“, sagte Chino mit einem milden Lächeln. Er wollte versuchen, das Gespräch auf das Wesentliche zu lenken. „Ja, das stimmt. Ich wusste, dass es als Frau bei der Polizei nicht leicht sein würde, aber ich kann mir auch keinen anderen Beruf für mich vorstellen. Trotz dieses... Vorfalls einige Nächte zuvor.“ Chino hatte nicht damit gerechnet, dass Marylin so schnell von alleine auf die schreckliche Nacht im Museum zu sprechen kommen würde. Es war ihm nur recht, obwohl ihm Ort und Zeitpunkt völlig unangemessen vorkamen. Lieber hätte er die Blondine in einer entsprechenden Atmosphäre befragt, abgeschottet von allen äußeren Einflüssen, die ihre Erinnerungen hätten verfälschen können. Darauf würde er, vorerst zumindest, verzichten müssen. „Dan und ich, wir bekamen eine Meldung. Wir sollten zu dem Museum fahren, wegen eines Überfalls. Mit was für einem Verbrecher wir es zu tun haben würden, das hat uns keiner gesagt. Nur, dass es bereits Tote gegeben hatte.“ Während sie erzählte, schien Marylin in eine Art tiefe Lethargie zu verfallen. Ihr Blick verklärte sich bis zur Ausdruckslosigkeit, ihre vorher so helle Stimme wirkte belegt und monoton. Artemis wollte gerade an die junge Frau herantreten, doch Chino hielt den Priester am Arm fest. Als Artemis sich fragend zu ihm umdrehte, schüttelte Chino nur den Kopf, was Artemis dazu veranlasste, schweigend an seinen Platz zurück zu kehren und Marylin weiterhin zuzuhören. „Als wir ankamen... Lag ein toter Mann auf dem Boden. Überall war Blut. Sein ganzer Körper war so rot, wie ich es noch nie gesehen habe. Ich wusste gar nicht, dass jemand so viel Blut verlieren kann. Aber das war nicht das, was ich am schlimmsten fand. Seine Kleidung war teilweise durchschnitten, aber am Bauch und an der Hüfte auch verbrannt. Am schlimmsten war seine Haut. Sie war schwarz an einigen Stellen. An den Armen und am Hals. Richtig schwarz, wie als wäre er von Kohle überzogen. Dan rollte ihn auf den Rücken, dabei riss seine Haut an einigen Stellen auf und irgendwie sah es so aus, als ob Wasser aus ihm heraus lief. Ich musste mich weg drehen, ich konnte den Anblick nicht ertragen." „Machen Sie sich keine Vorwürfe. So wie Sie hätte jeder reagiert“, versuchte Chino Marylin zu besänftigen, als er sah, dass ihr das Sprechen immer schwerer fiel. Inzwischen hatte er seine Lesebrille aufgesetzt und fing an, sich Notizen auf einem in ein Klemmbrett gefasstes Papier zu machen, das er kurz zuvor aus seinem Koffer genommen hatte. „Vielleicht. Dan und ich, wir ließen den Mann liegen, wir konnten eh nichts mehr für ihn tun und wussten, dass der Rettungswagen bald eintreffen würde. Immerhin mussten wir diejenigen, die noch lebten, irgendwie retten. Der zweite Nachtwächter war zu dem Zeitpunkt bereits tot. Ihn haben wir mit ähnlichen Verletzungen und Verbrennungen in dem Raum gefunden, in dem wir auch den Dieb hätten stellen sollen. Den bereits verletzten Mann, der uns auch gerufen hatte, haben wir am Eingang zurück gelassen. Er meinte, er würde alleine zurechtkommen. Als wir dann in dem Raum ankamen, in dem die Stücke aus dem 17. Jahrhundert untergebracht wurden, war alles zerstört. Die Vitrinen umgeschmissen, die Ausstellungsstücke lagen kaputt oder halb verbrannt auf dem Boden. Ein alter Webteppich war an den Ecken versenkt und rauchte noch etwas, als wir den Ausstellungsraum betraten.“ An dieser Stelle hielt Marylin plötzlich inne und atmete einige Male schwer durch. Ihre Stimme verlor nach und nach mehr an Kontrolle, bis sie von einem starken Zittern durchbrochen wurde und leicht kippte. All die Traurigkeit, die Marylin bei ihrer Erzählung durchfuhr, drohte aus ihr heraus zu brechen. „Da stand dieser Mann. Zuerst mit dem Rücken zu uns und er hielt etwas in seinen Händen. Mit dem schwarzen Mantel und den schwarzen Haaren sah er aus wie ein riesiger Schatten. Ein pulsierender Schatten, der sich langsam auf und ab bewegte. Dan schrie ihn an, dass er die Hände hoch nehmen solle und zielte mit seiner Pistole auf ihn. Auch ich zielte auf ihn. Plötzlich drehte der Mann sich um. Er schaute mich an mit seinen kalten, dunklen braunen Augen. Sein Mund verzog sich zu einem Grinsen. Irgendetwas schien ihn zu amüsieren. Dan machte das unheimlich wütend, weshalb er den Mann noch einmal anschrie und ermahnte, er solle sich ergeben. Aber anstatt etwas dergleichen zu tun, grinste der Mann nur noch weiter. Die Glaskugel, die er in seiner Hand hielt, legte er auf ein Podest neben sich. Dann bewegte er sich direkt auf Dan zu. Das ging alles so schnell, dass keiner von uns beiden auch nur den Hauch einer Chance hatte, etwas dagegen zu unternehmen.“ Marylin begann so stark zu schluchzen, dass sie mehrfach schlucken musste, bevor sie weiter sprechen konnte. Unkontrollierte Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie wippte verzweifelt den Kopf auf und ab, während sie ihre Erzählung fortfuhr. „Innerhalb von Sekunden hatte er ein Messer gezogen. Immer noch grinsend schaute er mir direkt in die Augen. Ich weiß nicht, wie er es angestellt hat, aber er hatte Dan die Waffe entrissen, seinen Hals gepackt und ihn mit dem Rücken an sich heran gezogen. Dan schaute mich mit einer Todesangst an, die ich niemals vergessen werde. Er wusste, dass er sterben würde und ich wusste es und der Mann wusste es ebenso. Ich konnte mich nicht rühren, die Angst hatte mich gelähmt. Noch immer zielte ich auf den Mann, aber genauso, wie wir alle wussten, dass Dan sterben würde, wussten wir, dass ich nicht abdrücken würde. Und dann rammte er das Messer in Dans Hals. Es war nur eine Sekunde, aber ich dachte, der Moment würde unzählige Stunden andauern. Der Ausdruck in Dans Gesicht, wie das Leben aus ihm heraus wich... Gleichzeitig stieg Rauch an den Stellen, an denen der Mann ihn festhielt, empor. Seine Haut schmorte geradezu an den Punkten, an denen er berührt wurde. Zuerst war sie rot, wie bei einem Sonnenbrand. Dann platzte sie auf und wenig später war sie schwarz. Der Mann ließ Dan los und sein lebloser Körper fiel auf den Boden. Das einzige, das ich tun konnte, war zu schreien und so schnell wie möglich nach draußen zu rennen.“ Kaum war sie an diesem Punkt ihrer Ausführungen angelangt, brach Marylin zusammen. Sie sank von ihrer Tasche herunter auf den Boden, wo sie ihre Stirn in dem dreckigen Teppich vergrub und mit den Fäusten abwechselnd auf den Boden einzuschlagen begann. Ihr Körper bebte geradezu unter ihrer Wut und der Trauer, die sie durchflossen wie ein reißender Strom. Es war ihr inzwischen egal, was die beiden Typen von ihr halten mochten, sie hatten keine Ahnung, was in ihr vorgehen musste. Sie hatte nicht nur ihren Partner verloren, sondern auch die Möglichkeit auf ein völlig normales Leben. Jetzt, wo sie ihre Geschichte gehört hatten, würden sie sie bestimmt zurück in die Anstalt bringen. Marylin spürte, wie ihr eine Hand auf die Schulter gelegt wurde. „Wir werden ihn finden.“ Die Stimme gehörte dem Priester. „Ich kann mir vorstellen, wie hart es für Sie sein muss, noch einmal diese grausamen Szenen zu durchleben. Aber alles, was Sie bisher gesagt haben, gibt uns ein ungefähres Bild, worauf wir uns einstellen müssen. Sollten Sie sich an Details erinnern, so unwichtig Ihnen diese auch erscheinen mögen, können Sie sich jederzeit an uns wenden. Wir haben uns dazu entschlossen, Sie mit nach Italien zu nehmen, damit Sie uneingeschränkten Schutz genießen können. Wenn Sie hier vor Ort durch die Erinnerungen zu schwer belastet werden sollten, um den Täter näher zu beschreiben, haben wir dafür Verständnis.“ „Könnte ich Ihren Block haben?“ Marylin hatte ihren Kopf von dem Teppich gehoben und schaute Chino mit durchdringenden und blutunterlaufenen Augen an. Obwohl ihre Stimme weiterhin von einigem Schluchzen durchbrochen wurde, wirkte sie ein wenig entschlossener. Chino entfernte das erste Blatt Papier von seinem Brett und reichte es an Marylin weiter. Hastig schnappte sie sich den dazugehörigen Stift und fing an, auf dem Papier ein paar Kurven und Linien zu ziehen. Einige Minuten vergingen, in denen Schweigen den Raum beherrschte. Ungläubig schaute Artemis über die Schulter der Polizistin und beobachtete, was diese mit dem Stift erschuf. Immer stärker nahmen die Striche und Kreise, die sie zog, die Form eines menschlichen Wesens an. Nach und nach wurde die Figur von Kleinigkeiten vervollständigt, so dass am Ende ein deutliches Profilbild zu erkennen war. Mit einem Ruck stand Marylin auf, gefolgt von Artemis, dann drückte sie Chino das Klemmbrett zurück in die Hand. „Einer der Gründe, weshalb ich bei der Polizei angenommen worden bin, ist, dass ich ein recht gutes Gedächtnis habe. Ich kann mir die Gesichter von Menschen ganz gut einprägen und diese in manchen Fällen grafisch wiedergeben. Schon als Kind habe ich gerne gezeichnet und jetzt bietet mir diese Fähigkeit in meinem Job große Vorteile.“ Was Marylin in einem lapidaren Ton von sich gab, beeindruckte Artemis und Chino gleichermaßen. Dank Marylin besaßen sie nun eine unglaublich genaue Abbildung des Dämons, dem Artemis bereits in Frankreich begegnet war. Chino hob das Brett an, damit er sich die Gestalt ganz genau ansehen konnte. Je länger er auf das Konterfei des Mannes blickte, desto nachdenklicher wirkte er. Mit einem Mal zuckte Artemis in sich zusammen. Er drückte sich eine Hand auf seine Augenklappe, mit der anderen hielt er sich den Kopf. „Chino, ernsthaft, hör auf mit der Scheiße!“ Verwirrt schaute Marylin erst Artemis, dann Chino an, konnte jedoch den Grund des verbalen Angriffs des Priesters gegenüber dem Arzt nicht ausmachen. Gleichzeitig fragte sie sich, wo ein Priester wohl so zu fluchen gelernt hatte. „Was macht dich so wütend? Und egal was es ist, versuche bitte, dich etwas besser unter Kontrolle zu halten!“ In Chinos Gesicht regte sich nichts. Er starrte weiterhin emotionslos auf das von Marylin gezeichnete Bild. Ein leises Knurren ausstoßen, senkte er das Klemmbrett wieder und gab es Artemis. „Ist das dieser Blackcage?“, fragte Chino tonlos. Artemis hatte etwas Mühe, das Bild intensiv betrachten zu können. Zu sehr pulsierte es in seinem Schädel und sein Auge brannte wie Feuer. Zwar merkte er, dass Chino sich etwas zu beruhigen begann, eine deutliche Linderung blieb vorerst allerdings aus. „Ja, das ist er“, presste Artemis hervor und reichte das Bild an Marylin weiter. „Sie kennen den Mann?“ „Kennen wäre übertrieben ausgedrückt. Aber sagen wir es mal so, wir hatten bereits mit ihm zu tun.“ So gut es ging verdrängte Artemis die Schmerzen in seinem Kopf und nahm kurz darauf wieder eine aufrechte Haltung ein. „Und ich kann Ihnen versprechen, dass Sie den Schutz, den wir Ihnen anbieten, mehr als nötig haben werden“, mischte sich Chino ein. „Im Gegensatz zu Pater Dal Monte hatte ich schon mehr als einmal mit diesem Kerl zu tun. Er ist gefährlich, unberechenbar und zutiefst sadistisch veranlagt.“ Sowohl Marylin, als auch Artemis wirkten sichtlich überrascht. „Du hattest mit dem schon einmal zu tun? Warum hast du das nicht früher erwähnt?“ wollte Artemis wissen, indem er sich Chino näherte und diesem seine Frage ins Ohr flüsterte. „Wenn du genauso gut hättest zeichnen können wie diese junge Dame, hätte ich es dir sicherlich mitgeteilt.“ Chinos Antwort war kaum mehr als ein wütendes Zischen, gleich dem einer Schlange. Artemis entfernte sich wieder von Chino und legte ein schiefes Grinsen auf, mit dem er Marylin anlächelte. „Ich schlage vor, Sie packen jetzt schnellstmöglich Ihre Sachen zusammen, damit wir hier abhauen können. Je eher wir von hier verschwinden, desto besser.“ Noch immer sichtlich verwirrt packte Marylin die letzten Habseligkeiten zusammen, dann folgte sie Artemis und Chino hinunter auf die Straße. Als sie ankam, waren die beiden gerade in ein Streitgespräch verwickelt, das sie abrupt unterbrachen, als sie die Polizistin sahen. Die gesamte Strecke, die sie mit dem Taxi in Richtung Innenstadt zurücklegten, konnte Marylin die Anspannung, die ihren Begleitern innewohnte, deutlich spüren. In was auch immer sie sich hinein manövriert hatte - sie wusste, dass sich ihr Leben für immer verändert hatte. Die betroffene Ausstellung, in der die grausamen Morde stattgefunden hatten, lag im hinteren Teil des Museums. Aufgeräumt hatte man noch nicht, wodurch Ethos fast in einige Glasscherben getreten wäre, während er den Raum begutachtete. Indem er ein paar Fotos machte, hielt er die Lage einiger Objekte fest, besonderes Interesse fanden die angebrannten Stücke, die er ausmachen konnte. „Kommen wir noch einmal auf eines der Opfer zurück“, begann Ethos, nebenbei inspizierte er einen Teppich, dessen Ende Brandspuren aufwies. „Wer war der Geweihte, von dem Sie sprachen?“ Pater Berry ließ ein freudloses Lachen ertönen, bevor er Ethos antwortete. „Pater Daniel Simmons war ein guter Mann. Bevor er den Posten in diesem Museum hier bekommen hatte, war er einige Male verdeckt unterwegs gewesen. Jeden Auftrag, der ihm zugeteilt wurde, hatte er zur vollsten Zufriedenheit ausführen können.“ „Was den Kampf mit Dämonen angeht, war er somit kein Anfänger?“ „Bei Weitem nicht. Sagen Sie, Sie sind doch auch ein Geweihter oder?“ „Das bin ich. Genau wie Pater Dal Monte.“ „Nun, dann wissen Sie, wie gut Pater Simmons über Dämonen Bescheid wusste.“ Da hatte Berry nicht Unrecht, das wusste Ethos nur allzu gut. Als Geweihte bezeichnete der Vatikan diejenigen Priester, die die Übernahme eines Dämons entweder verhindert oder überlebt hatten. Meistens waren es verhinderte Übernahmen, wenn ein Mensch tatsächlich von einem Dämon übernommen wurde, schaffte es seine Seele in den seltensten Fällen, zu überleben. Die Seele des jeweiligen Menschen starb und der Körper wurde von dem Dämon ausgehöhlt und besetzt. Da Dämonen sich erst richtig manifestieren und erheblichen Schaden erst dann anrichten konnten, sobald sie sich einen Körper zum Sklaven gemacht hatten, fraßen sie die Seele, die dem ausgewählten Körper gehörte, geradezu auf. Ethos lief ein eiskalter Schauer über den Rücken, wenn er sich daran zurück erinnerte, wie der Dämon ihm damals gegenüber gestanden hatte. Er hatte seinem Stiefvater gerade eine Kugel mitten in das Herz gejagt. Rotes Blut war über die Ecken des Schreibtisches gelaufen und in großen Tropfen auf die hellen Holzdielen dahingeplätschert, um dort einen kleinen See zu bilden. „Pater Turino? Hören Sie mir zu?“ „Natürlich. Entschuldigen Sie, ich war kurz abgelenkt von dieser Scherbe hier gewesen.“ Ethos hob die Alibischerbe kurz nach oben, dann ließ er sie wieder zurück auf den Boden sinken. „Ich dachte, etwas Verdächtiges gesehen zu haben. Muss mich geirrt haben. Erzählen Sie ruhig weiter.“ „Dass ausgerechnet ein erfahrener Priester wie Mr. Simmons einem Dämon so zum Opfer fallen muss, ist tragisch. Dass dabei noch ein wichtiges Artefakt entwendet wurde, macht mich untröstlich. Als Verantwortlicher vor Ort ist es meine Schuld, dass der Gegenstand gestohlen wurde.“ „Mit einem Dämon wie dem, der das hier verursacht hat, hat wohl auch kaum jemand gerechnet. Glauben Sie, dass er zu den großen Dämonen gehören könnte?“ „Ausschließen würde ich es nicht.“ Nachdenklich legte Pater Berry die Stirn in Falten. „Aber wenn Sie meine eigene Meinung hören wollen, denke ich das nicht.“ „Was macht Sie da so sicher?“ „Würde es sich um einen großen Dämonen handeln, hätte er das Objekt doch nicht gestohlen. Er hätte es vor Ort vernichtet. Und von der Glaskugel ist hier nicht der geringste Splitter zu finden.“ „Vielleicht dachte er, er vernichtet es besser an einem anderen Ort, den wir nicht kennen. Er könnte Angst davor gehabt haben, dass wir die Splitter wieder zu einem brauchbaren Objekt zusammensetzen.“ „Das ist durchaus möglich. Aber warum hat er dann die Polizistin laufen lassen? Sie ist nur entkommen, weil der Dämon von sich aus keine Verfolgung aufgenommen hat.“ „Könnte eine Falle sein. Um uns her zu locken. Ich will Ihnen nichts verschweigen, Pater Berry, deshalb sage ich Ihnen jetzt etwas, auf das Sie wirklich achten sollten in Zukunft.“ Ethos hatte seine Arbeiten abgeschlossen, weshalb er alle Materialien, die er eingesammelt hatte, in seinem Koffer verstaute. „In Frankreich haben wir eine sehr beunruhigende Entdeckung gemacht. Ein Dämon hatte sämtliche Informationen, die Pater Dal Monte und mich betreffen, in Form von Dokumenten gelagert. Zusammen mit dem, was Sie mir gerade erzählt haben, könnte dies bedeuten, dass Pater Dal Monte und ich nicht die einzigen Betroffenen sein könnten. Alle, die mit den geheimen Aufträgen des Vatikans zu tun haben, könnten sich in großer Gefahr befinden.“ Berry räusperte sich, wandte sich von Ethos ab, verschränkte die Arme hinter dem Rücken und blickte besorgt aus einem der großen Fenster des Museums. „Wie kann es sein, dass Informationen, die einer strengen Geheimhaltung unterliegen, an die Dämonen gelangen?“ „Das wissen wir leider nicht.“ „Ihnen ist aber schon klar, dass das das Leben sämtlicher Priester gefährden könnte oder?“ „Mir brauchen Sie das nicht zu erzählen. Ich bin daran nicht schuld.“ „Aber Sie sind der direkte Kontakt zum Vatikan in diesem Fall. Richten Sie dem Prälaten aus, dass ich wenig begeistert von dieser Entwicklung bin.“ Was du nicht sagst, dachte Ethos, verkniff sich seinen Kommentar jedoch aus Höflichkeit. Stattdessen presste er eine geeignete Antwort hervor. „Ich werde es natürlich ausrichten. Wir arbeiten mit allen Mitteln daran, diese Vorfälle aufzudecken.“ „Anscheinend reichen Ihre Mittel dafür aber nicht aus. Ansonsten hätte ich Pater Simmons nicht verloren.“ Bei diesen Worten durchfuhr es Ethos wie ein Blitz. Ein Stechen in seinem Brustkorb nahm ihm für einen kurzen Augenblick sämtliche Luft. „Wie dem auch sei, wir können die Zeit leider nicht zurück drehen. Deshalb sollten wir uns darauf konzentrieren, alle Spuren zu dokumentieren, die uns weiterhelfen könnten.“ In einem schweigenden Einverständnis machte sich Ethos daran die Spuren, die er aufgenommen hatte, genauer zu analysieren. Auch wenn er vorhin noch alle Einwürfe bezüglich der Macht des Dämons entkräftet hatte, ging auch Ethos mittlerweile nicht mehr davon aus, es mit einem großen Dämon aufnehmen zu müssen. Genau wie Pater Berry stützte er sich bei dieser Einschätzung vorläufig auf seinen Instinkt. Außerdem war da noch immer dieser Esrada. Erneut versuchte Ethos sich daran zu erinnern, woher ihm der Name so bekannt vorkam. Wieder blieb der Erfolg aus. „Sagt Ihnen der Name "Esrada" etwas, Pater Berry?“ „Nie von ihm gehört. Wer soll das sein?“ „Ein Dämon. Möglicherweise der Anführer eines Clans oder in irgendeiner anderen mächtigen Position.“ Noch einmal dachte Pater Berry angestrengt nach, dann schüttelte er bedauernd den Kopf. Seufzend machte sich Ethos wieder daran, das Museum zu durchsuchen. Nach einer Weile schaute er sich noch die Räume an, in denen sich der Dämon angeblich nicht aufgehalten hatte. Pater Berry lief ihm hinterher wie ein kleines Hündchen, das auf seine Belohnung wartete. Anscheinend war er einer der wenigen, die es verstanden hatten, dass Ethos es nicht mochte, wenn sich jemand ungefragt in seine Arbeit einmischte. Nachdem auch die übrigen Räumlichkeiten keine Anhaltspunkte darstellten, kehrten Ethos und Berry in die Eingangshalle zurück. „Gibt es sonst noch etwas, das in irgendeiner Weise für uns von Belang sein könnte?“, wollte Ethos wissen und schaute auf seine Taschenuhr. „Das letzte Flugzeug nach Rom geht bald und ich würde es ungern verpassen.“ Gerade, als Pater Berry etwas darauf erwidern wollte, betrat ein junger Mann das Museum. Entfernt erinnerte er Ethos an den jungen Rekruten in Frankreich, tatsächlich schien er auch etwas Ähnliches darzustellen. „Mr. Winston Berry?“ „Das bin ich“, meldete sich Berry und schob sich an Ethos vorbei. „Mein Chef schickt mich. Ich soll Ihnen ausrichten, dass die Spurensicherung, die als erste vor Ort gewesen ist, noch etwas gefunden hat, das wichtig sein könnte.“ „Die Spurensicherung hat etwas entfernt, bevor wir hier angekommen sind?“, richtete sich Ethos anklagend an Berry. Dieser zog schuldbewusst den Kopf zwischen die Schultern und sah den Priester reumütig an. „Da die Polizei die erste und zweite Instanz vor Ort gewesen ist, ließ es sich nicht verhindern, dass der Tatort betreten wurde. Dass etwas mitgenommen wurde, höre ich allerdings zum ersten Mal.“ Der Versuch, die Schuld auf die Polizei zu schieben, misslang. Der junge Polizist ließ sich nicht beirren und machte keine Anstalten zu einer Entschuldigung. „Wenn Sie möchten, bringe ich Sie beide gerne auf das Revier. Dort können Sie die Ergebnisse einsehen.“ „Das wäre hervorragend“, sagte Ethos und setzte sich in Bewegung. „Könnte ich von der Wache aus einen Anruf tätigen?“ „Natürlich.“ Den letzten Flug nach Rom konnten Ethos und die anderen somit vergessen. Wenn er jetzt noch zu einem anderen Revier musste, würde das zu lange dauern, um rechtzeitig am Flughafen einzutreffen. Er musste den Prälaten kontaktieren, um zu erklären, dass sie eine Nacht in London verbringen würden. Das war weniger ein Problem für die Kasse des Vatikans als für Ethos, der liebend gerne in seinen eigenen vier Wänden übernachtete. Zusammen mit Berry und dem Polizisten trat Ethos hinaus auf die Straßen des belebten London. Noch immer glänzte der Teer von dem Regenschauer, der erst vor kurzem der nun langsam untergehenden Sonne gewichen war. Ein Taxi hielt vor dem Eingang des Museums. Als Artemis ausstieg und einige Scheine hervor zog, um den Fahrer zu bezahlen, legte Ethos ihm eine Hand auf die Schulter. Leicht erschrocken fuhr Artemis herum, doch als er Ethos erkannte, lächelte er diesen spielerisch an. „Ich weiß, wer unser Feuerteufel ist.“ „Ich fürchte, dafür werde ich jetzt keine Zeit haben. Am besten, wir unterhalten uns später. Ich habe gerade erfahren, dass uns die Spurensicherung der hiesigen Polizei einige Erkenntnisse vorenthalten hat. Deshalb werde ich jetzt mit auf das Revier fahren. Wir treffen uns nachher im Hotel Savoy.“ „Ist der Vatikan heute spendabel, ja?“ „Das weiß ich noch nicht, aber ich werde dem Prälaten sagen, dass wir kein anderes Hotel bekommen haben.“ Indem er ein lautes Lachen von sich gab, tat Artemis seine Begeisterung über die von Ethos getroffene Entscheidung kund. „Ich weiß nicht, wie lange ich auf dem Revier brauchen werde. Was ihr in der Zwischenzeit machen wollt, bleibt euch überlassen. Vielleicht solltet ihr die Zeit nutzen, um noch einmal die Frau zu befragen.“ Mit diesen Worten drehte Ethos sich um und ging zu dem Polizeiwagen. Kaum hatte er sich einige Schritte entfernt, hörte er, wie Artemis den Insassen des Taxis zurief, dass es am heutigen Abend eine Party auf Kosten der Kirche geben würde. Der einzige Gedanke, der Ethos durch den Kopf ging, war der, dass er Artemis höchstpersönlich ins Jenseits befördern würde, sollte er seine Zeugin, Chino oder den Rückflug nach Rom in Gefahr bringen. Mit einem flauen Gefühl im Magen stieg er in den Wagen des Polizisten. Bisher hatte Ethos seinen Instinkt, dass er und seine Leute sich in großer Gefahr befanden, in die hinterste Ecke seines Kopfes verdrängt. Doch die Stärke, mit der sich diese unterschwellige Art der Warnung in ihm auszubreiten begann, konnte er nicht länger ignorieren. Ethos spürte, dass das, was demnächst auf ihn zukommen würde, eine wesentlich größere Kraft darstellte, als alles, gegen das er bisher hatte antreten müssen. Am meisten beunruhigte ihn, dass ihn sein Instinkt noch nie im Stich gelassen hatte. In seiner Tasche suchte Ethos nach einem kleinen Rosenkranz, holte diesen hervor und schloss die Augen. Das leise Gebet, das er rezitierte, irritierte nicht nur den lenkenden Polizisten, sondern ebenso Pater Berry. „Meinen Sie, dass der Rücksitz eines Polizeiautos der richtige Ort ist, um zu beten?“ „Glauben Sie mir, Pater Berry, wenn das hier erst einmal richtig anfängt, ist jeder, wirklich jeder Ort der richtige zum Beten.“ Kapitel 9: Kapitel 09 --------------------- Kapitel 09 Bereits beim Öffnen der hölzernen Tür war klar, dass es sich um einen Pub und nicht um einen edlen Club handelte. Sofort wehte Artemis, Marylin und Chino dichter Rauch entgegen, die Luft roch nach verschüttetem Bier. Lautstark wurde an einigen Tischen Karten gespielt, wobei die Besucher vorrangig Männer waren. Einige von ihnen schauten auf, als sie das ungewöhnliche Trio eintreten sahen, widmeten sich allerdings bald wieder ihren eigenen Belangen. Eine weibliche Bedienung nahm an der Theke die Bestellungen entgegen. Während sich Artemis und Chino an einen unauffälligen Tisch im hintersten Bereich des Pubs zurückzogen, bestellte Marylin Getränke und etwas zu Essen. Artemis nutzte die Gelegenheit, um sich noch einmal alleine mit Chino zu unterhalten, nachdem er sich einige Schmerztabletten eingeworfen hatte. „Ihre Stimmungsschwankungen machen mir ein wenig Angst.“ „Es ist normal, dass sie von dem einen auf den anderen Moment instabil wirkt. Solange sie von dem, was sie erlebt hat, einigermaßen abgelenkt wird, geht es ihr gut. Sobald sie sich allerdings an den Mord an ihrem Kollegen erinnert, droht sie zusammen zu brechen oder fängt an zu weinen. Um darüber hinweg zu kommen, sollte man ihr schon mehr als ein paar Tage Zeit einräumen.“ „Du glaubst also, dass sie bald wieder ganz normal sein wird?“ „So wie ich sie bisher kennen gelernt habe, ist Marylin eine sehr starke Persönlichkeit. Sie wird wieder, aber es wird für immer etwas von dem, was sie gesehen hat, in ihr zurück bleiben. Ich würde die Möglichkeit, dass sie den Polizeidienst quittiert, nicht ausschließen. Aber sie ist weder ein völliges psychisches Wrack, noch wird sie jemals eines sein. Ihr wechselndes Gemüt ist gut nachvollziehbar, manche brauchen einige Tage, andere Monate, Jahre oder ein ganzes Leben, um mit so etwas klar zu kommen.“ „Gut, dann spricht ja nichts dagegen wenn...“ „Vergiss es!“, unterbrach Chino Artemis zischend. „Vorhin habe ich es dir bereits einmal gesagt und ich sage es dir wieder. Solltest du sie behandeln wie die anderen Frauen, die du spontan anbaggerst, könnte das durchaus negativen Einfluss auf sie nehmen. Sie ist psychisch noch zu labil. Du weißt nicht, was du damit anrichten könntest. Das weißt du nie, wenn du dich an eine Frau ran machst.“ Artemis wartete erst einige Sekunden abschätzend ab, dann lächelte er Chino herausfordernd an. „Du bist wohl noch nie scharf auf eine Frau gewesen, was? Wenn du sogar in deinem Kittel in einen Pub gehst, wird das auch nie was.“ „Im Gegensatz zu dir, mein lieber Artemis, weiß ich sehr wohl, wie es ist, eine Frau zu lieben und sie entsprechend zu behandeln“, erwiderte Chino mit einem gespielt herablassenden Ton. Zuerst wirkte Artemis etwas überrascht, dann klopfte er Chino anerkennend auf die Schulter. „Du hast eine Freundin?“ „Es ist nicht bloß eine Freundin. Ihr Name ist Maria.“ „Warum haben wir diese Maria denn noch nie kennen gelernt? Nicht, dass sie nur in deiner Phantasie existiert.“ „Sie ist nicht bloß reine Phantasie.“ Nun wirkte Chino leicht beleidigt. „Sie ist real. Und die schönste Frau, die auf dieser Welt existiert. Ihr habt sie noch nicht zu Gesicht bekommen, weil ich nicht will, dass sie jemand so sieht.“ „Was meinst du mit "so sieht"?“ „Maria... Sie ist... nicht ganz bei sich, könnte man sagen.“ „Deine Freundin ist eine Irre?“, platzte Artemis heraus, obwohl er sich eigentlich hatte zurück halten wollen. „Sie ist keine Irre! Sie ist von dem einen auf den anderen Tag verstummt und hat sich komplett in sich zurückgezogen. So sehr ich mich auch bemühe, ich schaffe es nicht, bis zu ihr vorzudringen. Aber das ist etwas, das du nicht verstehen kannst. Nicht bei deinen Weibergeschichten.“ „Ich kann dich sehr wohl verstehen. Auch in meinem Leben gibt es eine Frau, die ich über alles liebe.“ „Du?“, fragte Chino und fing an zu lachen. „Niemals.“ „Es ist aber so. Ob du es glaubst oder nicht.“ „Das tue ich tatsächlich nicht.“ „Dann lass es bleiben“, seufzte Artemis genervt und beobachtete, wie sich Marylin ihren Weg zu ihnen durch den Irrgarten aus Tischen bahnte. In ihren Händen hielt sie einige Gläser und eine große Schale. Wenig später standen drei Bier und eine große Portion panierter Fisch und fettige Pommes vor ihnen. „Es sieht zwar nicht so aus, aber hier bekommt man das beste Bier und die Fish 'n Chips sind geradezu legendär.“ Etwas angewidert schaute Artemis dabei zu, wie Marylin Essig über die Pommes schüttete und sie danach mit Salz geradezu bombardierte. Genüsslich schob sich die Blondine einige Fritten in den Mund und spülte diese mit einem ordentlichen Schluck Bier herunter. Danach leckte sie sich genüsslich über die Finger. „Das ist so gut... Das Essen in der Anstalt war der reinste Horror.“ „Kann ich mir vorstellen“, bemerkte Artemis und nahm sich ebenfalls einen Pommes. „Dass das hier besser sein soll bezweifle ich allerdings.“ „Probieren Sie es doch erst einmal.“ Der kleine Ausflug, den Artemis mit Marylin und Chino veranstaltete sollte vorrangig dazu dienen, die Polizistin etwas abzulenken. Anscheinend verwirkte der Abend in einem von Marylin gewählten Pub seine Wirkung nicht. Marylin lachte inzwischen wesentlich häufiger und ließ sich darauf ein, wieder Dinge zu tun, die normale Menschen in ihrem Alter unternahmen. „Solange Sie es nicht probiert haben, können Sie es ja wohl auch nicht nicht mögen oder?“ „Da ist etwas dran. Aber bitte, duzen wir uns doch“, schlug Artemis vor, während er den Pommes aß. „Ich finde es schrecklich, von einer so jungen und hübschen Dame gesiezt zu werden, da fühle ich mich gleich um Jahre gealtert.“ Chino verdrehte genervt die Augen und versetzte Artemis unter dem Tisch einen kleinen Tritt. Marylin dagegen starrte verlegen ihr Bier an und drehte das Glas zwischen ihren Fingern. „Wenn es für Sie... Ich meine für dich in Ordnung ist.“ „Das ist es ganz bestimmt.“ Für einen Augenblick beherrschte eine peinliche Stille die Drei, bis Marylin erneut das Gespräch suchte. „Wir übernachten wirklich im Hotel Savoy?“ „Sicher. Das Zeug schmeckt übrigens schrecklich.“ Marylin ließ ein belustigtes Kichern hören, dann nahm sie sich noch einige Pommes. Das Zeitungspapier, mit dem die Schale ausgekleidet war, hatte sich inzwischen mit Fett vollgesogen und sie musste es mühsam entfernen, bevor sie die Pommes ohne Bedenken essen konnte. „Wie schaffst du es nur, so dünn zu bleiben bei dem Essen?“ „Ich mache viel Sport.“ „Ich auch. Was für Sport?“ „Vorrangig gehe ich oft laufen. In einem Verein Sport zu machen oder so kann ich mir nicht leisten.“ „Was für ein Zufall, ich gehe ebenfalls regelmäßig laufen.“ Zwar hörte Artemis, wie Chino ein gereiztes Stöhnen von sich gab, er ignorierte dieses allerdings. Momentan hatte er nur Augen für diese wunderschöne Frau, die gerade vor ihm saß. Natürlich, sie kam keinesfalls an Lydia heran, aber so eine Frau wie Lydia ein zweites Mal zu finden, hätte auch an ein Wunder gegrenzt. „Vielleicht können wir ja mal zusammen laufen gehen.“ „Nimm es mir bitte nicht übel, aber... Ich weiß, wie Männer wie du drauf sind.“ Mit gespielter Empörung wich Artemis zurück, legte sich eine Hand auf die Brust und leerte sein Glas Bier. Danach wischte er sich mit dem Handrücken den Mund ab und grinste Marylin spöttisch an. Chino hingegen wirkte offensichtlich belustigt, denn er musste sich bereits die Hand vor den Mund halten, um nicht laut los zu lachen. „Männer wie ich?“ „Ach komm schon. Ich bin doch nicht blöd. Außerdem kann ich dir versichern, dass ich auf keine einzige deiner Anmachen eingehen werde“, sagte Marylin und leerte ebenfalls ihr Bier. Anstatt weiterhin auf den verwunderten Artemis einzugehen, begutachtete sie das noch immer volle Glas, das vor Chino stand. „Trinken Sie nichts?“ „Mich können Sie ebenfalls gern duzen. Aber um auf ihre Frage zurück zu kommen, ich trinke keinen Alkohol.“ „Entschuldige, das hätte ich vorher auch fragen können, anstatt dir einfach irgendein Getränk vor die Nase zu stellen.“ Da Marylin sichtlich betrübt wirkte, hob Chino beschwichtigend die Hände, um die junge Frau zu beruhigen. „Aber nicht doch. Das ist schon in Ordnung, immerhin hätte ich es dir auch vorher sagen können. Ich bin generell nicht durstig im Moment, das hätte ich viel eher erwähnen sollen.“ Artemis, der noch immer an Marylins Abfuhr zu arbeiten hatte, nahm Chinos Glas und trank es leer. Danach stand er auf, schnappte sich die drei Gläser und deutete in die Richtung des Tresens. Während Marylin sich noch ein Bier genehmigen wollte, lehnte Chino weiterhin ab. Nur mühsam gelang es Artemis, sich an den Tischen und den anderen Besuchern vorbei zu winden, damit er an den Tresen gelangen konnte. Der Pub schien geradezu unter der hohen Anzahl an Gästen zu zerbersten, was seiner Meinung nach höchstens an dem Bier, jedoch kaum an dem Essen liegen konnte. Artemis stellte die drei Gläser auf der Theke ab und orderte zwei neue. Als diese vor ihm abgestellt worden waren, wollte er sich gerade zum Gehen wenden, als ihm der Mann auffiel, der neben ihm stand. Die ganze Zeit während der Bestellung über hatte er ihn mit einer unangenehmen Genauigkeit geradezu observiert und das war etwas, das Artemis gar nicht mochte. Zudem wirkte der Mann eigenartig. Offenbar war er nicht nur Artemis aufgefallen, sondern auch den übrigen Besuchern. Der Priester war nicht der einzige, der den Unbekannten misstrauisch musterte. Die Stimmung war angespannt, es war, als würde der Duft von Ärger in der Luft liegen. Die langen, hellblonden Haare des Mannes und ein Paar grüner Augen waren alles, was unter seiner Kleidung hervor schaute. Er war in ein dreckiges, langes graues Gewand gewickelt, das bis zum Boden reichte. Seine Schuhe sahen aus wie die eines Artisten aus einem Zirkus, mit einer grünen aus Samt gefertigten Oberfläche und leicht gebogener Spitze. Als er eine seiner Hände hob, um den oberen Teil seines Gewandes vor seinem Mund zu entfernen, konnte Artemis die gebräunte Haut erkennen, die sogar noch einige Nuancen dunkler war als die von Chino. Zusammen mit dem blonden Haupthaar wirkte es etwas grotesk, als Artemis das sonnengegerbte Gesicht des Mannes vor sich sah. Dafür, dass er in solche Lumpen gekleidet war, sah er doch recht gepflegt aus. „Sind Sie ein Priester?“, wollte der Mann wissen, noch bevor Artemis ihn fragen konnte, warum er ihn so dämlich anstarrte. „Warum wollen Sie das wissen?“ „Bitte, wenn Sie ein Priester sind, dann sind Sie meine letzte Hoffnung.“ Die Stimme des Mannes wies einen eigentümlichen Akzent auf, den Artemis nicht deuten konnte. Dafür war sein Englisch definitiv nicht gut genug. „Meine Tochter... bitte, helfen Sie ihr.“ „Wenn Sie so dringend einen Priester benötigen, warum suchen Sie ausgerechnet in einer Kneipe?“ Artemis' Skepsis nahm mit jeder Sekunde zu. Er hatte keine Lust, so spät am Abend noch eine Predigt oder Messe abzuhalten, nur weil die Tochter irgendeines armen Schluckers aus irgendwelchen Gründen Trost benötigte. Außerdem war er der Meinung, dass seine Kopfschmerzen wieder zugenommen hätten. Alkohol und Tabletten vertrugen sich wohl wirklich nicht. „Tut mir leid, aber ich habe Feierabend.“ Als Artemis sich umdrehte um zu gehen, packte ihn der Fremde am Arm und hielt ihn so zurück. „Bitte, bitte, helfen Sie meiner Tochter.“ „Lassen Sie mich los“, forderte Artemis und hatte damit Erfolg, der Mann ließ seinen Arm wieder frei. „Ich habe es Ihnen eben schon einmal gesagt. Ich bin heute nicht mehr im Dienst.“ „Aber meine Tochter... Sie ist von einem Dämon besessen.“ Schlagartig hielt Artemis inne. Selbst wenn dieser fremde Mann der größte Spinner auf Erden sein sollte, musste er solche Aussagen ernst nehmen. Wann immer eine Person von einem Dämon besessen sein könnte und jemand aus der geheimen Abteilung vor Ort war, musste der betroffene Priester dieser Spur nachgehen. Das war einer der Nachteile, die dieser Job mit sich brachte. Jeder Hinweis auf Dämonen war wichtig und durfte nicht einfach abgetan werden. Leider gab es keine Möglichkeit, die Ernsthaftigkeit der jeweiligen Besessenheit zu prüfen. Manchmal wiesen die Betroffenen Verhaltensweisen auf, die wie aus billigen Romanen nach gespielt wirkten, andere hingegen konnten jahrelang vor sich hin leben, ohne dass jemand gemerkt hätte, dass ein Dämon den Körper des Menschen besetzt hielt. Außer Frage stand, dass diejenigen Dämonen, die sich auffällig verhielten, eindeutig die geringeren Überlebenschancen besaßen. Meistens handelte es sich dabei um schwache Dämonen, denn wirklich starke Exemplare, wie etwa Chino, lebten schon seit Jahrhunderten und wandelten noch immer unentdeckt unter den Menschen. „Woher wissen Sie, dass es sich um einen Dämonen handelt?“ „Sie benimmt sich komisch. Redet auf Sprachen, die sie nicht kennt, spuckt um sich und schreit Namen, die mir völlig fremd sind.“ „Litt Ihre Tochter in der Vergangenheit an Schizophrenie oder einer anderen psychischen Erkrankung?“ „Nein.“ Mit einem heftigen Kopfschütteln unterstrich der Fremde seine Aussage. „Niemals. Es ist, als wäre sie von innen heraus völlig ausgetauscht worden. Sogar mich wollte sie angreifen und töten, ihren eigenen Vater.“ „Verdammt“, flüsterte Artemis und schaute kurz zu Chino und Marylin hinüber. „Warten Sie kurz, ich komme gleich zurück.“ Indem er sich ein weiteres Mal durch die Massen drängelte, diesmal wesentlich aggressiver als zuvor, kämpfte sich Artemis zurück zu seinen beiden Begleitern. „Wer ist denn das?“, fragte Chino skeptisch. „Ich würde mich nicht mit dem zusammen sehen lassen wollen, so wie die Leute den anstarren. Als ob sie jeden Augenblick auf ihn einprügeln würden.“ „Da sagst du was. Der Mann hat mich gerade darauf angesprochen, dass seine Tochter von einem Dämon besessen sei. Ich fürchte, dass ich dem nachgehen muss.“ „Du treibst einen Dämon aus?“ Marylins Augen waren vor Faszination so groß geworden, dass Artemis meinte, sich darin spiegeln zu können. „So etwas gibt es?“ „Na ja...“ Voller Unbehagen wand sich Artemis noch einmal zu dem Fremden um, welcher ihm erwartungsvoll entgegen blickte. „Ich erkläre dir das ein anderes Mal. Umso schneller ich mit ihm gehe, desto eher bin ich wieder zurück. Wahrscheinlich wird es nicht lange dauern.“ „Meinst du, dass es klug ist, alleine mit dem Typen zu gehen? Es könnte eine Falle sein. Irgendwie kommt er mir seltsam vor. Wer sucht schon spät abends in einem Pub nach einem Priester. Vielleicht wäre es besser, wenn dich jemand begleitet.“ „Nein, auf keinen Fall“, wehrte Artemis ab und sein Blick fiel auf Marylin. „Wenn ich unsere Zeugin in Gefahr bringe, würde ich mir das nie verzeihen. Und Ethos erst recht nicht.“ „So habe ich das auch nicht gemeint“, sagte Chino erbost, als ob alleine der Gedanke daran, Marylin zu einer Austreibung mitzunehmen, eine schwere Straftat darstellte. „Ich kann auf mich aufpassen“, protestierte Marylin. Da sie in Windeseile das zweite Bier ausgetrunken hatte, vermutete Artemis, dass sie bereits leicht angetrunken war. Je nachdem, welche Charaktereigenschaften in diesen Zustand bei ihr hervortraten, konnte die Diskussion sehr einfach oder verdammt schwer mit ihr werden. Immerhin vergriff sie sich ebenfalls an dem Bier, das für Artemis gedacht war. Es schien, als versuche sie, sich Mut an zu trinken. Artemis kam eine Idee. „Komm doch einfach mit Chino und mir mit. Ich habe es mir anders überlegt.“ Was Marylin ein freudiges Strahlen entlockte, ließ bei Chino sämtliche Gesichtszüge entgleiten. Noch bevor er lautstarken Protest einlegen konnte, zwinkerte Artemis ihm kurz zu. Chino beruhigte sich daraufhin wieder und erhob sich, damit sie gehen konnten. Wie ein kleines Mädchen sprang auch Marylin von ihrem Stuhl auf und lief geradewegs auf die Tür zu, wenige Sekunden später war sie verschwunden. „Auf dem Weg zu der Tochter des Mannes werden wir sie im Hotel abladen“, flüsterte Artemis Chino zu, während er sich zu dem blonden Mann begab. Chino nickte nur still zur Antwort. Hoffentlich würde das so einfach gehen, wie Artemis es sich vorstellte. So, wie Marylin sich gerade benahm, reagierte der Alkohol mit einigen Medikamenten, die man ihr vor ihrer Entlassung gegeben haben könnte. Da ihm niemand gegenüber erwähnt hatte, ob und in welchem Maße Marylin Medikamente verabreicht worden waren, war Chino davon ausgegangen, dass sie keine bekommen hatte. Es war einer der wenigen Fehler, die ihm trotz seiner langjährigen Erfahrung noch immer unterliefen. Im Grunde genommen war es nicht sein Fehler, sondern der des entlassenden Arztes, aber er hätte dennoch besser darauf achten und noch einmal nachfragen sollen. So machte sich Chino schnellstmöglich daran, nach draußen zu gehen, um nach Marylin zu sehen. Artemis hingegen gesellte sich zu dem Fremden und bedeutete ihn, dass er seiner Tochter helfen werde. Sichtlich erfreut über Artemis' Entscheidung, wich ein Teil der Hoffnungslosigkeit aus dem Gesicht des Mannes. Er fasste Artemis am Handgelenk und drängte den Priester geradezu, ihm zu folgen. Unter einigen Bemühungen riss Artemis sich los und als sie den Pub verlassen hatten, brachte er den Mann dazu, noch einmal anzuhalten. Fast wäre er ohne Artemis geradezu davon gestürmt. „Wie heißen Sie eigentlich?“ „McKenzey. Brooklyn McKenzey.“ „Ein Amerikaner“, säuselte Marylin, die inzwischen von Chino gestützt wurde und immer wieder zur Seite zu kippen drohte. „Er hört sich an wie ein Amerikaner. Zumindest sein Akzent.“ „Ich hoffe Sie haben Verständnis dafür, wenn wir unsere Freundin erst einmal nach Hause bringen, bevor wir uns um Ihre Tochter kümmern.“ „Natürlich. Ich gebe Ihnen meine Adresse“, sagte der Mann hastig und holte ein Stück Papier heraus, welches er Artemis in die Hand drückte. „Ich muss zurück zu Sarah, bitte, bitte kommen Sie bald.“ „Wir werden uns beeilen“, versicherte Artemis und schaute dem merkwürdigen Mann hinterher, bevor er sich wieder Chino und Marylin widmete. „Komischer Kerl...“ „Immerhin, wir sollten Marylin wirklich in das Hotel bringen. Es geht ihr nicht gut.“ „Es geht mir hervorragend!“ „Ja, das sehe ich...“, kommentierte Artemis und verschränkte die Arme vor der Brust. „Sie hat nur drei Bier getrunken. Wie kann es sein, dass es ihr dadurch so schlecht geht?“ „So wie es aussieht, hat sie vor ihrer Entlassung noch einige stärkere Psychopharmaka verabreicht bekommen. Die vertragen sich natürlich nicht wirklich mit Alkohol, wodurch es ihr so schlecht geht. Im Gegenzug zu dir. Wie auch immer du das machst, dir erst Tabletten zu genehmigen und dann auch noch Alkohol zu trinken, ohne dass das irgendwelche Auswirkungen hat“, meinte Chino und schaute Artemis dazu missbilligend an. „Wie auch immer. Zu einem gewissen Teil könnten diese Medikamente auch ihre heutigen Stimmungsschwankungen verursacht haben. Jedenfalls würde das ebenfalls eine plausible Erklärung sein, warum sie zwischendurch normal und dann extrem emotional reagiert. Da sie eigentlich völlig gesund war bei ihrer Einlieferung, kann es sein, dass einige Medikamente die entgegengesetzte Wirkung erzielen. Solange sie unter dem Einfluss der Psychopharmaka ist, benimmt sie sich depressiv. Genau weiß ich es allerdings nicht, ich bin nicht dazu gekommen, sie dazu zu befragen. Wenn sie es uns bisher verschwiegen hat, wird sie uns auch kaum die Wahrheit sagen, nur, weil einer von uns nachfragt.“ Marylin schien von alldem nichts mehr mitzubekommen. Wie ohnmächtig hing sie in Chinos Armen, der sichtlich Mühe hatte, sie aufrecht zu halten. Mit einem starken Ruck hob er ihren Körper an, umfasste einerseits ihre Taille und legte ihren Arm über seine Schulter. So würde er sie bis zum Hotel, das nur wenige Straßen entfernt war, transportieren können ohne ihr aus Versehen weh zu tun. Als Chino sich in Bewegung setzte, schaute Artemis sich noch einmal um. In einer Gasse neben dem Pub standen einige Mülltonnen, auf und neben denen eine Versammlung Katzen saß. Sie schauten den Priester neugierig an, fast so, als würden sie ihn studieren. Der Blick der Katzen haftete so penetrant an ihm, dass Artemis Mühe hatte, sich von ihnen loszureißen. Eine der Katzen sprang von der Mülltonne herunter und blieb kurz stehen. Nachdem Artemis sich einige Schritte entfernt hatte, setzte sie zu einem Sprung an und hechtete los. Bald hatte der Schatten der Großstadt die Gestalt der Katze vollends verschlungen, weshalb weder Artemis noch Chino bemerkten, dass ihnen jemand auf den Fersen blieb. Mitten in der Nacht auf einer Polizeiwache zu stehen war kein Teil von Ethos' Plan gewesen. Genauso wenig, wie von Pater Berry, der seinen Kollegen alle zwei Minuten um Entschuldigung zu bitten schien. Vermutlich hatte er, als die Spurensicherung ihm zuvor gekommen war, gedacht, dass diese sich nicht weiterhin einmischen würde und deshalb seinen Fauxpas verschwiegen. Immerhin konnte Ethos der Sache mittlerweile etwas Positives abgewinnen. Zugegebenermaßen war Pater Berry keine besonders große Hilfe gewesen. Er hatte vor Ort nicht geholfen und, mit Ausnahme seiner Angaben über Pater Simmons, keine relevanten Informationen für den Priester bereitgehalten. Im Gegensatz zu der Spurensicherung um Kriminalkommissar Edwards, welcher ihm eine kleine Plastiktüte entgegen hielt. „Diesen Taler haben wir im Museum gefunden. Es handelt sich dabei nicht um ein Ausstellungsstück, das hat uns der Leiter versichert. Auf der Vorderseite befindet sich das Symbol einer Sonne. Zumindest vermuten wir, dass es sich um eine Sonne handelt. Es stehen auch zwei Zahlen darauf, deren Sinn wir allerdings noch nicht entschlüsseln konnten.“ Ethos begutachtete das runde goldene Objekt, das von Größe und Form tatsächlich an eine Münze erinnerte. Die Seitenränder wiesen kleine Einkerbungen auf, der äußere Rand stand ganz leicht über dem Rest der Fläche hinaus. Seltsam war jedoch, dass nur eine Seite eine Prägung aufwies. Demnach konnte es sich auch um ein Medaillon handeln, wogegen wiederum die Dicke des Objektes sprach. Diese betrug nur wenige Millimeter und Ethos hatte fast schon Angst, es zu zerbrechen, wenn er zu starken Druck darauf ausüben würde. Auf der Oberfläche war ein Kreis eingraviert worden, an dessen Seiten sich mehrere Fäden hinauf schlängelten. Jeder zweite Faden wuchs nach oben hin entzwei und bildete sich zu einer breiten geschlossenen Schlaufe. Von weitem sah es einer Sonne überaus ähnlich. Am oberen Rand stand die Zahl 756, am unteren 1870. Ethos reichte das Beweisstück an Berry weiter. „Ich danke Ihnen dafür, dass Sie uns kontaktiert haben.“ „Ich weiß zwar nicht, warum mein Chef es angeordnet hat, dass sich ausgerechnet zwei Priester in meine Ermittlungen einmischen, aber wäre es nach mir gegangen, säßen Sie jetzt nicht hier. Der Befehl kam von ganz oben, bedanken Sie sich dort.“ Den schroffen Ton des Kriminalbeamten überhörte Ethos wohlwollend. Er würde sich an dessen Stelle genauso über die momentanen Entwicklungen ärgern. Stattdessen wartete Ethos, bis Berry sich die Münze ebenfalls angesehen hatte. „Ich hätte eine Theorie, wofür die beiden Zahlen stehen könnten“, sagte Ethos und nahm die Münze zurück. Zwar hatte Edwards es nicht erwähnt, aber wenn er schon darüber Bescheid wusste, dass zwei Priester sich in seine Ermittlungen mischten, dürfte ihm ebenfalls bekannt sein, dass diese sein Beweisstück obendrein mitnehmen würden. „Die Zahl 756 könnte für die Gründung des Vatikans stehen. Im Oktober 1870 hingegen wurde der Vatikan offiziell in das Gebiet Roms eingegliedert. Zu dem Sonnensymbol kann ich jedoch nichts sagen. Wofür es stehen soll, ist mir schleierhaft.“ „Sollten sich die Nummern tatsächlich auf den Vatikan oder die Kirche beziehen, sollte es doch viele Möglichkeiten der Interpretation geben oder nicht?“, fragte Edwards, nun deutlich stärker interessiert. „Das ist das Problem. Die Sonne könnte vieles bedeuten, aber mir fällt spontan keine Interpretation ein, die im direkten Zusammenhang mit den Zahlen steht. Ihnen, Pater Berry?“ „Nein.“ Die ganze Zeit über war Berry still gewesen, zudem wirkte er extrem angespannt. Sein Kiefer mahlte schon, seitdem sie im Büro des Kommissars saßen und sein Körper nahm seit jeher eine abwertende Haltung ein. Ab und zu schlug er nervös die Beine übereinander und drehte an einem goldenen Ring, der sich an seiner rechten Hand befand. „Aber wenn die Zahlen auf einen Zusammenhang mit dem Vatikan schließen lassen, ist es ungewöhnlich, dass wir sie am Tatort gefunden haben. Schließlich war, unseres Wissens nach, kein Mann der Kirche vor Ort.“ Pater Berry wollte gerade etwas sagen, doch Ethos kam ihm zuvor, indem er ihm das Wort mit einer Frage abschnitt und einen vielsagenden Blick zuwarf. Niemand durfte wissen, wer der tote Wächter in Wirklichkeit war. Das würde nur unangenehme Fragen aufwerfen. „Haben Sie die Münze auf Fingerabdrücke untersucht?“ „Gewiss. Bei den Abdrücken handelt es sich einerseits um die Abdrücke von einem der getöteten Nachtwächter. Zwei weitere Abdrücke befinden sich darauf, aber beide haben wir nicht in unserer Datenbank. Ich kann Ihnen lediglich sagen, dass die Größe der Abdrücke darauf schließen lässt, dass es sich um zwei männliche Individuen handelt. Oder sehr großen Frauen. Vielleicht ist der Täter dabei, möglicherweise weist diese Spur aber auch in eine Sackgasse.“ In Edwards' Stimme lag die Hoffnung, dass diese Informationen Ethos dazu bewegen konnten, die Münze wieder zurück zu geben. Erst wenn sie den Täter schnappen würden, würde es vielleicht möglich sein, eine der beiden anderen Fingerabdrücke zu identifizieren. Edwards hatte aber auch keine Ahnung, wie weitreichend die Beziehungen des Täters sein könnten und dass die Wahrscheinlichkeit, ihn ausgerechnet in London zu stellen, äußerst gering waren. Nur zu gern hätte Ethos den Mann darüber aufgeklärt, da er ihm kompetent und an der Lösung des Falles interessiert vorkam, doch die Verwirrung wäre hinterher wahrscheinlich noch um einiges größer, als ohnehin. Außerdem würde es zur Aufklärung des Falles kaum etwas beitragen. Das Risiko, dass dadurch etwas schief ging, war um einiges größer, als die Chancen, die sich daraus ergaben. „Das müssen wir leider in Betracht ziehen. Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt stellt diese Münze trotzdem den einzigen brauchbaren Hinweis dar, den wir haben. Wir werden der Spur nachgehen und Sie über alle Fortschritte informieren.“ „Ich bitte darum.“ Ethos hatte nicht damit gerechnet, dass der Kommissar so schnell klein-bei geben würde. Anscheinend war der Druck, der von oben auf ihn ausgeübt wurde, immens. Eine so gut funktionierende Zusammenarbeit hatte er selten bei Zivilisten erlebt. Zumal er dadurch gewillt war, den Kommissar auch tatsächlich über die Stände der Ermittlungen in Kenntnis zu setzen und es nicht als leere Phrase abzutun, nur damit der Polizist sich besser fühlte. Natürlich nur in der Hinsicht, die Dämonen mit keinem Wort zu erwähnen. Vorsichtig steckte Ethos die Münze ein, dann schüttelte er Edwards zum Abschied die Hand. Auch Pater Berry erhob sich aus seinem Stuhl und trottete schweigend hinter Ethos aus dem Büro heraus. Kapitel 10: Kapitel 10 ---------------------- Kapitel 10 Es war nicht leicht gewesen sich dazu zu entscheiden, Marylin allein im Hotel zurück zu lassen. Besonders Chino hatte sich um ihr Wohl gesorgt. Artemis ohne Begleitung gehen zu lassen, widerstrebte ihm allerdings ebenso. Kaum hatten sie Marylin in ihr Bett verfrachtet, war die Polizistin bereits eingeschlafen. Ihr war es zwar nicht gut gegangen, aber Anzeichen, dass sie sich demnächst übergeben oder vollständig die Kontrolle über sich verlieren würde, hatte es nicht gegeben. Somit war es für Chino das kleinere Übel gewesen, zusätzlich hatte er die Tür abgeschlossen und den Schlüssel eingesteckt. Zusätzlich zu der verschlossenen Tür hatte Artemis Marylin die Armbrust in das Zimmer gelegt. Um den Exorzismus durchführen zu können, hatten sie nur das Nötigste mitgenommen. Artemis hätte seinen Ausflug eigentlich mit Ethos absprechen müssen, dafür jedoch keine Zeit gesehen. Er wusste nicht, wo Ethos sich genau aufhielt und sich daher an das gehalten, was er in seiner Ausbildung gelernt hatte. Und diese besagte, dass einer Besessenheit schnellstmöglich nachgegangen werden musste. Es bestand immer die Möglichkeit, dass so die Übernahme durch einen Dämonen verhindert oder dieser frühzeitig ausgeschaltet werden konnte. Je weniger Feinde die Kirche besaß, desto besser. Mit reiner Nächstenliebe hatte dies eher weniger zu tun. Als Artemis und Chino vor einer Gasse ankamen, sah Artemis noch einmal auf den Zettel, welchen er bekommen hatte, um die Adresse abzugleichen. Einladend sah die kleine Seitenstraße nicht aus, auch der Geruch war alles andere als angenehm, aber etwas anderes in dem ärmlich wirkenden Viertel zu erwarten wäre reines Wunschdenken gewesen. Ein weiteres Mal bestätigte sich, dass Reich und Arm direkte Nachbarn sein konnten, ohne dass der eine von den Zuständen des anderen Notiz nahm. An den Hauswänden stapelte sich der Müll zu hohen Türmen auf, die Pfützen auf dem Boden wiesen eine bräunliche Farbe auf, die darauf schließen ließ, dass sich nicht nur Regenwasser dort gesammelt hatte. Erneut fielen Artemis die vielen Katzen auf, die auf Mülltonnen, zerplatzen Säcken oder vor den in die Höhe ragenden Hausmauern saßen. Sie starrten ihn und Chino an, verfolgten jede noch so kleine Bewegung, die die beiden ausführten, sprangen von ihren Plätzen herunter und schlichen sich zurück haltend heran. Zusammen wirkten sie wie ein Schwarm, der Chino und Artemis immer weiter in die Richtung einer der Treppen lenkte, die nach unten führte. Er hätte es niemals zugegeben, aber die Anwesenheit von Chino beruhigte Artemis zunehmend. Zusammen stiegen sie die Treppen hinab und standen wenig später vor einem Türrahmen, welcher mit einem schweren Stück Stoff abgehangen worden war. „Hallo, ist jemand da?“, rief Artemis, denn zum Anklopfen gab es keinen geeigneten Untergrund. Im Inneren regte sich etwas, ein Rascheln ertönte und der Vorhang wurde zur Seite gezogen. Wieder stand der Mann mit den langen blonden Haaren vor ihnen. „Bitte, treten Sie doch ein“, sagte er mit zittriger Stimme und trat beiseite, hielt zudem den Vorhang auf. „Meiner Tochter geht es immer schlechter. Sie liegt ganz hinten. Gehen Sie einfach durch.“ Da die Räumlichkeiten des Mannes nicht sonderlich ausladend waren, konnten Artemis und Chino den Gang in das besagte Zimmer nicht verfehlen. Kaum hatte Artemis den ersten Fuß in den Raum gesetzt, schaute er sich auch schon skeptisch um. Die Wände waren kahl, lediglich der nackte Beton schimmerte in einer gräulichen Farbe. Der Teppich wiederum besaß eine kaum zu definierende Farbe und schaute wenig einladend aus. An einigen Stellen war er aufgerissen und legte den Blick auf den nackten Beton frei. Elektrisches Licht gab es nicht, zwei große Kerzen auf Ständern zeugten von den einzigen Lichtquellen. Am Ende des Raumes stand ein Bett, in dem eine Gestalt lag und sich unter Schmerzen zu krümmen schien. Die rabenschwarzen Haare waren vollkommen verfilzt, die Haut unnatürlich blass. Blaue eingerissene Fingernägel krallten sich in das Lacken, wenn die Person sich unter lauten Flüchen aufbäumte und das Rückgrat in unnatürlichen Formen durchbog. Da die Haare über die Augen des Mädchens fielen, war nur ihr grotesk verzerrter Mund zu sehen, der an einigen Stellen blutete. Bei den zischenden Lauten war es kein Wunder, wenn sie sich das eine oder andere Mal auf die Zunge oder die Lippen gebissen hatte. „Wer seid ihr?“, krächzte die Stimme des Mädchens. Chino und der Mann namens Brooklyn McKenzey waren inzwischen ebenfalls eingetreten. Vorsichtig schloss der Mann den Vorhang hinter ihnen und lief an das Bett. Als er das Mädchen anfassen wollte, schlug diese wild um sich und versuchte, ihn zu kratzen. Artemis sah, dass ihre Handgelenke mit einem Seil an das Bett gefesselt worden waren, so dass sie ihre Arme höchstens auf Brusthöhe heben und senken konnte. Wenigstens hatte sie noch nicht versucht, sich zu befreien, trotz des ihr zur Verfügung stehenden Freiraumes. „Mr. McKenzey? Bitte treten Sie zurück. Ich würde mir Ihre Tochter gerne etwas genauer ansehen.“ Während Chino vor dem Vorhang wartete, wich McKenzey einige Schritte zurück und ließ den Priester gewähren. „Sarah ist ihr Name, richtig?“ „Ja, genau, Sarah.“ Noch immer kam Artemis die Situation seltsam vor, die Sorge, die das Gesicht des Mannes widerspiegelte und sein ängstlicher Ton wirkten jedoch nicht gespielt. Auch Chino fühlte sich unwohl, wie Artemis mit einem Blick zur Seite feststellte. Der Priester kniete sich auf den Boden, so dass er mit Sarah auf Augenhöhe sprechen konnte. Seiner Einschätzung nach war das Mädchen höchstens sechzehn Jahre alt. „Wie geht es dir, Sarah?“ „Verpiss' dich du Arschloch!“ Indem sie versuchte, Artemis ins Gesicht zu spucken, demonstrierte Sarah dem Priester den Grad ihrer Abneigung. „Du scheiß Priester! Du kriegst mich nicht, du kriegst mich nicht.“ Kaum hatte sie den letzten Satz beendet, atmete Sarah tief durch und grunzte dabei wie ein wildes Tier. Ihre braunen Augen verdrehten sich, die Pupillen wanderten nach innen. Zudem krampfte ihr gesamter Körper, als durchzöge sie ein unkontrollierbares Zucken. Etwas Schaum bildete sich und lief ihr Kinn herunter. Erschrocken schlug ihr Vater, der die ganze Zeit hinter Artemis gestanden hatte, die Hände vor sein Gesicht. Artemis hingegen öffnete seine Tasche und holte einen Rosenkranz, sowie eine alte in Leder gebundene Bibel hervor. „Können wir sie hier irgendwo aufrecht festbinden?“ Anstatt zu antworten schüttelte McKenzey nur wild den Kopf. Seine Augen waren vor Angst geweitet, Panik schien in ihm aufzusteigen. „Haben Sie nicht einmal einen Stuhl, den Sie holen könnten?“ Weiteres Kopfschütteln. „Na super...“, seufzte Artemis und wand sich erneut dem Mädchen zu, dazu stemmte er die Hände in die Hüften und überlegte. „Die einzige Möglichkeit, die ich hier sehe ist, sie fester an dem Bettgestell festzubinden. Ihre Füße müssen ebenfalls am anderen Ende festgebunden werden.“ „Ist das denn wirklich notwendig?“ „Ja, ist es. Zu Ihrer Beruhigung; mein Kollege da hinten ist Arzt. Sollte es Ihrer Tochter gesundheitlich so schlecht gehen, dass wir die Austreibung abbrechen müssten, ist sie bei ihm in besten Händen. Allerdings will ich auch nicht das Risiko eingehen, von Ihrer Tochter zerkratz zu werden. Außerdem wird die Austreibung mehr Erfolg haben, wenn der Dämon sich nicht in dem Körper zur Wehr setzen kann.“ „In Ordnung. Wie Sie es sagen, Pater.“ Sofort machte der Mann sich daran, die Stricke, mit denen er die Handgelenke seiner Tochter an das Bett gebunden hatte, zu lösen und so zu zerschneiden und zu verknoten, dass sie sich nicht mehr bewegen konnte. Artemis warf Chino einen Blick zu, dieser nickte als Antwort, dass er verstanden hätte. Unter seinen Lumpen hatte der Mann die ganze Zeit über ein Messer versteckt gehalten, das er ebenso als Waffe hätte benutzen können. Von nun an würde Chino darauf besonders Acht geben. Wieder griff Artemis in seine Tasche und holte ein Paar weißer Gummihandschuhe heraus, welche er sich überstreifte. Als nächstes nahm er eine Spritze, spießte die Nadel in die Gummiabdichtung eines kleinen Glases mit einer klaren Flüssigkeit und zog die Spritze langsam auf. Dabei schaute er zu McKenzey hinüber. „Eine Frage habe ich noch, bevor ich gleich anfange. Haben Sie schon einmal irgendwelche Straftaten begangen? Jemanden getötet, Kinder vergewaltigt, richtig schlimmes Zeug, das Sie nicht mal Ihrem besten Freund oder Ihrer Mutter beichten würden?“ Empört über diese Frage kniff McKenzey die Augen zusammen. Es dauerte einige Sekunden, bis er sich dazu in der Lage sah, auf diese beleidigende Frage einzugehen. „Natürlich nicht!“ „Gut, dann hat niemand in diesem Raum etwas zu befürchten, falls der Dämon sich kurzfristig dazu entscheiden sollte, sich einen neuen Körper zu suchen. Ich rate Ihnen aber dringend, sich mal mit Ihrer Tochter auseinander zu setzen. Falls es sich hier um einen echten Dämonen handelt, wird er sich den Körper Ihrer Tochter nicht umsonst als Wirt ausgesucht haben.“ „Was wollen Sie damit sagen? Dass Sarah jemandem etwas angetan haben soll?!“ „Davon können Sie ausgehen. Vorausgesetzt, es handelt sich hierbei nicht um eine psychische Erkrankung. Dämonen suchen sich keine guten Menschen als Opfer.“ Obwohl McKenzey zu weiterem Prostest angesetzt hatte, ignorierte Artemis diesen und widmete sich stattdessen wieder Sarah. Er spritzte ihr das Serum, zog die Handschuhe aus, trat etwas nach hinten und wartete darauf, dass sie mit dem Kinn auf ihre Brust gesunken war, dann bewaffnete er sich mit dem Rosenkranz, welchen er sich um den Hals hing. Im Grunde wusste Artemis, dass, sollte Sarah tatsächlich von einem Dämon heimgesucht worden sein, kaum eine reale Chance auf Rettung bestand. Normalerweise ging die Besetzung so schnell vonstatten, dass der Mensch sich kaum zur Wehr setzen konnte. Wie stark und schmerzhaft eine solche Begegnung werden konnte, hatte Artemis am eigenen Leib erfahren, weshalb er kaum jemanden einen Vorwurf machen konnte, wenn sich dazu durchgerungen wurde, dem Dämon seinen Körper und Geist zu überlassen, nur damit die Qualen endlich ein Ende fanden. Es war aber auch schon vorgekommen, dass sich der Dämon austreiben ließ und sich dazu entschlossen hatte, einen anderen Menschen zu befallen. Bevor Artemis mit dem Ritual begann, winkte er noch einmal Chino zu sich. „Ich habe ihr ein Beruhigungsmittel gespritzt, das zwar ihren Körper, aber nicht ihren Geist beeinträchtigt. Bevor ich anfange, möchte ich noch einmal deine Meinung als Arzt einholen. Ist dieses Mädchen besessen oder leidet sie an einer psychischen Krankheit?“ Chino trat etwas näher an Sarah heran, nahm ihren Kopf in die Hand und zog die unteren Augenlider nach unten. Das Mädchen gab daraufhin weitere Flüche von sich und versuchte mit allerletzter Kraft, Chino in die Hand zu beißen. „Sie ist wirklich besessen. Sei vorsichtig, Artemis. Ich glaube, der Dämon könnte nicht allzu schwach sein“, flüsterte Chino und trat zur Seite, entfernte sich allerdings nicht allzu weit von dem Bett. Da Artemis nicht in der Lage war, die Auren von schwächeren Dämonen zu spüren, war ihm der Einfall gekommen, auf Chino zurück zu greifen. Dem fremden Mann würde die Erklärung, es hier mit einem Arzt zu tun zu haben, sicherlich reichen, ohne dass sie Verdacht auf sich ziehen würden. Außerdem hatte Artemis, durch Chinos Anwesenheit, bereits genügend Reize, die auf ihn einwirkten, so dass er eine weitere dämonische Aura auch gar nicht hätte wahrnehmen können. Seitdem sie die Bar verlassen hatten, drohte sein Schädel nahezu zu explodieren und auch die Schmerzmittel besaßen nur eine bedingte Wirkung. Aus diesen Gründen würde er versuchen, das Ritual so schnell wie es ihm möglich war durchzuführen. Artemis holte eine weitere kleine Flasche aus seiner Tasche und öffnete diese. Zusätzlich nahm er ein handflächengroßes Kreuz aus Eisen an sich, das er dem Mädchen entgegen streckte. „Ich beginne jetzt mit dem Ritual. Deshalb möchte ich Sie bitten, ruhig zu sein und in keinem Fall einzugreifen. Wenn Sie dies nicht können, verlassen Sie uns bitte. Ich kann Ihnen versichern, dass Ihre Tochter wirklich in den allerbesten Händen ist. Wenn Sie bleiben, bitte ich Sie gleich, wenn ich mit der ersten Litanei anfange, zu antworten. Als Katholik kennen Sie die Litanei doch oder? “ Wortlos schaute der Mann Artemis streng und entschlossen an und verharrte auf seinem Platz, was Artemis zu der Annahme führte, dass er dem Exorzismus beiwohnen wollte. Nicht immer war das die beste Entscheidung, aber wenn die Angehörigen bei ihren Liebsten bleiben wollten, war das durchaus verständlich. Mit der einen Hand verteilte Artemis das Wasser aus dem Fläschchen, auf dem ein Etikett mit der Aufschrift „Weihwasser“ prangte, mit der anderen hielt er das Eisenkreuz an die Stirn des Mädchens. Bei dem Kontakt mit dem kreuzförmigen Metall schrie sie wild auf und beschimpfte Artemis auf einer Sprache, die dieser nicht kannte. Nichtsdestotrotz behielt Artemis Ruhe und schenkte den schändlichen Ausführungen des Mädchens kaum Beachtung. Nachdem er die Flasche mit dem Wasser geleert hatte, schloss er sein verbleibendes Auge und legte eine Hand auf den Kopf des Mädchens. „Christus, erbarme dich.“ „Christus, erbarme dich“, antworteten Chino und McKenzey im Chor. „Gott Vater im Himmel.“ „Erbarme dich unser.“ „Heilige Engel Gottes.“ „Bittet für uns.“ „Durch die Sendung des Heiligen Geistes.“ „Herr, befreie uns.“ Artemis nahm seine Hand von dem Kopf des Mädchens. Chino lehnte sich auf den hinteren Teil des Bettes. Für ihn war die Mitsprache der Litanei zwar nicht tödlich, zehrte jedoch an seinen Kräften. Ein stechender Schmerz fuhr durch seine Brust und drohte ihn von innen heraus zu lähmen. Er wusste, dass die reine Ankunft bei einer Austreibung ihn nicht umbringen würde, dass sie ihm nicht sonderlich gut tat, war ihm nur allzu bewusst gewesen. Für einen kurzen Augenblick war Sarah in sich gekehrt und rezitierte leise einige unverständliche Sätze vor sich hin, dann kicherte sie und hob ihren Kopf in Artemis‘ Richtung. „Du glaubst, dass mich das beeindruckt, Priester? Ich scheiß auf deine Worte und auf deinen Gott. Dein Jesus Christi und dein Heiliger Geist sind nichts weiter als wertloser Dreck, auf den alle Dämonen scheißen.“ Das Lachen, das das Mädchen kurz darauf ausstieß, ließ Artemis das Blut in den Adern gefrieren. Ihre helle und krächzende Stimme hatte sich verdunkelt und war einer tiefen, grollenden Männerstimme gewichen. Immer stärker rüttelte sie an ihren Fesseln, zog so fest daran, dass sich die Seile in ihr Fleisch zogen und dort schwach blutende Stellen hinterließen. Diese Zeichen waren äußerst schlecht, da sie bewiesen, dass kaum noch etwas Menschliches in dem Körper vor ihnen zu stecken schien. Artemis musste sich beeilen. Als nächstes umschloss er das Kreuz mit beiden Händen, schloss ein weiteres Mal sein Auge und fing an zu beten. „Vater unser der du bist im Himmel. Geheiligt werde dein Name, dein Reich komme, dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden. Dein tägliches Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere Schuld, die auch wir vergeben unseren Schuldigern.“ Während Artemis, zusammen mit Chino und dem Vater des Mädchens, das Vater Unser aufsagte, meinte er, die Stimme des Mannes hinter sich näher kommen zu hören. „Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.“ „Amen“, ertönte es zeitgleich vor und hinter Artemis. Durch die Aggressivität der beiden Stimmen gewarnt, öffnete Artemis sein Auge wieder, sah sich allerdings außer Stande, noch etwas gegen das, was sich gerade abspielte, zu unternehmen. Das Mädchen hatte sowohl ihre Arme, als auch die Beine aus den Fesseln befreit und griff nach Artemis‘ rechten Arm. Durch die Stärke, mit der das Mädchen zudrückte, verlor Artemis das Kreuz aus der Hand und hörte nur noch, wie es klimpernd auf dem Boden aufkam, als jemand seinen linken Arm packte und seinen Oberkörper so einige Zentimeter nach hinten drehte. Sofort durchfuhr Artemis ein stechender Schmerz. Neben ihm stand McKenzey, hielt ihn fest und grinste ihn triumphierend an. Als Artemis seinen Blick senkte, stellte er fest, dass ein Messer unterhalb seiner Rippen durch seine Kleidung und die darunter liegende Haut gedrungen war. Ethos hatte sich dazu überreden lassen, noch einmal mit Pater Berry in dessen Büro in die Innenstadt zu fahren. Noch immer hatte er Bedenken aufgrund des Abendprogramms seines Kollegen Artemis, versuchte jedoch, diese zu verdrängen und sich zu beruhigen. Artemis wusste, wie wichtig Marylin war und so unzuverlässig er manchmal auch sein mochte, eine Zeugin wissentlich in Gefahr zu bringen, das würde selbst ihm nicht einfallen. Allem Anschein nach tat es Pater Berry unheimlich leid, dass ihm der Fehler mit der Spurensicherung unterlaufen war. Zum Trost hatte er Ethos versprochen, diesem die Akte über Daniel Simmons zur Verfügung zu stellen. Zwar musste sich eine Akte über den toten Geweihten im Vatikan befinden, die vor Ort angelegte Akte sollte jedoch auf dem allerneuesten Stand sein und auch Kleinigkeiten, die dem Vatikan als unwichtig erschienen, berücksichtigen. Von diesem Standpunkt aus gesehen hatte Ethos beschlossen, wäre es nicht verkehrt, einen Blick hinein zu riskieren. „Hat Pater Simmons Ihnen gegenüber vielleicht etwas erwähnt, das Sie als auffällig bezeichnen würden? Seltsame Treffen, plötzliche Geheimniskrämerei oder dergleichen?“ „Nein, nicht dass ich wüsste. Er verhielt sich völlig normal. Ich habe keine Unauffälligkeit feststellen können. Ebenso wenig die anderen Priester, die mit ihm zu tun hatten. Dadurch, dass er im Geheimen agiert hat, hatte Pater Simmons kaum Kontakt zu den anderen Mitarbeitern meiner Kirche.“ Schweigend saß Ethos an dem ausladenden Schreibtisch von Berry und blätterte einige Papiere hin und her. Die Front eines der Dokumente zeigte die schwarzweiß Fotografie eines heiter lächelnden Mannes mit kurzen Haaren in einem Talar. Ethos nahm das Foto und schaute es sich genauer an. Er hatte den Mann noch nie gesehen und doch spürte er, wie er bei dessen Anblick eine Verbindung zu ihm aufzubauen begann. Was als dumpfes Gefühl in seinem Magen anfing endete in der Gewissheit, dass Daniel Simmons mehr als ein bloßer Kollege für ihn gewesen war. „Würden Sie mich vielleicht für einige Minuten alleine lassen? Ich würde gerne kurz im Vatikan anrufen, falls Sie nichts dagegen haben.“ „Aber sicher“, entgegnete Berry höflich. „Ich werde mir in der Zwischenzeit einen Tee machen. Möchten Sie ebenfalls einen?“ „Gerne.“ Nickend verschwand Berry aus dem Büro, so dass Ethos endlich seinen Anruf tätigen konnte. „Monsignore Nikolas?“ Pater Ethos? So spät noch auf den Beinen? „Entschuldigen Sie die späte Störung, aber ich konnte Ihnen eben gerade nicht über alles berichten, das mich besorgt. Pater Berry und einige Polizisten waren in der Nähe.“ Ich habe mir bereits gedacht, dass Ihr verlängerter Aufenthalt in London einen tieferen Sinn beinhaltet. Der Prälat klang besorgt. „Leider habe ich einige weitere beunruhigende Entdeckungen gemacht. Einer der Toten bei dem Angriff auf das Museum war ein verdeckter Geweihter, der zum Schutz des Artefaktes abgestellt worden ist.“ Das ist ja schrecklich! „Nicht nur das, es wurde auch eine Münze bei ihm gefunden, die, meiner Meinung nach, im Vatikan geprägt worden ist. Auf der Münze wurden die Fingerabdrücke von Pater Daniel Simmons, dem Geweihten, identifiziert. Die Polizei hat uns erst vor kurzem darüber informiert, da die Leiche erst untersucht werden musste und Pater Simmons‘ Fingerabdrücke nicht im örtlichen Register von Verbrechern auftauchten. Im Moment sitze ich mit seiner Akte in Berrys Büro. Vielleicht könnten Sie Steve damit beauftragen, die hausinterne Akte von Pater Simmons heraus zu suchen.“ Je mehr Sie mir erzählen, desto bizarrer wird der Fall. Sobald Sie sich wieder zurück in Rom befinden, sollten wir eine Krisensitzung einberufen und entscheiden, welche weiteren Schritte wir einleiten wollen. „Dem stimme ich zu, das wäre ein Anfang. Aber abgesehen davon gehe ich mittlerweile davon aus, dass die Sammelaktion der Dämonen nicht nur Pater Artemis und mich betrifft. Meine persönliche Meinung ist, dass die Dämonen auch wussten, dass Pater Simmons das Artefakt bewachte. Und wann und wo und in welchem Umfang er eingesetzt worden ist, was seine Schwächen sind und so weiter. Anscheinend wurde er in sehr kurzer Zeit getötet. Ein Geweihter sollte, selbst für sehr starke Dämonen, ein größeres Hindernis darstellen.“ Haben Sie Pater Berry bereits über Ihre Vermutung in Kenntnis gesetzt, damit er andere Priester und Mitarbeiter der Kirche warnen kann? „Das habe ich. Indirekt macht er uns große Verwürfe. Er meinte, wenn er das eher gewusst hätte und wir besser arbeiten würden, wäre es vielleicht gar nicht erst zu diesem Zwischenfall gekommen.“ Eine kurze Pause entstand. Und ich hoffe, Sie sind ruhig geblieben bei diesen Anschuldigungen?, fragte der Prälat vorsichtig. „Ja, natürlich. Aber wir sollten das als Anreiz sehen, weitere Priester darüber zu informieren. Ebenso Dämonen, welche für uns arbeiten. Wie Sie wissen, war auch Chino Estevez wenig begeistert, als er davon erfahren hat.“ Ich werde mich mit einigen anderen Ratsmitgliedern darüber beraten, was Vorrang hat. Der Schutz unserer Angestellten oder das Allgemeinwohl der Institution der Kirche. „Bitte beeilen Sie sich damit, ich möchte nicht noch einmal stellvertretend für den Tod eines Kollegen gerade stehen.“ Wie Sie wissen tue ich mein Bestes, Pater Ethos. Für Sie und für alle anderen Mitarbeiter unserer Kirche. Doch in gewissen Entscheidungen sind mir die Hände gebunden. „Ja, das verstehe ich, Euer Hochwürden.“ Gibt es sonst noch etwas, das ich dringend wissen sollte? „Nein, ansonsten ist alles in Ordnung. Pater Artemis und Herr Estevez kümmern sich um unsere Zeugin und ich versuche alles, was an Informationen für uns von Nutzen sein könnte, aus Pater Berry heraus zu bekommen.“ Dann wünsche ich Ihnen allen viel Erfolg dabei. Ich weiß, dass ich meine besten Mitarbeiter geschickt habe und dass, ganz besonders Sie, Pater Ethos, das Richtige tun und der Kirche einen beachtlichen Fortschritt in dieser Angelegenheit erbringen werden. „Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen, Euer Hochwürden.“ Mit diesen Worten legte Ethos den Telefonhörer zurück in die Gabel. Gerade rechtzeitig, denn Pater Berry kam bereits mit zwei Tassen Tee durch die Tür. Ethos bedankte sich und widmete sich wieder der Akte. Zunächst fand er nichts, das ihm besonders vorkam, als er den Lebenslauf von Simmons durchkämmte, wurde er das erste Mal stutzig. „Hier steht, dass Pater Simmons erst seit wenigen Jahren zu Ihnen versetzt wurde. Was hat er davor gemacht?“ „Das weiß ich leider nicht“, seufzte Berry. „Wie Sie wissen, erfahren wir nicht viel über die Vergangenheit der Priester, die wir zugewiesen bekommen, insofern es sich um geweihte handelt.“ Ethos wusste dies nur allzu gut. Die Vergangenheit der Geweihten unterlag der strengsten Geheimhaltung. Dies war auch durchaus sinnvoll, denn es hatte einen Grund, warum es Geweihte waren, die irgendwann einmal in ihrem Leben einem Dämon gegenüber gestanden hatten. Um bei anderen Priestern keine Vorurteile hervorzurufen, die eine Zusammenarbeit erschwerte, wussten nur einige wenige im Vatikan, was es mit der Vergangenheit seiner kostbarsten Mitarbeiter auf sich hatte. Allerdings führte dies nicht automatisch zu dem gewünschten Erfolg. Meistens waren diejenigen unter den Kollegen, die keine Geweihte waren, dennoch misstrauisch ihren Mitstreitern gegenüber. Solange niemand wusste, was sie getan hatten, entstanden die merkwürdigsten Geschichten. Und dabei stellte Ethos immer wieder fest, dass die menschliche Phantasie die Grenzen der Realität und Absurdität gern überschritt. Dennoch hätte es sein können, dass Simmons von sich aus etwas erzählt hätte, aber das würde Ethos vermutlich niemals erfahren, wie es aussah. Schweigens schaute sich Ethos das Foto genauer an. Plötzlich hielt er inne und nahm das Foto so dicht an seine Augen, dass er es fast damit berührte. Verwirrt schaute Berry zu Ethos hinüber, bis dieser das Bild wieder sinken ließ. „Auf dem Foto hier“, begann Ethos und zeigte auf den Kragen von Simmons Gewand. „Was ist der Gegenstand, den Pater Simmons am Revers trägt?“ „Das? Das ist eine Brosche. Die hatte er immer dabei gehabt und getragen. Angeblich stammt sie von seiner verstorbenen Mutter.“ „Das ist ungewöhnlich. Normalerweise tragen Priester so etwas nicht.“ „Was Sie nicht sagen. Wie Sie es an sich selbst sehen, gibt es Ausnahmen“, antwortete Berry gereizt und wand sich Ethos zu. „Es ist doch immer das Gleiche. Wenn Sie etwas Besonderes sind, so wie Simmons, dann dürfen Sie halt Dinge, die andere nicht dürfen. Oder wie Sie, weiße Kleidung tragen. Man erkennt nicht mal Ihren Kollar, da er sich kaum von dem Rest Ihrer Kleidung abhebt.“ Ethos schwieg einen Augenblick, damit Berry sich beruhigen konnte. Objektiv betrachtet konnte Ethos nachvollziehen, weshalb Pater Berry so sauer war. Auf Außenstehende mussten die Privilegien, mit denen die Geweihten nahezu überhäuft wurden, extrem unfair wirken. Andererseits hatten die anderen Priester nicht einmal den Hauch einer Vorstellung dessen, was ein Geweihter in seinem Leben bereits hatte durchmachen müssen. Für Ethos war es nie einfach gewesen, mit seiner Vergangenheit abzuschließen, obwohl er eine Fähigkeit besaß, die für die Kirche von immenser Wichtigkeit war. Diese Tatsache konnte sein Gewissen immerhin etwas beruhigen. Einige seiner Kollegen, wie etwa Artemis, hatten wesentlich weniger Glück gehabt. Von der Seite aus gesehen waren die den Priestern gewährten Gefälligkeiten nur kleine Tropfen auf einem sehr heißen Stein. Sie sollten ihnen ihr Leben ein kleines Bisschen erleichtern. Inzwischen hatte Berry sich wieder beruhigt und schlürfte genüsslich seinen Tee. Um nicht weiterhin Zwiespalt zu streuen, entschloss sich Ethos dazu, die Herkunft der Brosche auf einem anderen Weg zu studieren. Nikolas sollte es veranlassen, dass er sie als Beweisstück zugeschickt bekommen würde. Obwohl die Akte nicht sonderlich dick war, brauchte Ethos lange, um sie durchzusehen. Jedes noch so kleine Detail konnte den alles entscheidenden Hinweis darüber liefern, was hier eigentlich los war. Nach einer Stunde und einem erkalteten Tee später packte Ethos die Dokumente zusammen und verstaute sie. Heute Abend würde er zu keinem Ergebnis mehr kommen. Er bedankte sich bei Pater Berry, wünschte diesem alles Gute für die Zukunft und nahm sich ein Taxi zum Hotel Savoy. Fluchend stürzte sich Chino auf McKenzey und riss diesen von Artemis los. Durch das Mitsprechen des Gebetes hatte er nicht nur an Kraft verloren, auch seine Schnelligkeit und sein Urteilsvermögen hatten sich deutlich verringert. Er hatte noch gesehen, wie der Mann ebenfalls an Kraft zu verlieren schien, während er mit Artemis das Vater Unser rezitierte, den Ernst der Situation jedoch nicht schnell genug erfassen können. Wie ein Blitz hatte sich McKenzey auf Artemis zu bewegt und ihm das Messer in den Leib gestoßen. Sofort waren alle Lebensgeister zurück in Chino gefahren und er hatte sich von dem Bett los gerissen, um zum Angriff über zu gehen. Als er den Mann auf den Boden gerungen hatte und auf dessen Brustkorb kniete, erkannte Chino, dass sich seine Augen ebenfalls rot gefärbt hatten, genau wie seine eigenen. Bei Dämonen, die durch irgendetwas stark erregt wurden, sei es Panik, Wut oder der reine Überlebensinstinkt, verdrängte ein leuchtendes, glutähnliches Rot die Farbe ihres menschlichen Wirtes. Die Transformation ermöglichte es den Dämonen, besser im Dunkeln zu sehen und mehr Bilder als das menschliche Auge pro Sekunde wahrnehmen zu können. Dies erklärte, warum einige von ihnen blitzschnell reagieren konnten. Normalen Menschen kam dies konsequenterweise übernatürlich vor. Auch Chino bemerkte, dass die graue Decke, in welche der Dämon gehüllt gewesen war, verschwunden war. Unter dieser trug McKenzey ein cremefarbenes Oberteil, das vereinzelnd von künstlerischen smaragdgrünen Bestickungen durchzogen wurde. An der Brust wurde es zusammen gebunden, so dass ein tiefer Ausschnitt entstand, der den Blick auf einen Teil der Brust des Dämons freigab. Um die Hüften trug er einen Gürtel, der mit einer Vielzahl an Schwertern und Messern in verschiedenen Größen und Formen bestückt war. Die weit geschnittene und farblich zum Oberteil passende Hose, die er trug, bot die Möglichkeit, weitere Waffen zu verstecken. Während Chino McKenzey am Boden festhielt, befreite sich Artemis aus dem Griff des Mädchens, welches ihn, mit ebenfalls rot leuchtenden Augen, grinsend anstarrte. Mit einem kräftigen Ruck zog sich Artemis das Messer aus der Seite, wodurch die Wunde sofort zu bluten begann. Zum Glück handelte es sich um ein kleineres Messer, dessen Länge vermutlich nicht ausgereicht hatte, um den Lungenflügel zu beschädigen (das hätte Artemis mit Sicherheit bereits gespürt), die Schmerzen durchfuhren ihn trotzdem wie ein rasender Pfeil. Gerade noch rechtzeitig wich er dem Dämon aus, als der von der Matratze aus auf ihn zu sprang. Polternd knallte der Körper des Dämons auf den harten Boden, doch er rappelte sich kurz danach erneut auf, um zu einem weiteren Sprung anzusetzen. Daneben wälzten sich Chino und McKenzey wie zwei sich raufende Kinder auf dem Boden, was der Situation eine groteske Art von Komik verlieh. Unter seinem Hemd hatte Artemis glücklicherweise ein eigenes Messer versteckt gehalten, welches er nun heraus zog, um sich seinem Feind zu stellen. So ein Pech, dass er die Armbrust bei Marylin gelassen hatte. Auf allen Vieren kroch der Dämon um Artemis herum, anscheinend hatte er seinen Angriff per Sprung doch noch einmal überdacht. Die Atmung des Dämons ging schwer und rasselnd, so dass Artemis, trotz der Dunkelheit, keine Probleme hatte, die Position seines Gegners ausfindig zu machen. Ein lautes Fauchen durchriss die kurze Stille. McKenzey hatte es geschafft, Chino am Hinterkopf zu packen. Als er sich aufrichtete, ließ er seinen Arm nach unten schnellen, wodurch Chinos Stirn hart auf eine der unverkleideten Stellen direkt auf den Betonboden aufkam. Die Haut platzte auf und Blut lief ihm die Stirn herunter. Davon ließ sich Chino nicht unterkriegen und ging erneut zum Gegenangriff über, nachdem er sich wieder hatte befreien können. Bevor Artemis Chino zur Hilfe eilen konnte, musste er sich erst einmal des anderen Dämons entledigen. Mehr als starke und gefederte Sprünge schien der Dämon nicht zu bieten zu haben. Hätte es sich um einen starken Dämonen gehandelt, hätte dieser Artemis längst größeren Schaden zugefügt oder es zumindest versucht. Durch gekonntes Ausweichen brachte sich Artemis außerhalb der Reichweite des schwarzhaarigen Dämons, nebenbei griff er unter die rechte Seite seines Hemdes. Dort hatte er einen Messergürtel versteckt, was den Angriff auf der linken Seite noch ärgerlicher erschienen ließ. Hätte McKenzey ihn dort verwunden wollen, hätten die Messer eventuell einen größeren Schaden verhindert. Artemis erkannte seine Chance, als der Dämon auf ihn zusprang und er sich vor eine der Wände manövriert hatte. Artemis nutzte den Schwung seines Gegners, packte diesen am Hals und schleuderte ihn mit voller Wucht gegen die Wand. Wütend fing der Dämon an um sich zu schlagen, dabei zerkratzte er Artemis das Handgelenk, mit welchem er den Dämonen gegen die Wand drückte. Unter dem Ärmel seines Hemdes sammelte sich Blut, doch die Wunde brannte mehr, als dass sie lebensgefährlich gewesen wäre. Die Messer hatte Artemis sich zwischen seine Finger geklemmt. Völlig außer sich und mit wütenden Schreien schlug er immer wieder auf den Kopf des Dämons ein, bis dieser sich nicht mehr rührte und leblos in sich zusammen sank. Schwer atmend ließ er den Dämon los und beobachtete, wie dieser auf den Boden glitt, dabei eine Blutspur hinter sich her ziehend. Als er sich umdrehen und nach Chino sehen wollte, stand plötzlich McKenzey vor ihm. „Mag sein, dass du diesen Amateur erledigt hast, aber ich bin da ein etwas anderes Kaliber.“ In seiner Hand hielt McKenzey ein dünnes Schwert, dessen Spitze auf Artemis‘ Herz zielte. In der Ferne nahm Artemis ein gequältes Stöhnen wahr, offensichtlich war auch Chino verletzt. Mittlerweile zollte die Wunde, die ihm an der Seite zugefügt wurde, ihren Tribut. Artemis merkte, wie sich seine Kleidung immer stärker vollsog, dazu wurde ihm leicht schwindelig. McKenzey setzte sich in Bewegung und ging auf Artemis los. Zwar konnte Artemis verhindern, von dem Schwert getroffen zu werden, doch dafür traf ihn sein Gegner mit dem Ellenbogen in das Gesicht, wodurch er die Messer fallen ließ. Artemis‘ Lippe platzte auf, sein Kopf wurde gegen die Wand gedrückt. Durch die Wucht des Aufpralls kurz außer Gefacht gesetzt, rutschte auch Artemis die Wand hinunter und schlug neben der Leiche des Dämons auf. Aus dem Augenwinkel sah Artemis die Spitze des Schwertes auf sich zukommen. Er rollte sich zur Seite, griff mit beiden Händen den Körper des toten Dämons und überschlug sich mit ihm, so dass er nun halb unter ihm lag. Der zweite Schwertschlag ging so in den Körper des Dämons und verfehlte Artemis nur knapp. Sofort sprang der Priester auf, dazu schob er den toten Leib von sich weg, der somit vollkommen von dem Schwert aufgespießt wurde. Lange hielt dies McKenzey nicht auf, er warf das Schwert zur Seite und zog stattdessen einen großen Krummsäbel. Die kurze Atempause, die Artemis dadurch erlangt hatte, nutzte er, um seine Messer wieder aufzunehmen. „Glaubst du wirklich, dass die paar Zahnstocher dir dabei helfen werden, mich zu töten?“, fragte McKenzey spöttisch und wiegte seine Waffe schwer in der Hand. „Die Messer vielleicht nicht“, antwortete Artemis, ebenfalls in einem belustigten Ton. „Aber das hier vielleicht.“ Indem er hinter seinen Kopf griff, lockerte Artemis seine Augenklappe. Die unteren Fäden glitten über sein Gesicht und mit einer nahezu theatralischen Handbewegung riss er das schwarze Stück Stoff zur Seite. Was zum Vorschein kam, zauberte einen irritierten Ausdruck in das Gesicht seines Gegners. Vorsichtig vergrößerte McKenzey den Abstand zu Artemis, indem er langsam zurück wich. „Was… was ist das…“ „Das, mein Freund, solltest du dir sehr gut einprägen. Es wird der Grund für deinen grausamen und qualvollen Tod sein.“ Einige Haarsträhnen hatten sich aus Artemis‘ Zopf gelöst und hingen diesem lose in das Gesicht. Dennoch konnten sie das pulsierende Glühen seines rechten Auges, das McKenzey mit tödlicher Präzession erfasst hatte, nicht verdecken. Es leuchtete in einem tiefen Rot, wie bei den anwesenden und noch lebenden Dämonen. Plötzlich verunsichert starrte McKenzey in Artemis‘ Auge, als würde es ihn in eine tiefe Hypnose ziehen. Die Überlegenheit, die er bis vor wenigen Sekunden noch verspürt hatte, wich in einem einzigen Atemzug aus ihm heraus. Die Chancen, als Sieger aus diesem Kampf hervorzugehen, hatten sich soeben drastisch geändert. Kapitel 11: Kapitel 11 ---------------------- Kapitel 11 „Das ist also dein dämonisches Auge. Äußerst beeindruckend. Obwohl ich bereits viel davon gehört habe, ist es in natura noch wesentlich faszinierender.“ Noch immer stand McKenzey Artemis gegenüber, ohne auch nur einen Angriff anzudeuten. „Trotzdem, es wird dich nicht retten.“ „Da wäre ich mir an deiner Stelle nicht so sicher. An diesem Auge ist schon so mancher Dämon verzweifelt.“ Ein freudloses Lachen begleitete McKenzeys lässiges Schulterzucken. Er rollte seinen Nacken noch zweimal von links nach rechts, dann hob er sein Säbel an. Zusätzlich zu der mächtig wirkenden Klinge zog er ein kürzeres Schwert aus seinem Gürtel. Artemis hingegen musste sich weiterhin mit seinen vier kleinen Messern begnügen. „Mein Ritual dürfte dich geschwächt haben. Von daher male ich mir meine Chancen keinesfalls gering aus.“ „Rede dir nur ein, dass du gegen einen echten Dämonen etwas mit deinen Fähigkeiten ausrichten könntest. Ich werde dich in deine Einzelteile zerlegt haben, noch bevor du dein Auge das erste Mal einsetzen kannst.“ „Wenn das tatsächlich dein Plan sein sollte, solltest du vielleicht mal angreifen. Ansonsten stehen wir noch übermorgen hier.“ McKenzey ging ein wenig in die Hocke, das Säbel hielt er schräg über seinem Kopf, das kleine Schwert hingegen vor dem Oberkörper. Die beiden Klingen stellten eine Art Schutzschild dar, durch das Artemis die Mimik seines Gegners verborgen blieb. Indem er einen großen Satz nach vorn machte, griff der Dämon an. Dabei ließ er beide Schwertspitzen nach vorne schnellen. Auch wenn sein Angriff beeindruckend schnell vonstattenging, wich Artemis ihm mühelos aus. Noch in der Luft wirbelte McKenzey herum und schlug ein weiteres Mal zu, diesmal von oben herab. Schnell wechselte Artemis seine Messer, so dass er in jeder Hand zwei von ihnen hielt. Mit der einen Hand wehrte er den Säbel ab, indem er seinen Arm hob, das kürzere Schwert konnte er durch eine Stoßbewegung von sich fern halten. Als McKenzey wieder Boden unter den Füßen spürte, stieß er sich sogleich ab und lief auf Artemis zu. Doch egal wie sehr er sich darum bemühte, den Priester zu verletzen, dieser wich so geschickt aus, dass es keinen Sinn ergab, seine gesamte Kondition an ihn zu verschwenden. Bald zog sich McKenzey zurück und wartete zur Abwechslung auf einen Angriff seitens des Geistlichen. Einige Meter entfernt hatte Chino sich inzwischen wieder etwas erholen können. Einige Stellen in seinem Gesicht wiesen deutliche Schwellungen auf, seine Schulter fühlte sich geprellt an. Aufgrund seiner ärztlichen Erfahrungen wusste Chino, dass es nichts Ernstes war, aber Schmerzen waren Schmerzen und hemmten den Organismus. Artemis hingegen schien seine Wunden nicht einmal annähernd zu spüren. Seitdem er sein Auge freigelegt hatte, fühlte er sich nicht nur stabil, trotz des hohen Blutverlustes, sondern auch kräftiger, schneller und seinem dämonischen Gegner in vielen weiteren Belangen deutlich überlegen. McKenzeys Erwartungen wurden erfüllt, denn Artemis war derjenige, der den nächsten Angriff ausführte. Er holte mit seinen Messern aus und stach zu, doch auch McKenzey besaß schnelle Reflexe. Der Dämon wich mit tanzenden Bewegungen aus und positionierte sich neu. Ein Bein stand fest auf dem Boden, das andere hob er angewinkelt in die Luft. Seinen Säbel führte er über den Kopf, die kurze Klinge über dem angewinkelten Knie. Artemis blieb stehen und zog eine Augenbraue nach oben. „Was machst du da? Ich dachte wir wollen kämpfen und uns nicht in Choreographie messen.“ „Verbinde Körper und Geist und dir eröffnen sich neue Möglichkeiten.“ „Spar dir diesen philosophischen Quatsch für den Spruch auf deinem Grabstein auf“, rief Artemis und stürmte erneut auf den Dämonen zu. Dieser passte den Moment genauestens ab. Ein Schritt zu viel und er würde diesen arroganten Priester durch sein verräterisches Auge aufspießen und ihn endlich zum Schweigen bringen. Sobald Artemis nur noch eine Armlänge von ihm entfernt war, ließ McKenzey seine tödlichen Klingen nach vorne schnellen. Er stieß bereits ein heiseres Lachen zum Triumph aus, als er bemerkte, dass etwas nicht stimmte. Das Lachen blieb ihm je im Halse stecken, denn so sehr er sich auch bemühte, zuzustechen, es passierte einfach nichts. Die Spitzen seiner Schwerter waren nur noch einen Millimeter von Artemis‘ Auge entfernt. Dort standen sie in der Luft, als würden sie durch einen fremden Zauber in der Luft gehalten. McKenzey konnte so stark drücken, wie er wollte, der letzte Abstand ließ sich einfach nicht überbrücken. „Wie… ist das möglich…“ Die Antwort sollte Artemis seinem Gegner für immer schuldig bleiben. Grinsend blieb er stehen und beobachtete, wie sich die Wut in McKenzeys Gesicht sammelte und er vor Wut rot anlief. „Ich kann mich nicht bewegen!“ „Jetzt, Chino!“ Da McKenzey außer Stande war, seinen Kopf zu drehen, konnte er nicht sehen, was hinter ihm passierte. Chino näherte sich mit einem der beiden Kerzenständer und zog diesen dem Dämon über den Schädel. Einen Schmerzensschrei ausstoßend, knickte der Kopf von McKenzey ein und hing schlaff zwischen seinen Schultern. Die Schwerter lösten sich aus seinen Händen und fielen lautstark zu Boden. In diesem Moment wand Artemis seinen Blick von ihm ab, wodurch der Rest des kraftlosen Körpers neben die Schwerter sank. „Ich danke dir. Was für ein Glück, dass du mich begleitet hast“, seufzte Artemis und klopfte Chino dankend auf die Schulter. „Kein Problem. Ich wusste, dass es eine schlechte Idee sein würde, dich alleine gehen zu lassen.“ Artemis bückte sich und hob den schweren Kerzenständer auf, um ihn sich genauer anzusehen. Dazu begab er sich in Richtung Ausgang. „Warum hast du den Kerl eigentlich nicht aufgespießt? Da du die Kerze eh entfernt hast, wäre das das Naheliegenste gewesen.“ „Ist das nicht egal, immerhin ist er außer Gefecht gesetzt.“ „Stimmt auch wieder.“ „Außerdem verabscheue ich Gewalt.“ Gerade, als Artemis den Vorhang zur Seite schieben wollte, hörte er ein Geräusch hinter sich. Sofort holte er mit dem Eisenständer aus und riss ihn mit all seiner Kraft nach hinten und verharrte in dieser Stellung. Langsam rutschte ein gequält stöhnender Körper die Stange herunter. „Ich habe es dir gesagt. Du hättest dich nicht mit mir anlegen sollen“, hauchte Artemis McKenzey schwer atmend ins Ohr. Trotz seiner raschen Reaktion hatte der Dämon es geschafft, ein Schwert mit einer nadelartigen Spitze in sein Bein zu bohren. Blut sammelte sich im Mundwinkel des blonden Mannes und lief ihm in immer dicker werdenden Rinnsalen das Kinn herunter. Mehr als ein klagendes Wimmern bekam er nicht mehr aus sich heraus. Ruckartig ließ Artemis den Kerzenständer los, um sich von dem zusätzlichen Gewicht zu befreien. Das Schwert entfernte er aus seinem Oberschenkel, was einen weiteren Fluss aus Blut nach sich zog. „Wir müssen dich sofort von hier weg bringen. Am besten in das Hotel, da werde ich dich versorgen, so gut es geht. Die Wunde an deiner Seite sieht besonders schlimm aus“, stellte Chino fest. „Mach dir um mich keine Sorgen, ich werde das schon überstehen“, sagte Artemis lächelnd, allerdings noch immer unter schwer gehendem Atem. Für einen kurzen Augenblick standen sich Chino und Artemis gegenüber. Je länger Chino den Priester ansah, desto mehr regte sich in ihm. Eine ihm unbekannte Wut stieg aus seinem Magen empor, die sich in ein nahezu animalisches Gefühl steigerte. Er konnte seinen Blick einfach nicht von diesem roten Auge, das ihn geradezu zu verspotten schien, abwenden. Als habe Artemis dies gespürt, suchte er auf dem Boden nach seiner Augenklappe. Doch die Augenklappe war nicht das einzige, das er fand. Beim Abtasten des Bodens spürte Artemis ein kleines rundes Objekt, welches sich wie Metall anfühlte. Er hob es auf und steckte es in seine Hosentasche, später würde er noch genügend Gelegenheiten haben, das Objekt zu untersuchen. Wenn er keinen Streit mit Chino provozieren wollte, war es erst einmal wichtiger, sein Auge zu verdecken. Hastig setzte er sich die Klappe auf das besagte Auge und band die Fäden am Hinterkopf zusammen. Während er tief durchatmete, nahm Artemis seine Tasche an sich und kramte ein Streichholz heraus. Dazu riss er einige Seiten aus seiner Bibel, zündete diese an und warf die brennenden Blätter auf das Bett. Zusammen mit Chino zog er die leblosen Körper der beiden Dämonen an das Bett heran. Einen warfen sie auf die Matratze, den anderen, von dem Kerzenständer durchlöcherten Leib positionierten sie unterhalb des Bettes in der Hoffnung, dass beide in den Flammen zerstört werden würden. „Dass ihr die Blätter eurer Heiligen Schrift verbrennt, will mir immer noch nicht ganz aufgehen“, murmelte Chino vor sich hin. „An sich ist die Geste auch nicht besonders erstrebenswert, aber nur durch das geweihte Feuer ist dafür gesorgt, dass die Dämonen auch wirklich sterben“, antwortete Artemis knapp. Plötzlich, auf dem Weg nach draußen, knickte der Geistliche ein. Eine Hand hielt er auf die Wunde an der linken Seite gepresst, die andere ruhte auf seinem Bein. Schlagartig war Chino neben ihm und stütze den Priester, damit dieser sich aufrichten konnte. „Wir müssen sofort von hier verschwinden.“ „Ich weiß…“ Mit all seiner Kraft setzte sich Artemis in Bewegung und versuchte, so viel wie möglich von seinem eigenen Gewicht zu tragen. Ein Unterfangen, das ihm immer häufiger misslang. Seine Rippen brannten höllisch, sobald er einatmete, ebenso sein Bein, wenn er auftrat. Unter einigen Fluchen und Schmerzenslauten verließen Chino und Artemis die Wohnung. Kaum waren sie draußen, erwartete sie bereits der Schwarm wilder Katzen. Zuerst schauten sie die beiden aus einer sitzenden Position aus an, dann stürmten sie an ihnen vorbei, direkt in das brennende Haus hinein. Die Tiere huschten zwischen ihren Beinen hindurch, so dass Chino Mühe hatte, Artemis aufrecht halten zu können. „Selbstmordkatzen. So etwas ist mir auch noch nie untergekommen“, lachte Artemis, dann verlor er das Bewusstsein. Müde und gelangweilt schaute Ethos aus dem Fenster des Taxis. Das einzig Spannende, das er in dieser ruhigen und ereignislosen Nacht zu Gesicht bekommen hatte, war ein Brand gewesen, an dem der Fahrer des Taxis vorbei gekommen war. Die Feuerwehr war bereits vor Ort und mit dem Löschen des Brandes fast fertig. Wenig später erreichte er auch schon das Hotel, in dem er sich und seine Mitarbeiter hatte einquartieren lassen. Seinen Koffer hinter sich her wuchtend, schritt Ethos an die Rezeption heran. Die Frau dahinter wirkte beschäftigt und telefonierte. Als sie sah, dass ein Gast eingetroffen war, winkte sie eine Kollegin heran, welche Ethos mit einem sichtbar aufgesetzten Lächeln ihre perfekten weißen Zähne zeigte. „Herzlich Willkommen im Hotel Savoy. Was kann ich für Sie tun?“ „Mein Name ist Ethos Turino. Einer meiner Kollegen, entweder Mr. Estevez oder Mr. Dal Monte hat bereits ein Zimmer gebucht. Ich würde gerne wissen, welche Nummer sie bezogen haben. Bestimmt hat man Ihnen gesagt, dass ich im Laufe des Abends noch in eines der Zimmer als zusätzlicher Gast einchecken würde.“ „Bitte, warten Sie doch einen kurzen Moment.“ „Gibt es Probleme?“ Die Rezeptionistin ließ Ethos einfach stehen und ging zu ihrer Kollegin. Etwas zu schnell und zu auffällig zeigte sie auf Ethos und fing an zu diskutieren. Die zweite Empfangsdame schaute an ihrer Kollegin vorbei und riss erschrocken die Augen auf. Es dauerte noch eine Weile, bis eine von ihnen endlich dazu bereit war, Ethos zu bedienen. „Hier ist der Schlüssel. Sie sind im Zimmer 305 untergebracht. Wir wünschen einen schönen Aufenthalt.“ Für ein so berühmtes und vornehmes Hotel kam Ethos der Service überaus schlecht vor. Während er zu dem Fahrstuhl ging, kam ihm die Idee für ein Bewertungsprofil für Hotels, in dem jeder für andere sichtbar seine Meinung über verschiedene Hotels abgeben und andere potentielle Gäste so vor einem Besuch warnen könne, doch er war sich sicher, dass die Technik niemals auf den Stand kommen würde, so etwas verrücktes zu bewerkstelligen. Wie sollte man schon so viele Gäste gleichzeitig und in einer so kurzen Zeit erreichen, dass das Konzept wirklich aufgehen würde. Den Gedanken abschüttelnd trat Ethos aus dem Fahrstuhl heraus und schloss die Tür zu dem Zimmer 305 auf. Was er sah, als er die Tür öffnete, ließ ihn in eine Schockstarre verfallen. Auf einem der beiden Betten lag Artemis, Chino kniete neben ihm und zerschnitt einige der blutverschmierten Bettlaken. „Was zum Teufel ist hier los?!“, fragte Ethos und schloss schnell die Tür hinter sich. Auch auf dem Teppich war eine Blutspur zu erkennen, draußen auf dem Flur war Ethos zum Glück nichts dergleichen aufgefallen. „Das erkläre ich dir später. Erstmal könntest du herkommen und mir dabei helfen, Artemis wieder zusammen zu flicken und die Blutungen zu stoppen.“ Sofort eilte Ethos zu Chino und fragte, was er machen solle. Der Arzt drückte ihm nur einige Laken in die Hände und wies ihn an, diese auf die Wunden zu drücken, welche er noch nicht verarztet hatte. Vorsichtig presste Ethos das Laken auf Artemis‘ Bein. Danach widmete sich Chino wieder der Wunde an der linken Flanke. Er hatte eine Flasche Alkohol auf dem Nachtschrank stehen, daneben lagen Nadel und Faden, sowie eine Schere, Kompressen und einige Verbände. Mehr stad ihm nicht zur Verfügung, doch wie Ethos feststellte, reichte das an Material für Chino. Nachdem Chino die Wunde an der Seite verarztet hatte, widmete er sich dem Bein des Priesters. Ungefähr eine halbe Stunde später hatte er auch dieses soweit versorgt, dass die Blutungen gestillt und unter Kontrolle waren. Chino zog die Gummihandschuhe, die er sich vor den Eingriffen übergezogen hatte, aus und setzte sich auf das zweite Bett, das einige Meter neben dem von Artemis stand. Er fuhr sich kurz durch die Haare, dann seufzte er tief. Ethos setzte sich neben den Dämonen, dessen Augen noch immer rot glühten. „Also, was ist passiert?“ „Wir waren mit Marylin unterwegs gewesen und haben in einem Pub was getrunken. Kurz darauf wurde Artemis von einem Typen angesprochen, der meinte, seine Tochter sei von einem Dämon besessen. Deshalb haben wir Marylin hier im Hotel gelassen, Artemis und ich sind zu dem Mann gegangen und in eine Falle getappt. Zwei Dämonen haben uns dort angegriffen, beide sind tot. Das wäre jetzt die kurze Version.“ „Ich denke, dass mir die auch erst einmal reicht. Danke, dass du Artemis geholfen hast. Ohne dich wäre er bestimmt schon lange verblutet, so wie es hier aussieht.“ „Er hat echtes Glück gehabt.“ „Das hat er irgendwie immer.“ „Die Wunden haben stark geblutet, aber keine von ihnen wäre direkt tödlich gewesen. In ein Krankenhaus oder zum nächsten Notruf hätte er es noch geschafft. Es sieht wesentlich schlimmer aus, als es ist.“ Trotzdem klopfte Ethos Chino anerkennend auf die Schulter. Auch er stieß schwer die Luft aus, als er Artemis beobachtete, wie dieser leise atmend auf dem Bett lag und schlief. „Deine Augen…“ „Ich weiß, sie sind immer noch transformiert. In der letzten Zeit habe ich kaum Nahrung zu mir genommen. Die paar Kratzer und Prellungen, die ich ab bekommen habe, sind zwar inzwischen wieder verheilt, aber mein Körper befindet sich dennoch gerade an der Grenze. Wahrscheinlich werde ich noch einmal raus gehen und etwas Blut trinken.“ Chino sagte dies, als wäre es das normalste auf der Welt. „Ansonsten könnte es sein, dass mich bereits der erste Sonnenstrahl umbringen wird.“ „Du solltest dich beeilen, es wird bald dämmern.“ „Ich weiß. Jetzt, wo du da bist, kann ich mich beruhigt entfernen. Sollte Artemis aufwachen, wird er die hier nehmen wollen.“ Chino zeigte auf eine kleine Dose mit Pillen. „Das sind starke Schmerzmittel. Er wird morgen ohne sie nicht in der Lage sein, ein Flugzeug zu betreten. Und sorge dafür, dass er nicht zu schnell aufsteht. Er sollte so lange liegen, wie es möglich ist. Auf dem Nachtschrank liegt ein Schlüssel. Der gehört zu dem Zimmer, in welchem Marylin liegt. Ich wollte nicht das Risiko eingehen, dass sie sich einfach entfernt, während wir weg sind. Deine Armbrust befindet sich ebenfalls dort. Ich weiß, es ist nicht die beste Entscheidung gewesen, Marylin alleine zu lassen. Aber das war der bestmögliche Kompromiss.“ Chino redete so schnell, dass seine Stimme sich zu überschlagen drohte. „Kein Problem, ich passe schon auf Artemis und Marylin auf. Geh du lieber und stärke dich, bevor wir ohne dich nach Rom fliegen müssen. Das wäre mir unmöglich.“ Lächelnd stand Chino auf, zog sich saubere Sachen an und begab sich nach draußen. Ethos blieb mit Artemis zurück. Einige Minuten lang saß Ethos einfach nur da und ließ sich von der Stille, die ihn umgab, dahintreiben. Vorsichtig hob er seine Hände und bemerkte das erste Mal, dass seine weißen Handschuhe voller Blut waren. Das Blut von Artemis. Er wusste nicht, warum er das tat, aber Ethos rieb seine Fingerspitzen aneinander, als würde dies dazu beitragen, die rote Flüssigkeit wieder loszuwerden. Das leichte Aneinander reiben seiner Fingerspitzen ging bald in einen aggressiven Versuch über, das Blut durch intensives Scheuern der Handflächen zu entfernen. Ethos‘ wütendes Gebärden bildete einen starken Kontrast zu dem ruhig daliegenden Artemis, welcher sich nicht einmal im Schlaf einen Zentimeter bewegte. Getrieben durch den Wunsch, das Blut an seinen Händen nicht mehr sehen zu müssen, intensivierte Ethos seine Bewegungen, nur um verzweifelt feststellen zu müssen, dass seine Bemühungen ohne Erfolg blieben. Zorn durchfuhr ihn wie ein wildes Tier, weshalb er aufsprang und sich in das Bad begab, welches an das Zimmer der beiden Priester grenzte. Dort angekommen zog er seine Handschuhe aus, beugte sich über das Waschbecken und hob, nach einigen Atemzügen, den Kopf wieder an. Im Spiegel sah er, dass sich auch in seinem Gesicht etwas Blut befand, anscheinend hatte er sich mit den Handschuhen dort angefasst. So schnell er konnte drehte er den Wasserhahn auf und schöpfte sich die klare und kalte Flüssigkeit in sein Gesicht. Er nahm sich ein Handtuch, um sich abzutrocknen. Etwas von dem Blut war in das Handtuch übergegangen, doch als Ethos ein weiteres Mal sein Spiegelbild betrachtete, erschien es ihm, als klebten noch immer vereinzelt einige Tropfen von Artemis‘ Blut auf seiner Haut. Ethos wiederholte die gesamte Prozedur, doch sobald er sein Spiegelbild erblickte, war er fest der Meinung, das Blut seines Kollegen an sich kleben zu sehen. Es kam selten vor, dass Ethos sich auf irgendeine Art von den Emotionen, die ihn durchfluteten, überkommen ließ. Einer dieser seltenen Momente sollte ihn an diesem Abend einholen. Mit einem verzweifelten Schrei riss sich Ethos sein weißes Hemd vom Leib und betrachtete den entblößten Oberkörper genauso intensiv vor dem Spiegel, wie einige Minuten zuvor noch sein Gesicht. Genau wie dieses meinte er, seinen Oberkörper mit Blut bedeckt zu sehen. Schweiß bildete sich auf seiner Stirn und Ethos‘ Puls stieg rapide an. Schwer prustend betrachtete sich der blonde Priester von oben bis unten. Überall war Blut. Nicht nur leichte Spuren, sondern tief roter, fließender Saft, der sich seinen Weg über seine Haut bahnte. „Nein… nein… Nein!“ Die Kontrolle über sich verlierend, schlug Ethos zu. Seine Faust prallte auf das Glas des Spiegels, dessen Oberfläche sofort in hundert Teile zersprang. Splitter fielen auf den Boden, einige bohrten sich in Ethos‘ Faust. Den Schmerz ertrug er schweigend, alles war besser als der Anblick von Artemis‘ Blut auf seinem Körper. Angsterfüllt drehte Ethos sich um. Unweit von ihm entfernt entdeckte er eine Dusche. So schnell er konnte drehte er den Hahn der Dusche auf, dann befreite er sich von dem Rest seiner Klamotten. Obwohl das Wasser noch immer kalt war, sprang Ethos in die Duschwanne hinein und beobachtete, wie sich das Blut von seinem Leib in dünnen Fäden löste und sich mit dem Wasser vermischte. Langsam löste sich die Anspannung in Ethos und seine Muskeln lockerten sich. Erleichtert sank er gegen die Fliesen und legte den Kopf in den Nacken. Inzwischen hatte das Wasser eine angenehme Temperatur erreicht und spendete zusätzliche Wärme. Ethos verharrte für lange Zeit in dieser Stellung, dann drehte er das Wasser wieder aus. Als er auf die Bodenfliesen der Dusche schaute, erstrahlten diese in reinstem Weiß, auch das Handtuch, mit dem er sich abtrocknete, wies keinen anderen als den neutralen beigen Farbton auf, der hervorragend zu den Tapeten des Hotelzimmers passte. Um seinen Wutausbruch zumindest ansatzweise zu verschleiern, fegte Ethos die Scherben, die sich auf dem Boden befanden, auf. Ebenso entfernte er die kleinen Splitter, die auf dem Rand des Waschbeckens zurück geblieben waren. Die Anziehsachen hingegen ließ Ethos liegen. Er hatte genügend Klamotten mit, da würde er den Verlust eines Anzugs verkraften können. Sorgfältig schloss er die Badezimmertür hinter sich, warum er diese dazu abschloss und den Schlüssel genau auf die entgegen gesetzte Fensterbank legte, wusste er nicht. Nur, dass es ihn beruhigte. Kaum hatte Ethos sich einige bequemere Gewänder angezogen, um sich schlafen zu legen, blieb sein Blick an Artemis hängen. Es erschien ihm unwürdig, seinen geschätzten Kollegen so liegen zu lassen. Im Schrank suchte Ethos die letzte verbliebene saubere Bettgarnitur heraus und überzog jeden Bestandteil des Bettes, an welchen er gelangte, ohne Artemis großartig bewegen zu müssen, mit den frischen Utensilien. Zufrieden mit sich selbst legte sich auch Ethos endlich schlafen. Chino kam sich überaus schäbig vor, einen wehrlosen Obdachlosen als Opfer auserkoren zu haben. Der Zweck heiligte zwar die Mittel, ein besseres Gefühl löste dies allerdings nicht in ihm aus. Er hatte sein Opfer im Schlaf überwältigt und sich von seinem Blut genährt, den toten Körper anschließend entsorgt, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Normalerweise sah Chino davon ab, einen Menschen so stark auszusaugen, dass dieser starb, doch an diesem Abend ließ ihm sein Instinkt keine Wahl. So sehr er sich auch für das Gute einzusetzen versuchte, er blieb ein Dämon. Und als Dämon war er in manchen Situationen einfach nicht in der Lage, sich unter Kontrolle zu halten. Nun streifte Chino durch den Hyde Park, seine Augen besaßen wieder ihre menschliche Farbe und sein Körper fühlte sich kräftig und lebendig an. Plötzlich vernahm Chino ein Geräusch. Erschrocken fuhr er herum und sah, dass, mitten auf dem Weg, ein Mann mit verschränkten Armen stand und ihn ausgehend musterte. „Hallo, Chino.“ „Du“, knurrte Chino und kämpfte seine aufkeimende Wut herunter, damit seine Augen nicht ihre Farbe wechselten. „Woher kennst du meinen Namen? Und wie bist du mir gefolgt?“ „Hast du gedacht, ich würde all die Jahre nur Däumchen drehen und faul herumsitzen? Zugegeben, es hat lange gedauert, bis ich wusste, wie du heißt. Aber die Mühe war es wert.“ Der Mann mit den schwarzen Haaren und dem dunklen Mantel trat einige Schritte vor und grinste Chino provokativ an. „Ich weiß, wo du Maria gefangen hältst.“ Chino schien mit einem Mal aller Aufmerksamkeit beraubt. Die anfängliche Wut war wie verflogen, stattdessen stand ihm die pure Überraschung in das Gesicht geschrieben. Es wirkte fast, als habe er einen Geist gesehen. „Was ist los? Überrascht? Hast du wirklich damit gerechnet, dass ich dich in Ruhe lassen würde nach unserem letzten Aufeinandertreffen?“ „Ich kenne nicht einmal deinen Namen“, log Chino. Inzwischen kannte er den Namen des Dämons sehr gut, aber er wollte ihn aus seinem eigenen Mund hören. „Wie unhöflich. Anscheinend hast du dir nicht einmal die Mühe gemacht, herauszufinden, wer ich bin. Dabei habe ich so viel Arbeit darin investiert, dich kennen zu lernen, bevor ich mich mit dir treffe.“ „Hör auf, mich mit unnötigen Details zu langweilen. Warum sollte ich ausgerechnet einem Brandstifter so viel Ehre erweisen?“ „Na schön“, seufzte der Mann enttäuscht. „Da weder du, noch deine Priester auch nur den Hauch einer Ahnung haben, mit wem sie sich gerade anlegen, werde ich eine Ausnahme machen und über diesen Frevel hinweg sehen. Nathan Blackcage. Sehr erfreut.“ Lächelnd streckte der Dämon Chino seine Hand zum Gruß entgegen. Dieser schlug die angebotene Geste aus und spuckte stattdessen in die Handfläche seines Gegenübers. Angewidert zog Blackcage ein Taschentuch heraus und putzte damit seine Gliedmaßen. „Ich wollte nur freundlich sein.“ „Steck dir deine Freundlichkeit sonst wo hin.“ „Chino, ich bin nicht hier, um mit dir zu diskutieren. Ich bin viel eher als Vermittler unterwegs.“ „Als Vermittler wofür?“ „Die Frage ist viel mehr, für wen.“ „Hör mit deinen Spielchen auf und komm zum Punkt.“ „Für sie.“ Blackcage trat zur Seite und gab den Blick auf eine Frau frei, welche bereits einige Zeit hinter ihm gestanden haben musste. Sie war schlank, groß und trug schwarze Stiefeletten, deren Absätze bei jedem Schritt, den sie tat, wie ein fremdartiger Takt klackerten. Ihre schwarzen Haare fielen ihr locker über die Schulter und in den Ausschnitt ihres roten Kleides, deren oberer Teil wie ein Korsett mit schwarzen Schnüren zusammen gebunden wurde. Von der Taille abwärts wurde es ein klein wenig ausladender und fiel in sanften Wellen bis oberhalb ihrer Knöchel herunter. In einer ihrer Hände, welche von seidenen Spitzenhandschuhen überzogen waren, hielt sie einen Fächer, mit dem sie Luft in ihr blasses Gesicht wedelte. Die andere Hand stemmte sie selbstbewusst in die Hüfte. Braune Augen starrten Chino feindselig an, ihr rot geschminkter Mund verzog sich zu einem missbilligenden Ausdruck. Um den Hals trug sie eine perlenbesetzte Kette, passend zu ihren Ohrringen. „Schön, du hast einen weiteren Dämon mitgebracht“, stellte Chino schulterzuckend fest. „Na und?“ „Nicht irgendeinen Dämon, mein lieber Chino. Darf ich dir meine Begleiterin vorstellen? Hildegard Krüger, Marias Schwester.“ Kapitel 12: Kapitel 12 ---------------------- Kapitel 12 Es waren die ersten Sonnenstrahlen, die durch das Fenster fielen und Ethos weckten. Den Plan, das erste Flugzeug, das Richtung Italien die Startbahn verlassen würde, erwischen zu wollen, hatte er kurzerhand über Bord geworfen, als er Artemis‘ Zustand gesehen hatte. Langsam wand Ethos seinen Kopf in die Richtung des anderen Bettes. Artemis saß inzwischen aufgerichtet mit dem Rücken an das Bettgestell gelehnt und nahm gerade einige der Tabletten, die Chino ihm gegeben hatte, zusammen mit einem Tee ein. „Das die hier echt nur diesen scheiß Tee haben“, grummelte Artemis, nachdem er sich die Zunge verbrannt hatte. „Verdammte Briten.“ „Sei froh, dass sie dir überhaupt etwas gebracht haben. Als ich heute Nacht an der Rezeption eintraf, waren die Empfangsdamen leicht eingeschüchtert.“ „Um ehrlich zu sein habe ich diesmal überhaupt keine Ahnung, was passiert ist. Ich bin in diesem Hotelzimmer aufgewacht und das erste, das ich geordert habe, war etwas zu trinken, damit ich die Medikamente herunter bekomme. Was geschehen ist nachdem wir das Haus, das dem Dämon als Falle gedient hatte, verlassen haben, weiß ich nicht.“ Ethos nickte nur wissend und suchte sich neue Anziehsachen heraus, damit er sich fertig machen konnte. Zögernd betrat er das Badezimmer. Zu seiner Überraschung war keine einzige Spur Blut zu sehen, den Mülleimer, in den er seine verdreckten Sachen geschmissen hatte, öffnete er nicht. Kaum war Ethos wieder zurück im Hotelzimmer, musste er auch schon Artemis davon abhalten, aufzustehen. Der verletzte Priester stützte sich auf den hinteren Teil des Bettgestells und wollte sich mit einer ruckartigen Bewegung erheben, doch Ethos kam ihm zuvor. Vorsichtig fasste er Artemis an den Schultern und drückte diesen zurück auf das Bett. „Du solltest dich noch etwas ausruhen.“ „Mir geht es gut, wirklich.“ „Mag sein, dass du dir das einredest, aber Chino hat mir von eurem Ausflug berichtet. Und ich habe gesehen, wie stark du geblutet hast. Es kommt nicht in Frage, dass du jetzt schon wieder aufstehst.“ „Aber müssen wir nicht unseren Flug bekommen?“ „Das hat Zeit. Chino ist noch nicht zurückgekehrt und ich werde erst einmal nach Marylin sehen müssen. Wir werden heute ein Flugzeug nehmen, aber es muss nicht das erste sein.“ Seufzend legte sich Artemis zurück in das Bett und verzog das Gesicht vor Schmerz. Glücklicherweise hatte Ethos ihm gerade den Rücken zugewandt, um Marylin aus ihrem Zimmer zu befreien und somit sein schmerzverzerrtes Gesicht übersah. Ethos klopfte an Marylins Tür, vernahm jedoch kein Geräusch aus dem Zimmer. Trotzdem schloss er die Tür auf. Die junge Frau lag schlafend in ihrem Bett und wurde erst wach, als Ethos die Tür wieder schließen wollte. „Was… was ist passiert…?“, fragte Marylin und rieb sich verschlafen die Augen. Daraufhin trat Ethos wieder einen Schritt hinein. Der obere Teil von Marylins Bettwäsche rutschte hinunter und gewährte einen Blick auf ihre helle makellose Haut, sie trug lediglich ein Top. Schnell wand Ethos seinen Blick ab und richtete ihn auf den Boden. „Am besten ziehen Sie sich an und kommen dann in das Zimmer 305. Dort sind Pater Dal Monte und ich untergebracht, wir erklären Ihnen, was gestern passiert ist.“ Das hoffte Ethos zumindest, denn im Grunde genommen hatte auch er keine Ahnung von dem, was tatsächlich geschehen war. Ein oder zwei Dinge hatte er von Chino erfahren, doch Artemis würde den Großteil der Erklärungen übernehmen müssen. Wenig später stand Marylin bei den beiden Priestern im Zimmer, diesmal mit einem dünnen Pullover und einer Jeans bekleidet. Sichtlich erschrocken blieb sie im Türrahmen stehen und starrte Artemis mit offenem Mund an. Dieser winkte sie herein und bat sie, die Tür hinter sich zu schließen. „Was ist mit dir passiert?“ „Ein kleiner Unfall, könnte man sagen. Nichts Schlimmes, es sieht schrecklicher aus, als es eigentlich ist.“ Anhand der skeptisch nach oben gezogenen Augenbraue konnten Ethos und Artemis erkennen, dass Marylin kein Wort von dem glaubte, was der Priester von sich gab. Trotzdem beließ sie es bei diesem hilflosen Versuch einer Erklärung. „Wo ist Chino?“ „Mr. Estevez wollte sich noch einmal die Beine vertreten“, log Ethos und lächelte Marylin mit einer Zuversicht an, welche er nicht besaß. „Ich denke wir werden die gestrigen Ereignisse auch ohne seine Hilfe rekonstruiert bekommen. Oder?“ Diese Frage richtete sich an Artemis, der schuldbewusst den Kopf senkte. „Hat dein Zustand etwas mit dem Mann und dem Exorzismus zu tun?“, fragte Marylin und setzte sich an das Fußende von Artemis‘ Bett. „Könnte man so sagen. Wir haben dich gestern ins Bett gebracht. Chino hat vermutet, dass du Medikamente in der Psychiatrie bekommen hast, von denen er nichts wusste.“ „Um ehrlich zu sein kann ich euch das auch nicht sagen“, gestand Marylin, legte ihre Hände ineinander und rieb diese verlegen. „Ich erinnere mich nicht an alles, das sie dort mit mir gemacht haben. An viele Dinge möchte ich mich auch gar nicht erinnern, aber in diesem Fall kann ich es einfach nicht. Die vielen Medikamente, die mir verabreicht wurden, haben mich unaufmerksam gemacht, emotional völlig überfordert und letztendlich meine Fähigkeit zur rationalen Entscheidungsfindung gehemmt. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal Medikamente bekommen hatte, bevor ihr mich aus der Zelle geholt habt.“ „Ist schon in Ordnung“, sagte Ethos und stand auf, um ein wenig in dem Raum auf und ab zu wandern. „Sie müssen sich nicht vor uns rechtfertigen.“ „Als wir dich hierher gebracht haben, warst du bereits eingeschlafen. Ich glaube ich habe selten eine Frau so einfach in ein Bett zehren können.“ Aufgrund des unangemessenen Kommentars von Artemis musste Marylin kichern. Ethos schenkte seinem Kollegen einen warnenden Blick, weshalb Artemis‘ Miene ihren Ernst wiedererlangte. „Jedenfalls ist gestern Abend nicht viel passiert. Wir haben dich in das Hotel gebracht und sind dann zu der Adresse gegangen, die uns der Mann gegeben hat.“ „Brooklyn McKenzey war sein Name oder?“ „Ja.“ „Er hat sich nach einem Amerikaner angehört. Wir haben öfters amerikanische Touristen in London, die uns Polizisten nach dem Weg fragen. Von daher kenne ich mich mit Akzenten aus.“ „Du bist uns eine große Hilfe, Marylin“, sagte Artemis mit einem anerkennenden Nicken, bevor er mit seiner Erzählung fortfuhr. „Seine Tochter sah wirklich krank aus und auch Chino stimmte der Austreibung zu. Leider handelte es sich um eine Falle, sowohl der Mann, als auch seine Tochter griffen uns plötzlich an. Daher die Verletzungen. Er konnte gut mit Schwertern umgehen. Wahrscheinlich irgend so ein Spinner, der von einem Jahrmarkt entlaufen ist. Seine Kleidung hat mich an die eines Artisten erinnert. Außerdem scheint er einen besonderen Hang zu Tieren zu haben. Zumindest zu Katzen. Die sind in das Haus gestürmt, nachdem wir ein Feuer gelegt hatten, um die Beweise zu vernichten.“ „Und die Tochter?“ „Nicht der Rede wert.“ Ethos wandte sich von Marylin und Artemis ab und schaute nachdenklich aus dem Fenster. Das alles ergab immer weniger Sinn. Die Fallen, die ihnen gestellt wurden, nahmen an Anspruch zu, wirkten aber nach wie vor lapidar. Es sei denn, es handelte sich bei Artemis‘ Begegnung um einen Zufall, doch daran wollte Ethos nicht so recht glauben. „Jetzt mal ganz ehrlich Jungs, was ist hier eigentlich los?“ Sofort drehte Ethos sich wieder um. Marylin war aufgestanden, hatte verärgert die Hände in die Hüften gestemmt und funkelte die beiden Priester abwechselnd mit einem erzürnten Blick an. „Zuerst kommt ihr und holt mich mit einem Wunderarzt aus der Psychiatrie, ohne dass irgendwelche Fragen gestellt werden. Dann mischt ihr euch in Polizeiangelegenheiten ein und untersucht die Tatorte, noch bevor offizielle Ermittlungen der Polizei eingeleitet werden. Abends geht ihr Exorzismen durchführen und einer ist verschwunden, der andere liegt schwer verletzt in einem Bett im Hotel Savoy, das sich hier nicht mal die Staatsmänner so aus dem Stehgreif leisten können. Und ihr brennt Häuser nieder, nachdem ihr Menschen getötet habt.“ „Der Vatikan…“, wollte Artemis gerade zur Erklärung ansetzen, wurde von Marylin jedoch scharf unterbrochen. „Ich frage es noch einmal… Was. Ist. Hier. Los? Und hört auf, mich verarschen zu wollen!“ Artemis schaute erschrocken zu Ethos hinüber. Dieser zuckte nur hilflos mit den Schultern. Vielleicht war es die bessere Idee, Marylin mit der Wahrheit zu konfrontieren. Entweder sie würde es glauben oder nicht, für geistig verwirrte Spinner hielt sie ihn, Chino und Artemis vermutlich ohnehin bereits. Da sie selbst als psychisch Verrückte eingeliefert worden war, bestand immerhin der Hauch einer Chance, dass sie von Anfang an wusste, womit sie es zu tun hatten. Sie schien zu ahnen, dass etwas an der ganzen Angelegenheit nicht mit dem menschlichen Vorstellungsvermögen in Einklang zu bringen war, warum sich also in Widersprüche verstricken. Wie Artemis es schon angedeutet hatte, könnte Marylin ihnen unter Umständen eine große Hilfe sein. Würden sie sie weiterhin anlügen, liefen sie nur Gefahr, ihr Vertrauen wieder zu verlieren. „Also gut“, seufzte Ethos und bat Marylin, sich zu setzen, wie er es ebenfalls tat. „Das ist eine etwas längere Geschichte. Da wir etwas Zeit haben, bis Chino zurückkommt, werde ich Ihnen die wichtigsten Fakten über unsere Arbeit schildern.“ „Marias… Schwester…?“ Chino konnte nicht anders, er starrte die Frau, Hildegard Krüger, an als habe diese ihn in ihren Bann gezogen. „Maria hat eine Schwester?“ „Allem Anschein nach hat sie die“, sagte Hildegard und kam einen Schritt näher. „Und du hältst sie gefangen.“ „Ich halte sie nicht gefangen“, rechtfertigte sich Chino und nahm sich zusammen. „Wenn sie will, kann sie jederzeit gehen. Nur ist sie in ihrem Zustand kaum in der Lage, eigene Entscheidungen zu treffen.“ „Wie darf ich das verstehen? Hast du ihr etwas angetan?“ „Ich würde Maria niemals etwas antun! Sie war bereits psychisch angeschlagen, als ich sie gefunden habe. Warum fragst du nicht deinen Begleiter? Er war dabei, als ich Maria vor über zehn Jahren aus der brennenden Psychiatrie gerettet und sie unter meine Obhut genommen habe.“ Hildegard wirkte aufgrund der indirekten Frage von Chino so erzürnt, dass ihre Augen sich zu dünnen Schlitzen verengten. Die Hand, mit der sie ihren Fächer hielt, begann schwach zu zittern. Sie unterdrückte ihre Wut so gut es ging, konnte sie aber kaum verbergen. „Wo ist Maria jetzt?“ „In Sicherheit.“ „Das soll ich dir glauben?“ „Ich befürchte, dass dir nichts anderes übrig bleiben wird“, antwortete Chino und überlegte, wie er aus dieser Situation heil heraus kam. „Ich will zu meiner Schwester.“ Die Dämonin wollte sich gerade in Bewegung setzen, als Blackcage sie aufhielt, indem er ihr Handgelenk umfasste. „Denk daran, dass der Boss ihn lebend will.“ „Natürlich!“, fauchte Hildegard und riss sich von Blackcage los. Zu spät, denn in dem kurzen Moment, in denen die beiden sich angeschaut hatten, war Chino verschwunden. „Du Idiot hast es vermasselt! Hättest du mich nicht aufgehalten, wüsste ich vielleicht bereits, wo sich Maria aufhält!“ Für den Bruchteil einer Sekunde wirkte Blackcage vor Empörung wie gelähmt. Dann setzte er das arrogante Grinsen auf, das Hildegard von Beginn an an ihm gehasst hatte. Sie wusste, dass er Esrada nahezu in den Arsch kroch, wofür sie ihn nicht nur verachtete, sondern zugleich den Tod wünschte. Das wäre für sie zwar leicht zu bewerkstelligen gewesen, doch hätte es auch den Plan, ihre Schwester zu finden, für immer zerstören können. Nur aus diesem Grund ließ sie den Abschaum vor ihr am Leben. Während Hildegard sich daran machte, die Umgebung nach Chino abzusuchen, blieb Blackcage teilnahmslos stehen und beobachtete sie von seiner festen Position aus. Er konnte nicht weit weg sein, denn Chino mochte schnell und geschickt gewesen sein, aber nicht jeder Dämon war in der Lage, sich zu teleportieren. „Darf ich dich daran erinnern, dass die Suche nach deiner Schwester nicht unsere Hauptaufgabe ist?“ „Mir ist durchaus bewusst, welche Aufgaben wem zugeteilt wurden. Im Gegensatz zu dir, denn nicht Brooklyn war derjenige, der an diesem Abend die Falle für die beiden Priester hätte stellen sollen. Das warst du und das hast du ebenfalls vermasselt.“ „Weißt du, Hildegard, mit dir zu streiten führt zu nichts. Heute Nacht wäre Brooklyns große Gelegenheit gewesen, zu beweisen, dass er nicht nur wegen dir von Esrada in unserem Team geduldet wird. Wenn hier jemand irgendetwas vermasselt hat, wende dich doch bitte an ihn. Im Anbetracht eurer Beziehung zueinander sollte das ja kein Problem sein.“ „Anstatt große Reden zu schwingen, könntest du mir helfen, nach Chino zu suchen“, sagte Hildegard knapp, während sie sich über einen der dichten Büsche am Wegesrand beugte. „Tu dir keinen Zwang an, wenn du ihn suchen willst. Ich werde garantiert nicht im Dreck herum kriechen, um nach einen niederen Dämon zu suchen. Wir haben ihn aufgeschreckt, das reicht erst einmal.“ Schwarzer Rauch zog auf und hüllte Blackcages Körper ein, bis dieser verschwunden war. Hildegard hingegen blieb noch zurück und blinzelte den ersten Sonnenstrahlen, die sich über die Dächer und durch den Nebel der Stadt ihren Weg erkämpften, entgegen. Sie war so nah dran ihre Schwester zu finden, sie durfte sich jetzt keinen einzigen Fehler mehr erlauben. „Bitte was? Dämonen? Es soll richtige Dämonen geben und ihr kämpft gegen sie? Der Vatikan hat dafür eine geheime Abteilung gegründet?“ „Ich habe es dir doch gesagt, Ethos. Sie glaubt uns kein Wort.“ Anstatt etwas darauf zu erwidern, starrte Ethos weiterhin mit verschränkten Armen Marylin in die Augen. Die Polizistin lachte noch einige Male künstlich auf, dann beruhigte sie sich wieder. Etwas an Ethos‘ Ausdruck gefiel ihr nicht. Der Ernst, mit dem er die gesamte Geschichte erzählt hatte, machte ihr etwas Angst. Seltsamerweise graute ihr nicht davor, dass sich die beiden Priester als Psychopathen entpuppen konnten, sondern dass sie mit einer grausamen und erschütternden Wahrheit konfrontiert wurde. Bisher hatte das Böse immer etwas Abstraktes gehabt, etwas, das existierte, aber nicht greifbar war. Es stellte vielmehr die Eigenschaft besonders geschädigter Menschen dar, dessen Boshaftigkeit einem Unikat glich, das nicht auf jemand anderen übertragbar war. Brachte man den Menschen dazu, sich zu ergeben, ergab sich auch das Böse in ihm und machte die Welt ein wenig besser. In jedem Fall war das Gute in der Überzahl. Nun musste Marylin darüber nachdenken, ob ihr bisheriges Weltbild nur eine Fassade aus spröder Pappe gewesen war. „Das heißt… Ihr meint das durchaus ernst?“ „Leider ja“, seufzte Ethos. „Sie haben es selbst gesehen. Sie sind bereits einem Dämon begegnet und haben es glücklicherweise überlebt. Ihr Partner hatte da weitaus weniger Glück. Sie wissen, zu was diese Wesen imstande sind. Und wenn Sie ehrlich sind, haben Sie bereits gespürt, dass dieser Mann anders war als alles, was Sie bisher gesehen haben.“ Marylin sagte vorerst nichts. Sie versuchte, der eindringlichen Miene, mit der sie von Ethos sondiert wurde, standzuhalten. Langsam drehte sie ihren Kopf in Richtung Boden. Alles in ihrem Kopf sagte ihr, dass Dämonen eine Erfindung waren, die Kindern Angst machen sollte. Erwachsene Menschen glaubten doch nicht an so einen Mist. Gleichzeitig regte sich in ihrem Magen ein ungutes Gefühl. Marylin wusste, was sie gesehen hatte und dass sie es für unmöglich gehalten hatte. Manchmal hatte sie sich eingeredet, aufgrund ihrer Panik und des Schocks am Einsatzort, anzufangen zu halluzinieren. Immerhin war das bei Opfern nichts ungewöhnliches, denn das Gehirn konnte einem so manchen Streich spielen, um besonders unangenehme Situationen zu verdrängen. Etwas in ihr hatte an dieser Annahme immer gezweifelt. „Ich weiß nicht, ob ich Ihnen glauben kann.“ „Das ist verständlich“, meinte Artemis und schwang die Beine aus dem Bett, damit er sich aufrichten konnte. „Denken Sie über das nach, was wir Ihnen gesagt haben. Aber tun Sie uns den Gefallen und begleiten Sie uns in den Vatikan, dort sind Sie sicher.“ Marylin nickte unbeteiligt. Der Vorschlag des Priesters erschien ihr vernünftig. Sie stand ebenfalls auf und ging in ihr Zimmer, um ihren Koffer zu holen. Ethos hatte einige Male angemerkt, dass sie um zwölf Uhr am Flughafen sein müssten, ob mit oder ohne Chino. Der Verkehr war zäher, als Ethos es erwartet hatte. Sie würden in letzter Minute am Flughafen ankommen, so dass ihnen nicht mehr viel Zeit bleiben würde, die Tickets zu bestellen und den von ihm gewünschten Flug zu erwischen. Sollte Chino nicht mehr rechtzeitig auftauchen, würde dieser alleine nach Rom zurück reisen müssen. Das war an sich kein Problem, doch Ethos hoffte, dass sich Chino nicht in Schwierigkeiten befand. Vor ihrer Abreise hatten sie abgemacht, dass sie sich, wenn eine weitere Übernachtung nötig und sie sich aus irgendeinem Grund trennen würden, am nächsten Tag um elf Uhr am Flughafen Heathrow treffen würden. Hoffentlich erinnerte sich Chino an diese Abmachung. Ethos bezweifelte, dass er es übers Herz bringen würde, Chino bei einer eventuell drohenden Gefahr alleine zurück zu lassen. So hart er versuchte, durchzugreifen, so schwer fiel es ihm, seine eigenen Regeln unter solchen Umständen umzusetzen. Ganz gleich, wie gefährlich das wiederum für ihn werden konnte. Notfalls würde er Artemis zusammen mit Marylin nach Rom schicken und alleine nach Chino suchen. Doch ein Mann in einem Arztkittel schien an jedem Ort aufzufallen wie ein bunter Hund. Bereits in der Vorhalle fiel Artemis‘ Aufmerksamkeit auf einen Mann im weißen Kittel, der nervös auf die ständig wechselnden Anzeigen der Terminals blickte. Sofort machte Artemis Ethos auf seine Entdeckung aufmerksam. „Chino, wo bist du gewesen?“ „Pst, nicht so laut!“ Chino sprang auf und kam dem humpelnden Artemis entgegen. „Ich fürchte, wir haben ein weiteres Problem.“ „Noch eins?“, fragte Ethos genervt und stellte sich in die Schlange am Schalter. „Noch mehr Probleme können wir uns nicht leisten.“ „Ich bin Blackcage noch einmal begegnet. Und er hatte eine Dämonin dabei. Als die beiden für einen kurzen Augenblick nicht aufgepasst haben, habe ich mich aus dem Staub gemacht.“ „Wir sollten uns in Rom weiter darüber unterhalten. Hier hören bestimmt einige ungebetene Gäste mit.“ Chino winkte erleichtert ab und stellte sich schweigend mit den anderen in die Warteschlange. Nach einigen Minuten des ereignislosen Wartens sah Chino, dass Marylin ihn anschaute. Sie durchbohrte ihn praktisch, doch irgendetwas an ihr war anders als am Abend zuvor. Sie wirkte misstrauisch, zugleich etwas verärgert. „Du bist also ein Dämon?“, fragte sie so leise, dass nur sie und Chino es hören konnten. „Ja.“ Damit war das Gespräch wieder beendet. Chino gefiel es nicht, wie enttäuscht Marylin nun wirkte, doch wie Ethos es bereits gesagt hatte, war dies der falsche Ort, um solche Sachen auszudiskutieren. Aber immerhin wusste er jetzt, dass Artemis und Ethos mit ihr geredet und sie aufgeklärt hatten. Doch so sehr Chino sich auch darum bemühte, Marylin zu ignorieren, ihre Augen fixierten ihn mit einer solchen Intensität, dass er sie einfach nicht ausklammern konnte. „Hast du ein Problem damit?“ Die Frage klang barscher, als Chino dies beabsichtigt hatte. Noch immer war die Anspannung von seinem Treffen mit den anderen beiden Dämonen nicht aus ihm heraus gewichen. Ab und zu hatte er sich sogar dabei erwischt, wie er sich geradezu panisch umgeschaut hatte, um sicher zu gehen, dass er auch wirklich nicht verfolgt wurde. Seine Fähigkeit, sich schneller als ein Mensch bewegen zu können, hatte ihm wieder einmal gute Dienste geleistet. Es war einer der Gründe, weshalb die anderen Dämonen jene verachteten, die von den Menschen Vampire genannt wurden. Nicht nur die Menschen hatten ein Problem damit, seine Bewegungen nachzuvollziehen, auch Dämonen. Das Bluttrinken machte Vampire nicht nur stärker, sondern auch wahnsinnig schnell. Aus diesem Grund, da er sie ihren Artgenossen in diesem einen Punkt überlegen machte, wurden sie häufig als Feiglinge verspottet. Glücklicherweise hatten die beiden ihn nicht über eine größere Entfernung einfach aufspüren können. Es mochte sein, dass Dämonen von dem Bösen und somit auch voneinander angezogen werden konnten, doch entschloss sich ein Dämon dazu, Gutes zu tun, verschwand er äußerst schnell von dem natürlichen Radar anderer Dämonen. Dafür war Chino allerdings auch nicht mehr in der Lage, seine Artgenossen sofort ausfindig zu machen. Immerhin konnte Artemis für diese Fälle herangezogen werden, so dass Chino dementsprechend weniger gebraucht wurde, abgesehen von seinem kommunikativ angelegten Netzwerk. Artemis war dahingehend ohnehin geeigneter als die Dämonen, da diese nicht durch spezielle Reize auf ihre Artgenossen aufmerksam wurden, es war vielmehr so etwas wie ein Gefühl. Es konnte vorkommen, dass sie in einigen Fällen andere Dämonen ohnehin nicht wahrnahmen, wenn sie nicht darauf achteten. So extrem, wie Artemis‘ Auge auf Dämonen reagierte, tat dies mit Sicherheit kein anderer Diener der Unterwelt. „Abgesehen davon, dass ein Dämon meinen Partner getötet hat“, begann Marylin mit einer distanzierten Tonlage. „Habe ich damit kein Problem, nein.“ „Entschuldige… Ich wollte dich nicht kränken. Ich bin nur etwas aufgewühlt, das ist alles.“ Nervös fuhr sich Chino durch die Haare. In diesem Moment machte er sich weniger Sorgen um sich selbst, als um Maria. Sollte jemand herausgefunden haben, wo sie sich genau aufhielt – und das war inzwischen mehr als wahrscheinlich – würde es nicht ausreichen, wenn lediglich seine Assistentin bei ihr war. Sobald er zurück in Rom sein würde, musste er schnellstmöglich zu seinem Anwesen. Ethos hatte gerade jedem sein Flugticket gereicht. So unauffällig, wie es mit dem angeschlagenen Artemis möglich war, schlenderten sie durch die Terminals und gaben ihr Gepäck an dem Schalter auf, der über den Inhalt ihrer Koffer informiert war. Wie immer betete Ethos dafür, dass es keine Fragen geben würde. Es musste jedes Mal, wenn Ethos zu einem Auftrag unterwegs war, einen so gewaltigen Haufen Papierkram geben, dass es an ein Wunder grenzte, dass bisher immer alles so reibungslos geklappt hatte. Und auch diesmal schickte Ethos ein leises Stoßgebet in Richtung Himmel, als Dank dafür, dass Prälat Nikolas über äußerst fähige Leute verfügte. Keine halbe Stunde später saßen Marylin, Artemis, Chino und Ethos bereits im Flugzeug und waren in der Luft. Marylin saß etwas abseits von den anderen, sie brauchte ihre Ruhe, um über alles, was sie bisher erfahren hatte, in Ruhe nachzudenken. Vorsichtig griff Chino nach Ethos‘ Arm, um diesen auf sich aufmerksam zu machen. „Ich weiß, es klingt etwas seltsam, aber würdest du mich kurz zur Bordtoilette begleiten?“ Noch bevor Chino Ethos‘ fragenden Blick auffangen konnte, war er bereits aufgestanden und auf dem Weg zur Toilette. Ethos stand ebenfalls auf und folgte dem Dämon, nicht ohne peinlich berührt die übrigen Passagiere zu mustern. Es schien sich niemand für die beiden zu interessieren, was Ethos ungemein beruhigte. Als Ethos sich zu Chino in die Kabine begab, musste er sich mit dem Rücken an die Wand pressen, um ihn nicht am ganzen Körper zu berühren. „Tut mir leid, aber da du selbst gesagt hast, dass zu viele Menschen mithören könnten, was wir besprechen, dachte ich mir, dass das hier eine Alternative wäre.“ „Offensichtlich keine besonders gute“, grummelte Ethos vor sich hin. Der Gestank der vorangegangenen Gäste hing noch immer in der Luft. Beißender Urin stieg Ethos in die Nase, so dass er sich beherrschen musste, den aufkommenden Würgereiz zu unterdrücken. Das Urinal mit seinen eindeutigen Flecken auf der Brille wirkte ebenfalls wenig einladend. Es reichte dem Priester schon, Kontakt zu den verschmierten Wänden zu haben, um sich sichtlich unwohl zu fühlen. Etwas, das Chino allem Anschein nach weniger bekümmerte. „Glaubst du, ich würde mich mit dir auf der Toilette eines Flugzeuges treffen, wenn es sich vermeiden ließe? Also, der Dämon, den Marylin und ihr Partner in dem Museum gestellt haben, ist Nathan Blackcage. Artemis hat ihn als den Dämon erkannt, dem er in Frankreich begegnet war.“ „Bis hierher weiß ich Bescheid. Was ist passiert, als du alleine warst?“ „Neben Blackcage und McKenzey scheint ein weiterer Dämon beteiligt zu sein, diesmal ein weiblicher. Hildegard Krüger. Da ich den beiden im Hyde Park nur kurz gegenüber stand, nachdem ich mich gestärkt hatte, kann ich dir nicht sagen, über welche speziellen Fähigkeiten sie verfügt. Aber sie erscheint mir gefährlich.“ Ethos atmete tief einen, um einen schweren Seufzer auszustoßen. Mit jedem Satz, den Chino sagte, wog sein Herz schwerer. Das Netzwerk der Dämonen wurde von ihnen zwar immer mehr aufgedeckt, doch stellte jede neue Entdeckung auch gleichzeitig einen neuen Gegner dar. Der Kampf gegen Dämonen schien noch nie ein Ende gehabt zu haben, aber so viele scheinbar mächtige Exemplare auf so engem Raum erschienen Ethos selten. „Hast du wenigstens etwas über ihre Motive herausfinden können?“ „Nicht direkt. Ich weiß nur, dass sie hinter Maria her zu sein scheinen.“ „Maria?“ „Wie ich sie kennen gelernt habe, erzähle ich dir ein anderes Mal. Nur so viel; Maria ist eine meiner Patientinnen. Und sie ist mir unheimlich wichtig. Wichtiger, als alle anderen meiner Patienten.“ Aufgrund seiner belegten Stimme und der Tonlage, in der Chino über Maria redete, wusste Ethos sofort, dass mehr als das normale Verhältnis zwischen einem Arzt und seiner Patientin zwischen den beiden bestand. „Ich muss sie unbedingt beschützen. Das bin ich ihr schuldig. Aber das kann ich nicht, wenn ich nicht persönlich bei ihr sein kann.“ „Ich verstehe. Du willst mir jetzt über alles berichten damit du, sobald wir in Rom landen, zu deiner Anstalt zurückkehren kannst.“ „Genau.“ Chino wirkte unheimlich erleichtert als er sah, wie viel Verständnis Ethos ihm entgegen brachte. „In diesem Fall scheint es die Dämonin sowieso nicht auf euch abgesehen zu haben. Zum einen hörte ich, wie Blackcage zu ihr sagte, dass ihr Boss mich lebend haben wolle.“ „Hat er von einem Esrada gesprochen?“ „Nicht, dass ich wüsste.“ Ethos wirkte enttäuscht. „Aber vielleicht muss ich untertauchen. Immerhin scheinen sie mich für irgendetwas zu brauchen. Die Dämonin meinte, sie wäre Marias Schwester. Sie kennt meinen Namen und vermutet, dass ich ihrer Schwester etwas angetan haben könnte. Scheinbar hat Blackcage auch heraus gefunden, wer ich bin und dass ich für euch arbeite.“ Schlagartig meldete sich eine innere Stimme in Ethos zu Wort. Er schaute Chino besorgt an, wusste aber bereits, dass der seinen kommenden Vorschlag aller Wahrscheinlichkeit nach abblocken würde. „Meinst du nicht, dass es sicherer für dich wäre, gleich nach unserer Ankunft in Rom unterzutauchen?“ „Nein, das geht nicht. Erst, wenn ich Maria in Sicherheit gebracht habe. Hör mir zu“, sagte Chino, dazu packte er Ethos bei den Schultern und schaute diesem entschlossen in die blauen Augen. „Diese Hildegard Krüger sieht aus wie eine normale Frau, schwarze lange Haare, braune Augen, schmale Figur und Gesicht. Das einzige, das auffällig an ihr wirkt, ist einerseits ihr Kleidungsstil. Sie scheint extravagante Kleider zu mögen, ich schätze zu vergleichen mit dem Stil des Burlesque aus den zwanziger Jahren. Und dann ist da noch der Ausdruck ihrer Augen. Sie könnte töten mit ihrem Blick, als ob sie in Gedanken brutal dein Herz durchstechen würde.“ „Sie scheint sehr wütend auf dich zu sein“, witzelte Ethos, doch Chino war ganz und gar nicht zum Lachen zumute. „Ethos… Ich gebe dir nur einen Rat. Unterschätze sie nicht. Wenn sie sogar mich, einen Dämonen, dazu bringen kann, ein Gefühl von physischer Schwäche in ihrer Gegenwart zu entwickeln, möchte ich nicht wissen, was für eine Wirkung sie auf Menschen haben könnte.“ „Denkst du, dass es sich um eine Art Verführungszauber oder dergleichen handeln könnte?“ „Sie mag verführerisch von ihrem Aussehen her wirken. Doch das war es nicht, was diese Schwäche in mir ausgelöst hat. Es war vielmehr das Gefühl, ihr vollkommen unterlegen zu sein.“ Von draußen klopfte plötzlich jemand an der Tür. Die Unterbrechung kam so unerwartet, dass sowohl Ethos, als auch Chino vor Schreck zusammen zuckten. Leise drang die Stimme einer Stewardess zu den beiden, die obendrein versuchte, die Tür zu öffnen. „Gentlemen? Dürfte ich Sie bitten die Kabine zu verlassen?“ Ethos öffnete das Schloss und trat mit einem entschuldigenden Lächeln aus der Kabine heraus, dicht gefolgt von Chino. Die Stewardess wirkte peinlich berührt bei dem Anblick der beiden Männer. Aufgrund ihres jungen Äußeren vermutete Ethos, dass sie noch nicht allzu viel Erfahrung mitbrachte. Nervös streifte sie ihre Uniform glatt, damit sie Ethos und Chino nicht ansehen musste. Einen Arzt und einen komplett in Weiß gekleideten Priester sah man schließlich nicht alle Tage. „Sehen Sie, ich sagte es Ihnen doch, dass sich zwei Männer dort aufhalten würden!“ Beschämt schaute die Stewardess zu Boden, während ein junger Herr mit italienischem Akzent, dickem Schnäuzer und in einen schickem Anzug gekleidet, der neben ihr stand, sich lauthals darüber ausließ, was zwei Männer auf der Toilette eines Flugzeuges zu suchen hätten. „Sehen Sie sich die beiden mal an, da wundert einen gar nichts!“ Noch immer freundlich, aber bestimmt trat Ethos einen Schritt auf den Mann zu. Dieser wich bereits nach hinten aus, als er den Priester auf sich zukommen sah. Kaum stand Ethos direkt vor dem männlichen Passagier, änderte sich seine Miene. Aus dem freundlichen Priester wurde ein verärgert wirkender Mann, dessen Körperspannung auf eine unerwartete Aggressivität und Stärke hinwiesen. „Gibt es ein Problem?“ „Äh… Nein, ich glaube nicht“, sagte der Mann kleinlaut und sank in sich zusammen, bevor er sich wieder zu seinen Platz begab. Die Stewardess hingegen entschuldigte sich bei Ethos und Chino, bevor sie sich um den Störenfried kümmerte. „War das alles?“, fragte Ethos und deutete auf die Kabine. „Ich denke schon. Sollte mir noch etwas einfallen, das wichtig sein könnte, sage ich dir Bescheid.“ Chino ging voran, um wieder den gebuchten Sitzplatz in Anspruch zu nehmen. „Übrigens“, fragte er und drehte sich noch einmal zu Ethos um, bevor er sich setzte. „Hat Artemis dir schon von seinem Fund erzählt?“ „Seinem Fund? Nein, ich glaube nicht“, meinte Ethos überrascht. Da Artemis das Gespräch der beiden mitbekommen hatte, begann er, in seiner Hosentasche zu kramen. Als er den gesuchten Gegenstand gefunden hatte, reichte er diesen an Ethos weiter. „Das habe ich auf dem Boden des Hauses gefunden. Sieht aus wie eine Münze oder so. Die Symbole kommen mir von irgendwo her vertraut vor.“ Vorsichtig hob Ethos die Münze an und begutachtete sie. Im Gegensatz zu der Münze, welche er von dem Polizisten bekommen hatte, war diese zugegebenermaßen von Blut nahezu bedeckt, doch konnte er deutlich die Prägung erkennen. Es war, als halte er ein Duplikat in den Händen. „War die Münze bereits da, als ihr eingetroffen seid oder hat sie jemand von den Anwesenden verloren?“ „Keine Ahnung. Ich habe sie gefunden, als schon alles vorbei war. Dieser McKenzey hatte so viel Metall am Körper gehabt, dass so ein kleines Stück wie das da nicht mehr aufgefallen ist“, meinte Artemis in einem sarkastischen Tonfall und verschränkte die Arme vor der Brust. „Das sind Symbole des Vatikans oder?“ „Allerdings.“ Ethos nahm den Plastikbeutel mit der anderen Münze aus seinem Handgepäck hervor und tat die Münze, die er von Artemis erhalten hatte, hinzu. „Im Museum wurde auch eine Münze gefunden. Sie sieht genauso aus wie die, die du mir gerade gegeben hast.“ „Das ist seltsam.“ „Wem sagst du das?“, sagte Ethos, mehr zu sich selbst, als zu Artemis oder Chino, die ihn beide interessiert und abwartend ansahen. Mehr als sich verzweifelt mit der Handfläche durch das Gesicht zu wischen, hatte Ethos nicht für die beiden übrig. Er brauchte etwas Zeit für sich alleine, um über die neuen Entwicklungen nachzudenken. Wie bereits vermutet lag etwas in der Luft. Etwas gefährliches, etwas, das noch nicht zu greifen war. Viel schlimmer wiegte jedoch, dass es etwas war, das aus ihren eigenen Reihen kam, tief verborgen im Inneren des Vatikans. Daran konnte kein Zweifel mehr bestehen. Kapitel 13: Kapitel 13 ---------------------- Kapitel 13 Das einzig Positive, das Ethos bei der Landung des Flugzeuges empfand, war das gute Wetter in Rom. Hier würde er dem penetranten Regen für eine ganze Weile entfliehen können, ehe das Wetter im Herbst schlechter wurde. Wie sehr er sich doch wünschte, dass dies momentan sein einziges Problem wäre. Noch während der Fahrt zum Vatikan überlegte er intensiv, mit wem er über die Vorfälle reden könnte. Im Prinzip war niemandem mehr zu trauen. Zwar glaubte Ethos nicht daran, dass Prälat Nikolas etwas mit der Sache zu tun hatte, wenn er eine Wahl gehabt hätte, hätte er diesen trotzdem über seine Entdeckungen im Dunkeln gelassen. Zumindest so lange, bis er sich sicher gewesen wäre, dass Nikolas nicht tiefer in die Sache verstrickt wäre. Aber Ethos hatte nun einmal keine Wahl. Er musste Nikolas von allem erzählen. Chino befand sich mittlerweile nicht mehr unter ihnen. Somit waren Artemis, Marylin und Ethos die einzigen, die dem Prälaten Bericht erstatten konnten. Dieser war bereits über die Ankunft der Priester und ihrer neuen Schutzbefohlenen unterrichtet worden, weshalb Steve sie direkt in sein Büro führte. Anstatt, wie sonst, draußen zu warten, wohnte der junge Priester dem Gespräch diesmal bei. „Irgendwie muss er doch dazu lernen und das kann er kaum, wenn er nur draußen steht“, sagte Nikolas milde lachend, als er Ethos‘ fragenden Blick auffing. „Willkommen zurück. Und Sie, Frau Moore, heiße ich herzlich bei uns im Vatikan willkommen.“ Schüchtern reichte Marylin dem Prälaten die Hand, nachdem er sich umständlich aus seinem Sitz geschält hatte. Auch Artemis und Ethos begrüßte Nikolas mit einer herzlichen Geste, dann setzte er sich wieder, was alle Anwesenden ihm gleichtaten. „Ich hoffe Sie entschuldigen mich, aber meine Hüfte gibt seit gestern ständig nach. Also, was haben Sie in London in Erfahrung bringen können?“ „Bevor wir Ihnen erzählen, was wir herausgefunden haben, möchte ich Sie darüber in Kenntnis setzen, dass wir mit Frau Moore über unsere Arbeit geredet haben. Sie weiß, dass Dämonen existieren und dass wir sie bekämpfen. Und sie glaubt uns.“ Sichtlich überrascht lehnte sich der Prälat nach vorne und wollte gerade wieder aufstehen, weshalb Steve an seine Seite geeilt kam, damit er Nikolas stützen konnte. „Sie haben was? Pater Turino, Sie wissen, dass niemand wissen darf, was unsere Abteilung tut!“ „Natürlich weiß ich das. Aber Frau Moore hat die Zusammenkunft mit einem Dämon überlebt. Sie wusste, dass etwas an den Geschichten, die wir ihr aufgetischt haben, nicht stimmte. Wie wollen Sie jemanden manipulieren, der die Wahrheit bereits kennt?“ Es war Marylin deutlich unangenehm, als sämtliche Augenpaare, welche sich im Raum befanden, auf sie gerichtet wurden. Sie merkte, dass sie rot anlief, wodurch sie ihren Kopf zwischen ihren Schultern zu verstecken versuchte. Wieder fiel das Lachen des Prälaten gnädig aus, wodurch sich auch Marylin wieder ein klein wenig wohler zu fühlen begann. Vorsichtig ließ er sich zurück in seinen Sitz sinken. „Damit haben Sie im Grunde genommen Recht. Wenigstens erspart uns das einiges an Mühen. Demnach kann Frau Moore uns das gesamte Gespräch über Gesellschaft leisten. Das hat mit Sicherheit auch seine Vorteile.“ „Nicht nur das“, meldete sich Artemis zu Wort und klopfte Marylin ermutigend auf die Schulter. „Marylin hat einiges dazu beitragen können, neue Erkenntnisse bezüglich unserer dämonischen Gegenspieler zu erzielen. Wäre sie nicht gewesen, würden wir uns vermutlich immer noch in London befinden und nach Hinweisen suchen.“ Anerkennend hob Nikolas eine Augenbraue. Dazu musterte er die Polizistin, als wäre der entscheidende Durchbruch durch ihre Hilfe das letzte, was er erwartet hätte. Es mochte angehen, dass der Prälat wie einer der moderneren Geistlichen wirkte, doch das hatte er vor allem seiner Stellung innerhalb der Hierarchie zu verdanken, weniger seinem Weltbild von Frauen. So liberal Prälat Nikolas in Bezug auf die Waffentechnik und die Freizeitaktivitäten seiner Untergebenen war, so abgeneigt war er wiederum Frauen, die in das Handwerk der Dämonenjagd eingriffen. Seiner Meinung nach hatten Frauen überhaupt nichts in diesem Metier zu suchen. Eine Meinung, welche er durchaus mit Ethos teilte. Der Unterschied war jedoch, dass Ethos zwischen der Arbeit, die Marylin bisher geleistet hatte und die der sich im Vatikan befindenden Ordensschwestern zu trennen wusste. Für Nikolas hingegen waren alle Frauen in der Hinsicht gleich. Lediglich Artemis war einer der großen Befürworter, auch Frauen auf den fordernden Missionen einzusetzen. Viele hielten ihm vor, dass er diese Idee aus eigenem Interesse verteidigte, doch das war keineswegs der Fall. Im Gegenteil, Artemis hatte bereits einige der Schwestern – allen voran Lydia - auf seinen Missionen kämpfen sehen und musste eingestehen, dass die meisten von ihnen den Männern in Nichts nachstanden. Der Versuch, das den alteingesessenen Priestern, Prälaten und Päpsten erklären zu wollen, war allerdings von vorne herein zum Scheitern verurteilt. „Was Sie nicht sagen. Und wie hat Frau Moore Ihnen weiterhelfen können, Pater Dal Monte?“ „Sie hat aus dem Gedächtnis heraus ein Portrait des Mannes zeichnen können, welchen ich in Frankreich gesehen habe. Sein vollständiger Name ist Nathan Blackcage. Es ist sehr schade, dass Herr Estevez nicht anwesend ist, denn er hat ebenso einen großen Teil dazu beitragen können, dass wir in den Ermittlungen ein ganzes Stück vorangekommen sind.“ „Und Sie selbst? Was ist mit Ihnen geschehen?“ „Ach, die paar Wunden“, sagte Artemis mit einer lapidaren Handbewegung. „Sind nicht der Rede wert. Ich bin auf einen weiteren Dämon gestoßen, der versucht hatte, uns eine Falle zu stellen. Hat einen weiblichen Dämonen einen Exorzismus vortäuschen lassen.“ Während Artemis genervt mit den Augen rollte, verdüsterte sich die Miene des Prälaten zusehends. Bisher hatte Ethos sich weitestgehend heraus gehalten, doch als der Verantwortliche des letzten Einsatzes sah er sich nun gezwungen, Partei für Artemis zu ergreifen. Bei allem Respekt vor seinem Kollegen hatte Ethos schon oft beobachtet, dass Artemis nicht dafür geschaffen zu sein schien, aus solchen Gesprächen als Gewinner hervorzugehen. „Ich weiß, was Sie jetzt denken, aber ich kann das Vorgehen von Pater Artemis erklären“, schnitt Ethos Artemis das Wort ab, bevor der sich um Kopf und Kragen reden würde. „Zuerst einmal war ich nicht vor Ort. Ich musste zu der Spurensicherung und war nicht schnell genug zu erreichen, um eine Entscheidung treffen zu können. Dann war Herr Estevez die ganze Zeit über mit Pater Artemis unterwegs gewesen, demnach konnte ein ärztliches Gutachten garantiert werden. Herr Estevez hat selbst zum Exorzismus geraten. Frau Moore wurde zuvor in Sicherheit gebracht, so dass sie weder etwas von dem Exorzismus, noch von der Falle mitbekommen konnte. Wäre ich in Pater Artemis‘ Situation gewesen, hätte ich genauso gehandelt.“ Prälat Nikolas leckte sich kurz über die trockenen Lippen und betrachtete Ethos so eingehend, als habe er vor, ihn mit seinem Blick zu prüfen. Als er merkte, dass Ethos bei seiner Ausführung blieb, schüttelte er seufzend den Kopf. „Sie wissen, dass das mit den Exorzismen so eine Sache ist…“ „Dessen sind wir uns bewusst. Aber wie Sie selbst ebenfalls wissen, duldet die Kirche bei einem Exorzismus keinen Aufschub.“ „Natürlich weiß ich das. Und es ist in diesem Fall anscheinend alles gut gegangen, von den Verletzungen, die Pater Dal Monte davon getragen hat, einmal abgesehen. Aber wenn der leitende Priester nicht vor Ort ist, hätten Sie trotzdem die Erlaubnis der Kirche einholen müssen.“ „Jetzt mal ehrlich, Hochwürdigster Prälat, ich habe…“, versuchte Artemis sich zu rechtfertigen, wurde aber sofort unterbrochen. „Pater Dal Monte. Ich darf doch sehr bitten. Mäßigen Sie Ihren Ton. Besonders, wenn wir Besuch empfangen haben.“ Aufgrund des informellen Umgangs, den der Prälat mit seinen Angestellten führte, wenn er mit ihnen alleine war, vergaßen einige, wie streng er werden konnte, sobald sich Außenstehende im Vatikan einfanden oder hochrangige Geistliche in der Nähe waren. Dennoch kam es selten vor, dass Nikolas jemanden in einem so scharfen Ton maßregelte, denn auch er wollte vor Gästen nicht unhöflich oder gar reizbar erscheinen. Artemis war, was selten genug vorkam, vollkommen sprachlos. „Da die Situation keine großen Kreise gezogen hat und ich mir sicher bin, dass Sie alle Spuren beseitigt haben, werde ich über diesen Vorfall hinweg sehen. Noch einmal dulde ich Ihr Vorgehen diesbezüglich jedoch nicht. Es kam in der letzten Zeit zu häufig zu Zwischenfällen oder falsch durchgeführten Exorzismen, oft auch dadurch verschuldet, dass die Angehörigen erst eine Behandlung verlangten und danach behaupteten, wir seien für den Tod ihrer Liebsten verantwortlich. Ich erwähne das deshalb auch so ausdrücklich, um Sie zu schützen. Sollte es zu einer Anklage kommen, wissen Sie genauso gut wie ich, dass wir uns von den betroffenen Priestern verabschieden müssen.“ Artemis nickte nur verärgert und behielt seinen Prostest für sich. Wenn Nikolas sich besser dadurch fühlte, ihn zu belehren, sollte er das machen. Für Artemis war der Großteil der scheinheiligen Regeln und Regelungen des Vatikans schon immer ein Dorn im Auge gewesen, doch er hatte sich stets mit ihnen arrangieren können. Das würde bei den Exorzismen demnach früher oder später ebenso geschehen. Marylin hingegen wollte sich erst wieder in die Unterhaltung einklinken, wenn sich die Gemüter etwas beruhigt haben würden. Sie schaute nervös zu Ethos hinüber, der glücklicherweise verstand, was die junge Frau von ihm verlangte. „Da wir diesen Teil geklärt hätten“, versuchte Ethos das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken. „Würde ich Ihnen gerne berichten, was wir herausgefunden haben.“ Mit einer ausschweifenden Handbewegung deutete Nikolas an, dass er Ethos‘ Vorschlag zur Kenntnis genommen hatte. Er erteilte dem Priester die alleinige Redeerlaubnis, damit er nicht wieder hunderte von einzelnen Fetzen zusammensetzen musste, um die Zusammenhänge des Erlebten zu verstehen. Für einige Minuten fühlte sich Marylin wie in das Mittelalter zurück versetzt. Strenge Hierarchien, Hinterwäldlerdenken und Befehlsketten hatte sie zwar bei der Polizei ebenso kennen gelernt, doch das hier wirkte sogar auf sie mehr als befremdlich. Vielleicht würde sich bald jemand dazu bereit erklären, ihr verständlich zu machen, wohin sie geraten war und worauf sie sich noch einzustellen hatte. In diesem Augenblick sehnte sie sich so stark nach London zurück, dass sie merkte, wie ihr Bauch zu schmerzen anfing und ihr einige Tränen in die Augen zu steigen drohten. Obwohl er es vermied zu verreisen, musste Chino zugeben, dass es fast nichts Schöneres gab, als den Duft einzuatmen, der ihm entgegen strömte, wenn er nach längerer Abwesenheit zurück nach Hause kehrte. Besonders mochte es Chino, wenn sich im Flurbereich der Duft der Bücher mit dem der alten Teppiche vermischte. Zugegebenermaßen etwas muffig, aber vertraut und wie ein alter Bekannter. Sofort stellte Chino seine Koffer lautstark auf dem Tresen ab, so dass die zusammen gekauerte Gestalt, welche sich hinter der Rezeption befand und einige Dokumente bearbeitete, erschrocken hochfuhr. Genau wie Chino trug sie einen Arztkittel, der ihr jedoch mindestens zwei Nummern zu groß war. Die kurzen schwarzen Haare standen zu allen Richtungen hin ab, grünbraune Augen tasteten hastig die Umgebung ab. Nervös schaute sich die junge Frau um. Als sie Chino entdeckte, hielt sie sich beruhigt die Hand vor die Brust, dazu atmete sie mehrere Male übertrieben kräftig ein. „Herr Estevez, haben Sie mich erschreckt!“ „Stellen Sie sich vor, es wäre eine echte Bedrohung hier herein geplatzt. Wären Sie dann auch so unaufmerksam gewesen, Frau Mariposa?“ Schuldbewusst machte sich die kleine Frau daran, ihre Sachen zusammen zu räumen und den Tresen zu verlassen. Sie war erst seit kurzer Zeit die Assistentin von Chino und noch nie hatte sie ihren Boss so gereizt gesehen. Hauptsächlich hatte sie diesen Job angenommen, um ihre Ruhe zu haben. Menschen kamen offensichtlich nicht sonderlich häufig zu diesem Anwesen, um ihre Bekloppten abzugeben, somit musste sie sich auch weniger mit den Angehörigen der Eingelieferten beschäftigen. Felicitas Mariposa war überaus gut in ihrem Job, solange sie sich um die Kranken kümmern konnte. Sie hatte ihre Ausbildung gerade ein Jahr abgeschlossen, als Chino sie eingestellt hatte. Bald hatte er herausgefunden, dass Felicitas sehr isoliert lebte, wodurch es leichter war, sie zum Schweigen zu bringen, sollte sie aus Versehen mehr erfahren, als gut für sie war. Bisher hatte Chino sich nie darüber Gedanken machen müssen, wann dieser Tag einmal kommen könnte, doch nun hatte er Bedenken. Wohin er seine übrigen Patienten bringen würde, wusste er zudem auch nicht, trotz seiner bisherigen Erfahrung auf dem Gebiet der unvorhergesehenen Auflösung von Psychiatrien. Es war nicht das erste Mal, dass er fliehen musste. Als er noch in Spanien gelebt hatte, wurde er von einem wütenden Pöbel quer durch das Land gejagt, bis er irgendwann nach Deutschland geflohen war. Dort hatte er sich lange Zeit bedeckt halten können und wäre vermutlich immer noch dort, hätte er nicht Maria aufgenommen. Trotzdem bereute er es nicht. Die junge Frau hatte es ihm von Anfang an angetan, ihrer Schönheit und ihrem Bann entfliehen zu wollen war geradezu sinnlos gewesen. Felicitas war inzwischen bestimmt an ihren ursprünglichen Arbeitsplatz zurückgekehrt. Chino hatte vor, sich für seine schroffe Begrüßung bei ihr zu entschuldigen, allerdings erst, wenn er nach Maria gesehen haben würde. Vielleicht würde er ihr bei dieser Gelegenheit den Vorschlag machen, seine Irrenanstalt zu übernehmen. Eine Beförderung sozusagen aufgrund ihrer hervorragenden Leistungen. So nahm er Felicitas zwar nicht unbedingt aus dem Fadenkreuz der Dämonen, aber immerhin ging es den Patienten weiterhin gut. Wobei die es vermutlich eh nicht bemerken würden, gerade von einem Haufen Dämonen angegriffen zu werden. Egal, darum konnte Chino sich später noch kümmern. Unter einer der vielen Vasen befand sich ein Schlüssel, den Chino nun hervor holte. Er versteckte den Schlüssel jeden Tag unter einem anderen Gegenstand, willkürlich ausgewählt, ohne dabei einem bestimmten Muster zu folgen. Chino umschloss den kleinen Gegenstand mit beiden Händen und drückte ihn fest gegen seine Brust, dann setzte er sich in Bewegung und stieg die Treppen, die sich hinter der Rezeption befanden, hinauf. Im zweiten Stock angekommen, wurde sein Weg sogleich von einer großen Tür behindert. Langsam schloss Chino die Tür auf, trat hindurch und schloss sie sofort wieder. Den Schlüssel ließ er stecken. Noch immer fiel ihm der Gedanke, Maria einsperren zu müssen, unglaublich schwer. Allerdings war es zu ihrem Besten. Solange sie nicht mit ihm sprach, war die Schönheit nur schwer einzuschätzen. Der große Dachboden war von Chino eingerichtet worden wie ein richtiges Zimmer. Die luxuriösesten Möbel aus dem besten und schönsten Holz, das er hatte finden können, schmückten den Raum mit den hölzernen Dachschrägen. Durch das große Fenster am Ende des Dachbodens fiel großzügiges Sonnenlicht herein und strahlte genau auf das große goldene Himmelbett, auf dessen roter Matratze eine junge Frau saß und ein Buch in den Händen hielt. Sie war so in Gedanken versunken, dass sie nicht bemerkt hatte, dass Chino das Zimmer betreten hatte. Erst nachdem er sich kurz geräuspert hatte fuhr der Kopf der Frau nach oben und sie drehte sich erschrocken zur Seite. Als sie Chino erkannte, lächelte sie kurz, vertiefte sich aber sogleich erneut in ihr Buch. Chino überlegte kurz, ob er sich ihr nähern sollte, ließ es jedoch bleiben. Lieber beobachtete er sie etwas aus der Ferne, damit konnte er sich über Stunden beschäftigen. Das dunkelbraune Haar fiel Maria locker über die geschmeidigen Schultern. Ihre aufmerksamen braunen Augen schienen das Buch geradezu zu verschlingen und manchmal formten ihre Lippen die Wörter, welche sie gerade las, stumm nach. Im Anbetracht ihrer Hemmung vor dem Sprechen war das für Chino jedes Mal ein besonderer Anblick. Schon oft hatte er sich gefragt, wie ihre Stimme wohl klingen würde. Hatte sie eine helle Frauenstimme oder glich sie eher einem tiefen Bass? Im Grunde genommen war es auch egal, sobald Maria ihr erstes Wort zu ihm sprechen würde, würde Chino verzückt sein aufgrund des Klanges ihrer Stimme, das wusste er. Dass Maria jetzt seit so vielen Jahren nicht geredet hatte, war für Chino kein Hindernis, es weiterhin mit ihr zu versuchen. Je länger er Maria ansah, desto mehr Ähnlichkeiten stellte er zwischen ihr und der Frau namens Hildegard Krüger fest. Sie hatten die gleiche Gesichtsform und auch ihre Mimik schien fast dieselbe zu sein. Maria war etwas kleiner und wirkte um einiges zerbrechlicher als ihre Schwester, doch gerade das war etwas, das Chino an ihr mochte. Bereits beim ersten Mal, als er sie gesehen hatte, hatte Maria einen Instinkt in Chino geweckt, den dieser vor langer Zeit verloren geglaubt hatte. Den Instinkt, jemanden beschützen zu wollen. Für dieses Geschenk, das ihm das Gefühl gab, einen kleinen Teil an Menschlichkeit bewahrt zu haben, war Chino überaus dankbar. Seitdem er den Körper des Menschen, der früher einmal grausame Experimente an unschuldigen Menschen und wehrlosen Tieren durchgeführt hatte, übernommen hatte, sehnte er sich nach etwas, das ihm einen Sinn geben könnte. Die Suche nach einem Sinn im Leben war etwas, das selten bei Dämonen vorkam. Umso stärker wog das Gefühl von Stolz in ihm, sich von seinen Artgenossen abzuheben. Damit Maria nicht weiter durch ihn gestört wurde, verließ Chino den Dachboden wieder. Er musste sich ohnehin daran machen, die wichtigsten Sachen zusammen zu suchen, damit er das Anwesen noch heute Abend mit Maria zusammen verlassen konnte. Zerknirscht machte sich Artemis daran, das Büro des Prälaten Marcus Dominic aufzusuchen. Der fette Kerl ohne den geringsten Sinn von Humor war der letzte Mensch auf Erden, den Artemis gerade sehen wollte. Nicht nur, dass Nikolas ihn gerügt hatte, er sollte sich zudem krankschreiben lassen, bis er völlig genesen sein würde. Es war egal gewesen, wie stark Artemis beteuert hatte, dass er trotz seiner Verletzungen in der Lage sein würde, weitere Aufträge durchzuführen. Nikolas hatte darauf bestanden, dass sich der Priester die nächsten Tage deutlich schonte. Mit einem Schreiben, in dem Nikolas nach einem Attest bat, stand Artemis vor dem Büro des verhassten Prälaten. Zögernd klopfte er an und trat wenig später hinein. Hinter dem Schreibtisch saß ein Mann mittleren Alters, die braunen Haare klebten durch die darin befindliche Überdosis Pomade zusammen und behielten so ihre streng nach hinten gekämmte Form. Die Robe war mit der von Nikolas identisch, nur mit dem Unterschied, dass sie sich bei Dominic so sehr über dem Bauch spannte, dass sie bei jedem Atemzug zu platzen drohte. Die wurstähnlichen Finger huschten mit einer für sie beeindruckenden Schnelligkeit und Präzession über die auf dem Schreibtisch aufgebaute Schreibmaschine und erst nachdem Dominic die letzte Zeile zu Ende geschrieben und die Rolle zur Seite geschoben hatte, nahm er sich die Zeit um aufzusehen und seinen Besucher zu begrüßen. Das zunächst aufgesetzte Lächeln erstarb jedoch sehr schnell, als Dominic Artemis erblickte und auch den Versuch, sich aus seinem Stuhl zu erheben, brach der Prälat vorzeitig ab. „Pater Dal Monte, wie kann ich Ihnen helfen?“, fragte Dominic mit einem geringschätzigen Ton und zeigte auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. Artemis nahm das Angebot, sich zu setzen, nicht an. Lieber blickte er von oben ebenso angewidert auf den fetten und verschwitzen Mann hinunter und stellte dabei fest, dass sein Körper bereits dabei war, den ohnehin breiten Stuhl zu verschlingen. Bald würde es keine Möbel mehr geben, die das Gewicht des Prälaten halten konnten. „Ich bin von Monsignore Nikolas zu Ihnen geschickt worden, um mich krankschreiben zu lassen.“ „Sie wollen sich krankschreiben lassen? Die Mitarbeiter heutzutage…“ „Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie diese Tätigkeit kommentarlos durchführen könnten.“ Nuschelnd entriss Dominic Artemis das Stück Papier und las es sich flüchtig durch, dann holte er einen Stempel aus einer der vielen Schubladen, unterschrieb das Dokument und stempelte es ab. Dann reichte er es an Artemis zurück. „Wie Sie wissen obliegt es meiner Erlaubnis, wann Sie wieder einsatzfähig sein werden“, erinnerte Marcus Dominic Artemis, welcher gerade dabei war, sich ohne ein Wort der Verabschiedung aus dem Büro zu entfernen. Er redete nicht gerne mit Marcus Dominic, die letzten Male, als er dies getan hatte, waren beunruhigend viele Schimpfwörter zwischen den beiden Geistlichen ausgetauscht worden. Sobald niemand in der Nähe war, konnten die beiden ihren Hass aufeinander freien Lauf lassen, doch inzwischen war es Abend geworden und Artemis hatte wenig Lust darauf, sich mit jemanden zu streiten. Innerlich verfluchte Artemis das unnötige System, das entwickelt worden war, um die Priester gesund zu halten. Jeder aus der Geheimen Abteilung musste sich, sobald er ausfallen würde, erst ein entsprechendes Schreiben von Nikolas geben lassen, nur um mit diesem wiederum zu Dominic zu gehen, der ein Attest ausschrieb. Danach musste es in die Verwaltung gebracht werden, die wiederum die endgültige Anerkennung verlas. So sollte verhindert werden, dass bei jedem kleinem Kratzer ein Ausfall zustande kam oder aber einige Priester häufiger krankgeschrieben wurden, als andere. Nikolas beurteilte die unmittelbare Schwere der Krankheit, Dominic war dafür zuständig, diese neutral einzuschätzen und darauf zu achten, wer sich wann weshalb und in welchem Umfang von seiner Arbeit befreien ließ, die Verwaltung bestätigte dies. Besonders beeindruckend an diesem System war, wie der Vatikan es damit umgehen konnte, richtige Ärzte einzustellen. Zu Dominics Ärgernis wies Artemis weder besonders schwerwiegende, noch lapidare Verletzungen auf, weshalb er keinen Grund besaß, Artemis sein Attest und die dazugehörigen Medikamente zu verwehren. Was er jedoch tun konnte, wenn ihm der Sinn danach stehen sollte, war, Artemis länger krank zu schreiben als nötig. Da davon allerdings niemand etwas haben würde, außer dass man ihm unangenehme Fragen stellte, was wiederum seine Kandidatur bei der nächsten Abstimmung zur Übernahme der Geheimen Abteilung nur behindern würde, war das keine der Optionen, die Dominic erwählte. Es würde aber sicherlich nicht schaden, Artemis etwas Angst einzujagen oder etwas zu geben, über das sich der Priester aufregen könnte. Leider ging Artemis an diesem Tag nicht auf seine Provokation ein, sondern verließ still das Büro des Prälaten. Kopfschüttelnd besah Artemis das erhaltene Attest und stöhnte genervt. Zwei Wochen lang solle er sich Zeit nehmen, um zu regenerieren. Von dieser Erkenntnis in eine überaus schlechte Laune versetzt, schlenderte Artemis die Via del Governatorato entlang, als er plötzlich von einer aufgewühlt wirkenden Schar Schweizer Gardisten überholt wurde. Über die Köpfe der Gardisten brüllte Leutnant Roth einige Befehle hinweg, der Inhalt dieser Befehle wurde jedoch von dem lauten Klappern der Ausrüstung der jungen Männer übertönt. Es war kein seltener Anblick, die Männer in ihrer vollen Rüstung und bewaffnet zu sehen, immerhin trugen sie diese auf vielen öffentlichen Veranstaltungen der Kirche und auch ein Training für den Ernstfall gehörte zu der Ausbildung der Gardisten. Was Artemis dazu veranlasste, den Ernst der gegenwärtigen Situation wahrzunehmen, war die allgemeine Anspannung, welche in der Luft zu hängen schien. Die Männer hatten nicht wie sonst gewirkt, irgendetwas hatte sie dazu veranlasst, in Panik zu geraten. Das konnte einfach kein gutes Zeichen sein, weshalb Artemis sein Attest zusammen faltete und in die Innenseite seiner Jacke gleiten ließ, damit er den Soldaten des Vatikans folgen konnte. Er hatte die halbe Strecke zum Eingangstor zurückgelegt, als Artemis abrupt stehen blieb. Vor ihm, wenige Meter entfernt, saß eine schwarze Katze auf einer Mauer und schaute ihn neugierig an. Als Artemis sich ihr nähern wollte, sprangen aus dem Schatten weitere Katzen heraus. Einige gesellten sich zu der ersten Katze, die er gesehen hatte, die anderen liefen unbekümmert ihrer Wege, um an einem anderen Platz Rast zu machen. Fluchend wand sich Artemis von den Tieren ab und lief, so schnell er konnte, in Richtung Eingangstor. Chino hatte die letzten Vorbereitungen zur Abreise abgeschlossen. Die beiden bis zum Rand vollgepackten Koffer standen bereits im Flur. Jeden Augenblick würde der Fahrer eines Taxis klingeln, um ihn und Maria abzuholen. Mit einem kurzen Blick nach draußen vergewisserte sich Chino, dass noch immer keine Gefahr drohte. Es war nahezu unmöglich, sein Anwesen zu betreten, ohne dass er etwas davon mitbekommen würde. Doch der Rasen der riesigen Anlage war nach wie vor perfekt und ohne einen einzigen abgetretenen Fleck, der Sandweg frisch geharkt und die Umgebung still wie ein Friedhof. Nicht einmal die Vögel hatten sich hierher verirrt, um ihre kunstvoll eingeübten Lieder in die Welt hinaus zu schmettern. Chino wand sich wieder dem Inneren seines Anwesens zu und seufzte tief. Noch eine Flucht und er war sich mehr als sicher, dass es nicht die letzte sein würde. Der Dämon wartete noch einige Minuten, in denen er immer wieder auf das Ziffernblatt einer der großen Standuhren warf, die sich im Flur befanden. Er hatte Felicitas aufgetragen, aus dem Keller die dicken Wollmäntel zu holen, die er benötigen würde, sobald die Tage wieder kälter wurden, doch sie war noch immer nicht zurück. Genervt setzte Chino sich in Bewegung. Wenn seine Assistentin es nicht einmal hinbekam, zwei Mäntel aus dem Keller zu holen, sah er buchstäblich Schwarz für seine übrigen Patienten. Zumindest für den Winter. Vorsichtig stieg Chino die steile Kellertreppe hinab, die vom Flur aus hinter einem Wandteppich zum Vorschein kam. „Frau Mariposa… Was dauert denn so lange?“, rief Chino in die Dunkelheit hinunter, wartete jedoch vergebens auf eine Antwort. Kopfschüttelnd drückte er sich an einigen Statuen und anderen wertvollen Gegenständen vorbei, für die er oben im Wohnraum keinen Platz mehr gefunden hatte. Da der Keller ein groß angelegtes Gewölbe darstellte, welches über die Maße des eigentlichen Hauses hinaus ragte, musste Chino erst einige Korridore passieren, bevor er an der Kammer angelangt war, in der er einige der vielen Klamotten von sich und Maria aufbewahrte. Mit einer Taschenlampe leuchtete er die offenstehende Tür an, hinter der er einige kratzende Geräusche vernahm, als er eintreten wollte, flogen ihm bereits die ersten Stücke Stoff entgegen. „Frau Mariposa!“, sagte Chino streng und leuchtete Felicitas direkt in das Gesicht. Sofort hob die Angesprochene ihre Arme vor die Augen, um sich vor dem grellen Licht zu schützen. „Warum machen Sie das Licht hier unten nicht an? Im Dunkeln ist es kein Wunder, wenn Sie die Sachen, nach denen Sie suchen sollen, nicht finden.“ „Ich wollte nicht…“ „Ersparen Sie mir Ihre Ausreden, bitte beeilen Sie sich. Ich habe Ihnen gesagt, wie eilig ich es habe und erwarte die Mäntel daher in wenigen Minuten oben. In der Zwischenzeit werde ich Maria holen gehen.“ Anstatt etwas darauf zu erwidern, machte sich Felicitas wieder daran, den vor ihr liegenden Kleiderberg zu durchwühlen. „Ist mit Ihnen alles in Ordnung?“, fragte Chino skeptisch, als er bemerkte, dass Felicitas ihn gar nicht richtig zu hören schien. Wie in Lethargie sortierte sie die Klamotten von der einen auf die andere Seite, ohne zu realisieren, was sie da in den Händen hielt. Kopfschüttelnd ging Chino nach oben, er hatte keine Zeit, sich mit Nebensächlichkeiten zu beschäftigen. Vorsichtig öffnete er die Tür, um Maria nicht zu verschrecken, sie reagierte manchmal überaus sensibel auf plötzlich eintretende Veränderungen in ihrem Umfeld. Maria saß auf dem Boden in der Mitte ihres Zimmers und spielte mit den Enden zweier bunter Seidenschals, welche Chino ihr einmal von einer Reise mitgebracht hatte. Sie wickelte die beiden Stoffe immer wieder ineinander, so dass neue Muster entstanden. Dabei schien ihr Gesicht eine kindliche Freude auszustrahlen. Chino tat es im Herzen weh, sie schon wieder an einen neuen Ort bringen und sie bei ihrem Spiel unterbrechen zu müssen, doch er wusste genauso gut, dass jede Sekunde zählte. Die junge Frau trug bereits eine Hose aus hellem Stoff, welche sich schmeichelhaft an ihre dünnen Beine schmiegte. Ein dünner Pullover schützte sie vor der nächtlichen Kälte, die bald einbrechen würde, ohne sie zu warm zu halten. Ihre Schuhe hatte sie ebenfalls angezogen und war somit bereit, abzureisen. „Maria, wir müssen los“, sagte Chino und sah, dass Maria ihn verstanden hatte. Sie legte die Schals beiseite und erhob sich, kam in leicht wankendem Gang auf Chino zu. „Dort, wo wir hingehen werden, ist es noch viel schöner.“ Wäre Chino ehrlich gewesen, hätte er zugeben müssen, dass er nicht einmal selbst wusste, wo er mit Maria hingehen sollte. Die nächsten Wochen würden sie wahrscheinlich quer durch Europa reisen, bis der Dämon einen geeigneten Ort gefunden haben würde, um sich erneut niederzulassen. Wenigstens hatte Maria einen ihrer helleren Momente, denn sie ließ sich bereitwillig von Chino nach unten führen als spüre sie, dass die beiden gehen mussten. Zwar hatte Chino ihr einige Stunden zuvor alles erklärt, doch er wusste nie, ob das, was er sagte, auch bei Maria ankam. Auf dem Flur ließ er Maria kurz alleine, damit er nach Felicitas schauen konnte. Da nach wie vor Geräusche aus dem Keller zu ihm herauf drangen, vermutete Chino, dass sie noch immer dort unten zugange war. Chino hatte bereits den Mund geöffnet, um eine wütende Ermahnung nach unten zu brüllen, als er hinter sich einen schrillen Schrei vernahm, der ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Sofort drehte er sich um und sah, wie Maria von einem Mann fest gehalten wurde, eine Hand presste er auf ihren Mund, die andere umschloss ihre Taille, als wolle er sie zerquetschen. Maria versuchte sich aus dem Griff zu befreien, es gelang ihr jedoch nicht. „Du schon wieder“, knurrte Chino und seine Augenfarbe wandelte von braun in rot. „Lass‘ Maria sofort los!“ „Warum sollte ich so ein schönes Mädchen wieder gehen lassen wollen?“, fragte der Schwarzhaarige und grinste Chino überlegen an. „Ich habe mir die Mühe gemacht, sie zu finden. Und was man findet, darf man behalten.“ „Sie ist ein Mensch und gehört dir nicht. Maria ist kein Gegenstand, Blackcage.“ Als der Angesprochene dies hörte, lachte er laut auf. „Mensch, Gegenstand, wo ist da der Unterschied? Du weißt das doch selbst genau so gut wie ich, Chino. Immerhin bist du ebenfalls ein Dämon. Menschen sind nichts weiter, als Hüllen. Hüllen, die zu schwach sind, ihren eigenen Körper zu verteidigen. Einige sind hübscher als andere, aber letztendlich halt nur Hüllen.“ „Wage es ja nicht, so abfällig über sie zu reden!“ „Sonst was?“, fragte Blackcage amüsiert und entfernte die Hand von Marias Mund. Maria fing sofort an nach Luft zu schnappen. Ihre Atemzüge verwandelten sich in ein hyperventilierendes Keuchen, gemischt mit dem Schluchzen, das die Tränen verursachten, die ihre zarten Wangen herunter rollten. „Hilf… hilf mir, Chino“, wimmerte das Mädchen verzweifelt und starrte Chino aus großen angstverzerrten Augen an. Dieser blieb wie versteinert stehen und kämpfte damit, nicht die Beherrschung zu verlieren. Maria redete. Sie redete mit ihm. Und die ersten Worte, die sie an ihn richtete, wollte er nicht hören. Chino hatte sich so sehr darauf gefreut, Zeuge ihrer ersten Worte zu sein. Und nun musste er erleben, dass diese Worte, die er sich so lange herbeigesehnt hatte, ihn mehr quälten als alles andere, das er in seinem langen Leben bereits erlebt hatte. Er wünschte sich, dass er sie nie hätte sprechen hören. Blackcage schnippte mit dem Finger und wenig später vernahm Chino ein Fauchen hinter sich. Er musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, wer hinter ihm die Treppe nach oben kroch. „Was hast du mit Felicitas gemacht?“ „Ich denke, dass ich ihr zu einem besseren Leben verholfen habe“, meinte Blackcage anteilnahmslos und drückte seine Hand wieder auf Marias Mund. „Anstatt als Sklave eines… Vampires zu arbeiten, sollte sie lieber das freie Leben als Dämon genießen.“ Inzwischen war Felicitas so weit gekommen, dass sie zwischen den Wandteppichen im Türrahmen stand. Sofort ließ Chino seinen Arm nach hinten schnellen. Ohne sich dabei umzusehen, packte er den Kopf seiner ehemaligen Assistentin, dann fuhr er herum, schleuderte ihn gegen einen der massiven Balken des Türrahmens und schaute dabei zu, wie der leblose, von Blut getränkte Körper mit einem lauten Ächzen die Treppen herunter rollte. Für einen kurzen Augenblick verharrte Chino in seiner Stellung und blickte auf die vor Blut triefende Hand an. Dann drehte er seinen Kopf langsam zur Seite. Seine Augen waren von dem gleichen Rot wie das Blut, das er vergossen hatte. „Wie hast du mich genannt?“ Die Stimme des Dämons war nicht mehr als ein leises Raunen. Grinsend schob Blackcage Maria weg und stieß sie von sich. Die junge Frau stolperte rückwärts und stieß mit den Beinen gegen einen der Koffer, woraufhin sie zu fallen drohte. Doch noch bevor sie den Boden berührte, tauchte eine Gestalt hinter ihr auf und bremste ihren Sturz. Überrascht schaute Maria nach oben und sah einen Mann mit asiatisch wirkenden Gesichtszügen. Schnell hievte er sie auf seine Höhe und umklammerte sie mit einem ähnlich festen Griff, wie Blackcage wenige Sekunden zuvor. Plötzlich bildete sich erneuter Rauch und der Asiate, der in einen braunen Ledermantel gehüllt war, war mit Maria zusammen verschwunden. „Das ist ein Moment, auf den ich ewig gewartet habe“, fauchte Chino und stürmte auf Blackcage zu. „Die Freude ist ganz meinerseits.“ Auch Blackcages Augenfarbe hatte sich in ein tiefes Rot verwandelt. Anstatt den Angriff von Chino abzufangen, ließ Blackcage seinen Gegner mit voller Wucht in ihn hinein rennen. Da er sich mit dem Rücken zur Tür positioniert hatte, schleuderte der Angriff die beiden Dämonen durch das krachend nachgebende Holz nach draußen. Die beiden rollten über den Sand und kamen auf einer Grasnarbe zum Stehen. Sofort sprangen die Kontrahenten auf und schätzen sich gegenseitig ab. „Möglicherweise habe ich dich etwas unterschätzt“, gab Blackcage anerkennend zu und ließ einen Feuerball in seiner linken Handfläche entstehen. Chino antwortete nichts darauf, sondern fixierte Blackcage weiterhin mit seinem hasserfüllten Blick. Diesmal schwor er sich dafür sorgen, dass der Dämon untergehen würde. Keuchend kam Artemis am verschlossenen Eingangstor an und sah, dass sich die Gardisten bereits in einer Reihe aufgestellt hatten, die Hellebarden auf Hüfthöhe nach vorn gerichtet. Ethos sah er nicht weit entfernt stehen, auch die Ordensschwestern und Prälat Nikolas und ein paar andere Priester waren anwesend. Eigentlich hätte Nikolas nicht da sein dürfen, sondern sich mit den anderen hohen Würdenträgern im Inneren des Vatikans schützen lassen müssen, doch das war jetzt nebensächlich. Artemis merkte, dass ihm etwas schwindelig wurde. Vermutlich durch die Wunde, doch auch daran war gegenwärtig nichts zu ändern. Um besser sehen zu können, postierte er sich neben Ethos. Dieser schaute überrascht zur Seite, als er seinen Kollegen im Augenwinkel erblickte. „Verdammt, was hast du hier zu suchen, Artemis? Du bist verwundet.“ „Komm wieder runter. So schlimm ist es nicht. Außerdem kann ich dich kaum alleine lassen, wenn wir angegriffen werden.“ Ethos erwiderte nichts weiter auf Artemis‘ Aussage. Er hatte Recht, wenn es zu einem Angriff kam, war es nicht verkehrt, jeden Priester, der mit Dämonen umgehen konnte, dabei zu haben. Unweigerlich zuckte Artemis zusammen. Unter seiner Augenklappe kam es zu den altbekannten Schmerzen. Als er den Blick wieder hob, traute er seinen Augen nicht. Im Licht der Dämmerung standen zwei Dämonen und ein riesiger weißer Löwe. Einer der beiden Dämonen war derjenige, gegen den er in London gekämpft hatte. Wie es der Bastard geschafft hatte, zu überleben, wusste Artemis nicht, aber es musste sich demnach um einen weiteren sehr starken Dämonen handeln. Anscheinend hatte er McKenzey um einiges unterschätzt, trotz der Warnung durch sein Auge. Neben McKenzey stand eine Frau, deren Aussehen der Beschreibung ähnelte, die Chino ihnen von Hildegard Krüger gegeben hatte. Beide lächelten auffordernd in die Runde, als McKenzeys Blick an Artemis haften blieb, spuckte er auf den Boden. „Mit dir habe ich noch eine Rechnung offen, Priester.“ „Keine Sorge, ich mit dir auch“, rief Artemis zurück, wodurch sich einige der Anwesenden in seine Richtung drehten. Sie hatten Artemis nicht kommen sehen und begangen den einzigen Fehler, den sie in ihrem Leben jemals machen würden. McKenzey und Hildegard hatten die Situation sofort zu ihrem Vorteil genutzt. Als einige der Gardisten unaufmerksam geworden waren, bewegten sich die beiden Dämonen in übermenschlicher Geschwindigkeit auf diese zu. Einem wurde der Hals aufgeschnitten, der andere Gardist fiel röchelnd um, ohne äußere Anzeichen einer Einwirkung. Da die Gardisten den Angriff augenblicklich registriert hatten, schlossen sie sich zu einem Kreis zusammen. Während McKenzey und Hildegard im Inneren des Kreises festsaßen, saß der Löwe geduldig einige Meter entfernt und beobachtete alles. Ethos griff in seine Hosentasche und umfasste den Rosenkranz, der sich in ihr befand. Er senkte kurz den Kopf und betete, während Artemis neben ihm seine Augenklappe abnahm. Die übrigen Priester, die noch anwesend waren, machten sich ebenfalls dazu bereit, gegen die Dämonen zu kämpfen. Zwischen all den kampfbereiten Männern wirkte Prälat Nikolas wie ein Fremdkörper, der völlige Ruhe ausstrahlte. Mit zornigen Augen schaute er auf die Dämonen in der Mitte der Gardisten. „Angriff!“, brüllte der Prälat und löste die Hölle auf Erden aus. Kapitel 14: Kapitel 14 ---------------------- Kapitel 14 Es war so dunkel, dass Hildegard die Hand vor Augen nicht mehr hätte sehen können, wäre sie kein Dämon gewesen. Durch die Reflexionen kleinster Lichtstrahlen auf ihrer Iris konnte sie immerhin sehen, welche Richtung sie einschlagen musste, um dorthin zu kommen, wo Esrada sie hinbeordert hatte. Nach einigen Schritten erreichte Hildegard eine Tür, die sie mit einem kräftigen Ruck aufstemmen musste, um in den dahinter liegenden Raum zu gelangen. Kaum war sie eingetreten, rümpfte sie schon die Nase aus Verachtung. Die Wände waren nass, so dass sich die Tapeten wellten und sich an den Ecken bereits abrollten. Der Teppich machte den Eindruck, als wäre er vor über zwanzig Jahren das letzte Mal gereinigt worden und genauso stank die stehende Luft in dem Zimmer. Zwei hohe Standlampen mit drei Birnen, dafür ohne Schirme, erhellten den Raum ausreichend, aber glücklicherweise nicht so stark, dass jede Einzelheit zu erkennen war. Hildegard wollte gar nicht wissen, welche Kleinstlebewesen in dem Teppich umher tummelten oder in welcher Farbpracht sich die verschiedenen Schimmelpilze auf den durchweichten Möbeln präsentierten. Das einzige, das sie interessierte, waren die anwesenden Personen. Anscheinend war sie die letzte. Mit der Hüfte gegen eine Kommode gelehnt, stand Nathan Blackcage, der sich lieber der Hygiene seiner Fingernägel widmete, als der neu angekommenen Dämonin. Neben ihm stand ein Mann, etwas kleiner als Blackcage, mit asiatischen Gesichtszügen und einem braunen Ledermantel. Die kurz geschnittenen Haare waren pechschwarz, seine schwarzen Augen strahlten eine eisige Kälte aus, mit welcher er Hildegard seit ihrer Ankunft sondierte. Gegenüber der beiden Dämonen saß Brooklyn auf einem wackeligen Stuhl, seine Schwerter hatte er abgenommen. Hildegard konnte erkennen, dass er inzwischen immerhin einen Verband trug. Zwar hatten seine Kräfte Schlimmeres verhindert, doch einen Kerzenständer durch den Körper gebohrt zu bekommen stellte auch für einen Dämonen eine erhebliche Verletzung dar. Sofort eilte Hildegard auf Brooklyn zu und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn, bevor sie in die Hocke ging, seine Hände fasste und ihn milde anlächelte. „Wie geht es dir?“ „Es geht schon wieder. Nicht mehr lange und es wird alles so sein wie immer“, antwortete der Dämon und gab Hildegard einen flüchtigen Kuss, dazu streichelt er ihr sanft durch die Haare. Plötzlich spürte Hildegard, wie etwas ihre linke Seite streifte. Sie ließ von Brooklyn ab und legte stattdessen ihre Hand auf den Rücken eines großen weißen Löwen, dessen Silhouette sich soeben aus der Dunkelheit geschält hatte. Das riesige Tier schaute sie mit seinen leuchtenden, Türkis wirkenden Augen aufmerksam an. Obwohl es nur wenige Sekunden gedauert hätte, Hildegard mit den riesigen Pranken in Stücke zu reißen und den Rest ihres Körpers mit den scharfen Reißzähnen zu zerfleischen, legte sich der Löwe brav auf den Boden und ließ sich durch die majestätische Mähne streicheln, dazu legte er seinen Kopf in den Schoß der Dämonin. „Hallo Leo“, flüsterte Hildegard dem Tier ins Ohr, das wie zur Antwort leise vor sich hin knurrte. „Da bist du ja endlich. Du hast dir Zeit gelassen.“ Sofort richtete Hildegard sich auf, trat einige Schritte nach vorne und schaute in die Richtung, aus der sie die tiefe grollende Stimme vernommen hatte, die zu ihr sprach. Aus dem Schatten der entgegengesetzten Ecke trat ein Mann heraus, größer als alle anderen der anwesenden Gestalten. Seine Statur wirkte schlank und athletisch, das war trotz seiner weiten Kleidung zu erkennen. Das schwarze Hemd, das er trug, saß locker über seinem Oberkörper, eine schwarze Tuchhose umspielte seine Beine. Die Ärmel des Hemdes schienen nahtlos in dazu passende Lederhandschuhe überzugehen. Auf der Gürtelschnalle des Mannes prangte eine grüne Schlange, bei der die golden verarbeiteten Giftzähne deutlich hervorstachen. Die silbernen Haare, welche bis zur Taille reichten, waren offen, jedoch so streng nach hinten gekämmt worden, dass sie nicht über die Schultern fielen. Die Augen des Mannes glichen Eiskristallen, die weit in den Höhlen des schlanken Gesichtes mit einer leichten Hakennase lagen. Zusammen mit den hohen Wangenknochen wäre er beinahe attraktiv gewesen, der schmale Mund und die zu nah aneinander stehenden Augenbrauen, gepaart mit dem strengen Gesichtsausdruck, verliehen dem Mann jedoch etwas Bedrohliches. Mit vor der Brust verschränkten Armen schaute er Hildegard an. „Wie Sie wissen, können sich nicht alle Dämonen teleportieren“, antwortete Hildegard unbedacht und wünschte sich gleich darauf, ihren Kommentar wieder zurückziehen zu können. „Entschuldigen Sie, Herr, ich habe etwas voreilig geantwortet. Es soll nicht wieder vorkommen.“ Aus dem Augenwinkel konnte Hildegard das amüsierte Grinsen von Blackcage erkennen, während sie eine leichte Verbeugung andeutete und den Kopf senkte. „Ist schon gut, Hildegard. Du kannst dich wieder zu deinem Mann begeben.“ Reumütig trabte Hildegard zurück zu Brooklyn und blieb neben diesem stehen. Sie merkte, wie der Dämon ihre Hand leicht drückte und es ihr schlagartig etwas besser ging. „Bisher habt ihr gute Arbeit geleistet. Allerdings hätte ich es mir gewünscht, den Verräter heute hier zu haben.“ Nun richtete Blackcage sich auf und zuckte mit den Schultern. „Tut mir leid, Boss, aber die Frau hat es vergeigt.“ „Wie bitte?! Ich soll diejenige gewesen sein, die es vergeigt hat?! Du hast mich abgelenkt und du warst auch derjenige, der sich um den verdammten Priester hätte kümmern sollen!“ „Wenn Ihr erlaubt, würde ich mich gerne um das Problem namens Chino kümmern“, redete Blackcage weiter und ignorierte die wütende Hildegard einige Meter entfernt. „Wenn Ihr es wünscht, werde ich ihn diesmal ein für alle Mal zur Strecke bringen. Im Grunde genommen ist er für unseren Plan doch eh wertlos. Eine bessere Unterstützung als den Nichtskönner aus dem Vatikan können wir uns nicht wünschen und Chino wird nicht mehr wissen können als der.“ Der Mann schien über den Vorschlag nachzudenken. „Wenn Ihr es erlaubt, Esrada, erinnere ich Euch gerne daran, dass ich es schon einmal mit Chino zu tun gehabt habe. Wie Ihr wisst, habe ich ihn damals nur nicht getötet, um Maria nicht in Gefahr zu bringen. Solltet Ihr es wünschen, werde ich sie mit ihm umbringen.“ „Das wagst du nicht!“ Hildgard war inzwischen so wütend, dass sie die Hände zu Fäusten ballte. Um sie herum waren einige Schatten aufgezogen, die sich nach und nach zu geisterhaften Gesichtern formten. Sie streckten ihre Hände nach vorne aus und starrten mit ihren leeren Augenhöhlen flehend hinauf, dazu öffneten sie die schwarzen Münder, um leise verzerrte Schreie auszustoßen. „Wenn du meiner Schwester auch nur ein Haar krümmst, habe ich keinen Grund mehr, länger bei euch zu bleiben. Und ich hätte somit auch keinen einzigen Grund, Abschaum wie dich am Leben zu lassen!“ „Ich habe eine bessere Idee“, brachte sich Esrada zurück in das Gespräch. „Hier wird niemand irgendwen umbringen. Nathan, ich beauftrage dich damit, Maria zu entführen. Ich hoffe, dass das einerseits Hildegard dazu bringen wird, sich wieder zu beruhigen.“ Den Blick, welchen Esrada der Angesprochenen schenkte, konnte diese nicht missverstehen. Hildegard rang sich dazu durch, sich wieder etwas zu entspannen, was auch die Schattengesichter um sie herum verschwinden ließ. „Andererseits haben wir ein Druckmittel, welches wir anwenden können, um Chino zum Reden zu bringen. Möglicherweise können wir ihm so eine Falle stellen oder gar dazu bewegen, für uns zu arbeiten.“ „Das ist eine brillante Idee, Boss“, säuselte Blackcage entzückt. „Ich werde mich schnellstmöglich darum kümmern.“ „Du hast Recht, wir sind nicht auf Chino angewiesen, aber wie wir inzwischen wissen, bringt es nichts, die beiden Priester durch weitere unnütze Fallen schwächen zu wollen. Wir müssen Ethos und Artemis dort treffen, wo es wirklich weh tut. Und bei Ethos bin ich mir ziemlich sicher, dass ihn unschuldige Opfer und Verrat wesentlich stärker schwächen, als jede Wunde, die wir ihm zufügen könnten. Er und Artemis müssen psychisch geschwächt werden, bevor sie wirklich angreifbar sind. Das hat die Analyse der Vorfälle in Frankreich und London bewiesen. Ich will, dass diesmal alles klappt. Wenn du gehst, nimm Kyro mit, Nathan.“ „Verstanden.“ Blackcage verbeugte sich grinsend, dann kehrte er an seinen ursprünglichen Platz zurück, lehnte sich erneut gegen die Kommode und widmete sich seinen Fingernägeln. „Bei allem Respekt, Herr“, schaltete sich nun auch Brooklyn ein. „Aber im Grunde genommen sollte Blackcage die Falle stellen, nicht ich.“ „Was offensichtlich nicht funktioniert hat“, fuhr Esrada dazwischen und brachte Brooklyn somit zum Verstummen. „Für dich und deine Gattin habe ich ebenfalls eine Aufgabe von der ich hoffe, dass ihr diesmal dazu in der Lage sein werdet, sie zu erfüllen. Lenkt die Priester des Vatikans ab, während Nathan und Kyro sich um Maria und Chino kümmern. Es geht mir lediglich darum, dass weder Ethos, noch Artemis die Chance bekommen, Chino beiseite zu stehen. Auch wenn ich weiß, wie mächtig ihr seid, wissen wir alle, dass ein offener Kampf gegen sämtliche Priester und Gardisten des Vatikans doch euer Todesurteil bedeuten würde. “ „Verstanden“, antworteten Hildegard und Brooklyn gleichzeitig. „Morgen Abend werden wir uns daran machen, den Plan in die Tat umzusetzen. Aufgrund der entlaufenen Polizistin und der Münzen, die wir an den jeweiligen Orten zurück gelassen haben, sollten die Priester genügend aufgeschreckt sein, ebenso Chino. Bei Chino besteht die Gefahr, dass er fliehen könnte, weshalb wir so schnell wie möglich reagieren sollten. Wir treffen uns das nächste Mal in unserem Unterschlupf in Italien. Bis dahin weiß jeder, was er wann zu tun hat. Nathan und Kyro werden nicht tätig, bevor Hildegard und Brooklyn sich daran gemacht haben, den Vatikan aufzumischen. Lasst euch nicht auf einen längeren Kampf mit Chino oder den anderen ein, holt Maria und verschwindet. Sorgt dafür, dass Chino eine Gelegenheit erhält, zu der er Maria wiedersehen kann. Den Rest überlasse ich euch.“ Esrada schloss die Besprechung mit diesen Worten und verschwand in dem Schatten, aus dem er gekommen war. Blackcage wiederum löste sich in Rauch auf, genau wie Kyro. Zurück blieben Hildegard und Brooklyn, die sich fragend ansahen. Vorsichtig versuchte Brooklyn sich aufzurichten, kurz darauf lockerte er den Verband, der sich um seine Brust herum befand. Er blickte an sich herab und stellte fest, dass die Wunde verheilt war, nur etwas Schorf war noch auf seiner Haut zu erkennen. Auch der weiße Löwe war wieder aufgestanden und knurrte leise. Nachdem er die Analyse seiner Wunde abgeschlossen hatte, kam Brooklyn auf Hildegard zu und umarmte sie, presste ihren weichen Körper fest an seinen heran. „Wir werden noch die Gelegenheit bekommen, ihm das zu geben, was er verdient hat.“ „Die Frage ist nur, wann das geschieht und ob es dann zu spät sein wird.“ „Mach dir keine Sorgen, wir werden Maria finden, sie befreien und dann mit ihr zusammen verschwinden. Ich weiß, du sehnst dich seit einer halben Ewigkeit nach einem Leben ohne Hass und Zerstörung. Halte noch etwas durch und wir werden es schaffen.“ Als Hildegard ihren Kopf hob, rollten ihr die ersten Tränen über die Wangen. Mit dem Rücken seines Zeigefingers fing Brooklyn diese auf und lächelte die Dämonin liebevoll an. Dann zog er sie so kräftig, wie es ihm möglich war, an sich und küsste sie auf den Mund. Seufzend schloss Hildegard die Augen und ließ sich von dem Kuss gefangen nehmen, damit sie alles andere um sich herum vergessen konnte. Blackcage ballte seine linke Hand, in der er noch immer den Feuerball gefangen hielt, zu einer Faust und stürmte auf Chino zu. Er wollte dem anderen Dämon einen Schlag verpassen, doch dieser wich der Attacke aus, indem er zur Seite hechtete. Sofort drehte sich Blackcage in die Richtung, in die sich Chino gerettet hatte und startete einen zweiten Versuch, seinen Gegner mit der Faust zu verletzen. Diesmal wich Chino nicht aus, sondern lief in den Angriff hinein. Er spürte einen brennenden Schmerz an seiner Wange, als die heißen Flammen die Haut berührten und versenkten. Allerdings hatte Blackcage ihn lediglich streifen können und war sichtlich überrascht, als Chino ihm seine Faust in den Magen rammte. Blackcage machte daraufhin einen Sprung nach hinten und würgte kurz, dann fasste er sich und stieß ein leises Knurren aus. Chino wiederum rieb sich über die Wange und zuckte beim ersten Kontakt zusammen. Zwar konnte er nicht sehen, wie stark seine Haut verbrannt war, die Schmerzen sprachen jedoch für sich. Egal, diese Wunde würde bald verheilen. Wieder war es Blackcage, der sich als erster rührte. Zuerst schleuderte er einen Feuerball auf Chino. Als er merkte, dass er es höchstens schaffte, die umliegende Rasenfläche in Brand zu stecken, verringerte Blackcage den Abstand zu Chino, bis die beiden nur noch zwei Armlängen voneinander trennten. Chino war sich darüber bewusst, dass seine Fähigkeiten denen von Blackcage im Moment deutlich unterlegen waren. Er konnte keine Angriffe starten, die einen größeren Abstand zu seinem Gegner erlaubten. Im Nahkampf hätte Chino bedeutend größere Chancen, Blackcage ernsthaft zu verletzen, doch so, wie es momentan aussah, konnte er nur reagieren, keinesfalls agieren. Blackcage schien sich seines Vorteils ebenfalls bewusst zu sein. „Was ist los, Chino? Hast du Angst, dich in einem Kampf mit mir zu messen?“, fragte Blackcage höhnisch grinsend. Anstatt ihm zu antworten, musterte Chino den gegenüber stehenden Feind. Er musste eine Schwachstelle besitzen. Jeder Dämon besaß einen wunden Punkt. Von der Schnelligkeit her war Chino Blackkcage zwar überlegen, doch je länger der Kampf dauerte, desto weniger nützte ihm dieser Vorteil. Inzwischen hatten sich einige der anfangs kleinen angesengten Stellen auf dem Rasen zu wahren Bränden entwickelt. Um die beiden kämpfenden Dämonen stiegen die Flammen knisternd in die Höhe. Chino rann der Schweiß die Stirn herunter. Noch war er nicht von dem Feuer eingeschlossen worden, doch er vermutete, dass dies eine der Taktiken von Blackcage war, um ihn in die Ecke zu drängen. Demnach war die einzige Möglichkeit, die Chino für sich sah, ein direkter Angriff, der Blackcage möglichst bald Schaden zufügen würde. Obwohl Blackcage sich dazu bereit gemacht hatte, Chino erneut mit seinem Feuer anzugreifen, ergriff Chino nun die Alternative. Blackcage blieb nichts anderes übrig, als den Angriffen des anderen Dämons auszuweichen. Bald hatte Chino es geschafft, sich aus dem Gebiet, das von den Flammen eingenommen worden war, zu befreien. Er hatte nun wieder zu allen Seiten hin Raum. Als Chino, den Mund weit aufgerissen, auf Blackcage zustürmte, wirkte dieser so amüsiert wie der Dompteur eines wilden Tieres, der gerade dabei war, sich für das Publikum in eine überschaubare Gefahr zu begeben. Gerade, als Blackcage sich über Chino lustig machen wollte, schnappte dieser zu. Er biss Blackcage in das Handgelenk und presste seine Kiefer aufeinander, dazu rammte er seine spitzen Fingernägel in die Rückseite von Blackcages Arm. Schlagartig wich dem schwarzhaarigen Dämon das Grinsen aus dem Gesicht. Ungläubig schaute Blackcage dabei zu, wie sein Blut durch seinen Mantel sickerte und in kleinen Tropfen auf den Boden fiel. Blankes Entsetzen durchfuhr ihn. Sofort schüttelte Blackcage seinen Arm, doch Chino biss so fest zu, dass die kleinste Bewegung ungeheure Schmerzen versursachte. „Du hast mich gebissen!“, schrie Blackcage. „Du verdammter Bastard hast mich gebissen!“ Chino schaute von unten in Blackcages entsetztes Gesicht. Diesmal war er derjenige, der ein amüsiertes Grinsen aufsetzte. Durch immer kräftigere Bewegungen versuchte Blackcage Chino abzuschütteln. Doch je stärker seine Bewegungen wurden, desto tiefer vergrub Chino seine Zähne in dem Fleisch seines Gegners. Blackcage schien die blanke Panik ergriffen zu haben, denn seine Augen weiteten sich aus Furcht so stark, dass die roten Pupillen nur noch als glühende Punkte auf der weißen Lederhaut zu erkennen waren. Als er sich mit einem besonders ausladenden Stoß befreien wollte, ließ Chino Blackcage los. Aufgrund der starken Drehbewegung konnte dieser sich nicht mehr vollständig kontrollieren. Blackcage stand mit dem Rücken zu Chino, was dieser auszunutzen suchte. Mit einem Sprung wollte Chino Blackcage anfallen, doch dieser drehte sich erneut und wehrte seinen Angreifer mit dem Unterarm gerade noch rechtzeitig ab. Der Aufprall war so heftig, dass Chino einige Meter nach hinten geschleudert wurde. Kaum auf dem Boden angekommen, richtete Chino sich wieder auf. Etwas in Blackcage schien sich verändert zu haben. Die vorher noch überhebliche und selbstsichere Mimik war einem angespannten Ausdruck gewichen vermischt mit etwas, von dem Chino niemals erwartet hätte, es bei Blackcage jemals zu Gesicht zu bekommen. Angst. „Na warte, du Ratte“, knurrte Blackcage und führte seine Hände vor sich zusammen. In dem Inneren der beiden Handflächen formte sich eine leuchtende Kugel. Als Chino genauer hinsah, konnte er erkennen, dass es sich nicht um ein einfaches Feuer handelte. Vielmehr besaß die Kugel einen Kern, der aussah, als bestünde er aus glühend heißem Magma. Zuerst nahm Chino an, dass Blackcage noch immer einige Flüche vor sich hin grummelte, doch dann sah er in der Ferne einen Blitz über das Firmament ziehen. In der Hitze des Kampfes hatte er nicht bemerkt, wie ein Gewitter herauf gezogen war. Was zunächst als simple Veränderung des Wetters von Chinos Gehirn registriert worden war, bahnte sich langsam seinen Weg als taktisches Element in sein Bewusstsein. Wie auf ein Stichwort brach die dunkle Wolkendecke auf. Strömender Regen prasselte auf die Erde nieder und löschte nach und nach einige der kleineren Feuer, die sich auf Chinos Rasen ausgebreitet hatten. Binnen Sekunden waren beide Dämonen klatschnass. „Sieht schlecht für dich aus, Arschloch“, sagte Chino mit einem triumphierenden Lächeln und setzte sich langsam in Bewegung. In dem Regen würde Blackcage kaum dazu in der Lage sein, seine Fähigkeiten in voller Stärke einzusetzen. Der Regen wirkte wie ein Vorhang, welcher sich zwischen die beiden Dämonen geschoben hatte. Mit jedem Schritt, den er tat, hatte Chino das Gefühl, diesen Vorhang ein Stück weiter zu öffnen. Auch Blackcage schien seinen verlorenen Vorteil inzwischen zu akzeptieren. Seufzend nahm er seine Hände wieder auseinander und schüttelte lachend und mit geschlossenen Augen den Kopf. Blackcage beruhigte sich anscheinend wieder, denn kaum hatte er sein Lachen beendet, schaute er Chino, der wenige Schritte von ihm entfernt zum Stehen gekommen war, direkt in die Augen. „Glaub mir, das hier ist noch nicht vorbei. Ich werde dich töten, Chino. Und ich werde es genießen. Aber nicht heute.“ „Wage es ja nicht, abzuhauen, du Feigling!“ Doch noch bevor Chino den letzten Abstand zwischen sich und Blackcage überbrücken konnte, war dieser bereits in einigen Rauchschwaden verschwunden. Um ihn noch erreichen zu können, hatte Chino sich auf ihn stürzen wollen. Da Blackcage jedoch verschwunden war, fiel Chino durch den Rauch hindurch und landete, den Kopf voran, in dem Matsch eines durch den Regen aufgeweichten Sandweges. Sofort stützte sich Chino mit einer Hand auf dem Boden ab, mit der anderen schlug er immer wieder auf den durchweichten Sand unter sich. Dazu brüllte er aus voller Kehle in den Himmel hinauf, als wolle er diesen für die fehlgeschlagene Rache und den Verlust seiner geliebten Maria verantwortlich machen. Dass Chino sich durch die unkontrollierten Schläge nur noch mehr Schmutz auf den Körper beförderte, war ihm egal. Er fühlte eine Wut in sich, von der er dachte, sie nie wieder spüren zu müssen. Wie ein verwundetes Tier kniete er auf dem Boden und heulte seinen Schmerz in die Welt hinaus. Erst einige Minuten später, als Chino sich zumindest etwas beruhigt hatte, stand er auf und schaute sich um. Sein Blick fiel abwechselnd erst auf das Anwesen, das hinter ihm lag, dann auf die noch immer lodernden Flammen, die sich in verzweifelten letzten Zügen gegen den Regen zu behaupten versuchten. Dann, wenige Sekunden später, konnte Chino Rauchwolken am Himmel erkennen. In der Ferne ertönten Schreie. Sofort setzte sich der Dämon in Bewegung. Trotz des Regens wurde der Teil seiner Psychiatrie, welcher sich weiter hinten befand, von einer Feuersäule umschlossen. Wie gebannt starrte Chino in das Feuer, dessen Anblick ihn von zu lähmen schien. Der Geruch nach verbranntem Fleisch hing in der Luft und spätestens jetzt realisierte Chino, dass es hier nichts mehr für ihn zu tun gab. Als die ersten Blitze über den Himmel zuckten, war das Ornament aus schwarzem und weißem Marmor, das sich auf einem Platz im Inneren des Vatikans befand, bereits ein blutiges Schlachtfeld. Überall lagen Leichen oder Verwundete, nur die beiden Dämonen und ihr Löwe schienen noch immer unbeschadet. Während Brooklyn und Hildegard ein Dutzend der Gardisten außer Gefecht gesetzt hatten und der Großteil der Priester durch diesen Anblick zurück geschreckt war, lag es an Ethos, Artemis und Roth, das Massaker einzudämmen. Die Gardisten, die noch übrig geblieben waren, hatten sich an einer Stelle versammelt, um sich gegenseitig den Rücken frei zu halten. Roth stand vor seinen Männern. In seinen Händen befand sich eine Hellebarde mit einer gewaltigen Klinge am vorderen Ende, welche Hildegard und Brooklyn bisher erfolgreich davon abgehalten hatte, weitere Angriffe auf die Gardisten auszuführen. Stattdessen näherte sich der Löwe immer wieder, wurde jedoch durch die warnenden Schwünge, die Roth ausführte, wieder zurück getrieben. Allerdings verhinderte dies, dass der Leutnant sich von der Stelle, an der er gerade stand, weg bewegen konnte. Kaum machte er einen Schritt nach vorne, setzte der weiße Löwe zum Angriff an. Das Tier war um einiges größer als alle Löwen, welche Ethos bislang gesehen hatte. Alleine seine Pranken waren dazu geeignet, einen Menschen innerhalb weniger Sekunden in Stücke zu reißen. Über das, was der Löwe mit seinen riesigen Zähnen anstellen konnte, wollte er gar nicht erst nachdenken. Während der Löwe auf und ab lief, sahen sich Artemis und Ethos den beiden anderen Dämonen gegenüber stehen. Wie auch immer sie Brooklyn oder Hildegard angriffen, wichen die beiden entweder aus oder setzten zu effektiven Gegenschlägen an. Ethos hatte sich mit Hildegard auseinandergesetzt, Artemis versuchte sich in einer Revanche gegen Brooklyn. Dieser erschien Artemis jedoch um einiges geschickter und stärker, als er ihm in Erinnerung geblieben war. Möglicherweise hing dies mit seiner Verletzung zusammen, doch auch so beschlich Artemis das Gefühl, dass Brooklyn längst nicht alles von seinem Können zum Besten gegeben hatte. Mit seinen kleinen Messern musste Artemis jedenfalls bald einsehen, dass er dem Dämon unterlegen war. Auch bei Ethos sah es nicht besser aus. Einige Male hatte er Hildegard durch Angriffe mit seiner Pistole oder andere geweihte Mittel schwächen wollen, diese hatte sich davon allerdings ziemlich unbeeindruckt gezeigt. Dabei war Ethos aufgefallen, dass Hildegard eine Fähigkeit zu besitzen schien, die sie deutlich von den anderen Dämonen unterschied. Alleine eine Berührung der schönen Dämonin konnte tödlich enden, ohne dass sie dafür eine Waffe benutzen musste. So ganz hatte Ethos noch nicht herausgefunden, was es damit auf sich hatte, doch ab und zu konnte er beobachten, dass Hildegard von kreischenden Schatten in der Form von Totenköpfen oder Skeletten begleitet wurde. Momentan stand ihm Hildegard jedoch allein gegenüber. Artemis und er hatten sie von Brooklyn trennen können, was ihre Zuversicht jedoch nicht einschränkte. „Was wollt ihr hier?“, fragte Ethos, um Hildegard etwas abzulenken. Weder er, noch die Dämonin wirkten besonders angespannt. Es war, als wolle Ethos sie in ein nettes Gespräch verwickeln. „Wonach sieht es denn aus?“, stellte Hildegard die Gegenfrage. „Für wen arbeitest du?“ „Das weißt du bereits“, antwortete die Dämonin lächelnd. „Falls du denkst, dass du durch dumme Fragen mehr über uns oder Esrada erfährst, muss ich dich leider enttäuschen, Ethos.“ Als Ethos hörte, wie Hildegard seinen Namen aussprach, lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken. Ihm war, als besäße sie eine eigenartige Macht über ihn, die ihn jederzeit vernichten konnte. „Ich verstehe nur nicht, warum ihr den Vatikan angreift. Ich meine, warum ihr das tut, ist klar. Aber warum gerade jetzt und ohne euren großen Meister?“ Bei dem Wort „Meister“ verzog Hildegard kurzzeitig abschätzig einen Mundwinkel. Sie war es anscheinend leid, sich mit Ethos zu unterhalten. „Warum wir das tun, kann euch doch egal sein. Ihr werdet das Ende unseres Plans eh nicht mehr erleben.“ Mit diesem Satz war das Gespräch für die Dämonin erledigt. Sie stürzte sich auf Ethos, doch der fing Hildegard ab, indem er ihre Handgelenke zu fassen bekam. Sofort durchströmte Ethos eine eisige Kälte. Ihm war, als würden Würmer durch seine Hände kriechen und sich ihren Weg durch seine Muskeln und Sehnen bahnen. Kleine Spitzen wanderten durch seinen Körper und kurz bevor das merkwürdige Gefühl sein Herz erreicht hatte, ließ Ethos die Handgelenke der Dämonin los und brachte etwas Abstand zu ihr auf. Schwer atmend musterte er Hildegard von oben bis unten. „Überrascht?“ Ethos wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Ihm war schwindelig. Für einen kurzen Augenblick hatte er sich gefühlt, als würde Hildegard ihm das Leben direkt aus dem Körper heraus ziehen und ihn stattdessen mit Tod und Verwesung füllen. „Was ist das für ein Zauber?“ „Zauber“, erwiderte Hildegard abschätzig. „Mit Zauber hat das nichts zu tun. Aber wenn du mehr darüber herausfinden willst, kann ich das gerne arrangieren.“ Sofort machte sich Hildegard daran, einen weiteren Angriff auszuführen. Beim ersten Mal konnte Ethos noch ausweichen, doch dann schaffte es die Dämonin, ihn am rechten Oberarm zu packen. Neben Hildegard erschienen einige schwarze Gestalten, auf die Ethos sich allerdings nicht konzentrieren konnte. Wieder übermannte ihn ein Gefühl völliger Kraftlosigkeit und zog sich durch seinen Körper. Diesmal war er jedoch vorbereitet. In ihm breitete sich eine wohlige Wärme aus, als er sich darauf fixierte, die dunkle Macht, die Besitz von ihm ergreifen wollte, zurück zu drängen. Als Hildegard spürte, wie ihre Handfläche zu brennen begann, zog sie ihre Hand zurück. „Wie… wie kann das sein? Du kannst dich gegen meine Todesmagie wehren…?“ „Anscheinend habt ihr doch nicht so gut recherchiert, wie es aussieht“, rief Ethos in einem spöttischen Ton. Obwohl er es geschafft hatte, Hildegards Zauber irgendwie abzuwehren, hatte es ihm einiges an Kraft abverlangt. Da dieser Kampf primär im Inneren seines Körpers ausgefochten worden war, fühlte er sich sichtlich geschwächt. Trotzdem schien seine Gegnerin sich zurück halten zu wollen. Hildegard hatte bislang keine Waffe eingesetzt oder ihn ernsthaft verletzt. Immer, wenn sie angriff, fielen ihr – so schwer ihm der Gedanke auch fiel – ersetzbare Menschen zum Opfer. Weder er, noch Artemis waren arg in Bedrängnis geraten, abgesehen von der Situation einige Minuten zuvor. Der einzige, der gegenwärtig mit einem ernsthaften Angreifer zu kämpfen hatte, war Roth. Artemis und Brooklyn dagegen bekämpften sich zwar etwas ernster als Ethos und Hildegard, wirkten allerdings auch schwerfällig und gerade Brooklyn schien die ganze Sache wenig ernst zu nehmen. Obwohl er bereits häufiger die Gelegenheit gehabt hatte, Artemis zu verletzen, hatte er diese nicht wahrgenommen. Artemis konnte sein dämonisches Auge nicht im vollen Umfang nutzen. Der geweihte Boden des Vatikans lähmte es zwar nicht vollständig, schränkte seine Macht jedoch um einiges ein. Plötzlich ertönte ein lautes Brüllen. Der weiße Löwe stellte sich auf die Hinterbeine und setzte zu einem Sprung an. Hinter Roth stoben die Gardisten auseinander, so dass nur noch Roth dem Löwen gegenüber stand. Anstatt sich darüber zu ärgern, lenkte Roth seine gesamte Konzentration auf das Tier. Bereits durch sein Gewicht konnte der Löwe zu einer ernsthaften Bedrohung werden. Doch Roth fing die Pranken des Löwen mit dem Schaft seiner Hellbarde ab. Das Metall fing den massigen Körper auf, so dass der Löwe mit den beiden vorderen Pranken gegen die Hellebarde drückte. Die Hinterbeine auf den Boden gestemmt, versuchte der Löwe Roth mit seinen Zähnen zu fassen zu bekommen. Aufgrund des Winkels, den Roth vorausschauend mit der Hellebarde eingeschlagen hatte, bekam sein Angreifer allerdings nicht mehr als das kalte Metall zwischen die Zähne. Mit jedem Biss wurde der Löwe ungeduldiger. Inzwischen wirkte er mit seinem gesamten Gewicht auf Roth ein. Der Kommandant der Gardisten konnte nichts weiter tun, als das riesige Tier abzuwehren. Doch je länger er dies tat, desto weniger Kraft konnte er aufbringen. Inzwischen bog sich Roths Rücken durch und er fiel in ein Hohlkreuz. Indem er alles an Muskelkraft aufbrachte, was ihm zur Verfügung stand, winkelte Roth die Arme an. Für einen kurzen Augenblick klaffte das Maul des Löwen vor seinem Gesicht weit auf. Es war, als blicke er in einen tiefen Abgrund, gespickt mit weißen Zacken, die wie lebende Wände auf und ab wogen und ihm ihren heißen Atem auf die Haut bliesen. Roth wollte die Bestie mit einer kraftvollen Bewegung nach hinten hin abschütteln, doch als er die Arme nach vorne streckte und seinen Körper nach vorne schnellen ließ, kam es ihm vor, als drücke er gegen eine Wand aus Beton. Der Löwe war vielleicht einen Zentimeter nach hinten gewichen, mehr hatte Roth nicht erreichen können. Innerlich musste Roth sich eingestehen, dass er nicht mehr lange durchhalten würde. Die Bestie, mit der er gerade kämpfte, war zu stark. Obwohl er sich bereits gegen einige Dämonen hatte behaupten können, war dieses weiße Ungetüm etwas, dem sich Roth nicht gewachsen sah. Merkwürdigerweise war er in diesem Moment weniger von dem Gedanken, dass er unterliegen und sterben könnte geplagt, als davon, dass er eine tiefe Enttäuschung empfand. Die Gardisten, die er so hart trainiert hatte, waren davon geeilt und hatten ihre Pflicht anscheinend völlig vergessen. Sie hatten ihn allein gelassen und waren nicht imstande gewesen, den Kampf auszufechten, auf den er sie vorbereitet hatte. Der Gedanke, versagt zu haben, wog schwerer und schmerzhafter in ihm, als die Krallen des Löwen, die sich in seine Unterarme geschlagen hatten. Erschöpft sank Roth auf die Knie. Noch immer hielt er seine Hellebarde zum Schutz über sich. Selbst wenn er es nicht mit der Bestie aufnehmen konnte, so wollte er wenigstens Widerstand leisten, bis der letzte Hauch an Leben aus ihm herausgefahren sein würde. Doch anstatt über Roth herzufallen, schrie der Löwe plötzlich auf und krümmte den Oberkörper. Sofort rollte Roth sich zur Seite, so dass er nicht mehr unter dem Löwen, sondern einige Meter von ihm entfernt war und aufstehen konnte. Eine Pfote erhoben, schaute der Löwe an seiner Flanke herunter, in der drei kleine Pfeile steckten. Sowohl Roth, als auch der Löwe schauten zum selben Zeitpunkt in die Richtung, aus der die Pfeile allem Anschein nach gekommen waren. Ein Lächeln zuckte über Roths Mundwinkel, als er wenige Meter entfernt Steve sah. Zitternd hielt er eine kleine Armbrust vor sich, als könne er so verhindern, dass der Löwe ihn bemerken würde. Fauchend richtete dieser seine hellen Augen auf Steve und wollte gerade zu einem Sprung ansetzen, als der junge Mann einen weiteren Hagel aus Pfeilen auf ihn niederprasseln ließ. Da der Löwe damit beschäftigt war, den Pfeilen auszuweichen, konnte er sich somit nicht mehr darauf konzentrieren, was Roth tat. Dieser wartete ab, bis Steve eine Pause einlegte, um nachladen zu können, dann griff er den Löwen an. Von dem Mut ihres Kommandanten ergriffen, lösten sich immer mehr der Gardisten, die sich in den Hintergrund des Geschehens zurückgezogen hatten. Zuerst nur zaghaft, dann ebenfalls mit einem Kampfschrei, kamen sie ihrem Kommandanten zur Hilfe. Noch bevor Roth bei dem riesigen Tier angekommen war, blickte dieses sich um und flüchtete. Anstatt jedoch die Verfolgung aufzunehmen, blieb Roth stehen und klopfte Steve auf die Schulter. Er warf ihm einen anerkennenden Blick zu, doch Steve schien ganz woanders zu sein. Weiterhin zitternd schaute er durch Roth hindurch und wurde wenig später in die schützende Mitte der übrigen Gardisten, die inzwischen bei ihm und Roth angekommen waren, genommen. Mit einigem Missmut beobachtete Roth, dass der Löwe zu dem Dämonen gelaufen war, gegen den Artemis kämpfte. Trotz des Einsatzes seines Auges wies Artemis‘ Körper einige neue Wunden auf und auch diejenigen, die er von dem Kampf in London davongetragen hatte, schienen teilweise neu aufzubrechen. Aus diesem Grund schien es Brooklyn nicht weiter für nötig zu befinden, sich großartig um Artemis zu scheren. Anstatt darauf zu achten, was der Priester machte, streichelte er dem Löwen über den Kopf und begrüßte ihn ausgiebig. Danach machte sich der Dämon daran, einige der Pfeile aus dem Körper des Löwen zu ziehen und diese achtlos auf den Boden zu befördern. „Habe ich dir schon Leo vorgestellt?“, fragte Brooklyn lächelnd, nachdem er alle Pfeile beseitigt hatte. „Er ist so eine Art Haustier von mir.“ „Nett“, murmelte Artemis und versuchte dabei möglichst unbeeindruckt zu klingen. Es ärgerte ihn, dass Brooklyn ihn mit derartigem Desinteresse behandelte. Andererseits war er froh, dass die Gardisten es endlich über sich gebracht hatten, aktiv in den Kampf einzugreifen. Alleine würde er nicht mehr lange durchhalten können. Artemis fühlte sich, als würden tausende von Nadeln seinen Körper von innen heraus zerstechen. Nur mit Mühe hielt sich Artemis auf den Beinen, doch das zu zeigen, konnte er sich kaum erlauben. Genau wie Ethos wurde er das Gefühl nicht los, als spielten die Dämonen mit ihnen. Brooklyn und Hildegard hatten Schaden angerichtet, Artemis bezweifelte jedoch keine Sekunde lang, dass das noch lange nicht das gesamte Ausmaß an Zerstörung darstellte, zu dem die beiden imstande waren. Um darüber genauer nachzudenken würde Artemis später noch genügend Zeit haben, nun galt es, sowohl Brooklyn, als auch seinen Löwen auf Distanz zu halten. Zusammen waren die beiden dazu übergegangen, Artemis einzukreisen. Brooklyn hatte zwei seiner Schwerter in den Händen und hatte Artemis mit einem vorhersehbaren Angriff abgelenkt. In der Zwischenzeit hatte sich der Löwe um Artemis herum geschlichen und befand sich nun hinter dem Priester. Da der Löwe für Artemis die momentan größere Gefahr darstellte, drehte dieser sich um und parierte eine der mächtigen Pranken mit seinen Messern. Brooklyn wollte die Gelegenheit nutzen und den Priester mit seinen Schwertern attackieren, wurde allerdings von einer schmalen Gestalt, welche sich zwischen die beiden gestellt hatte, aufgehalten. Es handelte sich um eine Nonne, die einen Degen über ihren Kopf hielt, um sich zu schützen. Als er hörte, wie die verschiedenen Arten von Metall aufeinander trafen, stieß Artemis einen erleichterten Seufzer aus. „Du hast dir Zeit gelassen, Lydia.“ „Ist doch egal, bist ja nur du“, antwortete die Nonne und drückte die Schwerter über ihren Kopf zur Seite. Sofort setzte Lydia nach, indem sie die Klinge ihres Degens nach vorne schnellen ließ und drängte Brooklyn somit rückwärts zurück und schaffte zusätzlichen Abstand zwischen ihm und Artemis. Dieser konnte sich so voll und ganz dem Löwen widmen, welcher ihn fauchend anstarrte. Das Grollen des Donners über ihnen hatte inzwischen an Intensität zugenommen. Zuerst spürte Ethos nur einige wenige Tropfen auf seinem Gesicht, doch bald nahm der Regen zu und nahm ihm fast die Sicht. Hildegard hingegen schien plötzlich innezuhalten. Obwohl sich die Gelegenheit geboten hatte, Ethos mit einem vorbereiteten Fluch (Ethos war sich inzwischen ziemlich sicher, dass die Dämonin mit Flüchen arbeitete, denn obwohl sie keine Waffen nutzte, schien eine einzige Berührung von ihr zu genügen, um Menschen zu töten) zu treffen, zog sie sich mit einem Mal zurück. „Brooklyn!“, rief sie und als der Angesprochene sich etwas Freiraum erkämpft hatte, nickte dieser ihr zu. „Wir werden uns mit Sicherheit noch einmal wieder sehen. Das hier ist nicht die letzte Begegnung. Ich rate dir und deinen Kollegen, euch für das nächste Treffen besser vorzubereiten. Das nächste Mal werden wir nicht nur mit euch spielen.“ Mit diesen Worten streckte Hildegard die Hände in die Luft. Es bildete sich dunkle Schatten um ihre Handflächen herum, die sich immer stärker verdichteten und mit dem Umhang des Regens zu vermischen schienen. Plötzlich ertönte ein lauter Knall und ein blauer Feuerball explodierte über der Dämonin. Schützend legte Ethos sich einen Arm vor die Augen und duckte sich instinktiv. Als er sich vergewissert hatte, dass nichts mehr geschah, senkte er seinen Arm und spähte vorsichtig über diesen hinüber. Hildegard und Brooklyn waren verschwunden und bis auf das rhythmische Geräusch des Regens, das entstand, sobald die Tropfen auf dem Marmor aufschlugen, war es gespenstisch still. Ethos drehte sich um und sah, wie sich Artemis schnaufend an einem Zaun aus Eisen abstützte. Lydia stand, nicht weit von Artemis entfernt, aufmerksam und mit erhobenem Degen da und suchte die Umgebung nach möglichen Feinden ab. Einige Priester hatten sich versammelt, um die Ausmaße des Angriffs, den sie gerade erlebt hatten, stumm zu überblicken. Roth kniete auf dem Boden und betete leise und mit geschlossenen Augen für die gefallenen Gardisten, die leblos vor ihm lagen und dessen Blut sich mit dem gesammelten Regenwasser vermischte. Der Rest seiner Truppe bildete einen Kreis um die toten Soldaten und betete ebenfalls, einige halfen den Verletzten auf die Beine und stützten sie. Als Ethos sich umdrehte, sah er, wie sich jemand hinter ihm näherte. Stumm registrierte Ethos, wie Chino auf ihn zukam und wenige Meter entfernt stehen blieb. An seiner Wange konnte er eine verbrannte Stelle erkennen. Chinos weit aufgerissene, rot glühende Augen waren auf Ethos gerichtet, der Atem des Dämons ging schwer, sein Brustkorb senkte und hob sich in einem unnatürlichen Rhythmus. Die rotbraunen Haare klebten ihm einzeln im Gesicht und die komplette Kleidung des Spaniers war bis auf den letzten Zentimeter durchnässt. Ohne ein Wort zu sagen ging Ethos einen Schritt zur Seite, so dass auch Chino sehen konnte, was in den letzten Stunden im Inneren des Vatikans vor sich gegangen war. Nachdem Chino die vielen Verletzten und Toten erblickte, wand er sich wieder Ethos zu. In einem stillen Einverständnis kamen der Priester und der Dämon überein, dass ihre Feinde ihren letzten Fehler begangen hatten. Kapitel 15: Kapitel 15 ---------------------- Kapitel 15 Schon zu Beginn der einberufenen Sitzung wusste Ethos, dass diese länger dauern würde als üblich. Alle Prälaten, die etwas in den Angelegenheiten der Abteilung zu sagen hatten, waren gekommen. Neben Nikolas waren Dominic, aber auch Albertus und Magnus, verantwortlich für die Finanzen und das Missionarswesen, sowie Oberschwester Mathilde anwesend. Leutnant Roth saß am Ende des riesigen Tisches, bis auf Ethos und Artemis war Steve der einzige gewöhnliche Priester, der an der Versammlung teilnehmen durfte. „Meine Herren und meine Dame, fangen wir mit den Dingen an, die bei dem Angriff der Dämonen geklappt haben“, startete Nikolas die Versammlung ohne weitere Umschweife. „Das war vor allem meine Evakuierung, nachdem ich den Befehl zum Angriff gegeben habe. Abgesehen davon, dass ich nicht von der Seite meiner Priester weichen wollte und gegen meinen Willen von den Gardisten entfernt wurde, muss ich zugeben, dass das wenigstens so geklappt hat, wie es klappen sollte. Zum anderen wurde die Konfrontation in das Innere des Vatikans gelenkt, so dass Außenstehende nichts von dem Kampf mitbekommen haben. Wir hatten wirklich Glück, dass wir zu diesem Zeitpunkt unsere Pforten für öffentliche Besucher bereits geschlossen hatten. Was mich direkt zu dem ersten Punkt dieser Versammlung führt. Warum konnten Dämonen den heiligen Grund des Vatikans betreten?“ Mit gesenkten Augenbrauen ließ Nikolas seinen Blick über die Anwesenden gleiten. Er blieb an Roth hängen, der mit verschränkten Armen in seinen Sitz gelehnt saß und den Prälaten mit düsterem Gesichtsausdruck entgegen starrte. „Warum sind die Gardisten nicht ihrer Arbeit nachgekommen?“ „Um ehrlich zu sein, weiß ich es nicht, Monsignore. Später haben sie in den Kampf eingegriffen, wie es von Beginn an hätte sein sollen. Allerdings hatten meine Männer Angst. Die wenigsten von ihnen haben schon einmal einen Dämon mit eigenen Augen gesehen. Nachdem die Auseinandersetzung beendet war, habe ich mir Gedanken über die Ausbildung meiner Männer gemacht. Ich denke, dass es helfen würde, wenn nicht nur die Kommandanten der einzelnen Züge mit den Priestern reisen würden, sondern jeder einzelne Gardist, der in den Dienst des Vatikans gestellt wird.“ „Das ist finanziell nicht möglich“, meldete sich Albertus zu Wort, der die ganze Zeit über nervös den Worten des Leutnants gelauscht hatte. Er war ein alter Mann mit weißem schütteren Haar, dessen Falten schon fast so schwer auf seine Augen zu drücken schienen, dass er diese nur noch mit Mühe öffnen konnte. Durch die runden Brillengläser auf seiner kleinen Nase blinzelte er wie ein Maulwurf hindurch. „Sollte jeder Gardist mit den Priestern reisen, wären das Unkosten, für die der Vatikan kein Geld erübrigen kann.“ „Kein Geld erübrigen kann oder will?“, fragte Artemis provokativ und lehnte sich nach vorne. Nikolas seufzte leise. Eigentlich hätte er wissen müssen, dass es ein Fehler war, Artemis bei einer solchen Art von Diskussion mit an den Tisch zu setzen. Er hatte es nur getan, da er den schriftlichen Bericht des Priesters nicht abwarten konnte, denn das, was Artemis gesehen, gehört oder gespürt hatte, war möglicherweise von Bedeutung. Da die Versammlung allerdings keinen Aufschub gewährte, hatte er Artemis daran teilnehmen lassen. Trotz der wieder aufgerissenen und auch neuen Verletzungen hatte sich Artemis bereitwillig gezeigt, bei der Besprechung dabei zu sein. Es kam nicht oft vor, dass seine Stimme von jedem der Prälaten gehört wurde, weshalb Nikolas geradezu darum betete, dass der Priester es nicht darauf abgesehen hatte, seinem gesamten Repertoire an Unmut Luft zu machen. „Was denken Sie, wer Sie sind?“, fragte der angesprochenen Prälat empört zurück. „Wäre es mir möglich, die verlangten Finanzen zu entbehren, würde ich dies ohne zu zögern tun.“ „Soweit ich weiß, sind wir finanziell nicht wirklich schlecht dran“, konterte Artemis. „Bei dem, was wir uns alles leisten können, wenn die Priester in das Ausland geschickt werden, um ihre Aufträge auszuführen, wundert es mich, dass Sie jetzt so knauserig um die Ecke kommen.“ „Pater Dal Monte hat Recht“, pflichtete Ethos seinem Kollegen bei, als er sah, dass Albertus einen Einwurf einzubringen versuchte. „Wenn wir etwas kürzer treten würden, könnte das neue Mittel freigeben. Diese Mittel könnten dann dazu genutzt werden, um zusätzliche Männer mit auf die Missionen zu nehmen.“ Ethos sah, dass sich Steve einige Notizen machte, während Nikolas sich vollends auf das Gespräch konzentrierte. „Das ist eine gute Idee, Pater Turino. Können Sie mit diesem Vorschlag leben, Monsignore Albertus?“ Leise seine Zustimmung in sich hinein grummelnd, gab Albertus nach und sank, dramatisch gestikulierend, geschlagen in seinen Sitz zurück. „Kommen wir zu dem nächsten Punkt. Zu unserer Verteidigung gehören nicht nur die Gardisten, sondern auch der heilige Schutz. Warum war dieser nicht aufrecht?“ „Ich denke, dazu könnte ich etwas sagen“, meinte Ethos. „Eigentlich wollte ich mich bezüglich dieses Verdachtes bedeckt halten, ich denke jedoch, dass ich es jetzt, wo die wichtigsten Persönlichkeiten anwesend sind, ansprechen kann und auch sollte.“ In den Gesichtern der Anwesenden konnte Ethos ablesen, dass diese kaum noch erwarten konnten, was er ihnen zu sagen hatte. Lediglich Artemis wirkte entspannt wie immer. „Schon seit meinem letzten Auftrag in Frankreich gehe ich davon aus, einen Spion unter uns zu haben.“ Sofort stießen Albertus, Dominic und Magnus ungläubig die angehaltene Luft aus, danach schauten sie Ethos entsetzt an. Nikolas hingegen wirkte verwirrt, Roth präsentierte eine Mischung aus Überraschung und Unglauben. Oberschwester Mathilde hob eine Augenbraue. Selbst Steve ließ für den Bruchteil einer Sekunde den Stift sinken, als müsse er zweimal darüber nachdenken, ob er diese Äußerung wirklich zu Protokoll führen sollte. Einige Zeit badete Ethos nahezu in der Aufmerksamkeit, welche er gerade erlangt hatte. Zumindest war er sich sicher, dass er die Zuwendung bekommen würde, die er sich erhofft hatte. „Ganz Recht, meine Herren und meine Dame. Aufgrund der Funde an den Orten, an denen die immer gleichen Dämonen, oder aber Teile einer bestimmten Gruppe von Dämonen, auftauchten, wurden Münzen gefunden, welche im Vatikan hergestellt werden.“ „Wenn Sie der Meinung sind, dass ich etwas damit zu tun habe, nur, weil es Münzen sind, muss ich Sie leider enttäuschen!“ Albertus war aufgestanden und hatte lautstark die Handflächen auf die Platte des Tisches geknallt, als Ethos zufällig sein Blickfeld gekreuzt hatte. Für Ethos kam ein emotionaler Ausbruch solcher Stärke, nur weil er den Prälaten kurz angesehen hatte, zwar einem gewissen Verdacht gleich, doch er behielt dies erst einmal für sich. „Ich bin kein Verräter!“ „Das hat auch niemand behauptet“, mischte sich zum ersten Mal die unscheinbare Oberschwester mit den Adleraugen ein, die sichtlich von dem kindischen Verhalten des Prälaten genervt war. „Ich bitte Sie fortzufahren, Pater Turino.“ „Alles deutet darauf hin, dass ein Verräter unter uns weilt. Bei dem Auftrag in Frankreich haben wir Dokumente gefunden, aus denen hervorgeht, dass die Dämonen alles aus den geheimen Akten über uns sammeln, was sie in die Finger kriegen können.“ „Könnten diese Daten nicht auch aus den internen Recherchen der Dämonen stammen?“, fragte Roth. „Das denke ich nicht. Einige Dinge, die in den Dokumenten über Pater Dal Monte und meine Wenigkeit standen, können die Dämonen unmöglich gewusst haben. Nicht einmal der Großteil der hier anwesenden Personen hat Zugriff auf diese Art von Informationen. Es muss sich um jemanden handeln, der die Erlaubnis besitzt, nahezu alle Akten des Vatikans einzusehen.“ Erleichtert setzte sich Albertus an seinen Platz und schielte zu Nikolas hinüber. Das tat jedoch nicht nur Albertus, sondern alle, mit der Ausnahme von Ethos und Artemis. „Die Rolle der Münzen ist mir dagegen nach wie vor schleierhaft. Wahrscheinlich dienen sie als eine Art Erkennungszeichen, das zum Beispiel tote Briefkästen kennzeichnen könnte, sicher bin ich mir aber nicht. Ich weiß nicht einmal, woher diese Münzen genau stammen. Die Prägung zeigt Symbole des Vatikans, daran zweifle ich kaum. Aber wann und wofür wurden sie hergestellt? Soweit ich weiß, waren sie niemals als Zahlungsmittel ausgegeben worden.“ „Nachdem Sie die Münzen bei uns abgegeben haben, habe ich mich sofort daran gemacht, etwas über die Herkunft, die Bedeutung und alle anderen Hinweise, die relevant sein könnten, zu recherchieren. Bisher habe ich noch nichts gefunden, aber sobald ich etwas weiß, werde ich es Ihnen mitteilen“, sagte Steve und schaute kurz von seinen Notizen auf. Ethos nickte dem jungen Mann dankbar zu. „Wenn wir tatsächlich jemanden unter uns haben sollten, der mit den Dämonen zusammen arbeitet, würde es mich jedenfalls nicht wundern, wenn diese Person auch den heiligen Schutzwall ausgesetzt haben sollte. Immerhin wird dieser durch bestimmte Rituale aufrechterhalten, vor allem dadurch, dass verschiedene Eingänge geweiht werden. Werden diese Rituale ausgesetzt oder manipuliert, beispielsweise durch falsches Weihwasser, wäre es ein Leichtes für die Dämonen, den Boden des Vatikans zu betreten.“ Nikolas ging kurz in sich, um über die Tragweite von Ethos‘ Worten nachzudenken. Er wollte nicht so recht daran glauben, dass es einen Maulwurf geben könnte, von der Hand zu weisen war es aber auch nicht. Der Prälat entschied sich dafür, Ethos‘ Bedenken im Hinterkopf zu behalten, das Thema jedoch vorerst zu beenden. „Ich danke Ihnen für diesen Hinweis, Pater Turino.“ Kaum hatte Nikolas seine Worte an Ethos gerichtet, spürte der Priester leichte Wut in sich aufsteigen. Er hatte gerade ein ernsthaftes Thema angesprochen und wurde so einfach abgeschmettert. Trotzdem schluckte Ethos seine Wut vorerst hinunter. Jetzt einen Streit anzufangen würde nicht viel bringen. „Da es anscheinend keine andere Erklärung für das Fehlen des Schutzwalles gibt, werde ich diesen Punkt vorerst beenden. Womit die Sprache auf die Verteidigung durch unsere Priester fällt. Ich weiß, dass Sie beide nicht dafür verantwortlich sind, aber was ist genau passiert, nachdem die Dämonen angriffen?“ „Hier im Vatikan halten sich nicht viele Priester auf, die auf dem gleichen Level wie Pater Dal Monte und ich ausgebildet wurden. Da die Gesetze es so verlangen, werden andere Priester, deren Fähigkeiten denen von Pater Dal Monte und mir entsprechen, in andere Länder geschickt, damit die Dämonen im Falle eines Angriffes nicht alle Geweihten auf einmal töten können. Dementsprechend schleppend lief die Verteidigung durch die Priester, die vor Ort waren. Sie waren nicht in der Lage, gegen Dämonen solcher Stärke zu kämpfen. Entweder fehlte ihnen der Mut oder aber sie wussten, dass sie sterben würden und zogen sich zurück. Was ungefähr auf das gleiche hinausläuft, wie der erste Einwand. Es ist zunehmend zu beobachten, dass Priester, die besondere Fähigkeiten aufweisen, auch im Ausland gezielt angegriffen und getötet werden. Der Mord an Pater Simmons in London hat dies bewiesen. Möglicherweise wäre es an der Zeit, alle Geweihten, die noch leben, in den Vatikan zu bringen. Meiner Meinung nach wäre das für alle von Vorteil. Der Vatikan und seine Heiligkeit wären besser geschützt und auch die Geweihten wären sicher. Die Dämonen wirkten nicht, als ob sie ernsthaft versucht hätten, jemanden gezielt auszuschalten. Vielmehr schien es, als hielten sie sich zurück. Das könnte bei dem nächsten Angriff anders aussehen.“ Während Nikolas bedächtig nickte und darüber nachdachte, wie er eine solche Aufgabe lösen sollte, meldete sich erneut Oberschwester Mathilde zu Wort. Sie war bei dem Kampf ebenfalls anwesend gewesen, hatte sich jedoch im Hintergrund aufgehalten. Ihre füllige Figur war deutlich unter ihrem Gewand zu erkennen. Mit der Ausnahme ihrer stechenden Augen, die wie die eines Raubtieres wirkten, sah man ihr ihr fortgeschrittenes Alter überdies an den faltigen Konturen ihres Gesichtes an. Sie war schon lange keine Kämpferin mehr. Dafür bildete sie das perfekte Pendant zu den männlichen Prälaten, denn die Oberschwester war für die harte Ausbildung bezüglich ihrer Nonnen durchaus bekannt. „Wären die Ordensschwestern früher alarmiert worden, hätten wir mit Sicherheit den einen oder anderen Verlust weniger zu beklagen.“ Die schnippische Bemerkung verfehlte ihre provokative Wirkung nicht. „Frauen haben im Kampf gegen Dämonen nichts zu suchen. Dass Sie sich überhaupt eingemischt haben, sollte im Grunde genommen gar nicht vorkommen. Zwar muss ich zugeben, dass sie in diesem Fall gute Arbeit geleistet haben“, räumte Nikolas ein. „Dennoch hätte es für Ihre Nonnen anders ausgehen können.“ Nicht nur Lydia hatte eingegriffen, als sie sah, dass der Vatikan angegriffen wurde. Auch die anderen Nonnen, die im Dienst der Ordensschwester standen, hatten zum Großteil in das Gefecht eingreifen wollen. Da die Dämonen wenige Minuten nach Lydias Ankunft bereits verschwunden waren, hatte sich die Gelegenheit, sich aktiv zu beteiligen, für die anderen Schwestern nicht ergeben. Somit hatten sich die Nonnen um die Verletzen und Gefallenen gekümmert, so gut sie konnten. Ihnen war es zu verdanken, dass der Vatikan noch vor Sonnenaufgang wieder wie der friedliche Ort erstrahlte, der er eigentlich sein sollte. „Wo wir gerade bei meinen Nonnen sind… Wie Sie wissen, Monsignore, hat sich Schwester Lydia Dal Monte einmal mehr hervorgetan.“ „Ich muss zugeben, dass Schwester Dal Monte eine beeindruckende Frau ist.“ „Das ist sie in der Tat. Zumal sie ein weiteres Mal das Leben einer Ihrer Priester gerettet hat“, sagte die Oberschwester und schaute zu Artemis hinüber. „Ich denke ich weiß, worauf Ihr Kommentar hinauslaufen soll, Oberschwester Mathilde“, antwortete Nikolas an Artemis‘ Stelle. „Geht es schon wieder darum, die Scheidung von Pater Dal Monte zu bewilligen?“ Bevor sie weitersprach, räusperte sich die Oberschwester. Sie legte eine lange Pause ein, in welcher sie den Prälaten mit ihren Adleraugen niederzustarren versuchte. Artemis blieb gelassen. Der Prälat würde es niemals erlauben, dass die Scheidung auch von der Kirche anerkannt werden würde. Lydia und er hatten damals so viele Steine ins Rollen bringen müssen, um überhaupt den heiligen Bund der Ehe eingehen zu können, dass er bezweifelte, dass auch nur einer der Prälaten die Scham auf sich nehmen würde, diese Ehe nun wieder zu annullieren. Außerdem waren Scheidungen ohnehin nicht gerne gesehen. Trotzdem hatte Lydia in der Vergangenheit wiederholt den Versuch unternommen, die Ehe zu Artemis unwirksam zu machen. Vor allem wenn sie herausstach, so wie in dem letzten Kampf, forderte Lydia die Rechtmäßigkeit der Scheidung. „Ich kann die Scheidung nicht ohne weiteres rechtskräftig machen, das wissen Sie genauso gut wie ich.“ „Darf ich Sie daran erinnern, dass wir schon einmal einen ähnlichen Fall gehabt haben, Monsignore?“ Diese Bemerkung saß offensichtlich, denn in den Augen des Prälaten war ein zorniges Funkeln zu erkennen. „Müssen wir diese Diskussion gerade jetzt in die Länge ziehen?“ „Ich fürchte, dass daran kein Weg vorbei führt. Wenn ein Mann seine Ehe annullieren darf, warum dann keine Frau?“ „Die Situation damals war eine völlig andere.“ „Das denke ich nicht. Oder lag es an Ihrem damaligen Status, Monsignore? Muss Lydia erst einen Ihnen ebenbürtigen Rang erreichen, damit sie sich scheiden lassen darf wie Sie?“ „Das reicht jetzt!“ Nikolas war so schnell aufgestanden, dass der Eindruck entstand, er wolle die Oberschwester angreifen. Mit den Fäusten auf den Tisch schlagend, musterte er die Oberschwester mit offenstehendem Mund, diese ließ sich davon jedoch nicht beeindrucken. „Wir können darüber im privaten Kreis diskutieren, doch momentan haben wir andere Sorgen.“ Der Prälat setzte sich wieder. Jeder der Anwesenden wusste, dass es weniger darum ging, die wichtige Erörterung der misslungen Verteidigung des Vatikans fortzusetzen, als darum, dass Nikolas mit allen Mitteln versuchte, sein Gesicht zu wahren. Auch er war in jüngeren Jahren verheiratet gewesen, sprach darüber allerdings nicht und hatte ebenso wenig vor, gerade auf einer so wichtigen Versammlung damit anzufangen. Für Ethos und Artemis war diese Information über den Prälaten neu. Im Gegensatz zu den anderen Geistlichen tauschten sie überraschte Blicke aus. „Magnus.“ Der Angesprochene hob den Kopf. Von seinem Äußeren her glich der Prälat, der für die Missionierungen verantwortlich war, einer kleineren Version von Albertus. Nur mit dem Unterschied, dass Magnus keine Brille trug und kleine weiße Härchen aus seinen Ohren wuchsen. „Da Sie die besten Kontakte ins Ausland haben, möchte ich, dass Sie sich darum kümmern, die übrigen Geweihten aufzuspüren. Lassen Sie sich von Steve die entsprechenden Akten geben. Sobald Sie die Priester gefunden haben, holen Sie diese in den Vatikan zurück.“ „Sind Sie sicher, dass wir jetzt, wo wir einen Verräter unter uns haben könnten, die Akten jedem zugänglich machen sollten?“ Diese Frage kam von Marcus Dominic, welcher sich bisher untypisch bedeckt gehalten hatte. „Ich meine, wenn es wirklich einen Verräter unter uns gibt, dann sollten wir vorsichtiger sein.“ Anstatt sich gegen den indirekten Vorwurf, ein Verräter sein zu können, zu wehren, nickte Magnus nur wie ein Hahn mit dem Kopf auf und ab. Bei seinen schwerfälligen Bewegungen sah es aus, als würde ihm jeden Augenblick der Hals auseinander brechen. Der Prälat war noch nie dafür bekannt gewesen, besonders viel Rückgrat zu besitzen. Meistens tat er das, was andere ihm vorbeteten. Aus diesem Grund war Magnus aus Ethos‘ Sicht am wenigsten zum Verräter geeignet, er hatte dafür mit Sicherheit zu viel Angst. Andererseits war der Einwand von Dominic eine Überlegung wert. „Was sollen wir Ihrer Meinung nach stattdessen tun, Marcus Dominic?“ „Schicken Sie jemanden, der noch keine Ahnung davon hat, was hier gerade besprochen wurde. Jemanden, der sich wehren kann, falls etwas passieren sollte, aber entbehrbar ist für eine gewisse Zeit. Und am besten eine Person, deren Akte leicht zu überprüfen ist. Irgendjemand, der keinen allzu hohen Posten bekleidet oder kaum Gründe hat, aufgrund von Bestechung den Vatikan zu verraten. Oder aber eine Familie und Angehörige besitzt, für die er zum Verrat bereit wäre.“ „Ich glaube, ich hätte da die perfekte Kandidatin“, sagte die Oberschwester und entblößte durch ein breites Grinsen ihre weißen Zähne. „Es ist nicht besonders groß, aber Sie haben, was immer Sie benötigen. Und wenn etwas nicht vorhanden sein sollte, können Sie sich natürlich jederzeit an uns wenden.“ Mit diesen Worten stieß die Nonne die Tür zu einer der Kammern auf, die sich auf dem dritten Trakt des Quartiers der Ordensschwestern befand. Neben ihr stand Marylin, die sich leicht zur Seite gebeugt hatte, um den Raum, der ihr fortan als Unterkunft dienen sollte, vorab zu inspizieren. Obwohl nur die nötigste Einrichtung vorhanden war, kam ihr die kleine Kammer bereits jetzt wie eine wesentlich bessere Alternative zu ihrem mickrigen Appartement vor. Zumindest was die Sauberkeit anbelangte, hatten die Dienerinnen Gottes ihr einiges voraus. „Saubere Wäsche zum Schlafen habe ich Ihnen bereits auf das Bett gelegt. Wenn Sie möchten, können wir gerne noch einige andere Ihrer Sachen waschen.“ Marylin war es unangenehm, sich auf Kosten der Nonnen auszuruhen, doch sie wusste auch nicht, wie sie ihre Angelegenheiten selbst erledigen sollte. Eine öffentliche Waschküche gab es offensichtlich nicht, sie musste wohl in die Innenstadt, um ihre Klamotten zur Reinigung zu bringen, wenn sie sich nicht weiterhin wie ein Parasit fühlen wollte. Außerdem war ihr nicht entgangen, dass die Nonne, welche sie durch die Gänge geführt hatte, etwas gegen sie zu haben schien. Woran das genau lag, wusste Marylin nicht, aber trotz mehrfacher Nachfrage, was an dem Abend passiert war und mit wem sie gerade sprach, antwortete ihr die Nonne entweder knapp oder gar nicht. Letzteres war wesentlich häufiger der Fall, weshalb Marylin noch nicht einmal ihren Namen in Erfahrung bringen konnte. Sie konnte nur erkennen, dass es sich um eine wunderschöne Frau handelte, schlank und filigran in ihren Bewegungen. Dennoch strahlte ihre Mimik eine besondere Stärke aus, die Marylin niemals bei einer Klosterfrau vermutet hätte. „Danke, aber ich glaube, das wird nicht nötig sein“, antwortete Marylin und nahm ihre Tasche. „Dann werde ich jetzt gehen“, sagte die Nonne mit eisiger Stimme und drehte sich um, damit sie möglichst schnell verschwinden konnte. „Warten Sie.“ Marylin war die Feindseligkeit, mit der ihr die fremde Frau begegnet war, nicht entgangen. „Dankeschön.“ Obwohl sich Marylin um einen beiläufigen Tonfall bemühte, merkte sie, dass die Nonne sie offenbar durchschaut hatte. Sie blieb kurz stehen und schaute über die Schulter, dann wand sie sich erneut ab. „Na schön, dann eben anders“, seufzte Marylin und ließ ihre Tasche wieder fallen. „Was habe ich Ihnen getan? Ich wollte mich nur dafür bedanken, dass Sie mir meine Unterkunft gezeigt haben. Und von Ihnen erfahren, was hier eigentlich vor sich geht.“ „Das geht Sie nichts an“, erwiderte die Ordensschwester kühl. Trotzdem war sie stehen geblieben und musterte die junge Polizistin mit offensichtlicher Skepsis. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und zeigte die Geringschätzung, die sie für Marylin empfand, ohne jeglichen Hehl. Von der Arroganz der grünäugigen Nonne gereizt, nahm auch Marylin dieser gegenüber eine andere Haltung an. „Entweder, Sie sagen es mir oder ich werde die Informationen von jemand anderes einholen. Wie gesagt, ich wollte nur höflich sein, aber Sie scheinen eine echte Ziege zu sein.“ Wider Erwartens behielt die Nonne die Kontenance und ging nicht weiter auf Marylins Kommentar ein. Nach wie vor schaute sie die Polizistin an, dann kräuselten sich ihre Lippen zu einem amüsierten Lächeln. „Von wem wollen Sie sich denn unterrichten lassen?“ „Von einem der Priester zum Beispiel.“ „Vielleicht von Pater Artemis Dal Monte?“ Als Marylin hörte, mit welcher Wut die Nonne den Namen von Artemis aussprach, wusste sie sofort, weshalb die Frau sie so abschätzig behandelt hatte. Erleichterung durchfuhr Marylin. „Ach, darum geht es also. Wenn Sie denken, ich wäre auf eine von Artemis‘ lahmen Anmachsprüche herein gefallen, kann ich Sie beruhigen.“ Die Nonne schaute Marylin weiterhin wütend an, sie schien ihr nicht zu glauben. „Ich schwöre es Ihnen, dass ich auf keine Weise mit Artemis intim geworden bin.“ Zum Zeichen ihrer Ehrlichkeit hob Marylin die Hände und blickte so unschuldig drein, wie es ihr möglich war. Nicht, dass sie nicht unschuldig gewesen wäre, aber sie hatte mit der Zeit herausgefunden, dass der berühmte Hundeblick nicht nur bei Männern seine Wirkung zeigte. Es schien, als würde sie auch diesmal recht behalten. Die Arme der Nonne entspannten sich etwas. Sie ließ ihre Arme träge nach unten fallen und seufzte hörbar. „Es tut mir leid, wenn ich Ihnen Unrecht getan haben sollte. Es ist nur so, dass Pater Artemis…“ „Ja, ich verstehe schon“, sagte Marylin mit einem versöhnlichen Lächeln. „Wenn Sie ein besonderes Verhältnis zu ihm haben sollten, kann ich es verstehen, dass Sie sauer sind.“ „Ich denke nicht, dass Sie das verstehen.“ Trotz des Vorwurfes lächelte die Frau die Polizistin inzwischen milde an, was diese vermuten ließ, dass die Nonne es nicht böse meinte. „Mein Name ist Lydia Dal Monte. Ich habe mich Ihnen nicht früher vorgestellt, weil ich dachte, dass Sie etwas mit meinem Mann…“ Lydia räusperte sich, als sie den Fehler ihrer Wortwahl bemerkte. Sie war nun schon mehrere Jahre lang von Artemis getrennt und beging noch immer denselben Fehler. „Meinem ehemaligen Mann gehabt haben könnten.“ Die Beichte von Lydia hätte nicht unvermuteter für Marylin sein können. Für sie war es bereits unvorstellbar gewesen, wie Artemis sich überhaupt verhielt und obwohl sie kein besonders überzeugter Katholik war, kannte sie sich gut genug aus, um zu wissen, dass Priester nicht ehelichen durften. Anscheinend schien ihr ihre Bestürzung geradezu im Gesicht zu stehen, denn als Lydia auf sie zukam, um ihre Hand zu schütteln, hob sie sich diese vor den Mund und kicherte. Als Marylin sah, wie die Nonne zu lachen anfing, empfand sie die Frau als noch viel schöner. Das Lachen und auch Lydias Stimme klangen im freundlichen Zustand wie das Spiel eines zauberhaften Instrumentes. Wie Artemis einer Frau wie dieser fremdgehen konnte, war Marylin schleierhaft. Vielleicht war es aber auch erst nach seiner Ehe geschehen, immerhin sagte Lydia, dass es sich um ihren ehemaligen Mann handle. „Tut mir leid, wenn ich Sie verschreckt haben sollte. Manchmal tut es eben immer noch weh, darüber nachzudenken. So sehr, dass ich fast vergesse, dass es auch noch anständige Mädchen auf der Welt geben könnte.“ Ebenfalls lächelnd schüttelte Marylin Lydias Hand. „Ihnen scheint das Verhalten von Artemis noch immer sehr nahe zu gehen.“ „Ja. Und das, obwohl wir schon drei Jahre lang geschieden sind. Inoffiziell zumindest.“ Da Marylin nicht weiter auf das Thema eingehen wollte, versuchte sie, auf etwas anderes zu sprechen zu kommen. „Was ist denn nun heute Abend passiert? Man hat mich, nachdem ich etwas gegessen hatte, sehr schnell aus dem Speisezimmer hierher geführt. Bis Sie gekommen sind und mir die Tür zu der Unterkunft geöffnet haben, saß ich stundenlang hier unten fest. Die Zugangstür wurde abgeschlossen und auch die Frau, der mich hierher gebracht hat, war mit einem Mal verschwunden. Hat es etwas mit den Dämonen zu tun?“ „Sie wissen von den Dämonen?“ „Ich wurde in den Vatikan gebracht, weil mein Partner in London vor meinen Augen von einem Dämon getötet wurde.“ „Das tut mir außerordentlich leid.“ Das Mitleid, das Lydia Marylin entgegen brachte, schien echt zu sein. „Wurde der Dämon wenigstens inzwischen gefangen oder getötet?“ „Leider nicht. Aber ich denke, dass die Priester das noch schaffen werden.“ „Wir haben heute auch einige Verluste zu beklagen. Ich denke, dass ich mit Ihnen offen über den Vorfall sprechen kann. Sie erscheinen mir vertrauenswürdig, ich habe ein Gespür für so etwas. Auch, wenn es von meiner Eifersucht manchmal etwas verblendet wird.“ Den letzten Satz beendete Lydia erneut mit einem heiteren Lachen, von dem Marylin angesteckt wurde. „Außerdem scheinen Sie ohnehin über so gut wie alles Bescheid zu wissen. Aber nun zurück zu den ernsten Angelegenheiten. Heute haben einige Dämonen den Vatikan angegriffen.“ „Wie kann das sein?“, fragte Marylin und wurde stutzig. „Ich hätte gedacht, dass Dämonen gar nicht in der Lage wären, einen heiligen Ort wie diesen zu betreten.“ „So wirklich weiß niemand, wie das passieren konnte“, gab Lydia zu und senkte den Kopf. „Normalerweise wird der Vatikan von einem heiligen Schutzwall umgeben, der regelmäßig erneuert wird. Allerdings könnten auch einige Priester diesen Wall mit Leichtigkeit aufheben, solange er die nötige Ausbildung besitzt. Fast jeder Priester kann aber einen solchen Wall erschaffen, bei den einen ist er stärker, bei den anderen minder stark ausgeprägt. Im eigenen Interesse sollte ein Priester jedoch niemals einen solchen Wall zerstören, wenn er einmal erschaffen wurde.“ „Demnach könnte ihn jemand ausgesetzt haben?“ „Entweder das oder der Verantwortliche hat versäumt, den Wall zu erneuern. In diesem Fall ist nicht auszudenken, was alles hätte passieren können.“ Die Nonne wirkte nun etwas nachdenklich. Der Gedanke, dass einer der Priester dafür verantwortlich sein könnte, dass der Wall nicht funktioniert hatte, beunruhigte sie. „Wie dem auch sei, einige Menschen sind den Dämonen leider zum Opfer gefallen. Letztendlich konnten wir sie aber vertreiben und haben den Schutzwall erneuert.“ „War unter den Dämonen zufällig ein Mann in schwarzer Kleidung?“ „Nein“, antwortete Lydia sofort kopfschüttelnd. „Eine schwarz gekleidete Frau, aber kein Mann in Schwarz. Nur einer mit vielen Schwertern und einem weißen Löwen.“ Marylin überlegte kurz. Von einem Mann mit vielen Schwertern hatte sie bereits gehört. „Hatte er braune Haut, lange blonde Haare und grüne Augen?“ Lydia schien überrascht, als sie hörte, dass Marylin den Dämonen wohl kannte. „Ja, das war er. Ist er derjenige, der deinen Partner getötet hat?“ „Nein, das ist er nicht. Ein Mann in Schwarz hat Dan auf dem Gewissen. Ich habe nur gehört, dass Artemis gegen den Typen gekämpft hat. Und sehr stark von ihm verletzt wurde.“ „Davon habe ich noch gar nichts gehört“, murmelte Lydia mehr in sich selbst hinein, als an Marylin gewandt. „Aber egal. Jedenfalls wissen Sie jetzt das Wichtigste.“ „Haben Sie die Dämonen töten können?“ „Leider ist das nicht ganz so einfach, wie Sie denken. Ich weiß nicht, zu welcher Kategorie diese drei Dämonen gehören, die uns angegriffen haben oder welcher Art derjenige angehört, der Sie damals angegriffen hat.“ „Kategorie?“ „Oh je, haben Ihnen Pater Artemis und Pater Turino überhaupt nichts erzählt?“ „Doch, eigentlich schon“, seufzte Marylin. „Aber anscheinend nicht genug.“ Lydia deutete auf das Zimmer, welches Marylin beziehen sollte und drängte die junge Frau hinein. Sie setzte sich auf die schmale Bettkante und rief Marylin dazu auf, sich neben sie zu setzen. „Also, es ist folgendermaßen. Es gibt die normalen Dämonen, die den Großteil dieser Rasse ausmachen. Dabei handelt es sich um Dämonen mit gering ausgeprägten Fähigkeiten. Vampire gehören zum Beispiel dazu. Bis auf wenige Ausnahmen sind sie relativ schwach und verwundbar, für uns stellen diese Dämonen keine große Gefahr dar. Für jemanden, der noch nie mit Dämonen zu tun hatte, sind es hingegen mächtige Gegner. Bei den einfachen Dämonen reicht es, sie wie einen Menschen zu töten. Der Geist des Dämons stirbt quasi mit seiner Hülle. Da diese Dämonen nur über geringe Kräfte verfügen, benötigen sie diese, um sich den Körper eines Menschen gefügig zu machen. Danach können sie ihren Körper nicht mehr verlassen und sich daher nicht eigenständig materialisieren. Bevor sie einen Menschen besetzten, sind Dämonen nichts weiter als eine unsichtbare Masse. Sie bewegen sich durch unsere Welt und warten darauf, einen willensschwachen und bösartigen Menschen zu unterwerfen. Dabei verdrängen sie dessen Seele und damit auch seinen Geist. Dämonen, die stärker sind, können ihre äußere Hülle ebenfalls nicht einfach wechseln. Sie besitzen jedoch genügend Kräfte, um sich eine bestimmte Eigenschaft zu erhalten und im Laufe der Zeit auszuprägen. Meistens übernehmen sie dabei jene schlechte Eigenschaft, die dem Menschen, den sie zuvor übernommen haben, innewohnt und entwickeln diese weiter. Hat sich ein Mensch mit dunkler Magie beschäftigt und dabei andere Menschen gequält, ist es beispielsweise sehr wahrscheinlich, dass der Dämon dunkle Magie entwickelt und diese anwenden kann. Dies unterscheidet ihn grundlegend von den einfachen Dämonen, die hauptsächlich Blut saugen oder Menschen fressen, um die Zellerneuerung des Gastkörpers aufrecht zu erhalten.“ Bei dem Gedanken an das, was Lydia ihr gerade erzählte, schauderte es Marylin. In einigen billigen Romanen hatte sie schon mal etwas über Vampire gelesen, die Realität erschien ihr allerdings keinesfalls so romantisch, wie in den Groschenromanen beschrieben. „Neben den sehr schwachen und den stärkeren Dämonen gibt es noch eine Steigerung. Die sogenannten Großen Dämonen. Es hört sich lächerlich an, aber im Grunde genommen beschreibt das diese Biester der Unterwelt am besten. Sie sind mächtiger als alle anderen Dämonen. Glücklicherweise gibt es nur einen Bruchteil an Dämonen, die eine solch große Macht entwickeln können. Während sich schwache Dämonen in Gruppen sammeln, um ihre Stärke zu fördern, unterwerfen Große Dämonen ihre Untertarnen. Dabei versammeln sie häufig starke Dämonen unter sich, die wiederum sehr schwache Dämonengruppen befehligen. Große Dämonen sind die einzigen, die nicht einfach sterben, wenn man ihnen den menschlichen Körper nimmt. Sie müssen gesondert beseitigt werden.“ „Und wie soll das funktionieren?“ „Unter den Menschen gibt es jene, die von uns die „Geweihten“ genannt werden. Das sind Menschen, die eine Übernahme durch Dämonen verhindert haben. Es gibt nur sehr wenige von ihnen und noch weniger sind dazu in der Lage, Dämonen zu bannen. Pater Turino ist eine dieser seltenen Ausnahmen. In der Vergangenheit haben einige Priester Gegenstände hergestellt, die dazu benutzt werden können, um Dämonen in sie zu zwängen. Mithilfe eines Rituals werden die Gegenstände, nachdem diese mit dem Geist eines Dämons gefüllt wurden, verschlossen. Der Gegenstand wird dann im Höllenfeuer, das sich in den tiefsten Katakomben des Vatikans befindet, vernichtet. Das Problem ist, dass diese Gegenstände in der gesamten Welt verstreut wurden. Meist sind es antike Stücke, die in Museen aufbewahrt werden. Sie sind endlich, das bedeutet, wenn uns einmal die Fänger ausgehen, haben wir ein großes Problem.“ Lydia lachte am Ende ihrer Erzählung trostlos auf. „Können nicht einfach neue Fänger hergestellt werden?“ „Leider nicht. Das Verfahren wurde vor langer Zeit in einem Buch niedergeschrieben, das bis heute nicht mehr aufgefunden wurde. In diesem Buch sind zudem alle Orte, an denen sich Fänger befinden, aufgelistet. Es wurde vor einigen Jahrzehnten angeblich zerstört. Niemand weiß, von wem und warum. Sicher ist nur, dass es sich nicht mehr im Besitz des Vatikans befindet. Zwar arbeiten einige Priester daran, das Verfahren wiederzuentdecken, bisher sind ihnen jedoch kaum Durchbrüche gelungen.“ Als Marylin merkte, wie traurig Lydia diese Erkenntnis stimmte, fasste sie ihr auf den Handrücken. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, also beließ sie es bei der Trost spendenden Berührung. Außerdem war sie zu sehr damit beschäftigt, ihre eigenen Gedanken zu ordnen. Lydia hatte ihr einiges an Informationen gegeben, die sie einordnen und verstehen musste. Langsam wurde Marylin klar, dass das, was ihr im Museum zugestoßen war, nur einen kleinen Teil dessen ausmachte, was offenbar die gesamte Welt zu bedrohen schien. Ihr lagen noch einige Fragen auf der Zunge, aber als sie Lydia ansah, entschied sie, diese zu einem anderen Zeitpunkt zu stellen. „Lydia Dal Monte?“ Als Lydia hörte, dass jemand ihren Namen schrie, sprang sie von der Bettkante und strich über ihr schwarzes Gewand. Dazu richtete sie ihre Haube, die leicht verrutscht war und kämmte mit den Fingern einige der herausschauenden braunen Haarsträhnen zurück. Sie verließ die Kammer und sah, wie Steve erleichtert aufatmete. „Gut, Sie sind noch hier. Ich muss Sie bitten, mit mir zu kommen. Die Oberschwester möchte Sie bezüglich einer neuen Mission sprechen.“ Lydia nickte nur und wünschte Marylin alles Gute, dann war sie verschwunden und ließ die junge Polizistin mit ihren schweren Gedanken allein zurück. Kapitel 16: Kapitel 16 ---------------------- Kapitel 16 Marias Herz pochte so schnell, dass sie das gehetzte Schlagen in ihren Ohren widerhallen hörte. Sie wusste nicht, wo sie sich befand, denn jemand hatte ihr eine Augenbinde übergezogen und auch ihr Mund war durch einen Knebel verbarrikadiert worden. Kalter Schweiß lag auf ihrer Stirn und mit jeder Minute, die verstrich, nahm ihre Panik weiter zu. Seitdem sie von Chino getrennt worden war, hatte sie sich viele Gedanken um ihren ehemaligen Beschützer gemacht. Irgendwie bereute sie es, niemals ein Wort mit diesem wunderbaren Mann gewechselt zu haben, doch gerade das war es gewesen, was sie an ihm so geliebt hatte. Dass er sie niemals zu etwas gedrängt oder ihre Hilflosigkeit ausgenutzt hatte. Im Gegensatz zu den vielen anderen Männern, denen Maria bislang begegnet war. Niemand hatte sie auf die düstere und raue Welt vorbereitet, nachdem Hildegard damals von zu Hause ausgezogen war. Maria hätte mit ihr kommen müssen, doch diese Erkenntnis kam definitiv zu spät. Wie häufig hatte sie ihre Schwester dafür verflucht, sie allein gelassen zu haben, dabei war sie selbst diejenige, die sie all die Jahre lang am stärksten hätte verfluchen müssen. Das einzige, das Maria wusste, war, dass sie sich auf dem kalten Boden irgendeines Hauses befinden musste. Nachdem Blackcage sie von sich gestoßen und der fremde Mann sie aufgefangen hatte, war sie ohnmächtig geworden. Seitdem sie wieder aufgewacht war, hatte sie sich gefesselt und geknebelt an demselben Ort befunden. Ihre Schultern lehnten gegen einen harten Gegenstand, wahrscheinlich aus Metall, der sie daran hinderte, umzufallen. Plötzlich vernahm Maria ein dumpfes Geräusch, gefolgt von lautem Quietschen. Es hörte sich an, als ob eine große, lange nicht mehr geölte Tür geöffnet werden würde. Kurz darauf ertönten Schritte. Den Abständen und den unterschiedlichen Tönen der Schritte zufolge mussten gerade mehrere Personen eingetreten sein. Ein kühler Lufthauch wehte hinein und umspielte einige von Marias braunen Haaren. Es wurde ein Paar Hände unter ihre Achseln geschoben, die sie hochzogen. Kaum befand sie sich in einem einigermaßen stabilen Stand, griff ihr jemand in den Nacken und befreite sie von der Augenbinde. Zunächst musste Maria einige Male blinzeln, um sich an das Licht zu gewöhnen. Mit schmerzenden Augen schaute Maria sich um. Als sie ihre Schwester erblickte, fiel ihr ein Stein vom Herzen, doch die Freude war nur von kurzer Dauer. Neben Hildegard stand Blackcage, der sie mit einem triumphierenden und auch gierigen Grinsen ansah. Hinter ihr befand sich der asiatische Mann, der sie auf ein Kommando von Blackcage hin losließ. Er verließ den Raum allerdings nicht, sondern positionierte sich mit hinter dem Rücken verschränkten Armen neben Blackcage. Über den Dreien befand sich ein riesiger Kronleuchter, der jede noch so kleine Ecke des Raumes auszuleuchten schien. Der Boden bestand aus feinstem Marmor, dessen Musterung aus weißen und schwarzen Steinen an einen riesigen Kompass erinnerte. Einige Sockel mit grünen Pflanzen verschönerten den ansonsten kargen Raum. Aus dem Augenwinkel konnte Maria ein rotes Sofa und ein riesiges Bücherregal erkennen. Vermutlich hatte sie die gesamte Zeit über an dem Gestellt des Sofas gelehnt. „Entschuldige, dass wir dich so lange haben warten lassen, liebste Maria“, begann Blackcage mit einem schleimigen Unterton in der rauen Stimme. „Von nun an werden wir uns anständig um dich kümmern. Was immer du brauchst, zögere nicht, es einem meiner Diener mitzuteilen. Sie werden sich sofort um dein Wohl kümmern.“ Hildegard verschränkte die Arme vor der Brust und gab sich alle Mühe, ein gespieltes Lachen zu unterdrücken. „Seit wann bist du so großzügig?“, fragte sie mit spitzer Zunge und machte einen Schritt auf ihre Schwester zu, damit sie Maria von den Fesseln befreien konnte. Sofort rieb sich Maria über die geschundenen Handgelenke, danach rollte sie vorsichtig die schmerzende Schulter in kleinen Kreisen nach vorne. „Glaube mir, wenn es um Maria geht, kann ich noch viel großzügiger sein.“ Um ihrer Schwester keine unnötigen Ängste einzujagen, behielt sie Blackcages letzte Äußerung vor Esrada, dass er sie notfalls töten würde, für sich. Ohnehin sollte Hildegard sich nun stark am Riemen reißen, das Ziel, auf das sie mit Brooklyn zusammen hingearbeitet hatte, schien zum Greifen nahe. Wenn sie sich jetzt einen Fehler erlaubte, wären alle ihre Mühen möglicherweise umsonst gewesen. Hildegard hatte gerade die Seile, die Maria leicht in das Fleisch ihrer Handgelenke geschnitten und rote Abdrücke hinterlassen hatte, abgenommen, als die großen Flügeltüren ein weiteres Mal aufschwangen. Alle anwesenden Personen stellten sich kerzengerade auf, als hätten sie vor, jeden Augenblick vor dem eintretenden Mann zu salutieren. „Das ist also deine Schwester?“, fragte der Mann an Hildegard gerichtet. Als diese stumm nickte und der Mann seine eisblauen Augen auf Maria richtete, war ihr, als gefriere ihr das Blut in den Adern. Alles an dem Mann schien Tod und Kälte auszustrahlen, seine Haltung, sein Blick, seine Gestik. Selbst die Art, wie er sich bewegte, vermittelte ein Gefühl selbstsicherer Überlegenheit. Vor Maria angekommen, blieb der Mann stehen und hielt inne. „Wir konnten sie Chino geradezu aus den Händen reißen, Meister Esrada“, legte Blackcage los, als er meinte, einen geeigneten Zeitpunkt gefunden zu haben, Esrada von seinem neusten Triumpf zu berichten. „Ich sagte Ihnen doch, dass Sie sich auf mich verlassen können.“ Anstatt das Lob auszusprechen, nach dem sich Blackcage so sehr sehnte, schwieg Esrada und betrachtete weiterhin seine Gefangene. Für Hildegard war dieses Schweigen kaum zu ertragen. Sie hatte ihre geliebte Schwester nach so vielen Jahren endlich wieder und trotzdem war es ihr nicht vergönnt, diesen Augenblick angemessen zu genießen. Esrada drehte sich in ihre Richtung, seine schmalen Pupillen sprangen zwischen Blackcage und Hildegard hin und her. „Nathan“, sprach Esrada schließlich im gedämpften Tremolo seiner Stimme. „Du wirst dich um unseren neuen Gast kümmern, bis wir einen geeigneten Plan entworfen haben. Bis dahin…“ Er legte eine dramatische Pause ein, in welcher er kurz zu Hildegard hinüber schielte. Ein kaum zu erkennendes Grinsen zuckte in seinen Mundwinkeln. „Mach mit dem Mädchen, was immer du willst. Aber töte sie nicht, dafür ist sie zu wertvoll.“ Während der Ausdruck in Hildegards Gesicht nicht schockierter hätte sein können, lachte Blackcage sichtlich in sich hinein. „Das kann nicht Ihr Ernst sein!“, platzte es aus Hildegard heraus. Sofort wand sich Esrada Hildegard zu und knurrte sie gereizt an. Dazu hob er eine Hand, die er an den Hals der Dämonin zu legen drohte. Er hatte sich aufgebäumt und wirkte wie ein wild gewordenes Tier, das sich darauf vorbereitete, seine wehrlose Beute zu erlegen. Hildegard wich erschrocken zurück, bis sie mit dem Rücken an einer der Wände stand. „Willst du mir widersprechen?“ „Nein, Meister.“ Hildegard merkte, wie sie die Kontrolle über ihre Stimme verlor. Sie selbst nahm sie nur noch als hohes Piepsen wahr. Ihre Unterwürfigkeit zeigte den gewünschten Erfolg, denn Esrada ließ wieder von ihr ab und widmete sich stattdessen Blackcage. „Ich hoffe, mich bezüglich des Nutzens des Mädchens klar ausgedrückt zu haben.“ „Natürlich, Herr.“ Blackcage deutete eine Verbeugung an, als Esrada an ihm vorbei zur Tür ging. An dieser blieb der Meister der Dämonen noch einmal kurz stehen und wand sich um. „Kyro, ich will, dass du mit mir kommst.“ „Jawohl, Meister“, antwortete der Asiate knapp und trat neben Esrada. Nachdem Esrada und Kyro verschwunden waren, stürmte Hildegard auf Maria zu und drückte den schmächtigen Körper ihrer Schwester an ihren eigenen. „Du hast gehört, was der Meister gesagt hat“, sagte Blackcage und näherte sich den Schwestern, bis er nur noch eine Armlänge von den beiden entfernt war. „Ich warne dich, Hildegard.“ „Wovor? Dass du zurück in Esradas Arsch kriechst wie der geprügelte Hund, der du bist?“ Sollte diese Beleidigung Blackcage in irgendeiner Form getroffen haben, zeigte er dies nicht. Seine Augen ruhten weiterhin auf Maria, die erschrocken zu ihm hinauf schaute. Ihre Brust hob und senkte sich sichtbar aufgrund ihrer Panik, ihre Haare waren zerzaust und verklettet, ihre Haut glänzte durch den Schweiß. An einigen Stellen ihres cremefarbenen Pullovers trat die körpereigene Feuchtigkeit in Form von Flecken hinaus. Doch das alles störte Blackcage nicht. Im Gegenteil, er spürte, wie sein Verlangen nach der jungen Frau noch größer wurde. Diese drehte sich nur von Blackcage weg und warf sich ihrer Schwester in die Arme. Beruhigend streichelte Hildegard Maria über den Kopf, als sie hörte, wie diese zu schluchzen begann. Es tut mir leid, Maria. Vorsichtig schob Hildegard Maria ein Stück von sich weg und ging in die Knie. Sie schaute ihrer Schwester direkt in die Augen und wartete kurz, bis sie sich etwas beruhigt hatte. „Du musst mir jetzt vertrauen“, flüsterte Hildegard Maria zu, ohne dass Blackcage sie hören konnte. „Nur noch dieses eine Mal.“ Fragend schaute Maria zu Hildegard hinüber. Die letzten Tränen, die sie vergossen hatten, bahnten sich den Weg über ihre erröteten Wangen. Noch bevor Maria die Frage, die sich auf ihre bebenden Lippen gelegt hatte, stellen konnte, spürte sie, wie sie nach hinten gezogen wurde. Zwar breitete sie ihre Hände aus, doch als sie sah, dass Hildegard sie nicht ergriff, fühlte Maria, wie etwas in ihr zerbrach. Zum ersten Mal war sie sich vollkommen sicher, all die Jahre lang die richtige Person verflucht zu haben. „Ich soll bitte was?“, fragte Artemis in aufgebrachtem Ton. „Vergiss es, das werde ich nicht tun!“ „Es ist die einzige Möglichkeit, mit Lydia allein zu reden. Meiner Meinung nach ist dieser Auftrag das Beste, was dir passieren konnte“, sagte Ethos und nippte an seinem Wein. Artemis war nun schon einige Tage lang krankgeschrieben, doch seine Wunden waren gut verheilt, wenn auch noch immer nicht genug, um als genesen zu gelten. Aus diesem Grund hatte sich Ethos mit seinem Kollegen in ein öffentliches Café in Rom zurückgezogen, um den anstehenden Auftrag zu besprechen. Die beiden saßen, jeder in legere Kleidung gehüllt, bestehend aus Jeans und einem einfachen Hemd, an einem der äußersten Tische des kleinen Cafés, wo sie einen Wein trinken konnten, ohne angestarrt oder gar belauscht zu werden. Was Artemis mit seinem lauten Prostest beinahe revidiert hätte. „Ich wusste gar nicht, dass du so viel Angst vor deiner ehemaligen Gemahlin hast“, meinte Ethos und zeigte ein seltenes Lächeln. „Eigentlich hatte ich immer angenommen, dass du sie wieder von dir überzeugen möchtest.“ „Aber ganz sicher nicht bei einem Auftrag.“ „Sieh es doch von der positiven Seite. Möglicherweise ist das eine Gelegenheit, dass ihr euch wieder vertragt.“ „Das wird niemals passieren“, sagte Artemis und stürzte den Rest seines Weines hinunter. Wenige Minuten später stand ein neues Glas vor ihm. „Wenn Lydia sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hat, dann ändert sie ihre Meinung kaum. Wusstest du schon, dass sie Marylin angekeift hat, weil sie dachte, ich hätte die kleine Polizistin gebumst?“ Zwar merkte Ethos, dass Artemis von der Thematik abzuweichen ersuchte, er ließ dies dem Priester vorerst allerdings durchgehen. Irgendetwas schien ihm Unbehagen zu bereiten. Noch vor einer Minute hätte Ethos sein gesamtes Vermögen darauf verwettet, dass Artemis den Auftrag mit Freuden entgegen genommen hätte. „Hat sie das?“, fragte Ethos mit geheucheltem Interesse. Mit überschlagenen Beinen und dem Weinglas in der Hand lehnte er sich entspannt zurück und genoss die nachmittäglichen Sonnenstrahlen, die seine Haut wärmten. Einige Vögel zwitscherten in den Ästen über ihnen. Die Terrasse, auf der sie saßen, war kaum frequentiert zu dieser Uhrzeit. Trotzdem gestatte sie einen herrlichen Blick auf eine der größeren Hauptstraßen Roms, wo Ethos die vorbeihuschenden Passanten durch eine dünne Glaswand beobachten konnte. Einige Meter weit entfernt befand sich eine kleine Gasse, in der Händler ihre Trödelwaren und vor allem Antiquitäten verkauften. Diese Märkte waren besonders unter Sammlern sehr beliebt und zogen Fälscher wie Touristen gleichermaßen an. „Ja, hat sie. Erst nachdem Marylin ihr versichern konnte, dass ich nicht mit ihr im Bett gewesen bin, war Lydia freundlicher zu ihr.“ „Das bedeutet, dass sie noch immer emotional reagiert, wenn es um dich geht“, sagte Ethos und drehte sich wieder zu Artemis hinüber. „Wenn das kein gutes Zeichen ist, dann weiß ich auch nicht.“ „Du willst mir diese lahme Mission unbedingt schmackhaft machen, was?“ Artemis legte ein schiefes Grinsen auf und zündete sich eine Zigarette an. Er hatte schon lange nicht mehr geraucht. „Hast dir selbst ja auch wieder die Lorbeeren heraus gepickt.“ „An deiner Stelle würde ich nicht so vorschnell urteilen. Außerdem haben wir beide etwas davon. Bis du wieder gesund bist, könntest du dich im Vatikan etwas umhören.“ „Bezüglich deiner Theorie eines Verräters?“ Genüsslich inhalierte Artemis den Geschmack der Zigarette. Als er fühlte, wie der heiße Rauch seinen Hals hinunter wanderte und seine Lunge füllte, fühlte er sich besser. „Richtig. Wenn es wirklich jemand aus dem Vatikan sein sollte, wird derjenige früher oder später einen Fehler machen.“ „Anscheinend ist die betroffene Person nicht dumm, ansonsten wäre sie schon längst aufgeflogen. Es ist demnach fraglich, ob sich etwas Verdächtiges in gerade dem Zeitraum ergibt, an dem ich anwesend bin. Immerhin bin ich mir sicher, dass inzwischen jeder, auch außerhalb des Rates, von deiner Theorie weiß. Und daraus sollte sich ergeben, dass die verdächtige Person sich noch vorsichtiger verhält.“ „Genau dann passieren die meisten Fehler.“ „Selbst wenn du Recht haben solltest“, gab Artemis zu bedenken und lehnte sich über den kleinen Bistrotisch. „Was mache ich dann, wenn ich den Mann enttarnt habe?“ „Wie kommst du darauf, dass es sich zwingend um einen Mann handelt.“ „Denke ich mir einfach. Es passt zu einem Mann. Wir haben so wenige Frauen auf dem Gelände des Vatikans und mit Ausnahme der Oberschwester ist kaum einer in interne Machenschaften von uns verstrickt. Ich finde es einfach unwahrscheinlich.“ „Du solltest es aber nicht ausschließen.“ „Schon gut, ich habe es verstanden.“ „Abgesehen davon wirst du deine Reaktion davon abhängig machen müssen, wie sich der Verräter verhält.“ „Wirklich, sehr gut durchdacht, Ethos“, murmelte Artemis in sein Glas, gleichzeitig drückte er seine Zigarette in einem Aschenbecher aus. „Ich schätze, dass ich ohnehin keine Wahl haben werde. Egal, ob ich den Auftrag will oder nicht, ich werde ihn wohl oder übel ausführen müssen. Wie soll das mit dem Museum funktionieren? Ihr wollt den Dämonen tatsächlich eine Finte stellen?“ Zu Beginn ihres Treffens hatte Ethos Artemis mitgeteilt, dass er, zusammen mit Chino, Roth und Nikolas, an einem Plan gearbeitet hatte, wie sie den Dämonen vielleicht eine Falle stellen könnten. Dabei vertraute Ethos darauf, dass die Dämonen nicht nur hinter den Geweihten, sondern auch hinter den Fängern her sein würden. Demnach war der Plan so einfach wie hoffentlich erfolgreich. „Einen unserer letzten Fänger, den wir hier im Vatikan aufbewahren, werden wir nach Sizilien bringen. In einem Museum in Palermo werden wir ihn groß anpreisen und hoffentlich einige der Dämonen anlocken.“ „Und du bist dir sicher, dass drei Personen ausreichen, um dein Unterfangen erfolgreich zu beenden?“ „Du kannst es noch so oft versuchen, du wirst dich zusammen mit Lydia auf den Weg machen, um die Geweihten nach Italien zu holen.“ Seufzend schob sich Artemis eine weitere Zigarette in den Mund. „Dafür geht der Nachmittag auf mich.“ Eine freundlichere Geste, als das kurze Zucken seiner Mundwinkel, brachte Artemis nicht zustande. „Was machst du, wenn dein Plan fehlschlagen sollte? In unserem letzten Duell waren wir den Dämonen beängstigend auffallend unterlegen.“ „Diesmal werden wir uns besser vorbereiten und im Vorteil sein. Immerhin sind nicht wir diejenigen, die überraschend angegriffen werden, sondern unsere Feinde. Zugegeben“, begann Ethos etwas kleinlaut. „Es ist nicht der beste Plan, aber hast du eine bessere Idee?“ Indem er die Arme vor der Brust verschränkte und in den Himmel hinauf schaute, überlegte Artemis, bis er seine Zigarette aufgeraucht hatte. Mit einer übertrieben brutalen Geste drückte er sie im Aschenbecher aus, bevor er sich erneut Ethos zuwandte. „Natürlich habe ich auch keine bessere Idee. Mit der Ausnahme vielleicht, dass ihr mich mitnehmt, aber das wird nicht möglich sein. Ich kann nur hoffen, dass dein Plan tatsächlich aufgehen wird. Im schlimmsten Fall verlieren wir nicht nur einen Fänger, sondern auch einen weiteren Geweihten, den besten Gardisten des Vatikans und einen erstklassigen Kontaktmann. Hoffentlich hast du dir das gut überlegt.“ Es kam selten vor, dass Artemis an Ethos zweifelte. Zu allem Überfluss schien dieser das auch zu merken. Ethos‘ Miene verdüsterte sich, als Artemis ihn mit auffordernden Blick ansah. Es kam ihm vor, als warte Artemis nur darauf, endlich die Bestätigung von Ethos zu erhalten, dass nichts schief gehen könnte. Diese Gewissheit konnte Ethos allerdings nicht geben. Nicht zum derzeitigen Zeitpunkt. Auch Ethos hatte sich einige Male den Kopf darüber zerbrochen, wie er den Dämonen am effektivsten beikommen konnte. Das Erschreckende war, dass er selbst es nicht zu hundert Prozent wusste. Für den Kampf gegen Hildegard hatte er zwar eine Strategie, die vor allem beinhaltete, die Dämonin möglichst auf Abstand zu halten, aber wie er das genau anstellen sollte, musste Ethos den spontanen Gegebenheiten überlassen. Sollte Blackcage auftauchen, würde Chino sich um diesen kümmern. Er hatte genügend Wut in sich, um es alleine mit dem schwarzhaarigen Dämonen aufzunehmen. Brooklyn und den weißen Löwen schätzte Ethos noch am einfachsten ein. Artemis‘ Kampf in London hatte bewiesen, dass er nicht zu den mächtigsten seiner Art gehörte, ansonsten hätte er mehr gegen Artemis‘ dämonisches Auge ausrichten können. Zu dritt würden sie es schon schaffen. „Wir werden auf jeden Fall ein paar Tage früher nach Sizilien fliegen, damit wir uns mit dem Museum vertraut machen können. Außerdem überlegt Roth noch, ob er einige seiner Männer mitnimmt. Wir wären demnach nicht nur drei Leute, sondern den Dämonen, mit denen wir bisher Bekanntschaft gemacht haben, von den Zahlen her überlegen“, meinte Ethos selbstsicher, als löse dieser Umstand all die anderen Komplikationen in Luft auf. Dass ihnen die reine Überlegenheit der Menge beim letzten Mal nicht genützt hatte, ließ er in seiner Erklärung aus. „Du darfst auch nicht vergessen, dass sowohl Roth, als auch Chino und ich erfahrene Kämpfer sind. Und dass die Dämonen allem Anschein nach zwar zu den mächtigeren zählen, aber keinesfalls den Großen Dämonen angehören. Mit den richtigen Waffen, Männern und einem gut geplanten Hinterhalt werden wir sie schon in ihre Schranken weisen.“ „Dein Wort in Gottes Ohr“, seufzte Artemis und winkte den Kellner heran. Nachdem der Kellner sein Geld entgegen genommen hatte, standen die beiden Priester auf und verließen das Café. Für einen kurzen Augenblick war Ethos versucht, Artemis noch einmal von den persönlichen Vorteilen seines anstehenden Auftrages zu überzeugen. Als er den anderen Priester mit in den Hosentaschen versunkenen Händen und abwesenden glasigem Blick anteilnahmslos neben sich her gehen sah, gab er dieses Vorhaben jedoch wieder auf. Er würde sich damit zufrieden geben müssen, dass Artemis sich hinsichtlich Lydia wie ein Fähnchen im Wind drehte. Was für Ethos keine neuartige Beobachtung an Artemis darstellte. Schon in der Vergangenheit hatte Artemis betont, wie wichtig es ihm war, Lydia zurück zu erobern. Jedes Mal, wenn sich die Möglichkeit dazu bot, ruderte der Priester dann jedoch zurück. Besonders stark war dies zu beobachten, wenn Lydia wieder einmal davon anfing, sich von Artemis rechtskräftig scheiden lassen zu wollen. Das war etwas, das Ethos noch verstehen konnte. Allem Anschein nach war Lydia nicht mehr an Artemis interessiert und wollte ihn so schnell loswerden, wie es eben in ihrer Macht stand. Andererseits hatte es Situationen gegeben, in denen Lydia nicht zu hundert Prozent von eben jenem Unterfangen überzeugt zu sein schien. Es konnte aber auch gut sein, dass Ethos mehr in Lydias Verhaltensweise hinein interpretierte, als diese wirklich damit ausstrahlte. Immerhin kannte er sie nicht einmal halb so gut wie Artemis und alles, was er über die Nonne wusste, hatte er von seinem Kollegen oder Nikolas erfahren. Im Sinne von Artemis‘ Psyche wäre es jedoch angebracht, das Problem ein für alle Mal zu lösen. Ob Artemis mit dieser Lösung zufrieden sein würde oder nicht, war zweitrangig. Hauptsache, es kam zu einer Entscheidung. Sollte diese beinhalten, dass Lydia die Scheidung erreichte, wäre Artemis in der ersten Zeit zwar völlig überlastet, doch das würde sich geben. Er würde dann damit leben müssen, dass es endgültig vorbei sein würde, aber zumindest hätte er dann einen klaren Standpunkt. Ethos hatte sich so sehr in seine Gedanken vertieft, dass er kaum bemerkte, dass ihn und Artemis nur noch wenige Schritte von dem Eingangstor des Vatikans trennten. Seine Aufmerksamkeit erlangte das Tor allerdings vor allem, weil eine Person dagegen lehnte und sich leicht vorbeugte, als sie die beiden Priester erblickte. Sofort stieß sich die junge Frau in dem weißen Sommerkleid und mit den kurzen blonden Haaren mit dem Fuß von einer der vergoldeten Stangen ab, an der sie sich zuvor noch abgestützt hatte. Mit verschränkten Armen kam sie auf Ethos zu, bis sie kurz vor diesem zum Stehen kam. Marylins‘ Nasenflügel bebten vor Zorn. Ihr Gesicht hatte eine rötliche Farbe erhalten und ihre Oberlippe zitterte leicht. Bevor sie den Mund öffnete, schluckte sie noch schnell einen imaginären Kloß herunter. „Sie haben mich hintergangen!“ Es schien, als entlud sich die gesamte Wut von Marylin in diesem einzigen Satz. „Warum haben Sie nichts davon gesagt, dass Sie Blackcage jagen wollen?!“ „Bitte beruhigen Sie sich“, versuchte Ethos die Polizistin zu besänftigen, doch es wirkte nicht. „Sie wissen, dass er meinen Partner auf dem Gewissen hat und befinden es noch nicht einmal für nötig, mich darüber zu informieren, dass Sie ihm eine Falle stellen wollen? Ich habe Ihnen ebenfalls geholfen, indem ich mich habe hierher bringen und ausquetschen lassen. Und noch nicht einmal das können Sie für mich tun?“ Ethos wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Im Grunde genommen hatte Marylin Recht. Glücklicherweise kam Artemis ihm zur Hilfe. „Es tut mir leid, aber wir können nicht mit jedem sofort über unsere Missionen reden“, mischte Artemis sich ein und legte Marylin eine Hand auf die Schulter. „Falls es dich tröstet, ich darf auch nicht mit auf die Mission, obwohl es mich in den Fingern juckt, mir den einen oder anderen Dämonen zur Brust zu nehmen. Woher weißt du überhaupt von dem Auftrag? Normalerweise dürfen Außenstehende nicht in unsere Vorhaben eingeweiht werden.“ Diesmal war Marylin diejenige, die das Schweigen vorzog. Mit zusammengepressten Lippen zog sie sich zurück, um sich Artemis‘ Berührung zu entziehen. Ihre Wangen wirkten noch einen Ton röter. „Du hast jemanden belauscht oder?“ Allem Anschein nach lag Artemis mit seiner Vermutung nicht weit von der Wahrheit entfernt. Als hätte er sie auf frischer Tat ertappt, wich Marylin noch einen Schritt weiter nach hinten und drückte schützend ihre Arme an den Oberkörper. „Für eine Polizistin kannst du verdammt schlecht lügen“, witzelte Artemis. Sein Kollege hingegen sah die Situation nicht so locker. „Wenn Sie tatsächlich jemanden belauscht haben sollten, kann das sehr unangenehme Konsequenzen nach sich ziehen.“ In Ethos Stimme lag etwas so Bedrohliches, dass Marylin zusammen zuckte. Ihre grünen Augen schauten voller Unbehagen zu Ethos hinüber. „Im Anbetracht der Umstände ist ein Verstoß gegen die Geheimhaltung der Angelegenheiten des Vatikans ein besonders heikles Vergehen.“ Für einen kurzen Augenblick mochte die Drohung, die Ethos indirekt ausgesprochen hatte, wirken. Marylin war noch jung und leicht zu beeinflussen, trotz ihres Berufes. Doch es dauerte nur wenige Sekunden, bis Marylin ihren Mut wiedergefunden hatte und genügend davon gesammelt hatte, um Ethos zu widersprechen. „Dass ich jemanden belauscht habe, müssen Sie mir erst einmal nachweisen. Und außerdem möchte ich, dass Sie mich mitnehmen!“ „Ausgeschlossen.“ Für Ethos war die Diskussion damit beendet. Er setzte sich in Bewegung, mit dem Ziel, die junge Frau zu ignorieren, doch diese ließ sich so leicht nicht abschütteln. „Sie haben nicht das Recht, mich wie ein Kind zu behandeln!“ „Ich behandle Sie nicht wie ein Kind“, meinte Ethos und blieb stehen, um sich umzudrehen. „Aber es ist zu gefährlich für Sie. Sie haben Glück, dass Sie die erste Begegnung mit Blackcage überlebt haben. Setzen Sie dies nicht allzu leichtfertig aufs Spiel.“ „Das tue ich auch gar nicht“, protestierte Marylin mit zu Fäusten geballten Händen. „Aber der Kerl hat meinen Partner auf dem Gewissen. Ich will mich an ihm rächen.“ „Und wie willst du das konkret anstellen?“ Die Frage kam diesmal von Artemis. Er schaute Marylin mit einer mitleidigen Miene an, die der jungen Polizistin besonders sauer aufstieß. Warum behandelte sie nur jeder hier wie in kleines Mädchen? „Ich… ich werde…“ Anhand ihres eigenen Gestotters merkte Marylin, wie plump ihre Argumente waren. Was sollte sie schon großartig sagen. Dass sie den Dämon töten würde? Das wollte sie gerne, aber wie sie das anstellen sollte, stand in den Sternen. Bisher war Marylin von ihrer Wut getrieben worden, doch je länger die Begegnung mit Blackcage zurück lag, desto mehr verlor sich ihr Antrieb im Nichts. Als sie die beiden hohen Geistlichen vor einigen Stunden über den Auftrag hatte reden hören, im Schatten einer zufällig von ihr entdeckten Nische, war diese Wut erneut aufgeflammt. Jetzt, wenige Stunden später, war sie bereits wieder verpufft. „Wenn Sie ein wenig Ablenkung suchen, gehen Sie doch auf den Basar einige Straßen weiter. Aufgrund der guten Zusammenarbeit mit Ihnen bisher werde ich über Ihr Vergehen hinweg sehen. Mehr kann ich im Moment leider nicht für Sie tun“, sagte Ethos und machte sich auf den Weg in das Innere des Vatikans. Kaum war er verschwunden, richtete sich Artemis noch einmal an Marylin. „Ich weiß, er kann anstrengend sein“, meinte Artemis lächelnd. „Aber wenn es darum geht, einen Dämon wie Blackcage in die Hölle zurück zu schicken, ist er der beste Priester, den wir haben. Vertrau uns einfach. Und vor allem vertraue Ethos. Ich weiß, dass das viel verlangt ist, aber haben wir dich enttäuscht, seitdem wir dich aus der Psychiatrie geholt haben?“ Geschlagen schüttelte Marylin den Kopf. „Überlassen Sie Blackcage uns. Sollte noch jemand ums Leben kommen, wäre das eine große Tragödie. Besonders für Ethos. Woher haben Sie eigentlich davon gewusst, dass wir eine Falle stellen wollen?“ Marylin dachte darüber nach, ob sie Artemis ihr Geheimnis anvertrauen sollte. Aus einem Anflug von Trotz wollte sie es am liebsten für sich behalten, doch genau genommen zog sie auch keinen Vorteil daraus, es nicht weiterzutragen. „Gegenüber des Büros des Prälaten. Dort gibt es eine kleine Nische. Als ich an dem Büro vorbei kam und die Tür einen Spalt offen stehen sah, habe ich diese Nische zufällig entdeckt. Unterhalb der steinernen Treppe gegenüber der Tür ist ein Hohlraum, in welchem sich jemand verstecken kann, der klein und schmal ist. Herauskommende oder vorbei gehende Personen können einen nicht sehen, denn es gelangt nicht ein bisschen Licht an diesen Ort. Von außen sieht es so aus, als schließe das Ende der Treppe direkt mit dem Boden ab. Trägt man dazu noch dunkle Klamotten, ich hatte mich umgezogen, bevor ich auf euch gewartet habe, ist es nahezu unmöglich, jemanden darunter zu erkennen. Hören kann man von dieser Position aus allerdings sehr gut.“ „Hm, äußerst interessant. Das könnte einiges erklären.“ Noch bevor Marylin fragen konnte, was Artemis mit dem letzten Satz meinte, hatte sich der Priester bereits von ihr abgewandt und schlug den gleichen Weg ein, den Ethos kurz zuvor genommen hatte. Marylin überlegte kurz, dann setzte sie sich in Bewegung und schlenderte die Straße hinunter. Sie brauchte etwas, mit dem sie sich ablenken konnte. Nicht nur, dass sie nicht ernst genommen wurde, die beiden Priester hatten irgendwie auch die besseren Argumente. Das musste selbst Marylin einsehen, obwohl sie sich ihrer Rachepläne kurz zuvor noch so sicher gewesen war. Sie war eine Gefangene ihrer eigenen Gefühle. Mal fühlte sich Marylin dazu imstande, jeden umzubringen, der auch nur im Entferntesten mit dem Mord an Dan zu tun hatte, wenig später übermannten sie Panik und Angst. Nachdem sie bereits einige Straßen passiert hatte, fiel Marylins Blick auf eine bunte Girlande. Sie war zwischen zwei Hausmauern gegenüber eines Cafés gespannt worden und hüpfte auffordernd auf und ab, sobald sie von den leichten Windstößen getroffen wurde. Unterhalb der Girlande befanden sich einige Stände von Händlern, die lautstark ihre Antiquitäten anpriesen. Wahrscheinlich war das der Basar, von dem Ethos wenige Minuten zuvor gesprochen hatte. Langsam näherte sich Marylin der Gasse. Kaum war sie unter der ersten Girlande hindurch gegangen, fühlte sie eine angenehme Kühle. Die hohen Wände spendeten einen erfrischenden Schatten. Die meisten Stände waren, ähnlich einem Flohmarkt, aneinander angereiht aufgebaut worden. Auf den Tischen, meist mit einem Laken bedeckt, waren die unterschiedlichsten Waren ausgebreitet. Von silbernen Kerzenständern bis hin zu hölzernen Behältern, denen ihr fortgeschrittenes Alter deutlich anzusehen war, konnte geradezu alles erworben werden. An manchen Stellen fiel es Marylin schwer, sich einen Überblick zu verschaffen, da immer mehr Touristen in die Gasse zu strömen schienen. Teilweise musste sie sich den Weg mit den Ellenbogen freischaufeln, um voran zu kommen. Die wenigsten Stände erlangten das ehrliche Interesse der jungen Frau. Meistens verharrte Marylin nur länger, da sie nicht mehr weiter kam aufgrund der Menschenmassen. Plötzlich hielt die junge Polizistin inne. Sie wartete gerade darauf, dass sich eine Gelegenheit ergeben würde, sich an den Touristen vorbei zu quetschen, als sie bemerkte, dass sie genau vor einem Bücherhändler stand. Sie hatte ihren Blick ziellos über das Angebot schweifen lassen, doch je länger sie die Buchdeckel ansah, desto stärker bahnten sich die Gedanken zurück in ihren Kopf. Zunächst wirkten die Titel der Bücher wild durcheinander gemischt, doch als Marylin ein englischsprachiges Buch sah, wurde sie das erste Mal stutzig. Sie nahm eines der Bücher mit dem Titel Demons and Symbols in die Hand und drehte es, um sich den Rücken durchlesen zu können. „Wie ich sehe interessieren Sie sich für Dämonen?“ Die Stimme schreckte Marylin auf. Fast hätte sie das Buch fallen lassen. „Entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht erschrecken“, sagte eine schallend lachende Frauenstimme. „Sie brauchen sich nicht entschuldigen“, entgegnete Marylin, ebenfalls lachend und legte das Buch zurück auf seinen ursprünglichen Platz. „Aber ich bin erstaunt, ausgerechnet hier jemandem zu begegnen, der Englisch spricht.“ Die Händlerin, die hinter dem Tisch stand, besaß eine gebräunte Haut, große braune Augen und langes schwarzes lockiges Haar, das sie zum Teil unter einem Kopftusch zu verbergen versuchte. Mit ihren hohen Wangenknochen und den großen Ohrringen, sowie den bunten Gewändern wirkte sie auf Marylin wie eine Südländerin. Die zigeunerhaften Züge, die der Frau zu Eigen waren, verstärkten diesen Eindruck. Aus diesem Grund hatte Marylin niemals damit gerechnet, auf Englisch angesprochen zu werden. Zwar besaß sie einen schweren Akzent, doch ihre Ausdrucksweise war gut und verständlich. „Ich bin bereits an vielen Orten gewesen, um meine Waren zu kaufen und zu verkaufen. Daher kann ich einige Sätze in Ihrer Sprache.“ „Anscheinend sogar sehr gut.“ Wieder lächelte Marylin die fremde Frau an. Sie kam ihr unheimlich hübsch vor mit ihrem handgemachten Schmuck und den gewickelten Gewändern. Alles an ihr stimmte überein, die Proportionen ihres Körpers, die etwas dunklere Hautfarbe, die unergründlichen Augen, die schlanke Taille, die exotische Ausstrahlung. Dagegen kam sich Marylin in ihrem weißen Kleidchen, das von dünnen Trägern gehalten wurde und ihr bis knapp über die Knie reichte, zusammen mit ihren flachen weißen Turnschuhen, wie eine langweilige Touristin vor. „Ich danke Ihnen für Ihr Kompliment“, sagte die Frau und deutete eine Verbeugung an. „Interessieren Sie sich für das Buch, das Sie eben in der Hand gehalten haben?“ „Ja. Haben Sie noch mehr Bücher über Dämonen?“ Marylin fiel wieder ein, was Lydia zu ihr gesagt hatte. Wenn sie schon nicht dabei helfen konnte, einen Mörder zu fassen, wollte sie wenigstens anderweitig eine Stütze sein und ihren Teil dazu beitragen, den Dämonen das Handwerk zu legen. Vielleicht war diese Buchhändlerin ein Anfang. Wenn sie Schriften über Dämonen sammelte, konnte das eine oder andere brauchbare Exemplar darunter sein. Und falls Marylin mit ihrer Intuition nicht daneben lag, konnte ihr der Kontakt zu der Frau noch aus einem ganz anderen Grund zugutekommen. „Natürlich. Viele. Sehr viele sogar. Möchten Sie sich noch mehr ansehen?“ Die Frau machte einen Schritt zur Seite und deutete auf eine Kiste hinter dem Tisch. „Möchten Sie vielleicht einen Tee trinken?“ Noch bevor Marylin hätte ablehnen können, hatte die Frau bereits einen hellen Tee in zwei Gläser gefüllt, beides hatte sie hinter sich auf den asymmetrischen Stufen eines Hauseinganges stehen gehabt. Sie reichte Marylin eine der beiden Tassen. Der Tee verströmte einen angenehmen Duft und erfüllte die Luft mit Zitrone und Minze. „Danke. Ich bin übrigens Marylin“, sagte die Polizistin und streckte eine Hand zum Gruß aus. „Mein Name ist Gemini“, erwiderte die Frau und ergriff hastig Marylins Hand. Während Marylin den heißen Tee an ihre Lippen führte, schaute sie Gemini direkt in die Augen. In den schwarzen Kristallen schien ein leidenschaftliches Feuer zu brennen, das Marylins Interesse erwiderte. Sie hatte nach Abwechslung und Ablenkung gesucht. Die Chance, beides in dieser Frau gefunden zu haben, erschien ihr in diesem Augenblick ungeheuer groß. Nun musste Marylin nicht mehr viel tun, als sich geschickt genug anzustellen, um das zu bekommen, was ihr vorschwebte. Kapitel 17: Kapitel 17 ---------------------- Kapitel 17 „Das bedeutet also, dass wir drei“, begann Roth skeptisch und zeigte auf Ethos, Chino und sich selbst. „Und fünf meiner Männer“, fuhr der Gardist fort und nickte in die Richtung fünf weiterer Männer, die sich nebeneinander auf ein unbequemes Sofa gequetscht hatten. „Im Zweifelsfall gegen drei…“ „Vier, wenn wir den Asiaten mitzählen“, unterbrach Chino. „Fünf, falls Esrada auftauchen sollte“, fügte Ethos leise hinzu. „In Ordnung, dann halt fünf. Also im Zweifelsfall gegen fünf Dämonen kämpfen müssen?“ „Das ist korrekt“, bestätigte Ethos und nickte kurz. Er saß sehr angespannt auf seinem Stuhl, was nicht nur daran lag, dass ein äußerst entscheidender Kampf vor ihnen liegen konnte. Auch das Zimmer, in dem er zusammen mit Chino und den Gardisten des Vatikans saß, behagte ihm nicht. Nachdem er selbst gefordert hatte, in den Unterkünften zurück zu stecken, um mehr Männer mit auf die Missionen nehmen zu können, durfte Ethos am eigenen Leib spüren, was das bedeutete. Zwei Zimmer, die sich acht Leute miteinander teilen mussten, waren alles andere komfortabel. Von einer Besprechung in einem einzigen davon ganz zu schweigen. Ethos konnte Roth seine Zweifel geradezu am Gesicht ablesen. Allerdings äußerte sich der Leutnant nicht lautstark darüber, denn er wollte seine Männer nicht beunruhigen. Im Angesicht der Situation war dies auch das Beste. Die fünf Gardisten erschienen Ethos äußerst nervös. Und auch Chino, der direkt neben ihm saß, wirkte angespannter denn je. Seitdem Maria von den Dämonen entführt worden war, war der Spanier nicht mehr derselbe. Seine Launen wechselten nahezu sekündlich. In dem einen Augenblick konnte man mit ihm lachen, in dem anderen stand er kurz davor, die Kontrolle zu verlieren und völlig auszurasten. Die letzten Stunden über hatte sich Chino allerdings zusammen reißen können, denn auch er war daran interessiert, dass der Plan, den sich die Gesandten des Vatikans zurecht gelegt hatten, gelang. Unter dem Vorwand, eine neue Sonderausstellung eröffnen zu wollen, würde Ethos zusammen mit einem als Pfarrer verkleideten Gardisten in dem Museum auftauchen. Vorher würden sich Chino, Roth und die übrigen Gardisten so positionieren, dass sie nicht von den Dämonen eingesehen werden konnten. Das Ziel war es, die Dämonen so anzulocken und, abgeschottet von den Blicken der Zivilisten, zu stellen und zu töten. Das Objekt, das dabei angepriesen wurde, war ein Original. Sollte Esrada auftauchen, wollte Ethos einen Fänger dabei haben. Es zu riskieren, einen anscheinend so mächtigen Dämonen entwischen zu lassen, konnte er sich nicht leisten. Für den Rest der Feinde waren dann Roth, Chino und die Gardisten verantwortlich. So einfach dieser Plan erschien, so intensiv war die Planung dieses Unterfangens gewesen. Der größte Teil hing ohnehin vom Glück ab, denn eine Garantie dafür, dass einer der Dämonen auftauchen würde, hatte Ethos nicht. Im Gegenteil, der Plan war so offensichtlich, dass er geradezu nach einer Falle roch. Andererseits schien Esrada so viele Dämonen um sich geschart zu haben, dass die Chancen, dass er wenigstens einen von ihnen schicken würde, ebenfalls nicht schlecht standen. Wie auch immer die Karten verteilt waren, Ethos war froh, dass er immerhin irgendetwas tat, um gegen die Dämonen vorzugehen. Inzwischen hatten diese so viel Schaden angerichtet und sich gleichzeitig so unantastbar gezeigt, dass es Ethos nahezu krank machte. Nächtelang hatte er wach gelegen und seine Gedanken kreisen lassen. Und trotzdem keinen besseren Plan zustande bekommen, als dieses auf Glück basierende Vorhaben. Noch immer wurmte ihn das gewaltig. Um den Kopf einigermaßen frei zu bekommen, atmete Ethos tief ein. „Ich denke, dass die Besprechung damit beendet ist. Wir sollten uns alle noch etwas ausruhen, bevor es morgen dann ernst wird. Gibt es noch irgendwelche Fragen?“ Keiner der Anwesenden äußerte sich. „Gut. Dann sehen wir uns morgen um vierzehn Uhr in diesem Zimmer wieder. Bis dahin haben Sie sich alle fertig angezogen, damit wir ohne Verzögerung zu dem Museum fahren können.“ Stillschweigend löste sich die Versammlung auf. Während sich die fünf Gardisten mit den niedrigeren Dienstgraden ein Zimmer teilen mussten, blieben Chino, Roth und Ethos unter sich. Dafür war das Zimmer neben ihnen etwas größer geraten. „Ich weiß nicht wie es euch geht, aber ich muss hier raus“, murmelte Chino und erhob sich. Als er sah, dass Roth und Ethos sitzen blieben, entschuldigte er sich und ging nach draußen. Nachdem die Tür zurück in ihre Angeln gefallen war, richtete Roth sich fragend an den Priester: „Ich möchte wirklich nicht an dir zweifeln, mein Freund. Aber glaubst du, dass das alles wirklich so funktionieren wird, wie wir uns das vorgestellt haben?“ Mit vor der Brust verschränkten Armen ließ sich Ethos gegen die quietschende Lehne seines Stuhles sinken. „Das kann ich dir auch nicht sagen. Angesichts dessen, wie die Dämonen bisher vorgegangen sind, finde ich es aber auch nicht unwahrscheinlich, dass tatsächlich jemand auftauchen wird.“ „Wie meinst du das?“, fragte Roth mit hochgezogener Augenbraue. „Nun, zuerst einmal haben wir den völlig sinnlosen Auftrag in Frankreich, der alles andere als erfolgreich für die Dämonen verlief. Dann die Begegnung in London, im Grunde genommen das gleiche Schema. Ein schwacher Dämon in einer gestellten Rolle dient als Köder, nur mit dem Unterschied, dass der Dämon namens McKenzey stärker war, als derjenige in Joux“, erklärte Ethos ruhig und rieb seine Fingerspitzen aneinander. „Unter Personalmangel scheint dieser Esrada demnach nicht zu leiden. Was hielte ihn also davon ab, einen weiteren Handlanger zu schicken, um die Möglichkeit zu nutzen, an einen weiteren Fänger zu kommen?“ „Wenn er weiß, dass es sich um eine Falle handeln könnte, wäre das ein gutes Gegenargument.“ „Auf den ersten Blick schon. Aber auf der anderen Seite ist es doch so. Er kann es sich leisten, uns Fallen zu stellen, obwohl er wissen sollte, dass zumindest Artemis und ich den schwachen Dämonen überaus überlegen sind. Mit jeder uns gestellten Falle wurden die Dämonen stärker, aber nicht stark genug, um Artemis oder mich auszuschalten. Was können wir dann erwarten? In der Annahme, dass Esrada nicht wiederstehen kann und einen weiteren Dämon schicken wird, hoffe ich auf ein stärkeres Exemplar. Wenn wir auch nur einen seiner stärkeren Handlanger den Garaus machen könnten, wäre das schon einmal ein Fortschritt.“ An sich klang das, was Ethos sagte, plausibel. Zumindest meinte Roth das Ziel dahinter zu erkennen. Auch er sehnte sich danach, die Dämonen, die den Vatikan angegriffen hatten, zu vernichten. Allerdings hatte er in seiner jahrelangen Ausbildung auch lernen müssen, dass Hass dazu führen konnte, den Blick für das Wesentliche zu verlieren. Die dazu führenden persönlichen Rachefeldzüge brachten in der Regel niemandem etwas und Roth hoffte, dass Ethos nicht von einem solchen verblendet wurde. „Möglicherweise wollte er euch aber auch trennen.“ „Nun verstehe ich nicht so richtig, was du meinst“, gab Ethos zu und lehnte sich interessiert nach vorne. „Wen trennen?“ „Dich und Artemis. Ihr seid jetzt beide mit verschiedenen Missionen beauftragt worden. Nicht, dass ihr euch alleine nicht wehren könntet, aber zusammen seid ihr eben ein unschlagbares Team. Getrennt wiederum wird es leichter, einen von euch beiden auszuschalten.“ „Durchaus möglich, aber ob die Dämonen so weit denken? Auszuschließen ist es nicht.“ „Zumal sie ja auch Kontakt in den Vatikan haben.“ Ethos dachte für einige Sekunden nach, dann schenkte er Roth ein kurzes Lächeln. „Das Risiko, welches du gerade angesprochen hast, besteht natürlich. Aber wann hatte ich schon einmal einen Auftrag, der völlig ohne Risiko gewesen ist? Keinen einzigen, soweit ich mich erinnere.“ Da er sich ebenfalls die Beine vertreten wollte, stand Ethos auf und ging nach draußen und ließ Roth allein zurück. Eine kühle Brise blies ihm in das Gesicht. Obwohl das Hotel auch von außen sehr herunter gekommen aussah, war es dafür an einer der schönsten Ecken Palermos erbaut worden. Hinter dem Hotel befand sich so etwas wie eine kleine Terrasse, auf welche es Ethos verschlug. Als der Priester sah, wie Chino einige Meter weit von ihm entfernt stand und sehnsüchtig auf das Meer hinaus blickte, setzte er sich in Bewegung und gesellte sich zu dem Spanier. „Soll ich dich hochheben, damit du auch etwas sehen kannst?“ Es war einer der seltenen Witze, die Chino selbst in seiner trübseligen Stimmung zumindest ein Lächeln abringen konnte. Ethos machte häufiger Bemerkungen über die Körpergröße von ihm, was er jedoch über sich ergehen ließ. Er wusste, dass Ethos ihn trotzdem zu schätzen wusste. „Es ist ein schöner Abend.“ „Ja, das stimmt.“ Zusammen mit Chino stand Ethos auf die Mauer gelehnt, welche die Terrasse des Hotels umschloss. Aufgrund des etwas stärkeren Windes waren die Tische und Stühle zur Seite geräumt worden und außer den beiden war kein anderer Gast anwesend. In der Ferne steuerte ein Schiff auf den nahegelegenen Hafen zu und ließ sein Horn ertönen. Als die Stille schon beinahe unangenehm zu werden drohte, ergriff Chino das Wort. „Weißt du, Ethos, es tut so weh.“ Verwundert wand sich Ethos in Chinos Richtung. „Maria… Ich habe mir so lange nichts anderes gewünscht, als sie sprechen zu hören. Und das erste, das ich von ihr höre, ist ein Schrei. Ein Schrei nach Hilfe.“ „Das tut mir leid“, sagte Ethos mit gesenkter Stimme, da er nicht wusste, was er in solch einer Situation anderes hätte sagen können. „Ich hätte ihr helfen müssen, gleich nachdem sie von diesem Arschloch gepackt worden war.“ „Du warst überrascht.“ „Ja, aber das ist doch kein Grund, den Menschen, den man über alles liebt, im Stich zu lassen.“ Als er sich der Ironie seiner Wortwahl bewusst wurde, lachte Chino trocken auf. „Der Mensch… Maria ist ein Mensch, ich bin ein Dämon. Das hätte doch sowieso niemals geklappt. Schon damals, als ich sie das erste Mal gesehen habe, hätte mir das klar sein müssen. Ich glaube, es ist Dämonen einfach nicht bestimmt, glücklich werden zu können.“ Für einen kurzen Augenblick war Ethos angehalten, sich dazu zu äußern und Chino vor Augen zu führen, dass er als Dämon mit Sicherheit genug Elend in seinem vergangenen Leben angerichtet hatte. Doch etwas in ihm hielt ihn zurück. Obwohl er es nicht einmal sich selbst so richtig eingestehen wollte, fing er an, sich für Chinos Geschichte zu interessieren. „Damals, als ich in Heidelberg gewesen war, nachdem ich aus Barcelona fliehen musste, hatte ich meine erste Anstalt gegründet. Mitten in der Stadt zwischen all den Menschen. Eines Tages wurde mir von einem Mädchen berichtet, welches verwahrlost durch das Innere der Stadt gezogen sein soll. Sie konnte wohl nicht reden, weshalb man annahm, sie wäre geistig verwirrt. Zufällig bin ich kontaktiert worden, um die junge Frau aufzulesen und in meine Anstalt zu bringen. Obwohl sie damals in Lumpen gekleidet und völlig verdreckt war, habe ich sofort gesehen, wie wunderschön sie ist.“ Bei dem Gedanken an ihre erste Begegnung legte Chino ein verträumtes Lächeln auf, so dass ein Teil seiner unnatürlich spitzen Eckzähne über seine Lippen schaute. „Als sie mich ansah, wusste ich sofort, dass sie etwas in mir erkannte. Ob es das gleiche Gefühl war, das ich zu diesem Zeitpunkt bereits für sie empfand, mag ich nicht beurteilen. Nachdem ich sie mitgenommen hatte, habe ich eine meiner weiblichen Angestellten angeordnet, sie zu waschen und zurecht zu machen. Von Beginn an hat Maria kooperiert, sie ist niemals gegen ihren Willen zu etwas von mir gezwungen worden. Und dann, als sie dann in den schönen Kleidern, die ich für sie erstanden hatte, vor mir stand, verschlug es mir die Sprache.“ Bisher hatte Ethos sich aus der Erzählung heraus gehalten. Er konnte sich nicht helfen, er fühlte sich irgendwie hilflos. Wäre Artemis da gewesen, hätte dieser ihm zur Seite stehen können. Doch Artemis war nicht hier und Ethos legte sich einige Worte zurecht, von denen er hoffte, sie würden Chino helfen. Glücklicherweise löste sich das Problem von ganz allein, denn Chino sprach nach seiner Pause einfach weiter. „Wie dem auch sei“, seufzte der Spanier und schüttelte träge den Kopf. „Mein Glück sollte sich bereits in Deutschland in Luft auflösen. Einige Jahre lang konnte ich unentdeckt bleiben, dann, eines nachts, wurde meine Anstalt niedergebrannt. Einfach so. Dachte ich jedenfalls. Ich habe den Brandstifter damals stellen wollen. Er war noch vor Ort und hatte gerade versucht, sich Maria zu schnappen, bevor er abhauen wollte. Es war ein Mann mit schwarzen Haaren und einem schwarzen Mantel. Blackcage, wie ich inzwischen weiß. Auch er war fasziniert von Maria. Als ich ihm in die Augen sah wusste ich, dass er mit seinem Angriff versuchen wollte, mich zu töten. Er wusste damals nicht, dass ich ebenfalls ein Dämon bin. Ich hatte mich einige Male mit Maria draußen sehen lassen, um mit ihr einkaufen zu gehen, was ihr immer sehr große Freude bereitet hat. Wahrscheinlich hat er uns irgendwann einmal zusammen gesehen. Ich konnte Maria in letzter Sekunde vor ihm retten, doch diesmal habe ich versagt. Und erneut eine Heimat verloren. Als Mörder werde ich zudem auch noch gesucht.“ Es hatte einiges an Improvisationstalent seitens der Geistlichen des Vatikans gekostet, Chino unbemerkt auf die Fähre nach Sizilien zu schleusen. Nachdem es öffentlich geworden war, dass die Anstalt in Rom niedergebrannt und dabei alle Patienten ums Leben gekommen waren, hatte die Polizei sofort damit begonnen, nach dem Inhaber zu suchen. Die Leiche der Assistentin Mariposa, die im Keller aufgefunden wurde, half nicht gerade dabei, Chino ins rechte Licht zu rücken. Durch den Wind wurden Chino die Spitzen seiner Haare leicht in die Augen geweht, doch er rührte keinen Muskel. Sein Blick war noch trauriger geworden, auch wenn Ethos nicht gedacht hätte, dass dies überhaupt möglich war. Das Schiff war inzwischen näher gekommen und versperrte den Blick auf den Horizont. Ethos klappte den Unterkiefer nach unten und suchte erneut nach Worten, fand jedoch keine. „Ich werde diesen Mistkerl töten. Selbst wenn es das letzte ist, das ich tun werde. Hilfst du mir dabei, Ethos?“ Der Angesprochene atmete tief ein. Es war wichtig, dass Zwischenfälle auf dieser Mission ausblieben. Für Ethos zählten allein der Auftrag, sowie die korrekte Ausführung von eben diesem. In seinem Mund formte sich ein Satz, mit dem er Chino dies unmissverständlich klar machen wollte. Stattdessen hörte Ethos sich jedoch etwas anderes sagen. „Natürlich werde ich das. Wir werden ihn kriegen und Maria finden.“ Die ernste Miene des Arztes verwandelte sich in ein hoffnungsvolles Gesicht. Die braunen Augen gewannen an Glanz zurück und Chino stellte sich auf, um sich einige seiner Haare aus dem Antlitz zu sammeln. „Danke Ethos, du bist ein echter Freund.“ Nachdem dies gesagt worden war, widmeten sich beide Männer erneut dem Meer. Das Schiff zog langsam an ihnen vorbei und mit ihm die nagenden Zweifel, die Ethos und Chino wenige Minuten zuvor stillschweigend geteilt hatten. Artemis war bekannt dafür, seine Kräfte unter Verschluss zu halten, solange keine unmittelbare Gefahr drohte. Doch in diesem Fall musste er wohl oder übel eine Ausnahme machen. Ohne auf die starrenden Augenpaare zu achten, die auf ihn gerichtet wurden, wenn er einen Kollegen passierte, streifte Artemis scheinbar ziellos durch die Teile des Vatikans, die für die normale Bevölkerung unzugänglich waren. Hier begegnete er nur selten jemanden, wichtiger war es jedoch, dass keiner der Zivilisten ihn so sah. In seiner Hand hielt er eine kleine Taschenlampe. Aufgrund des menschlichen Teils in ihm, der den Großteil seiner selbst ausmachte, hatte er keine Probleme, sein dämonisches Auge auch innerhalb des Vatikans freizulegen. Anders als bei den Dämonen ging damit keine bedeutsame Schwächung einher, wie sie ihnen bei dem letzten Angriff im Kampf gegen ihre Widersacher geholfen hatte. Doch das kümmerte Artemis im Moment nicht. Sobald sein Auge freigelegt wurde, regten sich auch die fremden Kräfte in ihm. Ein Vorteil davon war, dass seine restlichen Wunden schneller verheilen würden. In Absprache mit Nikolas hatte Artemis auf diese Fähigkeit zurückgegriffen, damit er seinen nächsten Auftrag früher ausführen könnte. Ein Auftrag, der ihm auf mehreren Ebenen Kopfzerbrechen bereitete. Vor allem aufgrund der Zusammenarbeit mit Lydia. Ethos hatte Recht, er hatte Angst davor, wieder mit ihr auf engerem Raum zusammen agieren zu müssen. Sie war eine starke Frau, die er aus den Fängen der Prostitution gerissen hatte, um sie zu ehelichen. Später war diese Ehe wegen ihm zerbrochen und mit ihr ein großer Teil seines Inneren. Damals, als Lydia ihm sagte, dass sie die Scheidung wolle, war sie in die Kirche eingetreten, um Nonne zu werden. Artemis war zu diesem Zeitpunkt bereits Priester gewesen und als er erfuhr, dass er Lydia weiterhin im Vatikan zu Gesicht bekommen würde, hatte es ihm nahezu das Herz zerrissen. Er konnte verstehen, warum Lydia ihn hasste und sich von ihm hatte scheiden wollen, aber irgendwann hatte er zumindest den Versuch unternommen, damit irgendwie klar zu kommen. Je weniger er die Nonne sah, desto besser war es ihm gegangen. Trotzdem hatte er, wenn er sie irgendwo gesehen hatte, ihre Nähe gesucht in dem Wissen, dass ihm das nicht gut tat. Als Artemis bei dem Büro des Prälaten angekommen war, blieb er stehen. Marylin hatte Recht, es gab dort eine im Schatten verborgene Nische, in die sich jemand hinein zwängen könnte, der klein und schmal war. Als Artemis sich bückte, um sich unter die Treppe zu stellen, nahm er die Taschenlampe zur Hilfe und leuchtete das Versteck aus. Das erste, das ihm auffiel, waren langgezogene und tiefe Kratzspuren an den hintersten Steinen. Allem Anschein nach war diese Nische früher nicht so ausgeprägt gewesen. Jemand musste nachgeholfen haben, die Steine unter der Treppe heraus zu lösen. Wahrscheinlich mit einem spitzen Gegenstand. Langsam strich Artemis über die Einkerbungen und rieb etwas von dem feinen Gestein, das sich an seinen Fingern befand, auseinander. Dass jemand – es konnte einfach noch nicht allzu lange her sein – erst kürzlich diese halb künstliche Nische geschaffen hatte konnte erklären, warum der Prälat bisher noch nichts davon gemerkt hatte. Ein Lächeln huschte über Artemis‘ Lippen, als er darüber nachdachte, dass es gerade Marylin gewesen war, die diesen Fund gemacht hatte. Das würde die Meinung des Prälaten über Frauen vielleicht ein wenig ändern. Doch noch immer war Artemis nicht nennenswert weitergekommen, was seine Untersuchungen anbelangte. Keiner der Geistlichen, mit denen er in den letzten Tagen in Kontakt getreten war, hatte sich auf irgendeine Art seltsam benommen. Inzwischen wusste Nikolas über die Nische Bescheid. Steve würde sich bald darum kümmern, dass die betroffene Stelle wieder zugemauert werden würde, denn immerhin ging damit eine Einsturzgefährdung der alten Treppe einher. Plötzlich ertönte ein leises Quietschen zu Artemis‘ Rechten, weshalb er sich von der Nische weg drehte. „Pater Artemis, wie ich sehe, sind Sie gerade damit beschäftigt, die undichte Stelle meines Büros zu überprüfen.“ Obwohl die Stimme von Nikolas heiter klang, wusste Artemis, dass ein wunder Punkt bei ihm getroffen worden war. Dass seine Unaufmerksamkeit ein Grund dafür sein konnte, dass sensible Informationen durchgesickert waren, war nicht nur ein gefundenes Fressen für Marcus Dominic und seine Anhänger, sondern auch für die übrigen Mitglieder des Geheimen Rates. Inzwischen hatte der Papst zugestimmt, wichtige Missionen ausschließlich über Nikolas abzuwickeln. Das wiederum hatte die übrigen Ratsmitglieder, mit der Ausnahme der Oberschwester, deutlich verärgert. Immerhin ging mit ihrer Position auch einiges an Macht einher und einige der Prälaten sahen ihren Status als gefährdet. Sticheleien waren somit nicht das einzige, mit dem Nikolas sich herumschlagen musste. Zumal sich seine Gesundheit in den letzten Tagen erneut verschlechtert hatte. „Und Sie sind dabei sich zu regenerieren.“ Lachend steckte Artemis die Taschenlampe weg und machte einen Schritt auf den Prälaten zu. Als dieser das linke Auge des Priesters auf sich zukommen sah, zuckte er unwillkürlich zusammen. Artemis war solche Reaktionen gewohnt. Manchmal waren sie nicht zu vermeiden, denn das dämonische Auge fixierte jeden, den Artemis begegnete, ohne dass dieser etwas dagegen hätte unternehmen können. Auch in diesem Augenblick ruhte es auf Nikolas, als schaue es in das Innerste von dessen Seele. Die rote Iris verengte sich, als wisse der dämonische Teil in Artemis, dass er einem hohen Geistlichen gegenüber stand, der ihm gefährlich werden könnte. „Ganz wie Sie es befohlen haben, Monsignore. Auch wenn ich nicht verstehe, warum gerade ich zusammen mit Schwester Dal Monte auf eine Mission geschickt werde.“ „Das haben wir doch schon einmal besprochen“, seufzte Nikolas schwer und stützte sich auf seinen Stock, nebenbei legte er seine Hand auf die Hüfte. „Sie beide werden den Auftrag ausführen, ob sie wollen oder nicht. Abgesehen davon habe ich Ihnen nicht nur bereits die Akten zusammen gesucht, die Sie mitnehmen werden, um die Geweihten aufzuspüren. Ich habe obendrein das Objekt, welches Pater Simmons an seinem Kragen trug, zugesendet bekommen. Ich bitte Sie, Pater Artemis, sich mit Steve in Verbindung zu setzen. Der Junge befindet sich gerade in meinem Büro. Er wird Ihnen mehr darüber erzählen können. Er hat eine ganze Menge dazu herausgefunden. Ich habe einen Termin bei meinem Arzt, weshalb ich mich leider bereits verabschieden muss.“ Mit diesen Worten machte sich Nikolas langsam humpelnd davon. Artemis schaute dem Prälat noch einige Zeit hinterher, dann klopfte er vorsichtig an der Tür zu dessen Büro. Im Gegensatz zu allen anderen zuckte Steve nicht zusammen, als er Artemis‘ dämonisches Auge sah. Beim ersten Mal war es anders gewesen, als der Junge Artemis nach dem Angriff der Dämonen das erste Mal ohne Augenklappe gesehen hatte, wäre er am liebsten sofort geflohen. Doch er machte sich in der letzten Zeit wirklich gut, Nikolas schien ihm eine Menge beigebracht zu haben. „Guten Tag, Pater Dal Monte. Setzen Sie sich doch bitte“, sagte Steve freundlich und deutete auf den Sitz neben ihm. Sie saßen nicht direkt an dem Schreibtisch des Prälaten, sondern an einem kleinen Tisch einige Meter von dem großen Gebilde aus massiven Holz entfernt. Der kleinere Bruder, der ebenfalls für Besprechungen heran gezogen wurde, war zwar weniger ausladend, aber ausreichend. Die Akte über Pater Simmons hatte Steve bereits auf den Tisch gelegt. Daneben lag ein Briefumschlag. „Als ich mir die Akte über unseren Kollegen aus England angesehen habe, war ich etwas überrascht.“ „Warum? Jeder Geweihte hat eine spektakuläre Hintergrundgeschichte, ansonsten wären sie keine Geweihten“, sagte Artemis mit einem schelmischen Grinsen. „Es ist weniger die Hintergrundgeschichte der Übernahme, die mich stutzig gemacht hat. Die ist gewohnt brutal“, murmelte Steve. Artemis war zwar neugierig, was Pater Simmons denn verbrochen haben sollte, dass er von einem Dämon angegriffen worden war, doch er wusste auch, dass er das ohnehin niemals erfahren würde. Bis auf Ethos hatten die gewöhnlichen Priester kein Anrecht darauf, Informationen einzusehen, die nicht für sie bestimmt waren. Sie waren darauf angewiesen, alle relevanten Informationen weitergetragen zu bekommen. „Doch als ich die vermeintliche Brosche, die Pater Simmons am Revers trug, endlich erhalten hatte, war sie mir sofort bekannt vorgekommen. Es handelt sich um einen deutschen Orden, der in dem Großen Krieg besonders tapferen Soldaten verliehen worden ist. Fliegende Soldaten waren damals eher selten, die Bedienung und besonders die Steuerung von Flugzeugen waren eine echte Herausforderung. Heute zwar immer noch, aber damals war es mehr als ein Wunder, wenn ein fliegender Soldat in einem Stück aus dem Einsatz nach Hause kam. Bei dem Abzeichen handelt es sich um jenes, das Soldaten, welche als Flugzeugführer eingesetzt worden waren, durch Kaiser Wilhelm II. verliehen bekommen haben.“ Artemis schaute sich das Abzeichen genauer an, nachdem Steve es aus dem Briefumschlag genommen hatte. Es handelte sich um einen silberfarbenen Orden, auf dessen Innenseite ein Flugzeug abgebildet war, das über eine dorfähnliche Landschaft flog. Der Eichenkranz, der das Bild umschloss, war am unteren Ende durch eine Schleife zusammen gebunden, oben drauf prangte eine reich verzierte Krone. „Als ich die Akte von Pater Simmons studiert habe, fiel mir auf, dass er in Deutschland geboren wurde. In einem Dorf in der Nähe der Hansestadt Hamburg. Nachdem er sich dem Dienst der Kirche verschrieben hatte, ist er vom Vatikan nach England versetzt worden.“ „Weshalb wurde er versetzt?“ „Zum damaligen Zeitpunkt hatte der Vatikan einen Geweihten in Deutschland. Es bestand also keine Notwendigkeit, Pater Simmons weiterhin in Deutschland zu stationieren. In Großbritannien wiederum wurde gerade neuer Priester gebraucht.“ Dies war eine nette Umschreibung dafür, dass eine „freie Stelle“ in der Regel bedeutete, dass einer der vorherigen Priester getötet worden war. „Wie dem auch sei, Pater Simmons ist gebürtiger Deutscher.“ „Dafür besitzt er einen komischen Nachnamen“, meinte Artemis und legte das Abzeichen zurück in den Umschlag. „Ich meine, heißen die nicht alle Müller, Schmidt oder so ähnlich?“ „Das mit dem Familiennamen ist so eine Sache. Ja, wir sind bisher alle davon ausgegangen, dass es sich bei Pater Simmons um einen englischsprachigen Nachnamen handelt. Die Akte aus London und die hier angelegte Akte unterscheiden sich allerdings.“ Artemis wurde fast wahnsinnig. Was die Spannung anbelangte, stand Steve Nikolas in nichts nach. Es zog sich ewig dahin, bis die wirklich interessanten Informationen herausgegeben wurden. „Pater Simmons heißt nämlich nicht Simmons. In Wirklichkeit lautet sein Name Daniel Siemons. Als er in London ankam, konnte das aber keiner aussprechen. Auf seiner Akte wurde vor Ort der Name Simmons vermerkt.“ „Aber wieso hat sich Pater Siemons nicht dagegen gewehrt? Nicht einmal Berry wusste, dass es nicht sein richtiger Name ist.“ „Haben Sie schon einmal das Problem gehabt, dass Ihr Name nicht verstanden wurde?“ „Mehrfach sogar.“ „Haben Sie sich immer darum bemüht, das Missverständnis aufzulösen?“ „Mal mehr, mal weniger“, gestand Artemis und dachte nach. „Gut, wenn man jemanden das jeden Tag erklären muss und dazu weiß, dass die Dialektik des Landes eine korrekte Aussprache ohnehin nicht zulässt, ist es vielleicht besser, wenn man es sein lässt und die Leute einen so nennen, wie es ihnen möglich ist.“ „Das denke ich ebenfalls.“ „Aber ich finde noch etwas merkwürdig. Hat Pater Siemons jemals einen Antrag gestellt, wieder zurück nach Deutschland zu kehren?“ „Nein, wie gewohnt hatte er keine Familie mehr. Ein Schicksal, dass die Geweihten ja häufig teilen.“ „Ich nicht“, sagte Artemis schief grinsend. „Mein Papa hat das Glück, noch am Leben zu sein. Leider.“ Als Steve nichts darauf erwiderte, fuhr Artemis fort. „Na ja, wenn ihm an seiner Heimat nicht viel lag, dann ist es auch nicht weiter verwunderlich.“ „Ganz so würde ich es auch nicht ausdrücken. Immerhin trug er das Abzeichen seines Vaters. Er selbst hat nicht als Soldat im Großen Krieg gedient. Dafür war er damals noch zu jung gewesen.“ „Pater Siemons hatte demnach wahrscheinlich einen Draht zu seiner Heimat, der aber nicht ausreichend stark war, um zurückzukehren“, fasste Artemis die Erkenntnis laut denkend zusammen. „Interessant. Gibt es irgendwelche Verbindungen nach Deutschland? Oder Auffälligkeiten?“ „Ich bin an der Sache dran. Das einzige, das ich bisher allerdings in Erfahrung bringen konnte, ist, dass in Deutschland irgendetwas vor sich gehen soll. Das hat jedoch nichts mit den Dämonen zu tun, sondern mit der momentanen Politik. Wie Sie wissen, haben wir gerade keinen Geweihten in Deutschland, sondern können lediglich auf Kontaktmänner zurückgreifen. Deshalb…“ Plötzlich begann Steve zu zögern. Die ganze Zeit über hatte er Artemis direkt in die Augen sehen können, doch jetzt blickte er zu Boden. Es dauerte eine Weile, bis Steve seinen Blick wieder heben und den anderen Priester ansehen konnte. „Sie fragen sich sicher, warum ich all das gerade Ihnen erzähle, obwohl Pater Turino mit dem Fall betraut worden ist. Monsignore Nikolas hat sich dafür entschieden, Sie, sobald Sie von Ihrer Mission mit Schwester Dal Monte zurückkehren, nach Deutschland zu schicken.“ „Und dieses Buch? Worüber ist das?“, fragte Marylin und verlor sich einmal mehr in den dunklen Augen der Zigeunerin, welche ihr gegenüber saß und an ihrem Tee nippte. Seitdem Ethos und Artemis mit verschiedenen Missionen beauftragt worden waren, hatte Marylin niemanden mehr, an den sie sich hätte wenden können. Sie war völlig allein, niemand im Vatikan beachtete sie. Alle Bezugspersonen, die sie hätte haben können, waren entweder abgereist oder hatten zu viel zu tun, um sich großartig mit ihr auseinander zu setzen. Und obwohl ihr Schutz versprochen worden war, durfte sich Marylin erstaunlich frei bewegen. Eine Wache oder so war ihr auch nicht zur Verfügung gestellt worden. Es gab viele Gründe, aus denen Marylin es inzwischen bereute, nach Italien gekommen zu sein. Ihr kam es vor, als habe sie nun, da sie die wichtigsten Informationen weiter gegeben hatte, keinen Wert mehr. Entsprechend wenig kümmerte man sich um sie und das Gefühl, beschützt zu werden, hatte sie auch schon lange nicht mehr. Deshalb hatte sie sich gefreut, als sie bemerkte, dass Gemini und sie langsam zu so etwas wie Freundinnen wurden. Nachdem Marylin das erste Mal Tee mit der südländisch wirkenden Frau getrunken hatte, war sie fast jeden Tag zurückgekehrt, um sich über die Bücher zu unterhalten, welche die junge Frau verkaufte. Zufällig interessierte sie sich, genau wie Marylin, für Dämonen. „Das Buch ist über Märchen. Jemand hat sich tatsächlich mal die Mühe gemacht, alle bisher überlieferten Märchen aus einem Raum zusammen zu tragen und sich mit der dahinter stehenden Mystik beschäftigt. Du würdest dich wundern wenn du wüsstest, wie früh einige Menschen auf die Idee gekommen sind, dass es Dämonen geben könnte.“ „Hier steht, dass Rotkäppchens Wolf ein Werwolf und somit vielleicht auch eine Form von Dämonen gewesen sein könnte. Glaubst du, da könnte etwas dran sein?“ „Warum nicht?“, meinte Gemini und schaute ihrer Gesprächspartnerin tief in die Augen. Kurz darauf wanderten ihre Augen tiefer. „Eine schöne Kette, die du da hast. Wer hat sie dir gegeben?“ „Die?“, fragte Marylin und hob die silberne Kette an, welche sie neuerdings um den Hals zu tragen pflegte. „Die habe ich von Ethos Turino bekommen. Er meinte, ich solle diese Kette von nun an tragen, sie würde mir in einigen Situationen weiterhelfen.“ Am unteren Ende der Kette baumelte ein runder blauer Stein, welcher in eine ebenfalls silberne Fassung eingearbeitet worden war. Durch das Licht, das durch das Fenster fiel, strahlte das Blau in einer wunderschönen hellen Farbe, die an fließendes Wasser erinnerte. Gemini kniff die Augen zusammen und starrte das kleine Objekt solange an, bis es ruhig an der Kette hinunter hing. Als sie ihren Kopf wieder hob, lächelte sie Marylin kokett an. „Wer ist denn dieser Ethos?“ „Oh, nicht, was du denkst“, korrigierte Marylin schnell. „Ich bin nicht an ihm interessiert.“ Gemini lehnte sich lässig auf den kleinen Holztisch und zog eine Augenbraue nach oben. „Da er ein Priester ist, würde da nicht einmal etwas draus werden, wenn ich denn wollte. Und ohne ihn beleidigen zu wollen“, fügte Marylin mit einem verschwörerischen Gesichtsausdruck hinzu. „Glaube ich, dass er das asexuellste Wesen ist, das ich jemals getroffen habe.“ Gemini brach daraufhin in schallendes Gelächter aus, das Marylin wieder einmal ansteckte. „So etwas gibt es?“ „Glaub mir, im Vatikan geschieht einiges, das würdest du mir niemals glauben.“ „Was denn zum Beispiel?“ Für einige Sekunden schaute sich Marylin um, als könne sie jemand belauschen. Dann senkte sie die Stimme und beugte sich nach vorne, auch wenn sie mit der Zigeunerin alleine war. „Wusstest du, dass es verheiratete Priester gibt, die ihre Frauen betrügen, Alkohol saufen, spielsüchtig sind und Prostituierte bezahlen?“ Überrascht und schockiert wich Gemini zurück. Dazu hielt sie eine Hand auf ihre Brust, die andere vor ihren Mund. „Nein.“ „Doch. Einer der Priester, die ich kennen gelernt habe, ist so einer. Er heißt Artemis.“ „Ein ungewöhnlicher Name für einen Mann.“ „Ja. Er hatte mir mal erzählt, dass sein Vater unbedingt eine Tochter haben wollte. So wäre er zumindest an seinen Namen gekommen.“ „Hat er sonst noch etwas erzählt?“ „Hm… Ja, warum fragst du?“ Marylin schien für einen kurzen Augenblick misstrauisch zu werden. „Also, das, was du da erzählst, ist so unglaublich spannend. Ich würde gerne mehr wissen. Du hast anscheinend schon so viel erlebt, während ich hier mehr oder weniger langweilige Bücher verkaufe.“ Als Gemini ihren Schmollmund zur Schau stellte, war Marylin bereits wieder erweicht. Sie freute sich, dass sich jemand so für ihre Geschichten erwärmen konnte. Im Gegensatz zu ihren langweiligen Aufenthalten im Vatikan war sie froh, mit jemanden reden zu können, der sich auch wirklich für sie interessierte. „Ach so, so viel habe ich auch wieder nicht erlebt bisher. Also, es ist so, dass sein Vater ihn wie ein Mädchen behandelt haben soll. Bis es ihm irgendwann gereicht habe, da hat er angefangen, sich wie so ein richtiger Mann zu benehmen. Mit allem, was dazu gehört. Glücksspiel, Alkohol, Sex und so weiter. Mich hat er auch versucht anzumachen. Aber ich bin nicht darauf eingegangen.“ Den letzten Satz sprach Marylin nicht ohne Stolz aus. „Wenn du dich nicht für Priester interessierst, wofür dann?“ „Nun…“ Marylin zögerte und überlegte lange, wie sie antworten sollte. „Ach, im Grunde genommen bin ich für alles offen.“ Zunächst schien Gemini nicht zu verstehen, was Marylin ihr damit sagen wollte, doch dann wich der fragende Blick aus ihren Augen. Die beiden Frauen saßen noch den gesamten Abend über beisammen und unterhielten sich. Während sich Marylin einiges über sich und ihre Odyssee erzählte, fand sie in Gemini eine geduldige Zuhörerin, die ihr Mut und Trost spenden konnte. Für Marylin war spätestens an diesem Abend klar, dass sie eine neue Freundin gefunden hatte, mit der sie sich, fernab ihrer Heimat, verbünden konnte. Kapitel 18: Kapitel 18 ---------------------- Kapitel 18 Es war vermutlich mehr als bezeichnend, dass der Morgen, an dem Artemis mit Lydia zusammen nach Griechenland fliegen musste, grau und vernebelt war. Das Rollfeld draußen war kaum zu erkennen und die Passagiere schauten immer wieder auf die Anzeigetafeln, aus Angst, dass ihr Flugzeug aufgrund des schlechten Wetters nicht abheben würde. Lydia war in ein dunkelblaues Kleid gehüllt, ihre Haare hielt sie unter einem weißen Tuch mehr schlecht als recht bedeckt. Eine Sonnenbrille verhinderte, dass Artemis ihren Blick deuten konnte. Ansonsten saß die junge Frau regungslos da, die Hände in den Schoß gelegt und stur geradeaus schauend. Es war, als nehme sie den starrenden Priester neben ihr gar nicht wahr. Artemis war ebenfalls in zivil. Auch er trug eine Sonnenbrille, allerdings eher, um seine Augenklappe etwas zu kaschieren. Die beiden hatten aufgetragen bekommen, so wenig Aufmerksamkeit wie möglich auf sich zu lenken. Um sich etwas abzulenken, griff Lydia nach ihrer großen braunen Handtasche. Sie wühlte etwas darin herum und zog dann eine kleine Mappe heraus, von der sie die erste Seite aufschlug. Ein letztes Mal wollte sie sich alle ihre neuen Fälle ansehen. In der Eile hatte sie die Mappen nicht sortiert. Dimitrij Ivanowitsch Ponomarjow besaß nicht nur einen bezeichnenden Namen, sondern auch eine beeindruckende Geschichte. Der Geweihte, dessen Eltern in der Russischen Revolution getötet worden waren, da sie sich gegen das Zarenreich gestellt hatten, war der dritte Priester, den sie aufsuchen würden. Er hatte sich im Großen Krieg verdient gemacht, bevor er aufgrund einer Verletzung ausscheiden musste mit dem Rang eines Hauptmannes. Mit fast fünfzig Jahren hatte er sich, für einen Geweihten, der sich offenkundig gegen die Dämonen stellte, lange gehalten. Ein kleiner Stich fuhr der Nonne ins Herz, als sie darüber nachdachte, wie kurz das Leben der meisten Geweihten dauerte. Auch Artemis hatte seine Lebensspanne fast überstrapaziert. Obwohl sie schon genau wusste, weshalb sie sich so sehr darum bemühte, sich von Artemis scheiden zu lassen, war der Gedanke, dass der Priester eines Tages von einem Dämon zerfetzt werden könnte, kaum zu ertragen. Um auf andere Gedanken zu kommen, nahm Lydia die nächste Akte zur Hand. Sokrates Alexandros war ein überraschend gutaussehender Mann von dreißig Jahren. Seine hohen Wangenknochen verliehen ihm eine männliche Art von Härte, die von seinem freundlichen Lächeln jedoch etwas abgeschwächt wurde. Viel stand über den jungen Mann nicht in der Akte, sie war relativ uninteressant. Lydia sortierte sie über die Akte von Ponomarjow. Archibald Roman McDouglas war der Sohn einer reichen Großfamilie, die als Kolonnisten ein ruhiges Leben in Indien verbracht hatte. Jedenfalls so lange, bis der Großteil der Familie zu verschwinden begann. Nach und nach wurden Verwandte als vermisst gemeldet, bis nur noch McDouglas übrig geblieben war. Er war ein schlaksig wirkender Kerl mit der Nase eines Habichts und träge wirkenden Augen. Ein kleiner Schnurrbart, der an den Enden zusammengezwirbelt war, klebte wie ein dünner Strich über seiner Oberlippe. Der Safarihut, welchen er auf dem Bild trug, ließ ihn leicht idiotisch wirken. Sein Mund war ebenfalls kaum mehr als ein schmaler Strich, die Lippen wirkten fast etwas zu weiblich. Zu große Ohren hatte er außerdem. McDouglas' Akte wanderte zwischen die von Ponomarjow und Alexandros. Die letzte Akte befand sich am untersten Ende ihrer Tasche und Lydia musste etwas länger suchen, bis sie diese finden konnte. Jonathan Smith. Auf den ersten Blick hätte Lydia den Mann für eine jüngere Version von Ethos halten können. Doch dann sah sie, dass sich die beiden doch stärker voneinander unterschieden, als es der erste Eindruck erscheinen ließ. Die hellen Haare waren deutlich kürzer und standen wild vom Kopf des Mannes mit dem schlanken, schon beinahe kantig wirkenden Gesicht ab. Mit achtundzwanzig Jahren war der Amerikaner genauso alt wie Lydia. Seine Augen waren etwas heller als die von Ethos und auch das wenige, das Lydia von dem Kleidungsstil des Priesters erblicken konnte, hob sich deutlich von dem ewig murrenden Geistlichen im Vatikan ab. Er trug anscheinend die normale Priesterrobe. Auch hier fand sich nichts Spektakuläres. Die Eltern waren bereits seit langer Zeit tot, ähnlich wie Ethos war Smith in einem Waisenhaus aufgewachsen. Diese Mappe sortierte Lydia an das hintere Ende. „Würdest du mir die Mappen bitte geben?“, fragte Artemis und streckte einen Arm aus. Lydia übergab dem Priester die Unterlagen. Offiziell war sie Artemis bei dieser Mission unterstellt. Auch wenn ihr das nicht passte, musste sie sich diesem Umstand wohl oder übel fügen. „Danke.“ Als Antwort bekam Artemis nur ein Nicken. Er sollte zusammen mit Lydia ein reiches Ehepaar mimen. Früher hätte ihm das durchaus Spaß gemacht, heute bereute er, dass sie den gleichen Nachnamen auf dem Pass stehen hatten. Sie waren damit für solch eine Art von Einsatz nahezu prädestiniert. Seitdem die beiden aus dem Vatikan aufgebrochen waren, hatten sie nicht ein vernünftiges Wort miteinander gewechselt. Stummes Nicken, ein knappes Ja oder Nein oder aber desinteressiertes Schulterzucken beherrschte die zwei. Eine Stimme ertönte und rief die Passagiere nach Athen auf, zu ihrem Gate zu gehen. Lydia und Artemis erhoben sich, um zu ihrem Flugzeug zu gehen. Wie auch die Stunden zuvor geschah dies in einvernehmlichem Schweigen. Als Ethos merkte, dass der Gardist neben ihm vor Nervosität mit den Knien geradezu schlotterte, hätte er ihm gerne mehr Verständnis entgegen gebracht. Doch er sah auch die anstehende Mission vor sich. Und von diesem Standpunkt aus gesehen besaß er nur einen sehr kurzen Geduldsfaden. „Bitte, reißen Sie sich doch am Riemen!“, flüsterte Ethos im scharfen Ton und stupste seinen Nachbarn leicht mit der Ledertasche an, welche er mit sich führte. „Es tut mir leid, Pater Turino, aber ich kann nicht anders“, war die knappe Antwort des Gardisten. Um nicht aufzufliegen, hatte sich der Gardist als Museumsinhaber verkleidet, welcher von Ethos zu der Übergabe einer alten Holztruhe begleitet wurde. Da es nach wie vor ein Leck im Vatikan gab, mussten auch die Dämonen von dieser gespielten Übergabe wissen. Allerdings wussten gerade mal Ethos, Roth, Chino, die fünf Gardisten und Nikolas von den genauen Details des Planes. Offiziell war nur Roth ausgesandt worden, um den Fänger an einen sicheren Ort zu bringen. Da es den Dämonen so leicht gefallen war, in den Vatikan einzudringen, wollte man nun den einzigen verfügbaren Fänger in Sicherheit bringen. Dies wiederum sollte durch ein Museum in Palermo sichergestellt werden. Ethos befand sich im Rahmen einer anderen Mission angeblich in einem anderen Land und Chino galt als verschwunden. Demnach das gefundene Fressen für Esrada und seine Untergebenen. Der Gardist trug mit beiden Händen eine sperrige Truhe, so dass er darauf warten musste, dass Ethos ihm die Tür zu dem Museum öffnete. Das Museo Archeologico Regionale Antonino Salinas war aufgrund von Renovierungsarbeiten geschlossen. Somit konnte die gespielte Übergabe fernab neugieriger Blicke stattfinden. Von außen machte das Museum einen unscheinbaren Eindruck. Die Fassade war in einer Mischung aus beige und hellem braun gehalten, Verzierungen oder gar eine Tafel, die darauf hinwies, um was es sich bei diesem Gebäude handelte, suchte der Besucher vergeblich. Links wie rechts von der Holztür waren jeweils drei Fenster im untersten Stock nebeneinander angeordnet worden. Für den zweiten Stock hatte man sich für das gleiche Arrangement entschieden. Rechts neben dem Museum befand sich eine prachtvolle Kirche, die die Touristen wesentlich stärker in ihren Bann zog als das bedeutungsvolle Bauwerk daneben, das immerhin einen beachtlichen Teil italienischer Kulturgeschichte beherbergte. Zwar hatten die Funde aus Selinunt eine wesentlich größere Berühmtheit erlangt als die italienischen Ausstellungsstücke, doch Ethos hatte die einheimischen Schätze denen aus Ägypten stets vorgezogen, wenn er in Palermo zu Besuch gewesen war. Dass er sich ausgerechnet hier, zwischen all den teuren Exponaten, eventuell ein Gefecht mit einem seiner mächtigsten Feinde liefern könnte, erschien ihm noch immer etwas surreal. Ein kurzer schmaler Gang führte in das Innere des Museums. Ethos schlug eine weitere Tür auf, um den Gardisten auch diese passieren zu lassen. Kurz darauf befanden sich die beiden in dem ersten Ausstellungsraum. Einige der weißen Wände lagen frei, wieder andere waren von milchigen Folien überzogen worden. Der freigeräumte Teil zu Ethos‘ rechten wurde von Farbeimern und einigen Leitern dominiert, links waren noch einige Exponate unter blickdichten Folien zu erahnen. Die Ruhe, die in dem Museum herrschte, war nahezu gespenstisch. Aufgrund der geschlossenen Fenster und Türen herrschte ein muffiger Geruch vor, weshalb Ethos kurz die Nase rümpfte. Als er sich wieder in Bewegung setzte und somit ein leises Knirschen von seinen Lederschuhen ausging, zuckte der junge Gardist zusammen. Er hatte sich nur kurz umgeschaut und sich sofort erschrocken, als Ethos sich bewegt hatte. Während Ethos dem Mann einen warnenden Blick zuwarf, machte er einige Schritt in Richtung Innenhof. Mit dem echten Inhaber des Museums war vereinbart worden, dass Ethos und seine Gruppe an diesem Tag das Museum nur für sich hatten. Keine Arbeiter, keine Museumsmitarbeiter, keine Direktoren, niemandem außer den Gesandten des Vatikans war es gestattet, das Gebäude zu betreten. Wie so oft hatte vorher eine Absprache stattgefunden, dessen genauen Inhalt wohl nur Prälat Nikolas kannte. Im Innenhof wehte ein leichter Wind, welcher die Büsche und die kleinen Bäume zum Rascheln brachte. In der Mitte des quadratisch angelegten Platzes befand sich ein Brunnen. Dieser war jedoch nicht angeschaltet, so dass die männliche Statue, die im Zentrum stand und sich eine Schale an den Mund hielt, im wahrsten Sinne des Wortes auf dem Trockenen stand. Umgeben war der Platz von den hohen Mauern des Museums, so dass nur einige Lichtstrahlen sich ihren Weg bis in den Innenhof hinein bahnen konnten. Ethos blieb stehen und schaute sich um. Von Chino und Roth mitsamt seinen Leuten war nichts zu sehen, ganz wie geplant. Hinter den Säulen, die ein kleines, künstlerisch verziertes Vordach stützten, gingen vier Eingänge in das Museum ab. Alle vier Türen waren geöffnet, außer die, die Ethos und der Gardist im Rücken hatten. Ebenfalls alles wie geplant. Langsam richtete Ethos seinen Blick nach oben. Die Fenster, die in den Innenhof zeigten, waren geschlossen. Aufgrund der hohen Mauern würde er zu keinem Zeitpunkt gegen das Sonnenlicht sehen. Als er den Kopf wieder senkte, wand er sich dem Gardisten zu und nickte diesem leicht entgegen. Der Angesprochene verstand, was Ethos von ihm wollte und stellte die Kiste auf dem Boden ab. Er holte einen Schlüssel hervor, um das Vorhängeschloss zu öffnen, wenig später hielt er den Inhalt der Truhe in beiden Händen. Wie ein Kind hob er es an, aus Angst, dass er das zerbrechliche Objekt fallen lassen könnte. Es handelte sich um eine kleine abgenutzt wirkende Truhe, die bereits dem Lochfraß einiger Insekten zum Opfer gefallen war. Das Messing, welches sich um den oberen Teil der Kanten legte, war angelaufen und die Henkel an den Seiten drohten beinahe abzureißen. Auf dem Deckel war ein Siegel zu erkennen, dessen genaue Details von der Zeit davongespült worden waren. „Wie Sie sehen, ist das Objekt so gut wie unbeschadet, Signore Liccardi“, sprach Ethos den Gardisten an. Er hatte ihn im Hotel öfters mit diesem Namen angesprochen um sicherzugehen, dass er auch darauf reagieren würde. „Ich würde es Ihnen gerne übergeben. Können Sie dafür garantieren, dass es bei Ihnen gut aufgehoben sein wird?“ „Natürlich, Signore. Machen Sie sich darüber überhaupt keine Gedanken“, antwortete der falsche Museumsdirektor mit einer Sicherheit, die Ethos positiv überraschte. Zusätzlich betrachtete er die Truhe von allen Seiten. „Wie ich sehe, ist das Objekt durchaus geeignet, um zwischen die anderen Objekte gestellt zu werden. Es kann demnach als Teil unserer Ausstellung Verwendung finden.“ „Das ist gut zu hören. Dort, wo es vorher war, ist es nicht mehr sicher.“ „Kunsträuber?“ „Unter anderem.“ Wo bleiben die Dämonen, dachte Ethos und schaute sich noch einmal um. Sollte sein Plan möglicherweise doch nicht aufgehen? Der Priester spürte, wie ihm warm wurde. Auch auf der Stirn des Gardisten waren Schweißperlen zu sehen, doch ob diese von der Wärme oder seinem Unbehagen stammten, konnte Ethos nicht mit Sicherheit sagen. „Gibt es etwas, das bei diesem Objekt beachtet werden muss? Eine besondere Pflege oder so?“ „Behandeln Sie es einfach wie einen Ihrer teuersten Schätze. Sie wissen, warum es gerade für uns so wertvoll ist. Am besten wird es sein, es so zu platzieren, dass es nicht von neugierigen Besuchern angefasst wird.“ Inzwischen hatte Ethos die Lautstärke seiner Stimme gesteigert. Sollten Dämonen anwesend sein, konnten diese ruhig mitbekommen, dass er sich über einen Fänger unterhielt. Schließlich stellte dieser das einzig akkurate Lockmittel dar, das der Vatikan besaß. „Und denken Sie daran, dass der Fänger niemals, wirklich niemals, als ein solcher ausgewiesen werden darf. Niemand darf wissen, worum es sich in Wirklichkeit handelt.“ Ethos hatte sich noch nie als besonders guten Schauspieler betrachtet und auch heute würde er an dieser Einschätzung nichts ändern. Dass dieses Gespräch aufgesetzt war, konnte jeder, der es mithörte, hunderte von Metern gegen den Wind riechen. Vielleicht hätte er doch lieber Chino und den Gardisten schicken sollen, doch in der Konstellation, in der sie sich momentan arrangiert hatten, sah Ethos das geringste Gefahrenpotential für alle Beteiligten. Zwar war es sein ursprünglicher Plan gewesen, Roth an seiner Stelle gehen zu lassen, da dieser offiziell auf diese Mission geschickt worden war, doch Ethos hatte sich dann doch noch anders entschieden. Um ihn einem solchen Risiko auszusetzen, war ihm der Leutnant zu wertvoll. Außerdem besaß Roth einen gewissen Eigensinn, welchen Ethos nicht einzuschätzen vermochte, weshalb er den jungen und noch einigermaßen unerfahrenen Gardisten leichter schützen können würde, wenn es zu einer kritischen Situation kommen sollte. Für einige Minuten blieben Ethos und der Gardist stehen und sahen sich gegenseitig in die Augen. Jede Sekunde, in der nichts passierte, entspannten sich die Muskeln des jungen Mannes etwas. Eine Wolke zog vor die Sonne und verdunkelte den Innenhof leicht. Seufzend stellte Ethos seine Tasche auf den Boden und trat einen Schritt auf den Gardisten zu. „Ich glaube, wir können uns das sparen. Es scheint keinen Sinn zu haben. So wie es aussieht, haben die Dämonen niemanden ausgesendet, um sich den Fänger zu holen.“ Erleichtert atmete der Gardist aus und ließ die Hände sinken. Entspannt lockerte er seine Muskeln, indem er seinen Nacken einige Male kreisen ließ, dann streckte er sich und reichte Ethos die Truhe entgegen. Dieser wollte gerade ebenfalls seine Hände ausstrecken, um das Objekt entgegen zu nehmen, als er einen warnenden Ruf vernahm. „Ethos! Vorsicht!“ Doch die Warnung kam zu spät. Ethos merkte nur, wie seine Wange anfing zu brennen. Vor ihm schlug etwas in die Kiste ein, es ertönte ein lautes Knacken und das alte Relikt wurde dem Gardisten aus den Händen gerissen. Splitter und etwas Blut flogen durch die Luft und trafen Ethos an dessen Brust. Der junge Mann vor ihm hob schreiend die linke Hand, an der das Blut nach unten lief und auf den Boden tropfte. Dort, wo es sich sammelte, steckte ein längliches Schwert im Gestein, die kläglichen Überreste der Truhe in Form von zerschmetterten Holzplanken zerschlagen. Plötzlich war die Wolke, die noch wenige Sekunden zuvor die Sonne bedeckt hatte, verschwunden. Ein Brüllen ertönte hinter Ethos und ein lauter Knall war zu vernehmen. Lange Krallen schlugen sich in die Holztüre und drohten, diese zu zerreißen. Als Ethos sich an die Wange fasste, spürte er eine warme Flüssigkeit. Er blutete ebenfalls, jedoch längst nicht so stark wie der Gardist, der nun voller Panik einen Punkt hinter Ethos fixierte und seine Wunde vergessen zu haben schien. Ein weiteres Mal ertönte ein Knacken, diesmal gefolgt von dem Bersten massiven Holzes. Leise knurrend bewegte sich etwas hinter Ethos. Doch anstatt sich umzudrehen, schaute der Priester weiterhin den Gardisten an. Dass dies die richtige Entscheidung gewesen war, wusste Ethos, als sich erneut ein Schatten vor die Sonne zog. Von oben war ein kurzes Pfeifen zu vernehmen, weshalb Ethos in Sekundenschnelle in seine Hosentasche griff, um seinen Rosenkranz zutage zu fördern. Danach streckte er die Hand aus und überbrückte den letzten Abstand zwischen sich und dem jungen Gardisten. Als er dem schreienden Gardisten das Kreuz auf die Brust drückte, schien es, als würde sich die Luft, die um sie herum strömte, sich materialisieren. Schimmernde, hellblaue Linien stiegen auf, zogen sich zusammen und legten sich, ähnlich einer schützenden Hülle, um den Priester und den Gardisten. Zwei weitere Schwerter prallten auf dem Schutzwall auf, brachen beim ersten Kontakt mit diesem allerdings entzwei und richteten somit keinen Schaden an. So schnell sich der Schutzwall geformt hatte, so schnell war er bereits verschwunden, als Ethos das Kreuz von der Brust des Mannes entfernte und einige Schritte Abstand zwischen sie brachte. Völlig entgeistert sank der Gardist auf die Knie. Zitternd kauerte er sich zusammen und besah sich seine Hand. Auf den ersten Blick schätzte Ethos die Verletzung des jungen Mannes nicht allzu schlimm ein. Sie blutete stark, doch tödlich war sie definitiv nicht. Doch wirklich mit der Wunde beschäftigen konnte er sich nicht. Die Gefahr war noch längst nicht gebannt. Ethos handelte in einem nahezu übermenschlichen Tempo, als er seine Tasche anhob, diese öffnete und seinen Revolver griff. Sofort richtete er die Waffe in den Himmel und gab einige Schüsse ab. Diese verfehlten den Dämonen zwar, da dieser sich von der Mauer abstieß und so nach und nach hinunter gesprungen kam, indem er immer die gegenüberliegende Häuserwand als Zwischenstation nutze, doch um den Angreifer aus dem Konzept zu bringen, reichte es allemal. Aus dem Gleichgewicht gebracht, schaffte es der Dämon gerade so eben, auf der Statue des Brunnens zu landen. Er wackelte einige Male, bis er sich wieder gefangen hatte und aufrecht zu Ethos und dem Gardisten hinunter blickte. Seine grünen Augen waren voller Hohn, die langen weißblonden Haare wiegten in dem leichten Wind hin und her. Aus seinem Gürtel zog der Dämon ein weiteres Schwert, das er zuerst auf den Gardisten richtete, dann schwenkte er herum und zielte auf Ethos. Als er in die dunklen blauen Augen schaute, die Ethos vor Zorn zu engen Schlitzen verzogen hatte, hielt er kurz inne. Das Grinsen wich ihm schlagartig aus dem Gesicht, stattdessen legte sich Verwunderung über seine Züge, gemischt mit einem leichten Hauch von Panik. „Wie… Der Weiße Priester? Ich dachte, Artemis wäre hier“, knurrte der Dämon, was Ethos ein kühles Lächeln entlockte. „Falsch gedacht würde ich sagen.“ Woher auch immer der Dämon diese Falschinformation hatte, Ethos sollte es nur recht sein. Aufgrund der Verwirrung, die McKenzey deutlich anzusehen war, bemerkte er nicht, was hinter ihm geschah. Ein Pfeil flog auf den Dämonen zu und bohrte sich durch dessen Schulter. Einen Schmerzensschrei ausstoßend drehte sich McKenzey zur Seite und zog sich den Pfeil aus der Schulter. Sofort färbten sich seine Augen rot. „Du elender Verräter“, zischte er verächtlich, als er wenige Meter entfernt Chino mit einer kleinen Armbrust stehen sah. Der Angesprochene hatte nicht mehr übrig als ein gehässiges Grinsen, das ihn in seinem Arztkittel einen extrem grotesken Ausdruck verlieh. Auch Chinos Augen glühten in einem pulsierenden Rot, dazu hatte er die Mundwinkel so weit nach oben gezogen, dass seine scharfen Eckzähne deutlich über die Lippen traten. Sichtlich verärgert schaute McKenzey erst Ethos, dann Chino an. Er stand zwischen dem Priester und dem Dämonen, so dass nur noch zwei Auswege übrig blieben. Einer davon wurde kurz darauf ebenfalls versperrt, als eine Handvoll Gardisten erschien und eine weitere Tür in Beschlag nahm. Den Anführer hatte McKenzey im Vatikan schon einmal gesehen. Wieder trug der Mann eine Hellebarde in seinen Händen. Misstrauisch starrte dieser zu dem weißen Löwen hinüber, der noch immer hinter Ethos herumschlich. Für einen kurzen Augenblick schien McKenzey zu überlegen. Er war definitiv hereingelegt worden, so viel stand fest. Nach seinen Informationen sollten sich gerade einmal Artemis und einige Gardisten an diesem Ort aufhalten. Niemals hätte er eingewilligt, es mit dem Weißen Priester allein aufzunehmen. Und schon gar nicht hätte er darauf bestanden, dass Hildegard sich um ihre Schwester kümmerte, anstatt ihn zu begleiten. Hätte er gewusst, was auf ihn zukommen würde, hätte er ihr Angebot, ihn zu unterstützen, ganz sicher nicht abgeschlagen. Doch es war zu spät, sich darum noch Gedanken zu machen. Indem er ein weiteres Schwert aus seinem Gürtel zog, machte sich McKenzey zum Kampf bereit. „Und Sie sind Verwandte von Pater Alexandros?“, fragte der alte Priester mit dem faltigen Gesicht, als er Artemis und Lydia durch das Innere der Kathedrale führte. Der Boden der Kathedrale St. Dionysus Areopagita war aus feinstem Marmor, was zusammen mit den schönen Glasfenstern sehr beeindruckend wirkte, was besonders von Lydia bewundert wurde. Artemis war zu müde und gestresst, um sich großartig um die Architektur der Kirche zu kümmern. Alleine die Nachricht vom Vortag, dass er eventuell nach Deutschland versetzt werden würde, reichte aus, seine schlechte Laune in die Unendlichkeit zu steigern. Die ganzen Fragen, mit denen er die ganze Zeit über von dem Priester bombardiert worden war, nervten ihn obendrein gewaltig. Als habe er es mit einem Verhör zu tun. Eigentlich war er davon ausgegangen, dass die Kollegen im Vatikan ihre Ankunft angekündigt hätten. „Nein, sind wir nicht“, antwortete Lydia an Artemis‘ Stelle, da sie wusste, wie ungehalten dieser reagieren konnte. Noch immer war sie in der Lage, die Mimik des Priesters so zu lesen, dass sie genau wusste, was in diesem vorging. „Wir sind aus einem anderen Grund hier.“ Der Priester, der immer schneller voranzuschreiten schien, was aufgrund des beträchtlichen Umfangs seines Bauches eine beachtliche Leistung war, wirkte mit einem Mal überrascht. „Sie sind nicht wegen Pater Alexandros gekommen?“ „Doch. Aber wahrscheinlich nicht so, wie Sie denken. Wäre es möglich, uns mit Pater Alexandros alleine zu lassen, wenn wir bei ihm sind?“ Da Lydia nicht wusste, wie gut der Priester informiert war, wollte sie ihm schonend beibringen, dass sie ihn von den übrigen Gesprächen ausschließen würde. Manche Geistliche wirkten dann pikiert, doch hier schien das genaue Gegenteil der Fall zu sein. „Aber natürlich! Was denken Sie von mir?“ „Entschuldigen Sie bitte. Es war nicht so gemeint.“ „Ja, ich verstehe Sie schon. Wir sind alle etwas aufgewühlt.“ Lydia warf Artemis einen fragenden Blick zu. Auch Artemis wusste jedoch nicht, was er sagen sollte. Anscheinend hatten sie es hier mit einem besonders schwierigen Exemplar zu tun, dem man es ohnehin nicht recht machen konnte. Artemis hatte so etwas bereits einige Male erlebt. Priester, denen vor seiner Ankunft nur halbes Wissen zugespielt wurde und daher nicht so genau wussten, was sie erwartete, gab es zuhauf. Doch in diesem speziellen Fall wäre es wirklich gut gewesen, hätte der Vatikan ausnahmsweise nicht mit seinen Informationen geknausert. Somit zuckte Artemis lediglich mit den Schultern und folgte dem Priester ebenso schnellen Schrittes. Einige Türen später waren sie anscheinend vor dem Raum angekommen, in welchem Sokrates Alexandros sich für gewöhnlich aufzuhalten pflegte. Vorsichtig öffnete der Priester die Tür und schaute hinein. Dann stieß er sie bis zum Ende auf, stellte sich davor und winkte Artemis und Lydia hinein. „Sagen Sie mir bescheid, wenn ich Sie wieder abholen kann. Lassen Sie sich ruhig Zeit, niemand wird Sie stören, solange Sie bei Pater Alexandros sind.“ Das will ich auch hoffen, dachte Artemis und schritt erhobenen Haupts an seinem Kollegen vorbei. Lydia folgte, den Kopf etwas gesenkter. Nachdem die beiden eingetreten waren, verschwand der andere Priester und schloss leise die Tür hinter sich. Zu Lydia gewandt stemmte Artemis die Hände in die Hüften, dazu legte er einen wütenden Blick auf. „Wer denkt der eigentlich, wen er hier vor sich hat?“, schnaubte Artemis wütend, dazu ignorierte er Lydias fragendes Gesicht. „Was glaubt der denn, warum wir hier sind? Bestimmt nicht aus Spaß, ich glaube dem sollte man mal…“ „Artemis“, unterbrach Lydia den schimpfenden Priester. Dieser stellte seine Tiraden sofort ein und drehte sich langsam in die Richtung, in welche die Nonne zeigte. Als er sich vollkommen umgedreht hatte und die Stirnseite des Raumes sehen konnte, hielt Artemis für einige Momente die Luft an. Am anderen Ende war ein Altar aufgebaut, nahezu hunderte von Kerzen spendeten das einzige Licht in dem Raum. Die hohen Fenster waren zugezogen und vor den roten Samtvorhängen war ein Sarg aufgebaut worden. Ein Bild stand davor, das demjenigen ähnelte, das in Alexandros‘ Akte zu sehen gewesen war. Ein Kranz und einige Blumen waren vor dem Sarg niedergelegt worden. Vorsichtig näherten sich sowohl Lydia, als auch, mit etwas Verspätung, Artemis dem Sarg. Vor ihnen lag Pater Alexandros, die Hände über der Brust gefaltet, die Augen geschlossen, als läge er in einem tiefen Schlaf. Für einen Toten strahlte sein Gesicht eine beeindruckende Ruhe aus, wie Artemis feststellte. Lydia hingegen schien kurz davor, die Fassung zu verlieren. „Anscheinend sind wir zu spät“, seufzte Artemis und stieß schwer die Luft aus seinen Lungen. Kapitel 19: Kapitel 19 ---------------------- Kapitel 19 „Du brauchst dich vor mir nicht zu schämen.“ Obwohl die tiefe Stimme inzwischen sanfter zu ihr sprach, brachte es Maria nicht über sich, Blackcage anzusehen. Sie blieb auf dem Kanapee sitzen, die Hände in den Schoß gelegt und den Blick starr auf den Boden gerichtet. Der Dämon stand wenige Meter von ihr entfernt und betrachtete sie. Blackcage hatte sich einige Sachen von Hildegard geliehen, um Maria einzukleiden. Nun war sie, ähnlich wie ihre große Schwester, in ein elegantes Kleid gehüllt, zudem trug sie einigen Goldschmuck in Form von runden Ohrringen und einer Halskette. Nachdem sie die Gelegenheit bekommen hatte, sich zu waschen und zurecht zu machen, sah sie noch viel schöner aus. Am liebsten hätte Blackcage sich auf die junge Frau gestürzt, um seine körperliche Lust an ihr zu befriedigen, doch noch hielt ihn etwas zurück. Irgendetwas an dem Gedanken, dass Chino sich bereits an ihr vergnügt haben könnte, ließ ihn zögern. „Bitte, lass mich in Ruhe“, flüsterte Maria in Richtung Boden. Ihre Bitte entlockte Blackcage ein zufriedenes Grinsen. Diese Unschuld, die sie ausstrahlte. Zusammen mit ihrem zarten Äußeren wirkte Maria wie eine Puppe. Eine Puppe aus Porzellan, die zu zerbrechen drohte, wenn man sie zu fest anpackte. Mehr und mehr reizte es ihn, die Brünette zu packen und ihr seinen Willen aufzuzwängen. „Dich in Ruhe lassen? Nachdem ich so lange nach dir gesucht habe? Und zudem Chino als Konkurrenten ausschalten musste? Nein, tut mir leid, aber das geht nicht“, sagte Blackcage kopfschüttelnd und kam einige Schritte auf Maria zu. Die Angesprochene zuckte zusammen, als sie die warme Handfläche des Dämons auf ihrer nackten Schulter spürte. Mit den Fingerspitzen streichelte er vorsichtig über ihre weiße Haut. Als er an ihrem Kinn angekommen war, schob er dieses unter leichten Druck nach oben und drehte es zur Seite, so dass Maria gezwungen war, ihn anzusehen. Seinen Mantel hatte Blackcage über einen Stuhl geworfen, das schwarze Hemd, welches er darunter trug, war bis zur Mitte aufgeknüpft. Die glatte Brust, die darunter zum Vorschein kam, ließ erahnen, dass der Dämon einen durchtrainierten Körper besaß. Unter normalen Umständen hätte Maria dies wahrscheinlich anreizend empfunden, doch die Situation, in der sie sich befand, war alles andere als normal. Außerdem schlug ihr Herz für jemand anderen. Doch das auszusprechen, wagte sie nicht. Maria spürte, dass Blackcage nur einen äußerst dünnen Geduldsfaden zu besitzen schien. Und sollte sie es auch nur ein einziges Mal wagen, Chinos Namen auch nur anzudeuten, wusste sie, dass ihr das alles andere als guttun würde. Den einzigen Widerstand, den Maria sich zu leisten traute, war ein zorniger Blick in die Richtung von Blackcage. Dieser grinste sie lediglich an, dann ließ er ihr Kinn los und wand der jungen Frau den Rücken zu. „Weißt du, Maria“, begann Blackcage, während er sein Hemd weiter aufknüpfte. „Im Grunde genommen könnte ich mit dir machen, was ich will. Und das weißt du auch. Deshalb schlage ich vor, dass du ab jetzt das tust, was ich dir sage und dir wird nichts zustoßen.“ Panisch tastete Maria ihre Umgebung mit den Augen ab. Irgendwo in diesem Raum musste es doch etwas geben, mit dem sie sich zur Wehr setzen könnte. Ihr Blick blieb auf einem der beiden Gläser mit Wasser haften, die auf dem Tisch ihr gegenüber standen. Abschätzend drehte sie sich Blackcage entgegen. Der Dämon stand noch immer mit dem Rücken zu ihr, er war gerade dabei, den oberen Teil seines Hemdes an seinen Schultern heruntergleiten zu lassen. Wenn sie schnell genug sein würde, hätte sie vielleicht eine Chance. „Wie du sicherlich schon vermutest, kann ich sehr grausam sein“, raunte Blackcage und warf sein Hemd zu dem Mantel auf den Stuhl. „Ich weiß ja nicht, ob dir das gefällt, aber ich für meinen Teil würde es äußerst schade finden, wenn ich dir tatsächlich wehtun müsste.“ So schnell sie konnte hechtete Maria von dem Kanapee und stürzte sich nach vorne. Ihre schlanken Finger ergriffen das erste Glas mit einer Genauigkeit, die sie selbst verwunderte. Mit einem kräftigen Schlag auf die Tischkante brach das Glas und Maria hielt den Stiel mitsamt der scharfen Ränder, die entstanden waren, in der Hand. Entschlossen drehte sie sich um und erschrak, als sie spürte, wie Blackcage bereits seine Hand um ihr Gelenk geschlossen hatte. Ohne Mühe drehte er ihr Handgelenk auf ihren Rücken, dabei ließ Maria das Glas fallen. Scheppernd kam es auf dem Boden auf und zersprang in seine Einzelteile. Amüsiert drückte Blackcage den Unterkörper der jungen Frau gegen die Tischkante, dazu legte er die andere Hand an ihren Kopf. Bestimmt, aber noch immer so, dass es Maria nicht wehtat, drückte er ihren Kopf auf die Oberfläche des Tisches. An der Wange spürte Maria die Feuchtigkeit des Wassers, das sich auf dem Holz gesammelt hatte. Wimmernd starrte sie auf das zweite Glas, das sich genau vor ihrer Nasenspitze befand. „Vergiss es“, flüsterte der Dämon in ihr Ohr, so dass Maria spürte, wie sie eine Gänsehaut bekam. „Ich habe dir doch bereits gesagt, dass es nichts bringt, mich angreifen zu wollen. Du scheinst nicht so recht zu begreifen, Maria. Ich bin unbesiegbar. Und du bist nur ein schwacher Mensch. Mich mit einem Glas angreifen zu wollen. Ich sollte dir doch noch einige Manieren beibringen. Anscheinend hast du einiges mit deiner Schwester gemeinsam.“ Anstatt etwas darauf zu erwidern wartete Maria Blackcages nächsten Schritt ab. Dieser zog sie unsanft nach oben, dazu schleuderte er sie geradezu zurück auf das Kanapee. Sie schaffte es gerade noch, einen erschrockenen Laut auszustoßen, als sich ihr Peiniger bereits über sie gebeugt hatte. Lächelns strich der Dämon Maria eine Strähne aus dem Gesicht und umwickelte sie mit seinem Finger. Die andere Hand fuhr bereits unter Marias Kleid. „Bitte… Bitte nicht…“, jammerte Maria, unfähig, sich zu bewegen. „Bitte lass mich zurück zu Hildi.“ Amüsiert legte Blackcage den Kopf schief. „Obwohl ich zugeben muss, dass ich mir andere Worte von dir gewünscht habe, muss ich doch gestehen, dass ich sehr erfreut darüber bin, dass du mit mir sprichst, liebste Maria. Chino hast du diesen Gefallen nicht getan.“ Als Blackcage Chinos Namen aussprach, fühlte Maria, wie ihr erneut das Herz stillzustehen schien. Es stimmte, sie hatte nie mit Chino gesprochen. Und das, obwohl er sie besser behandelt hatte als jede andere Person, der sie bisher begegnet war. Natürlich, ihre Schwester hatte sie ebenfalls niemals schlecht behandelt, doch sie war damals einfach gegangen und hatte sie mit ihrem Vater alleine gelassen. All die Jahre hatte sie gedacht, dass Hildegard tot wäre. Und nun musste sie auf solch eine Weise erfahren, dass ihre Schwester lebte. Und sie zu einem Dämon geworden war. Wäre Hildegard in der Vergangenheit an ihrer Seite gewesen, wäre ihr Leben vielleicht einfacher verlaufen. Vor allem hätte sie die Begegnung mit dem jungen Soldaten, welcher dafür verantwortlich war, dass sie ihre Stimme über so viele Jahre verloren hatte, so vermeiden können. Doch sogar diese grausamen Erinnerungen wurden in den hintersten Teil ihres Gedächtnisses gebrannt, als Maria spürte, wie die Hand von Blackcage immer höher wanderte. Er war inzwischen an dem unteren Saum ihrer Unterwäsche angekommen und machte keinerlei Anstalten, dort aufzuhören. Seine Hände strahlten eine unangenehme Hitze aus, die sich anfühlte, als würde sie ihre Haut versengen, würde er sie länger als wenige Sekunden berühren. Sofort ließ Maria ihre Hände nach unten sinken in der Hoffnung, den Dämon so davon abzuhalten, sie weiterhin anzufassen. Blackcage holte seine Hand unter ihrem Kleid hervor und umschloss mit ihr beide Handgelenke seiner Gefangenen. Wieder musste Maria schluchzen, diesmal rannen ihr Tränen das Gesicht herunter. Sie wusste nicht, was sie machen sollte. Sich zu wehren traute sie sich nicht. Weder verbal, noch physisch. Zu sehr war die Angst, dass der Dämon ihr auf irgendeine Art und Weise wehtun könnte. Bereits der Druck, welchen er auf ihre Handgelenke ausübte, fühlte sich an, als würde Blackcage ihr die Knochen brechen wollen. „Maria, ich sage es dir ein letztes Mal. Und diesmal wirklich zum letzten Mal. Mach mich nicht wütend. Hast du das verstanden?“ Maria nickte nur, zugleich verschleierten die Tränen ihre Augen. Am liebsten hätte sie die Wut darüber, erneut so hilflos zu sein wie damals in Deutschland, laut in die Welt hinaus geschrien. Doch nicht nur die Hilflosigkeit machte sie wütend. Auch ihre Schwester, die ihr wieder nicht half. Wieder war Hildegard nicht zur Stelle, obwohl sie, ihre Schwester, ihr eigen Fleisch und Blut, sie mehr benötigte, als irgendjemand anderes auf der Welt. Als Blackcage seine Lippen hart auf die ihren presste, formte ihr Mund lautlos Chinos Namen. Wenn sie sich jemanden wünschte, der in diesem Augenblick bei ihr sein sollte, dann war er es. Ihr Retter, ihr Geliebter, ihr Seelenheil. Nachdem Lydia darauf bestanden hatte, noch einige Minuten an dem Sarg des toten Sokrates Alexandros zu verweilen, hatte sie zusammen mit Artemis die Kathedrale schnellstmöglich verlassen. Was unter anderem daran lag, dass Artemis damit begonnen hatte, den Toten nach Spuren abzusuchen. Anscheinend hatte er etwas in der Jackentasche des verstorbenen Priesters gefunden, dabei jedoch den Sarg so zerwühlt hinterlassen, dass Lydia schnellstmöglich verschwinden wollte. Jedoch nicht, ohne die Umstände von Alexandros‘ Tod in Erfahrung zu bringen. Der Priester soll an einem Herzinfarkt gestorben sein, Fremdeinwirkungen ausgeschlossen. Ob das tatsächlich der Wahrheit entsprach, würden Lydia und Artemis niemals herausfinden. Was Artemis allerdings nicht davon abhielt, wilde Spekulationen darüber anzustellen, was wirklich hinter dem Tod des Geweihten stecken könnte. „Möglicherweise haben wir aber auch mehr Verräter, als bisher angenommen. Es ist durchaus in Betracht zu ziehen, dass es auch im Ausland korrupte Priester gibt, nicht nur im Vatikan. Die Münze, die ich gefunden habe, ist jedenfalls ein Hinweis darauf. “ Missmutig trottete Lydia neben Artemis her. Sie nahm nur halb wahr, was er zu ihr sagte. Die Straßen von Athen waren um diese Uhrzeit relativ leer, zum Nachmittag hin verschlug es die meisten Anwohner in die kühlenden Innenräume ihrer Häuser und Wohnungen. Nur die Touristen liefen noch herum, sowie die beiden Gesandten des Vatikans, die jedoch nicht als solche zu erkennen waren. Bis zum Abend hin mussten sie sich beschäftigen, denn der Flug, der die beiden nach Indien bringen sollte, ging erst nach zwanzig Uhr. Das Ticket nach Rom, welches für Alexandros bestimmt gewesen war, hatte Artemis zerrissen und verbrannt. „Hörst du mir überhaupt zu?“ „Wir haben gerade einen Kollegen verloren und du redest nur über deine Vermutungen“, schnaubte Lydia und blieb stehen, dazu funkelte sie Artemis aus wütenden Augen heraus an. „Es sieht dir ähnlich, dass du nicht das kleinste Bisschen Pietät zeigen kannst.“ „Ich soll pietätlos sein? Ich bitte dich, ich kannte den Kerl nicht einmal.“ Genervt rollte Lydia daraufhin mit den Augen und wand sich von Artemis ab, um die Gasse, welche leicht bergab führte, weiter hinunter zu stapfen. Zwar wusste sie nicht, wohin sie eigentlich wollte, aber sie wollte in jedem Fall weg von Artemis. Leider war das zum gegenwärtigen Zeitpunkt unmöglich. „Lydia, warte doch“, rief Artemis der Nonne hinterher. „Es tut mir leid, wenn dir der Tod von Alexandros so nahegehen sollte. Aber du darfst auch nicht vergessen, dass wir uns hier auf einer Mission befinden. Da dürfen wir uns nicht von unseren Gefühlen leiten lassen.“ „Ich glaube, du warst zu viel mit Ethos unterwegs.“ Artemis seufzte, als er dies hörte. Als er und Lydia noch ein besseres Verhältnis zueinander gehabt hatten, war Artemis‘ Zusammenarbeit mit Ethos häufig ein Thema gewesen. Aus irgendeinem Grund mochte Lydia Ethos nicht besonders und hatte nie einen Hehl daraus gemacht. Zwecklos, mit ihr darüber diskutieren zu wollen. Inzwischen hatte Artemis die Brünette wieder eingeholt. „Seit wann benimmst du dich so unprofessionell? Wann immer ich etwas über dich gehört habe, war es nur Gutes. Du sollst auf deinen Missionen richtig gut abgeschnitten haben. Deshalb verstehe ich nicht, warum du jetzt so herum zickst.“ „Glaubst du, dass ich Lust darauf habe, mich von dir herumkommandieren zu lassen?“ „Ach, darum geht es? Es ist nicht so, dass ich darum gebeten hätte, mit dir zusammen einen Auftrag auszuführen, Lydia.“ Lydia wusste, dass Artemis völlig Recht hatte und sie sich mehr als kindisch benahm. Es war, als habe sie sich nicht mehr richtig unter Kontrolle. Wäre sie mit einem anderen Priester auf diese Mission geschickt worden, hätte sie sich mit Sicherheit anders gegeben. Doch mit Artemis… Jedes Mal, wenn sie ihn ansah, brachen alte Wunden auf. Schöne Erinnerungen krochen ebenfalls empor, doch wurden diese von den verletzenden Dingen, die Artemis getan hatte, überschattet. Als die beiden an einem Blumenladen vorbei kamen, griff Artemis zur Seite und fischte eine kleine rote Rose aus einem der Behälter. Der Besitzer des Ladens hatte davon offensichtlich nichts bemerkt, denn er kam nicht hinter seiner Ladenzeile hervor. „Eine wunderschöne Rose für eine wunderschöne Frau mit nicht ganz so schöner Laune“, sagte Artemis lächelnd und stellte sich vor Lydia. Dazu überreichte er ihr die Rose mit einer ausladenden Bewegung. Die Nonne war so überrascht, dass sie nicht anders konnte, als die Blume entgegen zu nehmen. Und, kaum zu erkennen, musste auch sie lächeln. „Du bist unmöglich“, flüsterte Lydia und roch an der Rose. Genauso schnell, wie sich das Lächeln auf ihrem Mund ausgebreitet hatte, verschwand es auch schon wieder. Am Ende der Gasse befand sich eine Parkbank unter einem großen Baum, auf die Lydia sich niederließ. Artemis setzte sich neben sie und zusammen schauten sie auf die Straße vor ihnen. „Zumindest schmeißt du sie nicht gleich weg.“ „Warum auch? Es ist eines der wenigen sinnvollen Dinge, die du mir in unserer Ehe geschenkt hast.“ Dieser Kommentar saß. Wie immer, wenn Lydia so abweisend auf ihn reagierte, fühlte Artemis eine tiefe Trauer in sich aufsteigen. „Du weißt, wie mein Vater…“ „Artemis“, begann Lydia ruhig, aber bestimmt. „Wie oft willst du dein Verhalten noch damit rechtfertigen, was dein Vater damals alles mit dir getan hat?“ „Aber es ist die Wahrheit.“ „Ja, das weiß ich.“ Artemis hatte schon früh herausfinden müssen, dass es zwecklos war, Lydia anlügen zu wollen. Es war, als besäße sie einen sechsten Sinn für so etwas. Lydia brauchte den Menschen, mit denen sie sich unterhielt, lediglich in die Augen zu sehen, um diese beim Lügen zu ertappen. Wahrscheinlich war diese Fähigkeit vonnöten gewesen, um auf der Straße zu überleben. „Aber so hart es auch mit ihm war, er hat dich nicht körperlich misshandelt.“ „Ach so, ich wusste nicht, dass es mittlerweile sozial anerkannt ist, wenn der eigene Vater einem in jungen Jahren Frauenkleider anzieht, einen weiblichen Namen gibt und vor all den anderen Kindern demütigt, indem er seinen Sohn wie ein Mädchen behandelt. Dass da eine physische Misshandlung dazu kommen muss, um einen seelischen Schaden davonzutragen, das wusste ich natürlich nicht.“ Wie immer, wenn Artemis wütend wurde, verschränkte er die Arme vor der Brust und schlug die Beine übereinander. Dazu starrte er trotzig auf einen imaginären Punkt auf der Straße. Lydia hatte sich etwas vorgebeugt, um ihn von der Seite zu betrachten. Sie wusste, dass sie die einzige war, mit der Artemis über das sprach, was in ihm vorging, wenn er über seine Vergangenheit zu sprechen kam. Manchmal erzählte er auch anderen, was vorgefallen war, zumindest oberflächlich. Doch seine Gefühle dazu teilte er nur mit Lydia allein. Inzwischen ging die Nonne davon aus, dass Artemis noch nicht einmal mit Ethos über alles sprach, was den seelischen Missbrauch in seinen Kindertagen anging. Was vermutlich daran lag, dass Ethos ebenfalls eine unglückliche Vergangenheit besaß. „Das habe ich damit nicht gemeint. Es ist nur so, dass das alles inzwischen schon so lange her ist. Und dein Vater…“ „Lebt noch immer. Während meine Mutter kurz nach der Geburt sterben musste.“ „Artemis…“ „Du kannst es nicht nachvollziehen. Du hast so etwas niemals erlebt.“ Mit diesen Worten stand Artemis auf und wand Lydia den Rücken zu, um gehen zu können. Sofort sprang die Nonne auf, damit sie Artemis folgen konnte. Sie war es nicht gewohnt, von ihm links liegen gelassen zu werden. Sonst war es immer der Priester gewesen, der zu ihr zurückgekrochen kam. Umso mehr ärgerte es Lydia, dass sie nun Artemis hinterherlief. Und noch mehr ärgerte sie sich darüber, dass sie es nicht nur tat, weil sie musste, sondern auch, weil sie ein schlechtes Gewissen hatte. Dass Artemis so reagierte, wenn man auf seinen Vater zu sprechen kam, riss noch immer tiefe Wunden in ihm auf. Lydia hatte das gewusst. Eigentlich hatte sie Artemis nur auf Abstand bringen wollen, doch jetzt tat es ihr leid, das Gespräch in diese Richtung gelenkt zu haben. „Artemis, warte doch!“ Doch Artemis blieb weder stehen, noch drehte er sich zu Lydia um. Mit ihren hohen Absätzen war es nicht so leicht, den langen Schritten des Priesters zu folgen. „Jetzt bleib‘ doch mal stehen!“ Einige Touristen wandten sich um, doch aufgrund der italienischen Sprache verstanden sie vermutlich eh nicht, um was es sich bei Lydias verzweifelten Ausrufen handelte. Plötzlich spürte Lydia einen Widerstand an ihrem Fuß. Als sie nach unten schauen wollte, war es bereits zu spät, sie befand sich im freien Fall und würde jeden Augenblick mit dem Gesicht auf der Straße aufkommen. Wenige Zentimeter, bevor dies geschah, hatte sie allerdings jemand aufgefangen. Peinlich berührt schaute Lydia an sich herunter. Ihr Absatz hatte sich unbemerkt in einem Gullideckel verfangen. Als sie den Kopf wieder hob, sah sie, dass es Artemis gewesen war, der sie davon abgehalten hatte, allzu nahe Bekanntschaft mit dem Beton zu machen. „Danke…“, stotterte sie verlegen. Lächelnd hob Artemis die Rose, welche Lydia durch ihren Sturz verloren hatte, wieder auf und legte sie ihr in die Hände. Lydia hob die Finger, um die Rose zu fassen, dabei berührte sie flüchtig Artemis‘ Handrücken. „Ich habe dir doch gesagt, dass ich dich vor Unheil beschützen würde. Mein Leben lang.“ Gerade, als der riesige weiße Löwe zum Sprung ansetzen wollte, hechtete auch McKenzey auf Ethos zu. Einen Vorteil besaß der Dämon, er und der Löwe hatten den Priester eingekreist. Doch so leicht ließ sich Ethos nicht in die Ecke drängen. Mit einer Rolle zur Seite konnte er sich aus der Schussbahn der beiden Angreifer retten. Während sich McKenzey, kaum dass dieser auf dem Boden gelandet war, Ethos zuwendete, griff der Löwe den verletzten Gardisten an. Dieser sprang sofort auf und rannte in die Richtung, in welcher er seine Kollegen vermutete. Roth stürmte an dem jungen Mann vorbei, die Hellebarde zum Kampf erhoben. Kaum war er bei dem weißen Löwen angekommen, stemmte dieser seine Pfoten in den Boden und blieb stehen. Von seiner rechten Seite näherte sich Chino. Knurrend blickte der Löwe erst Chino, dann Roth an. Als er ein lautes Brüllen ausstieß und dabei den Rachen voller Zähne entblößte, stieß Roth zu. Seine Hellebarde verfehlte das Maul des Untiers nur knapp, hatte es aber näher an Chino heran getrieben. Und was dann passierte, sollte Roth noch lange im Gedächtnis bleiben. Im Gegensatz zu Artemis oder Ethos hatte er Chino noch nie kämpfen sehen. Allem Anschein nach benötigte Chino die Armbrust, welche er kurz zuvor noch verwendet hatte, um McKenzey einen Pfeil in den Oberkörper zu jagen, nicht mehr. Nutzlos lag sie an der Seite, einer der Gardisten schlich sich gerade heran, um die Waffe an sich zu nehmen. Mit purer Muskelkraft fing Chino den Löwen ab, der sich aufgebäumt und auf den Spanier gestürzt hatte. Die langen Zähne wollten sich gerade in Chinos Fleisch bohren, doch indem er das massige Tier nach hinten wuchtete, konnte der Dämon den Angriff verhindern. Roth traute seinen Augen nicht, als er sah, wie der Löwe von den Beinen gerissen wurde und auf den Steinen aufschlug, als habe Chino gerade ein lästiges Insekt verjagt. Die rot leuchtenden Augen in dem Gesicht des Spaniers pulsierten nahezu vor Wut. Fauchend stürzte Chino dem Löwen hinterher und warf sich auf diesen. Indem er die Hände auf dessen Kopf legte, drückte er das Ungetüm auf den Boden. Auch der Löwe brüllte erneut auf, wodurch sich die Stimmen der beiden Kämpfenden zu einer Kakophonie des Grauens vermischten. Unweit entfernt stand McKenzey noch immer Ethos entgegen. Da er wusste, dass er mit seinem Revolver nicht weiter kommen würde, hatte Ethos diesen in einem kleinen Holster an seinem Gürtel verstaut. Während er den Dämon, welcher gerade mit zwei Schwertern auf ihn zu preschte, genauer betrachtete, kam er zu dem Entschluss, dass er härtere Geschütze würde auffahren müssen. Nachdem er dem ersten, leicht unkoordiniert wirkenden, Angriff des Dämons ausgewichen war, nahm Ethos seinen Rosenkranz aus der Hosentasche und wickelte das perlenbesetzte Band um seine rechte Hand. Als McKenzey sich umdrehte, lachte er laut auf. „Das soll mich aufhalten?“ „Komm doch und finde es heraus.“ Vorsichtig brachte McKenzey sich erneut in Stellung. Obwohl er den Priester eben noch verspottet hatte, wusste er ganz genau, dass jeder falsche Zug der letzte sein könnte. Brooklyn und Hildegard hatten einiges über den Weißen Priester gehört und die Tatsache, dass selbst Esrada ihn als Bedrohung ansah, sprach mehr als tausend Worte. Eigentlich hatten sie ihn niemals als Feind angesehen. Wäre Brooklyn damals nicht aktiv auf Artemis angesetzt worden, wäre auch dieser niemals ein Widersacher für ihn gewesen. Doch um seine und Hildegards Tarnung aufrechtzuerhalten, hatte er damals den Auftrag ausgeführt, den eigentlich Nathan hätte erledigen müssen. Generell war der Arschkriecher sehr gut darin, sich aus den anspruchsvolleren Aufträgen heraus zu reden. Ein Museum niederbrennen und Zivilisten töten, das hätte Brooklyn auch gekonnt. Als er sah, dass der Dämon nicht angreifen würde, ging Ethos in die Offensive. Verwundert darüber, wie schnell sich der Priester bewegte, handelte McKenzey erst im allerletzten Moment. Ethos war schon beinahe vor ihm, als er das Schwert in seiner rechten Hand hinunter gleiten ließ. Mit einer Bewegung zur Seite wich Ethos aus, dazu stellte er seinen Fuß auf den Rücken der Waffe. Nun war der letzte Abstand zwischen den beiden Kontrahenten überbrückt und Ethos stand genau vor dem Dämonen. Mit ganzer Kraft stieß McKenzey sein zweites Schwert herab und wollte gerade ein triumphierendes Lachen ausstoßen, als er spürte, wie sich ein Widerstand auf die scharfe Klinge legte. Ethos hatte seine rechte Hand gehoben und mit dem Rosenkranz das Schwert aufgehalten. Wütend drückte McKenzey so stark zu, dass er schon fast rot anzulaufen drohte, so viel Kraft, wie er aufwand. Eigentlich hätte das Schwert, dessen Klinge so scharf geschliffen war, dass es ein Haar mühelos zerteilen konnte, den Priester bereits in Stücke schneiden müssen. Ein simpler Rosenkranz sollte erst recht keinen Widerstand darstellen. In den einzelnen Kugeln des Rosenkranzes sammelte sich eine hellblaue Substanz, welche sich nach und nach verdichtete. Es schien, als wanderte ein Teil von ihr Ethos‘ Arm hinunter. Mit einer kräftigen Bewegung drückte Ethos das Schwert zur Seite, dann holte er aus und schlug McKenzey direkt in das Gesicht. Ein unangenehmes Knacken ertönte, dann spürte der Dämon, wie er nach hinten gedrückt wurde. McKenzey sah den Himmel über sich auftauchen und spürte, wie er mit dem Kopf hart gegen etwas gegen stieß, dann verlor er für den Bruchteil einer Sekunde das Bewusstsein. Als er seine Augen wieder öffnete, stand Ethos bereits wieder über ihm. Aus seinem Mund lief Blut und als er ausspuckte, beförderte er zwei Zähne mit hinaus. Erst jetzt spürte McKenzey, wie sehr ihm der Kiefer schmerzte. Gerade, als er etwas sagen wollte, packte Ethos den Dämonen am Kragen und zog ihn hinauf. „Es ist schon sehr großes Pech, dass du gerade auf mich getroffen bist“, zischte Ethos, als er McKenzey mit dem Rücken gegen die Wand drückte, wodurch sich diese leicht rötlich färbte. „Im Gegensatz zu Artemis bin ich kein Verfechter von Gnade. Selbst wenn du kooperieren solltest, werde ich dich töten.“ Panisch weiteten sich die rot glühenden Augen des Dämons und musterten den Priester hektisch. Das hellblaue Leuchten, welches sich zuvor noch wie eine Kugel in der Hand des Weißen Priesters befunden hatte, durchzog nun dessen gesamten Körper. Doch das, was Brooklyn am meisten schockierte, waren die Augen, mit denen Ethos ihn anstarrte. Sie leuchteten in einem besonders hellen Blau, ähnlich dem der Dämonen. Nur mit dem Unterschied, dass es nicht rot wie heißes Feuer glühte, sondern wie kaltes Eis glitzerte. Als McKenzey die Hand hob, um sich aus Ethos’ Griff zu befreien, schrie er sofort auf. Er hatte nach derjenigen gegriffen, in welcher Ethos noch immer den Rosenkranz hielt. Es war, als würde seine Handfläche bei der Berührung verbrennen. Erneut holte Ethos aus, diesmal schlug er dem Dämon oberhalb der Schwertgriffe, die an seinem Waffengürtel baumelten, in den Bauch. Sofort zogen sich McKenzeys Eingeweide zusammen. Er konnte nicht anders, als sich zu übergeben. Ethos ließ ihn daraufhin los und tat einen Schritt nach hinten, damit er nicht von dem Erbrochenen getroffen wurde. Kaum war McKenzey fertig damit, seinen Magen zu entleeren, holte Ethos aus und trat den Dämonen gegen die Brust. Erneut wurde dieser unsanft auf den Boden geschleudert und schnappte laut nach Luft. Als er sich auf die rechte Seite drehte, um leichter atmen zu können, verkrampfte sich sein gesamter Körper unter dem Luftmangel so stark, dass Ethos mit Leichtigkeit über ihn steigen und sich eines der Schwerter aus dem Gürtel nehmen konnte. Es war eine lange und dünne Klinge, ähnlich wie die, die McKenzey Artemis in London in das Bein gerammt hatte. Ethos ging einige Schritte und betrachtete dabei die Waffe. Das Sonnenlicht wurde von der Oberfläche reflektiert, als er es leicht drehte und wendete. McKenzey nutzte die kurze Pause, um aufzustehen. Mit dem Ärmel wischte er sich das Blut von den Lippen, dann starrte er Ethos wütend an. „Du weißt doch gar nicht, auf was du dich hier eingelassen hast!“ „Ich bin gerne dazu bereit, das herauszufinden. Wenn das ein Versuch sein soll, sich zu retten, ist er äußerst kläglich“, erwiderte Ethos ruhig, ohne den Blick von dem Schwert zu nehmen. „Ich habe dir bereits gesagt, dass ich dich töten werde.“ „Und wenn ich bereit wäre, für euch zu arbeiten?“ Für einen kurzen Augenblick hielt Ethos inne. „Ganz recht. Möglicherweise wäre ich ja daran interessiert, euch weiterzuhelfen. Und zu erzählen, wo Esrada sich aufhält.“ Langsam ließ Ethos das Schwert sinken und kam auf den schwer atmenden Dämon zu. Seine Augen besaßen noch immer den unheimlichen Glanz, der jeden, den Ethos ansah, einzufrieren schien. Genau vor McKenzey blieb Ethos stehen. Er musterte den Dämonen von oben bis unten. Gerade, als McKenzey den Mund geöffnet hatte, um etwas zu sagen, stieß Ethos diesem das Schwert in den Oberschenkel. Vor Schmerz schreiend, sank McKenzey in sich zusammen, hielt sich jedoch noch auf den Beinen. „Kommt dir das bekannt vor?“, fragte Ethos und ging leicht in die Hocke, um mit McKenzey auf Augenhöhe zu bleiben. „In London hast du zwei meiner Partner verletzt.“ Anstatt etwas darauf zu antworten, sog McKenzey scharf die Luft ein und zog sich das Schwert aus dem Oberschenkel. Einige seiner Wunden waren bereits dabei, sich wieder zu schließen. Voller Zorn schaute er Ethos an, sein Kampfgeist schien in ihn zurückgekehrt zu sein. „Elender Priester… Du wirst noch sehen, was du davon hast, mein Angebot ausgeschlagen zu haben.“ Kaum hatte er seinen Satz beendet, schnellte McKenzey vor und traf Ethos mit dem vorderen Teil seines Kopfes an der Stirn. Da Ethos diesen Angriff nicht schnell genug hatte parieren können, fiel er nach hinten und zur Abwechslung war er derjenige, der sich nun auf dem Boden wiederfand. Sofort ergriff Brooklyn die Chance und setzte sich auf den Oberkörper des Priesters. Blut tropfte von oben auf Ethos‘ weiße Kleidung, als Brooklyn sich nach vorne lehnte, so dass er nur noch wenige Zentimeter von dem Gesicht das Geistlichen entfernt war. Mit seinen Händen drückte er Ethos‘ Arme auf den harten Stein. „Ich werde dir ein letztes Mal ein Angebot machen. Nehmt meine Frau und mich zu euren Kontaktleuten auf. Dann werde ich dich sowohl zu Esrada führen, wie auch dein Leben verschonen.“ Zunächst wirkte es, als würde Ethos tatsächlich über seinen Vorschlag nachdenken. Hoffnung mischte sich in die erregte Mimik des Dämons. So lange, bis Ethos laut zu lachen anfing. Verwirrt schaute Brooklyn auf seinen Widersacher hinunter. „Du glaubst doch wohl nicht wirklich, dass ich mit Abschaum wie dir zusammen arbeiten würde oder?“ „An deiner Stelle würde ich aufhören, mich zu verspotten!“ „Sonst was?“, fragte Ethos und sah mit einer Mischung aus Belustigung und Herausforderung zu McKenzey hinauf. Ein lautes Knurren ausstoßend, hob McKenzey eine seiner Hände. Schneller, als es ein Mensch hätte wahrnehmen können, griff er nach dem Schwert, welches kurz zuvor noch in seinem Körper gesteckt hatte. Er nahm beide Hände zur Hilfe, um es auf Ethos‘ Kopf zu richten, dann stieß er es mit aller Kraft, die ihm zur Verfügung stand, hinunter. Doch noch bevor die Spitze Ethos hätte erreichen können, legte dieser seine Hände um die Klinge. Die seltsame Energie, die durch den Körper des Priesters zu wandern schien, manifestierte sich nun in dessen Armen. Kurz vor seinem linken Auge kam die Klinge zum Stehen, an Ethos‘ Händen jedoch lief lediglich ein kaum zu erkennendes Rinnsal Blut herunter. Noch bevor Brooklyn hätte realisieren können, was gerade vor sich ging, zerbarstete das Metall in hunderte kleine Einzelteile. Um sich vor den Splittern zu schützen, legte Ethos seine Arme vor das Gesicht, McKenzey hingegen konnte sich noch immer nicht rühren. Kaum war das Schwert vollständig gebrochen, griff Ethos zur Seite und nahm einen der Splitter auf. Dazu bäumte er seinen Oberkörper auf und rammte den spitzen Gegenstand von der Größe einer Handfläche in den Hals des Dämons. Dies ging so schnell, dass McKenzey keine Zeit hatte, darauf zu reagieren. Von der Wucht und den Schmerzen geschwächt, wurde der Dämon zur Seite gepresst. Das Blut, das aus seiner Wunde nahezu heraus spritzte, bildete eine Pfütze. Je größer diese wurde, desto schwächer schien McKenzey zu werden. Als er aus dem Augenwinkel hinauf schaute und Ethos erneut über sich stehen sah, wurde ihm bewusst, dass er jeden Augenblick sterben würde. Es war eine Erkenntnis, die ihm in einer merkwürdigen Klarheit überkam. Sie kam ihm schon beinahe beruhigend vor, wenn er daran dachte, was Esrada mit ihm anstellen würde, würde er zurückkommen und versagt haben. „Noch irgendwelche letzten Wünsche?“ Als Brooklyn darauf antworten wollte und den Mund öffnete, brachte er nichts weiter als einen Schwall Blut heraus, der sich zu der übrigen roten Flüssigkeit gesellte, die ihn bereits umgab. Mit dem Fuß stieß Ethos den Dämonen auf die Seite. Kurz darauf entfernte er den Splitter aus dessen Hals. Ein Knie drückte er in McKenzeys Rippen, um diesen am Boden zu halten, das andere Bein legte er auf dem Boden ab. Zwar spürte Ethos, wie sich das Blut in seine Hose sog, doch dies kümmerte ihn gegenwärtig nicht. Stumm formte er ein Kreuz auf seiner Brust, dann wickelte er die perlenbesetzte Schnur seines Rosenkranzes um Brooklyns Hals. Das letzte, das Brooklyn in seinem langen Leben zu sehen bekam, war Ethos emotionslose Miene, als dieser ihm den Atem nahm. Sein letzter Gedanke jedoch galt Hildegard, mit der Gewissheit, sein Versprechen ihr gegenüber gebrochen zu haben. Als Marylin am späten Abend vor Geminis Haus stand, kam sie nicht umhin, sich einige Gedanken zu machen. Sie war nun schon mehrere Tage lang damit beschäftigt gewesen, mit Gemini über die verschiedenen Bücher zu reden, die diese verkaufte. Dabei hatte die Zigeunerin anklingen lassen, dass sie eine Art Bibliothek besaß, welche sie in ihrem Keller aufgebaut hatte. Heute Abend würde Marylin einmal unverbindlich nachfragen, ob sie nicht einen Blick in diese Bibliothek werfen dürfe. Wahrscheinlich würde sie noch viele weitere Bücher über Dämonen finden, diejenigen, die Gemini bisher mit ihr zusammen durchgesehen hatte, waren wenig hilfreich gewesen. Vorsichtig klopfte Marylin an die Tür der Südländerin. Wenige Sekunden später öffnete sich diese einen Spalt breit und als Gemini erkannte, wer draußen in der Gasse vor ihrem Haus stand, öffnete sie bereitwillig ihre Pforten. „Marylin“, rief sie freudig aus und winkte die Angesprochene hinein. „Ich habe dich schon erwartet. Setz dich doch schon mal, ich hole uns eine Flasche Wein.“ Lächelnd trat Marylin ein und hing ihre leichte Stoffjacke an einem Haken auf. Sie war zwar nicht gekommen, um Wein zu trinken, aber ein Glas konnte auch nicht schaden. Marylin setzte sich an den Holztisch, welchen sie in der letzten Zeit häufig in Beschlag genommen hatte, um sich mit Gemini zu unterhalten. Nachdem die Zigeunerin zurückgekehrt war und sich ebenfalls hingesetzt hatte, ließ Marylin ihren Blick über die Wohnung schweifen. Sie war klein, aber wunderschön eingerichtet. Neben dem großen Tisch im Wohnzimmer war noch ein orientalisch wirkendes Sofa mit dunkelroten Bezügen zu erkennen, welches direkt unter dem Fenster platziert worden war. Die Durchreiche zur Küche war geschlossen. Ein Perserteppich verdeckte den Großteil des Bodens, der aus alten Holzdielen bestand. Der Tisch, an dem sich die beiden Frauen befanden, stand genau in der Mitte und der Schein der beiden Kerzen erleuchtete schwach die Ecken des quadratisch geschnittenen Raumes. Ein Bücherregal, das bis zum Anschlag mit Büchern vollgestopft worden war, stand an der gegenüberliegenden Wand. Daneben befand sich eine kleine Kommode aus schwarzem und teuer aussehendem Holz. Einige Pflanzen vervollkommneten den Anblick einer perfekt eingerichteten Wohnung, das komplette Gegenteil von dem, was Marylin bei sich zu Hause in London zu bieten hatte. Auch die Tür, die zur Küche hin führte, war geschlossen. „Wo schläfst du eigentlich?“, fragte Marylin, während sie ihr Glas schwenkte. „Auf meinem Sofa, wo denn sonst. Warum fragst du?“ Der schelmische Blick, mit dem Gemini sie betrachtete, entging Marylin nicht. „Nur so. Ich dachte schon, du schläfst in deinem Keller.“ „Dort hebe ich nur meine Bücher auf, die hier oben keinen Platz mehr finden“, antwortete Gemini und nippte an ihrem Wein. An diesem Abend trug sie ein weit ausgeschnittenes Kleid mit bunten Farben, welches ihrer Figur schmeichelte. Auch Marylin hatte sich etwas Hübscheres angezogen. Eine weiße Bluse und eine schwarze Tuchhose, dazu schwarze Pumps. Außerdem war es das erste Mal, seitdem sie bei der Polizei eingestellt worden war, dass sie sich ihre Nägel lackiert hatte. „Wo wir gerade dabei sind… Würdest du mir deine Bibliothek einmal zeigen?“ Obwohl sich Marylin um einen beiläufigen Tonfall bemühte, war sie kaum in der Lage, ihre Neugierde zu verstecken. „Bist du heute Abend gekommen, um dir Bücher anzusehen? Wie langweilig.“ „Dann schlag etwas Besseres vor.“ Marylin würde später noch einmal nach der Bibliothek fragen. Sie wollte keine unnötige Aufmerksamkeit an ihrem gesteigerten Interesse auf sich ziehen. Außerdem hatte sie tatsächlich nicht nur wegen den Büchern Geminis Gesellschaft gesucht. „Du sagtest doch, dass du so gut malen kannst.“ „Ich male nicht, ich zeichne“, stellte Marylin ihr Talent klar, etwas ruppiger, als sie es beabsichtigt hatte. Als sie sah, wie sich Geminis Blick veränderte, legte sie schnell nach: „Aber das liegt ja nicht weit vom Malen entfernt. Wieso fragst du?“ Marylin spürte, wie sie leicht nervös wurde. Kaum hatte sie ihr erstes Glas Wein hinunter bekommen, kippte ihr Gemini auch schon ein neues ein. „Na ja, ich dachte… Also nur, wenn es nicht zu viel verlangt ist, dass du mich vielleicht mal malen könntest. Entschuldige, ich meine natürlich zeichnen.“ Etwas verwundert schaute Marylin Gemini an, dazu nahm sie einen kräftigen Schluck aus ihrem Glas, was die Südländerin ihr gleichtat. „Ich kann dich gerne zeichnen.“ Anstatt etwas darauf zu antworten, lächelte Gemini Marylin schüchtern an. Es war das erste Mal, dass die junge Polizistin so etwas wie peinliche Berührung bei der exotischen Schönheit ausmachen konnte. Etwas zwischen den beiden schien sich plötzlich verändert zu haben. „Hast du denn einen Block und vielleicht auch einen Kohlestift hier?“ Sofort stand Gemini auf und entfernte sich von dem Tisch, um zu ihrer Kommode zu gehen. Aus dem oberen Fach holte sie das von Marylin georderte Material heraus und reichte es ihr. Dann nahm sie die Blondine an die Hand und schritt auf das Sofa zu. Kurz darauf holte sie die Kerze, die sie auf ein kleines Tischlein stellte, welches Marylin erst jetzt auffiel. Dazu gesellten sich bald die beiden, inzwischen wieder bis zum Rand gefüllten, Weingläser. „Wie möchtest du denn gezeichnet werden?“, fragte Marylin, die ihre Stimme wieder besser unter Kontrolle gebracht und zu ihrer alten Selbstsicherheit gefunden hatte. „Ich weiß nicht, was meinst du denn?“ „Das kommt ganz darauf an, was für eine Art Bild du haben möchtest und wo du es später hinhängen willst.“ „Hm“, machte Gemini und hob eine Hand an das Kinn. Ihre goldenen Armbänder stießen leicht aneinander, wodurch ein helles Geräusch entstand. „Wie wäre es denn mit einem, das meine Weiblichkeit betont?“ Noch bevor Marylin fragen konnte, was sie damit meinte, setzte Gemini sich auf ihr Sofa. Eine elegante Bewegung ausführend, beförderte sie ihre Beine an das Ende des mit Kissen bedeckten Möbelstückes, dabei peinlich genau darauf bedacht, keinen Tropfen des kostbaren Weines zu verschütten. Nun lag die Zigeunerin, mit einer Hand ihren Kopf stützend, in der anderen das Glas haltend und ein Bein über das andere gelegt, vor Marylin und schaute diese mit ihren großen braunen Augen von unten herab an. Eines ihrer Beine lag über dem anderen, so dass ihr Kleid nach oben gerutscht war und eine beachtliche Fläche ihrer perfekt gebräunten Haut freigab. Der Ausschnitt des Kleides verdeckte zudem nur noch den nötigsten Teil ihrer Brust. Marylin leckte sich kurz über die Lippen, dann griff sie nach ihrem Glas, als müsse sie einen plötzlich auftauchenden Durst stillen. Erst betrachtete sie die vor sich liegende Frau einige Minuten lang, dann ging die Polizistin in die Hocke. Zeitgleich stellte Gemini ihr Glas auf den Beistelltisch. „Da ist noch etwas, das mich stört“, sagte sie leise und strich mit den Fingerspitzen eine Locke aus Geminis Gesicht. Kaum hatte sie die dunklen Haare wieder an ihre ursprüngliche Stelle gebracht, griff Gemini nach Marylins Hand. Sie tat dies in einer schnellen und bestimmenden Geste, weshalb Marylin vor Schreck ihre Utensilien auf den Boden fallen ließ. Ihre grünen Augen trafen die unergründliche Schwärze, in der sie sich so stark hineingesogen gefühlt hatte die letzten Tage. Langsam beugte Marylin sich vor, bis sich ihre und Geminis Lippen berührten. Die Zigeunerin erwiderte den Kuss, zunächst zaghaft, dann zog sie Marylin zu sich auf das Sofa. Die Blondine ließ dies ohne Widerstand gewähren. Sie legte ihre Arme um Geminis Hüften, strich mit den Fingerkuppen über die schmale Hüfte, bis zu ihren wohlgeformten Brüsten. Ein leises Stöhnen unterbrach den leidenschaftlichen Kuss der beiden kurz. Auch Gemini war dazu übergegangen, den Körper der anderen Frau zu erkunden. Langsam zog sie Marylin die Bluse aus, danach öffnete sie die Knöpfe ihrer Hose. Zufrieden betrachtete Gemini die porzellanfarbige Haut, die sich über den schlanken Körper der Engländerin spannte. Mit den Fingerspitzen umkreiste sie Marylins Bauchnabel, was dieser einen wohligen Schauer durch ihren Körper jagte. Als die Zigeunerin dann begann, ihren Bauch zu küssen, war es um Marylin geschehen. Willig ließ sie sich in dieser Nacht von Gemini leiten, um für einen Augenblick vergessen zu können, wie allein sie eigentlich war in dieser fremden Stadt, mit ihrem einzigen zuverlässigen Begleiter, der Angst vor der Ungewissheit. Kapitel 20: Kapitel 20 ---------------------- Kapitel 20 Als Ethos dastand und auf den leblosen Körper des Dämons hinunter starrte, blendete er aus, was hinter ihm geschah. Chino befand sich noch immer in der Auseinandersetzung mit dem weißen Löwen. Nachdem er das Ungetüm auf dem Boden hatte festhalten wollen, damit Roth es mit seiner Hellebarde niederstrecken konnte, hatte es geschafft, sich aus seinem Griff zu befreien. Noch immer hielt Chino die Mähne fest, weshalb der Löwe kräftig den Kopf hin und her schüttelte. Dazu brüllte er laut, was die hinteren Gardisten, die sich inzwischen die Armbrust zurückgeholt hatten, zusammenzucken ließ. Der Löwe preschte nach vorne, wodurch er mit den Pranken auf Chinos Schultern landete. Der vergleichsweise kleine Spanier, der unter der schieren Masse des Tieres beinahe zu verschwinden drohte, hielt diesem Ansturm allerdings stand. Er griff unter die Vorderbeine des Löwen, um diesen davon abzuhalten, einfach über ihn hinweg zu springen. Als der Löwe bemerkte, dass er weiterhin festgehalten wurde, senkte er den Kopf und wollte gerade zubeißen, als er spürte, wie Chino ihn zur Seite drängte. Daraufhin ließ der Löwe los und setzte sein gesamtes Gewicht ein, damit er sich auf die linke Seite werfen konnte. Durch den plötzlichen Verlust des Widerstandes überrascht, verlor auch Chino das Gleichgewicht und fiel, zusammen mit dem Löwen, auf den Boden. Nun war Chino derjenige, der sich seinen Weg freikämpfen musste, denn der Löwe war auf seinem Arm und dem rechten Bein gelandet. Indem er drückte und schob, versuchte der Dämon, sich zu befreien. Allerdings war die Bestie zuerst auf den Beinen. Sofort sprintete der massige, von feinen Muskeln und Sehnen durchzogene Körper los, direkt auf Ethos zu. Auch Chino versuchte, schnellstmöglich wieder auf die Beine zu kommen, was ihm im ersten Moment jedoch misslang. Fauchend stürmte das Tier mit dem weißen Fell auf Ethos zu, auf den letzten drei Metern setzte es zu einem Sprung an. Die langen Krallen ausgefahren und die türkisen Augen auf sein Ziel gerichtet, hechtete der Löwe in die Luft. Nur noch wenige Zentimeter trennten die riesigen Pranken und den Geistlichen voneinander, als Roth ausholte. Mit seiner Hellebarde traf er den Löwen im Gesicht, wodurch er von seinem eigentlichen Ziel abgebracht wurde, aber dennoch mit allen Vieren sicher auf dem Boden landete. Indem er einige Male den Kopf schüttelte, versuchte der Löwe, das Blut, welches ihm aus den Augen lief, abzuschütteln. Vergeblich, denn Roth hatte ihn so getroffen, dass sich ein langer Schnitt, ausgehend von dem linken Auge, quer über den unteren Teil des rechten Auges und die Schnauze verlaufend, über das gesamte Gesicht des Löwen zog. Somit einem seiner wichtigsten Sinne beraubt, wand sich das Tier von Roth und Ethos ab. Es lief auf jenen Ausgang zu, welchen es sich selbst vor dem Angriff von McKenzey freigelegt hatte und war innerhalb weniger Sekunden verschwunden. Einen lauten Seufzer ausstoßend, schulterte Roth seine Hellebarde, dazu zog er ein Tuch aus seiner Hosentasche, um die Klinge zu säubern. Ethos stand nach wie vor da, ohne sich zu rühren. Der blutverschmierte Rosenkranz, der an seiner rechten Hand herunterbaumelte, war das einzige, das sich in diesem Augenblick bewegte. Die bläuliche Energie, die kurz zuvor noch durch seinen Körper gewandert war, war verschwunden. Chino hatte sich inzwischen wieder aufgerappelt und sich neben Roth begeben. Zusammen blickten die beiden auf Ethos. „Was ist mit dem Fänger?“, fragte Ethos. Einer der Gardisten reagierte recht schnell und griff auf den Boden in die Mitte der übrigen Männer. „Alles in Ordnung, Pater Turino“, rief er hinüber und hielt eine kleine Kiste nach oben. Es handelte sich um die Schatulle, welche Ethos‘ Mutter gehört hatte. Niemals wäre der Priester so töricht gewesen, einen echten Fänger so schutzlos zu präsentieren. Die Holzkiste war zwar alt, aber wertlos gewesen. Weder für die Kirche, noch als Antiquariat war sie mehr als ein paar Lire wert gewesen. Der einzige Fänger des Vatikans war sicherer untergebracht, als jeder andere Gegenstand, den die Kirche besaß. Ethos hatte, da es sich um einen persönlichen Gegenstand handelte, nicht nur das Vorrecht, die Schatulle bei sich zu behalten, sondern sah darüber hinaus auch eine gewisse Notwendigkeit darin. Endlich drehte Ethos sich um, um weitere Instruktionen zu geben. „Ich möchte zwei Fahrzeuge hier haben. Eines davon sollte groß genug sein, um die Leiche des Dämons unentdeckt unterbringen zu können. Nachdem wir die Leiche entsorgt haben, werden wir auf die Fähre gehen und zurück nach Rom fahren.“ Für einen kurzen Augenblick schaute Ethos zu Chino und Roth hinüber, die ihm beide zunickten. „Und ich möchte, dass das schnell geht“, setzte Ethos hinzu und wand sich erneut dem toten McKenzey zu. Einer der Gardisten kam auf Roth zu und übergab diesem die Schatulle. „Passen Sie auf, der Löwe könnte noch immer in der Nähe sein“, erklärte Roth dem Gardisten bei der Gelegenheit. Der Angesprochene nickte, danach verschwand er, zusammen mit den anderen, nach draußen. Einige Zeit lang passierte nichts. Niemand sagte etwas, keiner bewegte sich. Dann, als ihn die Anspannung auseinanderzureißen drohte, trat Chino einen Schritt nach vorne, so dass er ebenfalls auf den toten Dämonen sehen konnte. Seine Augen besaßen wieder ihren natürlichen Braunton. Traurig schauten sie auf McKenzey hinab. Zwar empfand Chino keine tiefgreifende Verbundenheit mit dem Dämon, doch er hatte ein zumindest ähnliches Schicksal zu tragen, wie Brooklyn. Nur mit dem Unterschied, dass er sich rechtzeitig dazu entschieden hatte, seine übermenschliche Kraft in den Dienst des Guten zu stellen. Wäre er nicht im richtigen Moment Maria begegnet, hätte genauso gut sein Körper dort liegen können, blutverschmiert und ohne jegliches Leben. „Er wollte sich ergeben“, sagte Chino und rutschte mit dem Rücken tief in den Beifahrersitz. Ethos erwiderte nichts darauf, sondern schaute stur auf die Straße, welche vor ihm lag. Es war stockfinster, er hatte sich dazu entschlossen, die letzte Fähre zu nehmen. So war es gewährleistet, dass sie im Schutz der Nacht operieren konnten und somit weniger Aufmerksamkeit auf sich ziehen würden. Lediglich Chino und Ethos waren losgefahren, um die Leiche des Dämons an einem abgelegenen Teil des Hafens im Meer zu versenken. Zwar hasste Ethos es, sich hinter dem Steuer eines motorisierten Fahrzeuges wiederzufinden, doch zum gegenwärtigen Zeitpunkt besaß er kaum eine Wahl. Auf dem Rücken eines Pferdes hätte er sich niemals unbemerkt mit der hoch brisanten Fracht fortbewegen können. Dementsprechend wenig Übung besaß der Priester, was sich unmittelbar in seinen Fahrkünsten niederzuschlagen schien und die Fahrt entsprechend holprig machte. Zudem wurde er langsam müde. Es war nicht so, dass er das volle Ausmaß seiner Kräfte hatte auffahren müssen, um McKenzey zu töten, aber wann immer er sich der göttlichen Macht bediente, fühlte er sich hinterher entkräftet und beinahe völlig ausgelaugt. „Verdammt, Ethos, er war bereit, mit uns zu kooperieren.“ „Stehst du neuerdings wieder auf der Seite deiner Artgenossen?“, fragte Ethos ruhig, während er in eine Kurve fuhr. Verärgert lehnte Chino sich wieder nach vorne, damit er Ethos in die Augen schauen konnte. Bei den spärlichen Lichtverhältnissen, die durch die vereinzelten Straßenlaternen gegeben waren, kam dies einer kleinen Herausforderung gleich. In seiner blutverschmierten Kleidung und dem streng geradeaus gerichteten Blick sah Ethos aus wie ein Psychopath. Chino hätte darauf schwören können, dass der Priester das Blut seiner Feinde wie eine Trophäe mit sich trug. Wann immer er einen Dämon getötet hatte, hatte Chino beobachtet, dass Ethos seine Kleidung erst mehrere Stunden später wechselte. „Ich fasse es nicht, dass du mir so eine Frage stellst!“ „Du weißt, wie ich zu Dämonen stehe, die unsere Leute verletzen.“ „Darum geht es also?“ Chino seufzte schwer, dann beruhigte er sich wieder und schaute auf die dunkle Straße. „Natürlich kann ich es verstehen, dass du jemanden, der deine Kollegen verletzt, nicht unbedingt in deiner Nähe haben willst. Aber davon abgesehen, wüssten wir jetzt vielleicht, wo sich Esrada aufhält. Und damit wahrscheinlich auch Maria.“ „Du machst dir immer noch große Sorgen um sie. Das habe ich nicht vergessen.“ „Aber warum hast du denn sein Angebot nicht angenommen? Warum bist du nicht über deinen Schatten gesprungen?“ Die offene Verzweiflung, mit der Chino ihn dies fragte, versetzte Ethos einen Stich in die Brust. „Es tut mir leid, Chino. Das Risiko war einfach zu groß.“ Anstatt sich darüber zu äußern, lehnte sich Chino gegen das Fenster des Autos und guckte nach draußen. Hinter ihm lag, unter einer Plane, die wenige Stunden zuvor noch eine der Figuren aus dem Museum abgedeckt hatte, die Leiche von Brooklyn und der Geruch des getrockneten Blutes stieg ihm in die Nase. Chino erinnerte sich daran, wie wenig er selbst einst von Gnade verstanden hatte. Nachdem er sich seinen Wirt ausgesucht hatte, hatte er dessen Praktiken nach der Übernahme noch eine ganze Weile weitergeführt. Er hatte Menschen in Käfige gesperrt, ihnen tagelang nichts zu essen gegeben und sich dann notiert, wie sich dies auf ihre Psyche ausgewirkt hatte. Die Vorstellung, Angst und Demut bei jemanden auslösen zu können, wann immer es ihm danach verlangte, hatte einen besonderen Reiz auf ihn ausgeübt, dem er sich nicht zu entziehen vermochte. Das war aber nur eines der Nebenprojekte gewesen, die sein Wirt betrieben hatte. Hauptsächlich hatte der Arzt, den er als neuen Körper ausgesucht hatte, nach dem ewigen Leben geforscht. Dies hatte er getan, indem er den gefangenen und gefolterten Menschen mit der Hilfe einer eigens von ihm konstruierten Maschine das Blut aus den Venen gesaugt hatte. Die Überreste hatte er verbrannt. Genau das richtige für einen Dämonen, der Fähigkeiten wie er besaß. Der Geist eines Menschen war leichter zu verdrängen, wenn dieser sich dem Dämon im Moment der Übernahme ergab. Was wiederum einfacher wurde, je größer die Affinität zum Bösen generell war, gepaart mit den individuellen Verbrechen, die der Mensch zuvor begangen hatte. Eine Vorliebe für Blut, die mit der Annahme einherging, dadurch die eigenen Fähigkeiten zu steigern, war ein Versprechen, das Chino seinem Wirt mit Leichtigkeit hatte machen können. Jedoch ohne ihn vor den anstehenden Konsequenzen zu warnen. Um die Gedanken, die ihn noch immer quälten, abzuschütteln, suchte Chino erneut das Gespräch. „Warum hast du deine Klamotten nicht gewechselt, bevor wir losgefahren sind?“ „Es ist das Blut meiner Feinde, nicht das meiner Freunde.“ Für Ethos schien das Thema damit erledigt zu sein. Chino verstand zwar nicht, was ihm der Geistliche damit sagen wollte, doch er beließ es bei dieser knappen Erklärung. „Du hast mir versprochen, mir bei der Suche nach Maria zu helfen.“ „Ich werde dieses Versprechen auch halten. Nur kann ich nicht auf der einen Seite mein Versprechen dir gegenüber halten und all die anderen, die ich gegeben habe, dadurch brechen.“ Mit einem Mal wirkte Chino überrascht, was auch Ethos zu spüren schien. „Es gibt so viele Menschen, denen ich etwas schuldig bin. Allen voran Artemis. Er hat mir das Leben gerettet. Was soll ich tun? Diesen Dämon aufnehmen und riskieren, dass er uns hintergeht? Würdest du deine Hand dafür ins Feuer legen, dass er beispielsweise Artemis in Ruhe lassen würde, nachdem er einmal gegen diesen im Kampf unterlegen war?“ Ethos schaute kurz zu Chino hinüber. In der Dunkelheit meinte Chino so etwas wie Wehmut in den blauen Augen des Priesters erkennen zu können. Wenig später konzentrierte Ethos sich wieder auf die vor ihm liegende Straße. „Nein, das würde ich natürlich nicht tun“, seufzte Chino geschlagen. „Im Grunde genommen ist es ja nicht nur Artemis, mit dem McKenzey noch ein Hühnchen zu rupfen hatte. Du wärst genauso betroffen gewesen.“ Es entstand eine Stille zwischen den beiden, die drückender nicht hätte sein können. Tief in seinem Innersten wusste Chino, dass Ethos Recht hatte, doch er musste die ganze Zeit über an Maria denken. Wahrscheinlich war sie allein und nicht mal in seinen größten Albträumen wollte Chino sich ausmalen, was Blackcage mit ihr machen könnte. Umso erleichterter war der Spanier, als Ethos endlich in das Hafengelände einbog und einen langen Steg hinunter fuhr, an dessen Ende er das Fahrzeug zum Halten brachte. Zusammen stiegen sie aus, um die Leiche aus dem Auto zu holen. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, wuchteten die zwei den Körper die letzten Meter, damit sie McKenzey im Meer versenken konnten. Zusätzlich hatten sie Steine in die Plane gelegt, um sicherzustellen, dass er auch wirklich auf den Grund sinken würde. „Ein sehr unwürdiges Begräbnis“, murmelte Chino, während er dabei zusah, wie die Plane langsam vom Wasser verschluckt wurde. „Wie schaffst du das nur immer wieder, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben?“ „Wer sagt, dass ich mit einem reinen Gewissen leben würde?“ Noch während er diese Frage stellte, drehte Ethos sich um und marschierte zurück zu dem Wagen. Chino folgte ihm mit leichten Abstand. Gerade, als Ethos in den Wagen steigen wollte, hielt er inne und lauschte. Ihm war, als habe er ein Geräusch vernommen. Plötzlich spürte er etwas an den Beinen und als Ethos nach unten schaute, lief ein Strom Katzen an ihm vorbei. Leise schnurrend liefen sie bis an den Rand des Steges, wo sie sich hinsetzten und in ein herzzerreißendes Miauen einstimmten. Immer mehr Katzen bahnten sich ihren Weg nach vorne und rissen die kleinen Mäuler auf. „Lass uns gehen“, flüsterte Ethos Chino zu, der sich schnellstens daran machte, ebenfalls einzusteigen. Schweigend fuhren sie zurück zu dem Hotel, um Roth und die Gardisten abzuholen. Ethos wollte so schnell wie möglich zurück nach Italien. Als er auf den toten Dämonen geschaut hatte, war ihm ein Gedanke gekommen. Und wenn er mit diesem richtig lag, wusste er nun, wer der Verräter im Vatikan tatsächlich war. „Musst du denn wirklich schon wieder gehen“, raunte Gemini, als Marylin sich von dem Sofa erhob, um sich anzuziehen. „Ja. Ich bin zwar frei in dem, was ich tue, aber ich muss mich trotzdem regelmäßig im Vatikan blicken lassen. Es ist zum Kotzen. Als wäre ich ein kleines Mädchen.“ Mit einem lauten Gähnen erhob auch Gemini sich und streckte sich ausgiebig. Dabei rutschte ihr die Decke von dem Oberkörper und entblößte ihre nackten Brüste. Marylin blieb daraufhin kurz stehen und musterte Gemini kurz. Sie selbst hatte sich bereits ihre Unterwäsche übergestreift und war gerade dabei, ihre Hose und die dazugehörige Bluse zu suchen. Erst als Gemini zur Seite gegriffen und sich ihr Kleid übergezogen hatte, konnte Marylin ihre Augen von der Südländerin lösen. „Warum bleibst du nicht einfach bei mir?“, flüsterte Gemini der Blondine ins Ohr und legte ihre Hände auf dessen Schultern. „Du kannst doch auch hier schlafen. Ist bestimmt angenehmer, als zwischen den ganzen Priestern.“ „Ach, mach dir da mal keine Sorgen. Die einzigen beiden, die mit mir geredet haben, sind nicht anwesend.“ „Fühlst du dich da nicht alleine?“ „Nicht mehr als sonst. Wie du ja jetzt weiß, kann ich Männern ohnehin nichts abgewinnen.“ „Wo sind die beiden denn?“ Gemini hatte ihre Hand in die von Marylin gelegt und führte sie zu dem Wohnzimmertisch. Dort setzten sich die beiden und Marylin zog ihre restlichen Klamotten an. „Auf irgendeiner Mission. Sie wurden beide ungefähr gleichzeitig losgeschickt, aber wohin, das weiß ich nicht. Ist mir aber auch egal. Wir wollen uns doch nicht über Priester unterhalten oder?“ Gemini legte daraufhin ein wohlwollendes und gewinnendes Lächeln auf. „Nein, das wollen wir nicht. Ich mache mir nur etwas Sorgen um dich. Du hast mir ja jetzt schon öfters davon erzählt, wie allein du dich hier in Italien fühlst. Ich möchte nicht, dass du traurig bist.“ Wieder fasste Gemini nach Marylins Hand und streichelte langsam über ihren Handrücken. Auch Marylin konnte sich nun zu einem Lächeln durchringen. „Jetzt bin ich ja nicht mehr alleine, ich habe ja dich.“ Sie beugte sich noch einmal vor, um Gemini einen Kuss zu geben, dann erhob sich Marylin, damit sie die Wohnung der Zigeunerin verlassen konnte. In der Eingangstür blieb sie noch einmal stehen. „Wann werde ich dich wiedersehen?“, fragte Gemini und legte einen Schmollmund auf. „Bald. Sehr bald“, antwortete Marylin, dann war sie in der Gasse und zwischen den vielen Touristen verschwunden. Gemini blieb noch einige Zeit gegen den Türrahmen gelehnt stehen und blickte der Polizistin hinterher. Dann ging sie zurück in ihre Wohnung. Dort sammelte sie einige ihrer Bücher zusammen, um diese draußen zu verkaufen. Hoffentlich würde sie die nächsten Tage endlich wieder mehr Umsatz machen können. In der letzten Zeit hatte sie sich zu sehr anderen Dingen gewidmet, anstatt sich darauf zu konzentrieren, wie sie ihre nächste Miete würde bezahlen können. Sie konnte es sich nicht leisten, unnötige Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Marylin hingegen trottete die Hauptstraße entlang, völlig in ihre eigenen Gedanken versunken. Innerlich war sie hin und her gerissen. Einerseits freute sie sich darüber, eine neue Bekanntschaft gefunden zu haben, mit der sie sich von ihrer Einsamkeit ablenken konnte, andererseits war ihr nicht entgangen, dass Gemini sehr viele Fragen stellte. Das Interessante daran war, herauszufinden aus welchem Grund sie das tat. Nur zu gern wollte Marylin glauben, dass es wirklich reines Interesse an ihrer Person war. Immerhin hatte Gemini sie bisher weder angegriffen, noch zu sehr dazu gedrängt, etwas von ihren Kontakten im Vatikan preiszugeben. Trotzdem sollte sie auf der Hut bleiben. Doch der Wunsch, endlich mit jemanden reden und sich beschäftigen zu können, war inzwischen so stark in ihr herangereift, dass sie nicht umher kam, sich zu der Zigeunerin hingezogen zu fühlen. Marylin war so sehr mit sich und ihren Überlegungen beschäftigt, dass sie nicht bemerkte, wie eine Pferdekutsche an ihr vorbeizog. Hätte sie genauer hingesehen, hätte sie das Logo des Vatikans darauf erkennen können. Im Inneren der Kutsche befand sich Prälat Nikolas, er war gerade auf dem Weg von seinem Arzt zurück in den Vatikan. Ebenfalls schwer mit sich selbst beschäftigt, schaute er auf das Stück Papier, das der Arzt ihm mitgegeben hatte. Nikolas konnte sich nicht innerhalb des Vatikans untersuchen lassen, da die dort praktizierenden Ärzte nichts für ihn tun konnten. Dafür war sein Leiden bereits zu fortgeschritten. Bald hatte er allerdings feststellen müssen, dass kein Arzt der Welt noch etwas für ihn zu tun vermochte. Mit zitternden Händen ging er noch einmal jeden einzelnen Buchstaben durch, als könne er allein dadurch ändern, was dort niedergeschrieben stand. Schwer seufzend ließ der Prälat das Papier sinken, dazu rieb er sich über das Kinn. Sein Blick wanderte nach draußen. All die jungen Menschen, die dort umherliefen, sorgenfrei und nicht den geringsten Gedanken daran verschwendend, was das Alter irgendwann mit sich bringen würde. Einmal war er wie sie gewesen, doch das lag lange zurück. Draußen hörte Nikolas eines der Pferde schnauben. Das Klappern der Hufe beruhigte ihn, besser als der laute Motor der Autos, die sich immer stärker ihren Platz auf den Straßen sicherten. Ein letztes Mal schaute Nikolas auf das Blatt herunter. Plötzlich ertönte ein lauter Knall. Die Pferde begangen zu scheuchen und wenig später durchzugehen. Der Kutscher wurde von seinem Sitz geschleudert und schlug, einige Meter entfernt, auf dem Kantstein auf. Sofort stoben die Touristen auseinander, einige von ihnen schreiten in heller Panik aufgrund des Feuerballes, der sich mitten auf der Straße gebildet hatte. Marylin wurde, da die Druckwelle sie erfasste, ebenfalls von den Füßen gerissen. Als sie sich wieder aufrichten konnte, sah sie auf ein brennendes Gefährt, von dem sich die Pferde gelöst hatten und in blinder Panik durch die Masse preschten. Irgendwo hinter der Menschenmasse, die sich angesammelt hatte, hörte sie, wie jemand die Tiere einfing und zu beruhigen versuchte. Menschen liefen an ihr vorbei, in der Ferne ertönte eine Sirene. „Geht es dir gut? Ist alles mit dir in Ordnung?“ Nach und nach drangen die Worte in Marylins Kopf. Sie brauchte einige Zeit, um sich zu orientieren. Ihr Blick wanderte nach oben und sie sah, dass Gemini sich neben sie gekniet hatte und sie panisch aus großen dunklen Augen anstarrte. „Ist dir etwas passiert?“ „Nein, es geht schon…“ Langsam richtete Marylin sich auf. Ohne auf die Beruhigungsversuche von Gemini einzugehen, schritt sie auf die Kutsche zu. Eine Explosion hatte sie völlig zerrissen. Hoffentlich hat sich niemand darin befunden, dachte Marylin bei dem Anblick des zersprengten Gefährts. Die Chance, solch eine Explosion zu überleben, war mehr als gering. Einige Polizisten waren gerade dabei, die eingetroffene Feuerwehr zu unterrichten. Noch war der Bereich nicht abgesperrt, weshalb Marylin sich ungehindert bücken und eine der Holzlatten aufsammeln konnte, die noch nicht von dem Feuer zerstört worden waren. Sie erkannte das Logo, welches sich auf dem Holz befand, sofort. Die Welt um sie herum schien aufzuhören, sich zu drehen. Langsam ließ Marylin das Holz wieder sinken und auf den Pflasterstein fallen. Mit leeren Augen drehte sie sich zu Gemini, die etwas abseits stand und besorgt zu ihrer Freundin hinüber schaute. „Ich glaube, es wäre gar keine so schlechte Idee, wenn ich erst einmal bei dir bleiben würde.“ Sofort kam Gemini Marylin zur Hilfe, als diese einzuknicken drohte. Als sie auf dem Boden saß, die Arme der Zigeunerin um sich geschlungen, realisierte Marylin erst, was gerade passiert war. Irgendjemand, der im Vatikan arbeitete, war gerade ermordet worden. Die Explosion war ein Attentat gewesen, da war sie sich sicher. Die Frage war nun, wo sie sich noch sicher fühlen konnte. Sie wusste zwar nicht, wer oder was sich in der Kutsche befunden hatte, doch das war im Grunde genommen auch egal. Vorsichtig legte sie ihre Hand auf die von Gemini, welche ihr beim Aufstehen half. „Komm mit zu mir, ich mache dir erst einmal einen Tee“, redete Gemini auf Marylin ein, um sie vor den anrückenden Polizisten abzuschirmen. „Mit denen kannst du später noch reden, erst einmal ist es wichtig, dass du dich wieder beruhigst.“ Da sie nach wie vor unter Schock stand, ließ Marylin sich von Gemini ohne Widerstand von dem Tatort weg führen. Die Polizisten stürzten sich somit auf andere Passanten, die sie zu der Explosion befragten. Zufrieden schaute Gemini über ihre Schulter. Falls Marylin doch noch vorhaben sollte, sich mit den Beamten in Verbindung zu setzen, hatte sie sich zumindest einen Vorsprung verschaffen können. „Es ist einfach nicht fair! Wie konntest du nur! Du bist die widerwärtigste Kreatur, welcher ich jemals begegnet bin!“ In einer Mischung aus Zorn und Trauer stürmte Hildegard auf Blackcage zu. Um sie herum hatten sich einige Schatten gebildet, deren Köpfe fast genauso hohe Schreie ausstießen wie die, die Hildegard dem schwarzhaarigen Dämonen entgegenbrache. Ihre Augen glühten rot, als sie kurz davor war, Blackcage anzugreifen. Dieser blieb gelassen stehen, die Hände hinter dem Rücken verschränkt und wartete darauf, dass die Dämonin vor ihm zum Stehen kam. „Du warst derjenige, der sich darum kümmern sollte! Nicht Brooklyn!“ Zusätzlich zu der roten Färbung waren Hildegard Tränen in die Augen gestiegen, die ihr die Sicht nahmen. Anstatt Blackcage mit all dem Groll und der Abneigung, welche sie für diesen empfand, anzugreifen, blieb sie auf halben Wege stehen und brach in sich zusammen. Mehrfach schlug sie mit der Faust auf den Boden, wodurch dieser an einigen Stellen einzureißen begann. Voller Zufriedenheit schaute Blackcage zu Hildegard hinunter. Auf diese Art der Erniedrigung hatte er eine halbe Ewigkeit warten müssen. Und er würde sie in vollen Zügen genießen, so viel stand fest. „Aber, liebste Hildegard. Wäre Brooklyn stärker gewesen, hätte er auch als Sieger aus diesem Kampf hervorgehen können.“ „Du wusstest, dass Ethos vor Ort sein würde. Und nicht Artemis.“ „Vielleicht“, raunte Blackcage beiläufig, während er auf Hildegard zuschritt. „Vielleicht aber auch nicht. Wer will mir das nachweisen?“ „Du wirst schon sehen, was du davon hast“, knurrte Hildegard und kam wieder auf die Beine. Mit einem schnellen Sprung stand sie plötzlich vor Blackcage. Dieser schaute sie verwundert an, doch da hatte sich bereits Hildegards Hand um den Hals des Dämons geschlossen. Die Wut, welche sie gerade verspürte, ließ Hildegard die Kehle von Blackcage so stark zusammen drücken, dass dieser keine Luft mehr bekam. Mit Genugtuung erkannte sie, dass er sie voller Angst anstarrte. Um sich aus dem Griff befreien zu können, legte Blackcage seine Hände um die von Hildegard. Doch noch bevor er dazu in der Lage war, einen seiner Feuerbälle zu formen, spürte er, wie sämtliche Kraft aus ihm zu weichen schien. Seine Haare verfärbten sich plötzlich, das kräftige Schwarz wich aschfarbenen Grau. Die straffe Haut alterte mit jeder Sekunde, bis sie in losen Falten von seinen Knochen herunter hing, Muskeln und Sehnen bildeten sich zurück, so dass sie nicht einmal mehr das Eigengewicht des Dämons tragen konnten. Die vorher noch so selbstsicheren Augen verschwanden nahezu in dem immer stärker hervortretenden Schädel. Ein zufriedenes Lächeln auflegend, sah Hildegard ihrem Widersacher direkt in die Augen. Die Schatten, die sich um sie herum gebildet hatten, kamen immer näher und drohten, sie zusammen mit Blackcage aufzufressen. „Hildegard! Hör‘ sofort auf!“ Von dem wütenden Ruf aufgeschreckt, ließ Hildegard Blackcage los. Dieser rutschte auf den Boden, innerhalb weniger Sekunden war sein jugendliches Aussehen zurückgekehrt. Schwer keuchend richtete sich der Dämon wieder auf. Währenddessen blickte Hildegard abschätzend zu Esrada hinüber. Noch immer standen ihr Tränen in den Augen. Die rote Farbe war allerdings aus ihnen heraus gewichen. „Warum ist Nathan hiergeblieben, während Brooklyn gegen Ethos kämpfen musste?“ „Seit wann muss ich mich dir gegenüber erklären“, erwiderte Esrada kühl und kam einige Schritte auf die beiden anderen Dämonen zu. „Außerdem wusstet ihr, dass es gefährlich werden würde, für mich zu arbeiten.“ Hildegard wusste nichts darauf zu erwidern. Als der mächtige Dämon genau vor ihr zum Stehen kam, atmete sie tief ein. Sie wollte keine Schwäche vor ihm zeigen. Noch weniger, als vor Blackcage. „Ich will, dass du Brooklyns Löwen wieder einfängst. Er läuft immer noch frei herum und ich will nicht, dass er von den Priestern gefunden wird. Hast du das verstanden?“ „Ja“, antwortete Hildegard knapp und presste ihre Lippen aufeinander. Der Hass, den sie für jeden einzelnen in dieser Gruppe aus Dämonen verspürte, wuchs in ihrem Herzen wie ein Samen, der vor langer Zeit in dieses eingepflanzt worden war. Jede Sekunde, die sie mit Esrada oder Blackcage verbrachte, war wie Nahrung für diesen Hass, dessen Früchte sie schon bald ernten würde. Dass sie ihren Mann verloren hatte, hatte das Fass nun zum Überlaufen gebracht. Eigentlich hatte sie vorgehabt, mit Brooklyn zusammen ihre Schwester ausfindig zu machen und sich dann still und heimlich davon zu machen. Selbst wenn Esrada sie hätte ausfindig machen können, wusste Hildegard um die Macht, welche in ihr schlummerte. Selbst andere Dämonen fürchteten ihre Fähigkeiten. Ein Duell gegen Esrada und Blackcage zur gleichen Zeit, möglicherweise mit der Gefahr, dass sich auch Kyro einmischen würde, wäre jedoch selbst für sie zu schwer einzuschätzen, als dass es einen Versuch wert gewesen wäre. Alle Pläne, die sie bisher geschmiedet hatte, hatten auf Geduld und Vorsicht basiert. Diese Geduld war nun, mit dem Tod von Brooklyn, an ihrem Ende angelangt. Da ihre Gedanken zurück in die traurige Gewissheit fanden, dass sie Brooklyn niemals wiedersehen würde, wand Hildegard sich von Esrada ab und entfernte sich. Sie würde nun den letzten Auftrag für diesen ausführen, denn auch ihr lag etwas daran, Leo zurückzuholen. „Ach ja“, rief Blackcage Hildegard hinterher, die schon fast zur Tür hinausgegangen war. „Deine Schwester… Sie ist wirklich ein süßes Ding. Schade, dass ich ihr wehtun musste, aber ich glaube, sie hat es auch gar nicht anders gewollt.“ Ein leises Knurren ausstoßend, zog Hildegard die schwere Tür hinter sich zu. Ihre Augen glühten bereits erneut vor Raserei. Und diesmal würde sie diese nicht mehr herunterkämpfen. Kapitel 21: Kapitel 21 ---------------------- Kapitel 21 Lydia fielen vor Müdigkeit fast die Augen zu. Mittlerweile war es September, doch in Indien waren die Temperaturen noch immer ziemlich hoch. Die Nonne bewunderte Artemis dafür, dass er, trotz seiner relativ geschlossenen Kleidung, die aus einer dünnen Jacke, einem T-Shirt und einer Hose bestand, nicht allzu sehr zu schwitzen schien. Sie und Artemis hatten ihren Flug ohne weitere Zwischenfälle antreten können und befanden sich nun seit über einer Stunde in Indien, hatten jedoch noch fast keinen einzigen Schritt nach draußen gemacht. Am Flughafen von Kalkutta angekommen, hatten sie sofort ein Taxi nehmen müssen und waren an den äußersten Rand der Stadt gefahren. Von dort aus hatten die beiden eine kleine Kutsche anmieten müssen, vor der ein Gespann Esel lief, um tiefer in den indischen Dschungel vorzudringen. Nur kurz war Lydia der Blick auf die Spitzen einiger Tempel gewährt worden und vereinzelt hatte sie einige bunt gekleidete Frauen sehen können, die auf dem Fußboden der dreckigen Straßen einige Lebensmittel verkauft hatten. Nachdem sie eine halbe Ewigkeit in einer Seitengasse hatten warten müssen, weil es sich eine Kuh mitten auf Straße hatte gemütlich machen müssen, war Lydia etwas näher an Artemis heran gerückt, als sie beobachtete, wie einige zwielichtige Gestalten auf das Taxi zugesteuert waren. Genauso schnell, wie diese sich aus den Schatten der umstehenden Gebäude geschält hatten, waren sie auch wieder verschwunden, als das Taxi die Fahrt wieder aufnehmen konnte. Seitdem Artemis und Lydia ihren Weg in der Kutsche fortsetzten, war nichts Aufregendes mehr passiert. Überall sah es gleich aus, die Bäume reihten sich ähnlich aneinander wie die hochragenden Gebäude Kalkuttas und stahlen so jegliches Sonnenlicht, der lose Sandweg war ebenso holprig und sonderlich gesprächig zeigte sich ihr Chauffeur auch nicht. Wahrscheinlich hätte sie ihn ohnehin nicht verstehen können, denn es war schon schwierig genug gewesen, ihm auf Englisch zu erklären, wo die beiden hin wollten. In der Ferne war das leise Schnaufen eines Tieres zu hören, doch da weder die Esel, noch der Kutscher nervös wirkten, handelte es sich wahrscheinlich um ein weniger gefährliches Exemplar. Ein bunter Vogel zwitscherte auf einem der Äste über Lydias Kopf. Doch als sie das Haupt hob, um einen Blick auf das singende Tier zu erhaschen, sah sie nur die dichten Baumkronen über sich. Seufzend legte sie das Kinn auf den Rand des Gefährts, welches bei jeder kleinen Kuhle ein wenig vertrauen erweckendes Knirschen von sich gab. Langsam tat ihr das Gesäß weh von der harten Bank, die vorwiegend aus einem zusammenhängenden Brett bestand, das notdürftig an den Rest der Konstruktion genagelt worden war. Als Artemis seine Begleitung seufzen hörte, drehte er sich um. „Ich hoffe, dass es diesmal klappt.“ „Was?“, fragte Lydia benommen, nachdem Artemis sie angesprochen hatte. „Ich hoffe, dass wir diesmal nicht wieder zu spät sein werden. Noch ein toter Priester wäre nicht nur an sich eine Tragödie, sondern würde uns im Allgemeinen stark zurück werfen.“ „Wir werden kaum dafür verantwortlich gemacht werden können, wenn wieder etwas schief gegangen sein sollte, bevor wir ankommen“, sprach Lydia im leisen Tonfall, als könne der Kutscher möglicherweise verstehen, was sie sagte. „Genauso wenig, wie wir Alexandros helfen konnten. Das stand einfach nicht in unserer Macht.“ „Das meinte ich nicht.“ Artemis bemühte sich um eine ausgeglichene und freundliche Stimmlage, denn er wollte die Zeit, in der Lydia ihn ausnahmsweise nicht mit ihrem Hass auf ihn bombardierte, nicht vorzeitig beenden. „Dass wir beide da nichts für können, das ist eigentlich klar. Aber für den Vatikan… Es gab schon vorher wenige Geweihte und jetzt werden die letzten von ihnen auch noch von den Dämonen gejagt. Außerdem spüre ich… Wie soll ich es ausdrücken… Eine Art Verbundenheit mit ihnen.“ „Dafür hast du deinem Kollegen in Griechenland aber sehr wenig Mitleid entgegen gebracht“, schnauzte Lydia plötzlich und wand sich von Artemis ab. Genervt rollte der Priester mit den Augen. Ein Pulverfass war Lydia schon früher gewesen, doch das war selbst für ihre Verhältnisse mehr als kindisch. Diesmal hatte Artemis dafür allerdings weniger Verständnis. „Wie habe ich mich jemals in eine Giftspritze wie dich verlieben können“, murmelte Artemis und verschränkte die Arme vor der Brust. „Wie bitte?!“ Sofort drehte sich Lydia wieder Artemis entgegen. „Die Frage ist eher, wie sich jemand wie ich so lange mit jemanden wie dir abgeben konnte!“ Hätten Blicke töten können, hätte Lydia Artemis innerhalb weniger Sekunden nahezu hingerichtet. Als Lydia wenige Augenblicke später in Artemis‘ grinsendes Gesicht sah, beruhigte sie sich allerdings schnell wieder. Immer, wenn er sie so ansah, musste Lydia daran denken, wie sie sich das erste Mal begegnet waren. Vor einer Kneipe hatte sie gestanden, hauptsächlich mit einem langen schwarzen Mantel bekleidet. Trotz der südlichen Lage Roms war es sehr kalt gewesen und auch die Steinwand, an die sie sich gelehnt hatte, hatte nicht dazu beitragen können, den Abend angenehmer für sie zu gestalten. Wie so oft hatte sich dann die Tür der Kneipe neben ihr geöffnet, wodurch etwas von der warmen Luft nach draußen zu strömen begann, mitsamt einigen Männern. Einer von ihnen war Artemis gewesen. Als er Lydia gesehen hatte, war er sofort auf sie zu gekommen. Der Mann, welcher ihn begleitet hatte, hatte ihn noch davon abhalten wollen, mit ihr zu reden. Vor allem, da es sich bei Lydia um eine Prostituierte handelte. Das herablassende Gesicht, welches der andere ihr geschenkt hatte, würde Lydia ebenfalls niemals vergessen. Später wurde er ihr als Ethos Turino vorgestellt. Ein Mann, der Artemis immer wieder in Gefahr bringen und sie ohnehin niemals respektieren würde. Anfangs war Lydia leicht zurück gewichen, als sie gesehen hatte, dass der damals Fremde eine Augenklappe trug. Oft genug hatte sie mitbekommen, wie andere Mädchen von Männern solchen Schlages verprügelt, vergewaltigt oder überfallen worden waren. Doch anstatt sie anzusprechen, zog der Mann lediglich seine Jacke aus und warf sie über Lydias Schultern. Dabei hatte er sie, ähnlich wie jetzt, wie eine alte Bekannte angegrinst und war wieder verschwunden. Als Lydia zum Ende ihrer Schicht in eine der Seitentaschen gegriffen hatte, hatte sie ein Stück Papier gefunden mit dem Hinweis, dass sie die Jacke gerne an der niedergeschriebenen Adresse wieder ihrem Besitzer zurückgeben dürfe. Nicht ohne den Hinweis, was für eine umwerfende Schönheit sie doch wäre. Weil sie ein schlechtes Gewissen hatte, sich aber auch durchaus geschmeichelt fühlte, hatte Lydia die Jacke an die genannte Adresse gebracht. Es handelte sich dabei um ein gemietetes Zimmer, welches Artemis des Öfteren nutzte, um seine Bekanntschaften außerhalb des Vatikans zu treffen. Damals hatte es Lydia nicht gestört und sie wusste, dass sie eine von vielen Frauen gewesen war, die Artemis auf diese Art und Weise ins Bett bekommen hatte. Meist gegen Bezahlung. Doch auch das hatte sie nicht gestört. Ein Schlagloch riss die Nonne aus ihren Gedanken heraus. Beinahe wäre sie so nah an Artemis heran gerutscht, dass sie sich berührt hätten, was sie im letzten Moment hatte verhindern können, indem sie sich panisch in die kleine Lehne aus Holz auf ihrer Seite gekrallt hatte. Als er sah, wie Lydia mit ihrem Gleichgewicht zu kämpfen hatte, musste Artemis lachen. Es dauerte nicht lange und auch Lydia stimmte, wenn auch wesentlich leiser, in das Gelächter mit ein. Sie hatte ganz vergessen, wie ansteckend Artemis‘ Lachen sein konnte. Und wie schön sie es damals empfunden hatte. Gerade, als Lydia etwas sagen wollte, hielt der Kutscher an. Er wand sich an seine beiden Gäste und nickte mit dem Kopf in die Richtung eines kleinen Pfades, welcher leicht bergauf führte. Am Ende des Pfades war ein riesiges Gebäude zu sehen, dessen Umrisse jedoch nur erahnt werden konnten, da es sich hinter einem mannshohen Zaun aus schwarzen Gitterstäben befand. Artemis half Lydia aus der Kutsche und steckte dem Fahrer einige Scheine zu. Dann nahm er seinen und Lydias Koffer von der kleinen Ladefläche des Gefährts. Mit einem letzten Kopfnicken verabschiedete der Inder sich und trieb seine Esel zurück in die Richtung, aus welcher sie gekommen waren. „Das ist dann wohl das Anwesen der Familie McDouglas“, flüsterte Lydia ehrfürchtig. Sie hatte davon gehört, dass sich einige Kolonnisten riesige Anwesen gebaut hatten, meist in der Nähe ihrer Plantagen. Doch nie hätte sie damit gerechnet, welche Ausmaße dies nehmen konnte. Kaum waren die beiden nach einem kleinen Fußmarsch näher an das Tor getreten, konnte Lydia durch die Gitterstäbe hindurch das Hinterland sehen. Riesige Büsche reihten sich aneinander, vereinzelt standen einige Bäume und auch der eine oder andere Brunnen dazwischen. Mittendrin thronte ein pompöses Herrenhaus mit mehreren Stockwerken. Vor dem Eingang waren einige Säulen zu erkennen, die kunstvolle Muster aufwiesen und zusammen mit den weißen Mauern und den ausladenden Balkonen an den Seiten majestätisch wirkten. Das schwarze Dach hingegen wirkte relativ schlicht, die Fenster waren dunkel. Im Gegensatz zu seiner Kollegin bewunderte Artemis weniger das kleine Wunder britischer Architektur, sondern widmete sich der Frage, wie er das Grundstück des Anwesend betreten könnte. Allem Anschein nach gab es keine Klingel und nach jemanden zu rufen kam ebenfalls nicht in Frage. Das gesamte Grundstück wirkte nahezu ausgestorben. Noch immer hatte er beide Koffer in den Händen, nun stellte er diese beiseite. „Was hast du vor?“, fragte Lydia, als Artemis mit beiden Händen die Gitterstäbe umfasste. Die Enden wiesen bedrohlich scharf wirkende Sperrspitzen auf. Durch ihre goldene Farbe waren sie sofort zu identifizieren. Eine gelungene Abschreckung. Zusätzlich war das Tor mit einem riesigen Vorhängeschloss gesichert. „Ich werde uns einen Weg hier rein verschaffen.“ Es dauerte lediglich einige wenige Sekunden, bis Artemis eines seiner Messer in der Hand hielt. Leise vor sich her pfeifend begab er sich zu dem Schloss und steckte die feine Spitze der zweckentfremdeten Waffe in das Schloss. Einige Male drehte und wendete er es, dann klickte es leise und das Schloss fiel in den Sand. Sichtlich überrascht schaute Artemis vor seine Füße. „Auch wenn ich von meinem Können sehr überzeugt bin, ging mir das etwas zu schnell.“ Nebenbei steckte das Messer zurück unter seine Jacke. Lydia rollte genervt mit den Augen, war aber der gleichen Meinung wie Artemis. Dafür, dass es sich hierbei um den Wohnsitz eines Geweihten handeln sollte, war das eindeutig zu einfach gewesen. Vorsichtig stieß Artemis das Tor auf, das sich mit einem lauten Quietschen nach innen bewegte. Langsam trat er zusammen mit Lydia auf den Hof und schaute sich um. Es war niemand zu sehen. „Ich hätte zumindest mit ein paar Wachhunden gerechnet“, meinte Artemis und streckte den Kopf, um besser sehen zu können. „Oder den einen oder anderen Angestellten, aber hier regiert wirklich der Tod.“ „Vielleicht finden wir etwas in dem Haus“, sagte Lydia und machte sich auf in Richtung Eingang. Artemis folgte der Nonne, immer auf der Hut, dass jederzeit etwas passieren könnte. Einen der beiden Koffer trug er in der rechten Hand, die linke hielt er unter seine Jacke. Wenn doch noch etwas geschehen sollte, wollte Artemis so schnell wie möglich seine Waffen ziehen können. Allerdings erreichten die beiden ihr Ziel ohne einen Zwischenfall. „Sieh nur, die Tür. Sie ist offen“, raunte Lydia Artemis zu. Mit den Fingerspitzen stieß sie das dünne Holz auf. Hinter der Tür kam ein breiter Flur zum Vorschein, an dem jedoch nichts ungewöhnlich schien. Kommoden und Regale, in denen verschiedene Utensilien aufbewahrt wurden, reihten sich sauber aneinander. Ein wertvoll aussehender Teppich bedeckte den Boden, trotzdem zogen sich weder Lydia, noch Artemis die Schuhe aus. Ihre Koffer ließen sie im Eingangsbereich stehen. Lediglich ihren Degen holte Lydia aus ihrem Koffer hervor. „Irgendetwas stimmt hier ganz und gar nicht.“ „Das denke ich ebenfalls. Aber ein Dämon wird es vermutlich nicht sein, zumindest hat sich mein Auge bisher nicht bemerkbar gemacht.“ Da sämtliche Türen, die vom Flur ausgingen, verschlossen waren, schritt Artemis mit wachsamen Auge voran. Dicht hinter ihm ging Lydia, die ihrem Kollegen somit den Rücken deckte. „Ich werde jetzt die erste Tür öffnen. Mach dich am besten auf alles gefasst.“ Die einzige Antwort, die Lydia Artemis gab, war ein kurzes Nicken. Ein wenig ärgerte es sie, dass er mit ihr sprach, als handle es sich bei Lydia um einen Neuling, doch es war nicht der richtige Zeitpunkt, darüber zu lamentieren. Mit einem kräftigen Tritt stieß Artemis die Tür auf. Genauso schnell, wie dies geschehen war, hechtete er in den Raum hinein, sowohl in der linken, als auch in der rechten Hand eines seiner Messer haltend. Lydia sprintete sofort hinterher, ihren Degen zum Schutz auf Augenhöhe gerichtet. Als sie neben Artemis zum Stehen kam, stockte ihr der Atem. Der Wohnraum war über und über mit Blut versehen. Blutige Spritzer krochen die einstmals roséfarbenen Vorhänge hinauf, die helle Couchgarnitur einer großen Sitzecke ließ nur erahnen, welchen Farbton sie einst besessen haben mochte. Über dem schwarzen Beistelltisch lag eine junge Frau, ihr Rücken war von oben bis unten aufgerissen worden. Unweit entfernt lag ein Mann mit dem Gesicht nach oben. Seine Kehle war geöffnet, das Blut daraus schon lange in dem Teppich darunter gesickert. Beide Menschen trugen schwarz-weiße Kleidung im Stil von Dienstmädchen und Kellnern. Artemis ließ seine Waffen sinken. „Untersuche du die Leichen hier. Ich werde mich in den angrenzenden Räumen umsehen, ob nicht noch weitere Tote zu finden sind.“ Noch immer vorsichtig bewegte Artemis sich vorwärts. Wie in Zeitlupe öffnete er die nächste Tür und war verschwunden. Die zurück gebliebene Lydia ging zu der Frau, die über den Tisch gebeugt lag. Ihre weiße Haube hing noch halb von ihrem Kopf herunter. Mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte, rollte Lydia die Leiche von dem Tisch herunter. Nun starrte sie ein Paar ausdruckslose Augen an, was sie bestmöglich zu ignorieren versuchte. Seufzend machte sie sich daran, die Taschen zu durchsuchen, jedoch ohne Erfolg. Als nächstes widmete sie sich dem Mann, auch hier ohne ein Ergebnis. Die beiden Angestellten besaßen nichts, das sie weiterbringen würde. Je länger Lydia mit den beiden Toten alleine war, desto übler wurde ihr. Nebenan hörte sie, wie Artemis einige Gläser umzustoßen schien. Langsam erhob Lydia sich und setzte sich auf die Couch, ungeachtet dem schlechten Zustand, in der sie sich befand. Ihr Magen krampfte sich zusammen, hätte sie in den letzten Stunden etwas gegessen, hätte sie sich mit Sicherheit übergeben müssen. Seufzend legte sie ihr Gesicht in ihre Hände. Seit wann fiel es ihr so schwer, tote Menschen zu sehen. Sie hatte sich inzwischen so häufig auf Missionen befunden, dass ihr das Schicksal Fremder nicht mehr allzu nahe gehen sollte. Besonders, da sie in ihrem Leben bereits über ein dutzend Mal mit Verstorbenen konfrontiert worden war. Einige von ihnen hatten noch schlimmer ausgesehen als die Frau und der Mann, welche zu ihren Füßen lagen. Selbst Kinder waren dabei gewesen. Lydia wurde aus ihren Gedanken heraus gerissen, als Artemis mit einer der Türen knallte. Sie schreckte auf und schaute nach oben, wodurch ihr Blick auf einen kleinen Zettel gezogen wurde, mit dem der Priester herum wedelte. Als er sah, wie Lydia traurig zu ihm aufblickte, hielt er kurz inne. „Was ist los mit dir?“ „Nichts“, log Lydia und erhob sich. „Was hast du da? Hier habe ich nichts finden können, das uns auf irgendeine Art weiterhelfen könnte.“ „Das ist auch nicht nötig“, erwiderte Artemis stolz und hielt den Zettel weiterhin in die Luft. „Ich habe hier eine Notiz gefunden. Sie stammt vermutlich von McDouglas selbst.“ „Was steht drin?“ „Er ist anscheinend in Richtung Westen gegangen. Angeblich hätten einige seiner Mitarbeiter etwas Merkwürdiges in den Plantagen gesehen. Er hat diese Notiz hinterlassen, damit seine Angestellten Bescheid wissen, wo er sich aufhält, wenn irgendetwas sein sollte.“ „Die jetzt beide tot sind.“ „Richtig.“ Artemis brauchte einige Minuten, um die Gedanken, die ihm kamen, zusammenzufügen. Doch kaum hatten sich die Teile in seinem Kopf zusammengesetzt, schaute er panisch zu Lydia hinüber. „Wir müssen uns beeilen!“ Lydia verstand sofort. So schnell sie konnte, rannte sie zu ihrem Koffer und öffnete diesen. Da sie immer noch ein Kleid trug, fischte sie Klamotten heraus, in denen sie besser würde kämpfen können. Um keine Zeit zu verschwenden, riss sie sich ihr Kleid vom Körper, wenig später trug sie eine Jeans und ein grünes Shirt, dazu flache Turnschuhe. Ihre Haare hatte sie zusammengebunden, an ihrem Gürtel befand sich eine Halterung für ihren Degen. Als Lydia Artemis ansah, schaute dieser sie mit einem breiten Grinsen an. „Schön, dich mal wieder in deiner Unterwäsche gesehen zu haben.“ „Wir haben Wichtigeres zu tun, als uns über solche Lappalien zu unterhalten!“, schrie Lydia Artemis an, doch dieser ließ sich dadurch nicht aus dem Konzept bringen. Seelenruhig ging er an Lydia vorbei, schaute dieser in ihre grünen Augen, die ihn voller Zorn anfunkelten. Kurz bevor er Lydia passierte, beugte sich Artemis noch einmal nach vorne, um ihr ins Ohr flüstern zu können. „Du bist immer noch die schönste Frau, die ich jemals gesehen habe.“ Kopfschüttelnd folgte Lydia dem Priester nach draußen. Artemis war bereits in ein schnelleres Tempo gefallen und lief einen der Wege entlang, die tiefer in den westlichen Teil der Plantagen führte. Lydia brauche einige Zeit, bis sie aufgeholt hatte, der lockere Sand auf dem Boden erschwerte ihr das Laufen. „Schau dir das an“, sagte Artemis, als Lydia wieder bei ihm angekommen war. In seiner Handfläche befand sich das Blatt eines Gewürzbaumes, welchen Lydia nicht auf Anhieb bestimmen konnte. Blut klebte darauf. „Es befinden sich noch weitere Blätter mit Blut an den Rändern dieses Weges. Ich vermute, dass sie uns direkt zu McDouglas führen werden.“ Artemis ließ das Blatt fallen und lief weiter. Unterwegs entfernte er seine Augenklappe. Nach einigen Metern verließen die beiden den Pfad und kämpften sich durch das hohe Blattwerk, das ihre Sicht extrem einschränkte. Lydia hatte aufgehört zu zählen, wie oft sie in verschiedene Richtungen abgebogen waren und welche Querpfade sie dabei passiert hatten. Immer wieder peitschten ihr die Äste in das Gesicht, woran Artemis nicht ganz unbeteiligt war. Kurz bevor sie Artemis zu verlieren drohte, griff dieser nach ihrem Handgelenk und zog sie so mit sich. Vor den beiden erschien plötzlich eine Reihe aus Steinen, vermutlich eine Art Begrenzung. Im letzten Moment setzte Lydia zu einem Sprung an. Zusammen mit Artemis kam sie auf einem Boden auf, der wesentlich weicher war als die Erde, in der die Gewürze der Plantage angebaut worden waren. Während Artemis mit den Füßen aufkam, war Lydia leicht ins Stolpern geraten. „Achtung!“, schrie eine kräftige Männerstimme von der Seite. Noch immer Lydias Hand haltend, die auf dem Boden kniete, um sich aufrichten zu können, schaute Artemis zur Seite. Ein schwarzer Schatten kam auf ihn zu und entblößte ein Gebiss voller scharfer Reißzähne. Sofort hob der Priester seine verbleibende Hand. Er fixierte den Dämon, der auf ihn zukam. Wie durch ein Wunder blieb der Angreifer in der Luft stehen, wodurch Lydia etwas an Zeit gewann und aufstehen konnte. Sie rannte zu dem Mann, von dem der Schrei gekommen war. „Wer sind Sie?“, fragte der Mann in schwerem britischen Akzent, der ihn als Archibald McDouglas identifizierte. „Das tut erstmal nichts zur Sache. Sind Sie verletzt?“ Lydias Blick fiel auf eine Wunde an McDouglas‘ Arm. Der Ärmel seines khakifarbenen Hemdes war hochgeschoben, so dass ein blutiger Streifen zu sehen war. „Ihr Arm…“ „Es ist nicht weiter schlimm“, brummte McDouglas und zog seinen Arm weg. „Wir müssen uns auf den Dämonen konzentrieren, alles andere hat Zeit.“ Lydia drehte sich wieder um und zog ihren Degen. In der Zwischenzeit hatte Artemis seine Hand wieder gesenkt und stand nun dem Dämon alleine gegenüber. Vor ihm stand ein riesiger Wolf. Seine Krallen hatte er in den Sand geschlagen, die gelben Augen fixierten Artemis, als wäre dieser ein wehrloses Beutetier. Plötzlich sprang das Raubtier auf Artemis zu. Dieser wich geschickt zur Seite aus und schmiss eines seiner Messer nach dem Wolf. Einige Sprünge reichten aus, um der Klinge zu entkommen. Knurrend stürmte er wieder auf Artemis zu. Der Priester hatte sich schon bereit gemacht, das Biest abzufangen, als plötzlich dünne Fäden aus dem massigen Körper zu strömen schienen. Nach und nach löste sich der Wolf auf, schwarzer Rauch zog an Artemis vorbei. Auf der Rückseite des Geistlichen sammelte sich der Rauch, was Artemis allerdings rechtzeitig bemerkt hatte. Er wich einige Schritte zurück, wenig später stand ein Mann vor ihm. Ein Mann mit asiatischen Zügen. „Kiseragi…“, knurrte er voller Hass und zog ein weiteres Messer hervor. Der Angesprochene antwortete nicht. Stattdessen fing er an, seine Finger zu bewegen und einige Muster mit ihnen zu weben. Gerade, als Artemis zum Angriff übergehen wollte, löste sich der Körper des Dämons erneut auf. „Wo ist er hin?“, rief Lydia und schaute sich um. Auch McDouglas wirkte nervös. Er hielt sich den Arm, an dem Lydia vor wenigen Minuten die Wunde entdeckt hatte und trat neben den Priester und die Nonne. „Passen Sie auf. Dieser Dämon ist unberechenbar. Er ist ein…“ McDouglas verstummte, als er hinter sich das laute Atmen eines Tieres vernahm. Langsam wand er sich in die Richtung, aus welcher er das Geräusch vernommen hatte. Vor ihm stand ein riesiger weißer Löwe mit türkisenen Augen. Der Löwe brüllte, dann fuhr er seine Krallen aus und griff McDouglas an. Da er seine Flinte auf dem Rücken trug, konnte McDouglas keinen Gegenangriff starten. Er wich zur Seite aus und als der Löwe auf dem Boden aufkam, holte Lydia bereits mit ihren Degen aus. Sie traf das Tier an der Schulter, wodurch es laut zu knurren begann. Dann löste es sich erneut auf. McDouglas nutzte die kurze Pause und zog seine Flinte nach vorne. Sie war kunstvoll verziert, der Griff bestand aus Elfenbein. Der lange Lauf war am oberen Teil, der nicht mit der Hitze der Gewehrkugeln in Berührung kam, zur Hälfte mit Blattgold veredelt worden. Artemis stieß ein anerkennendes Pfeifen aus, als er die Waffe sah. „Sind Sie ein Sammler?“ „Du meine Güte“, stöhnte McDouglas. „Können wir uns nicht endlich um den Dämon kümmern? Danach beantworte ich gerne alle Ihre Fragen.“ „Immer mit der Ruhe. So stark scheint er ja nicht zu sein.“ Kaum hatte er diesen Satz ausgesprochen, erschien erneut eine Gestalt vor ihnen. Diesmal war Artemis sichtlich überrascht. Er wusste, dass es sich um den fremden Dämonen handelte, gegen den er gerade kämpfte, doch vor ihm stand Chino. Die Stelle, an der Lydia ihn getroffen hatte, blutete der Dämon. „Glaube ja nicht, dass mich das irgendwie davon abhält, dich zu töten“, rief Artemis den Dämon zu, der lediglich mit den Schultern zuckte. „Ist mir egal.“ Sogar seine Stimme wirkte wie die von Chino. Das einzige, das anders war, war der Ausdruck in seinem Gesicht und in seinen Augen. Während in Chinos Augen ein gewisses Feuer brannte, starrten die Augen des Dämons leidenschaftslos vor sich hin. Auch die Körperhaltung war eine andere. Der Dämon griff erneut an, diesmal hatte er erneut Artemis in sein Visier genommen. Ohne Probleme parierte der Priester die einzelnen Attacken, dann griff Lydia in den Kampf ein. Ihre Schnelligkeit und Präzision mit dem Degen waren beeindruckend. Dem ersten Schlag, den sie ausführte, konnte der Dämon nur mit Mühe entkommen. Nun hatte er Artemis zu seiner linken, Lydia zu seiner rechten Seite. „Friss das, elender Dämon!“ Fragend drehte der Dämon sich zu der dritten Person, welche er offenbar völlig vergessen hatte. Nur wenige Meter entfernt stand McDouglas, den Lauf seines Gewehres direkt auf ihn gerichtet. Der Priester drückte ab und ein ohrenbetäubender Knall ertönte. Einige Vögel schreckten auf und flatterten in den Himmel empor. Als er den Blick von dem Korn hob, war der Dämon jedoch verschwunden. Einige Minuten lang verharrten die Anwesenden in ihren wachsamen Positionen. Der erste, der sich wieder entspannte und seine Waffe wieder verstaute, war Artemis. „Ihr könnt euch beruhigen, er ist weg.“ „Woher wollen Sie das wissen?“ „Deshalb“, entgegnete Artemis grinsend und wand sich McDouglas zu, dabei zeigte er auf sein Auge. Genau wie er es vermutet hatte, sprang dieser auf und wich einige Schritte zurück. Seine dunklen braunen Augen weiteten sich vor Anspannung. Wieder hob der Geweihte seine Flinte empor und richtete sie auf Artemis. „Hey, ist ja schon gut.“ Lächelnd hob Artemis seine Hände zum Zeichen, dass er unbewaffnet war. „Ich werde Ihnen bestimmt nichts tun.“ Seelenruhig griff Artemis unter seine Jacke und förderte eine schwarze Augenklappe zutage. Er setzte sie sich auf und band sie zusammen, danach nahm er erneut die Hände über seinen Kopf, da McDouglas ihn nach wie vor im Visier behielt. „Wir sind gekommen, um Ihnen zu helfen“, mischte sich nun auch Lydia ein und kam näher. „Wir wurden vom Vatikan geschickt, um Sie mit nach Rom zu nehmen. Insofern Sie Archibald Roman McDouglas sind. Jemand muss uns angekündigt haben.“ Zunächst zögerte McDouglas, dann schulterte er seine Flinte und stieß erleichtert die Luft aus seiner Lunge heraus. „Ja, der bin ich. Und ja, Sie wurden mir angekündigt. Sind Sie Artemis und Lydia Dal Monte?“ „Das sind wir“, bestätigte Lydia mit einem heftigen Nicken. „Dann würde ich Sie bitten, mir zu folgen. Wir können uns in meinem Anwesen weiter unterhalten.“ „Ihre Angestellten sind tot. Sie liegen dort“, stellte Artemis die Situation emotionslos dar. Lydia schüttelte nur mit den Kopf. „Das weiß ich. Nicht nur meine Hausdiener, auch einige Angestellte meiner Plantage sind von dem Dämon, gegen den wir gerade gekämpft haben, getötet worden. Zum Glück war meine Notiz trotzdem nicht nutzlos, wie mir scheint.“ „Das würde das ganze Blut an den Blättern erklären.“ „Einerseits schon, aber der Dämon hat auch mich erwischen können“, sagte McDouglas und ging auf den nächsten Pfad zu. Lydia und Artemis folgten ihm. „Es ist nicht sonderlich schlimm, sobald ich die Wunde verarztet habe, sollte es in ein paar Tagen abgeheilt sein.“ „Was war das für ein Dämon? Hat er sich schon öfters hier blicken lassen?“, fragte Artemis, während er einige Blätter zur Seite schob, die bis auf den Weg reichten. „Ich habe ihn heute zum ersten Mal gesehen. In Form eines Wolfes ist er auf meine Plantage gekommen und hat meine Angestellten wie Schafe gerissen. Allerdings kann er seine Gestalt verändern, was Sie mit Sicherheit schon bemerkt haben dürften.“ Lydia konnte sich nicht helfen, sie fand den Mann einfach unsympathisch. Nicht nur, dass er in einem mehr oder weniger herablassenden Tonfall mit ihnen sprach, er redete auch, als habe er es mit Idioten zu tun. „Angestellte ist eine nette Umschreibung für Diener und Sklaven“, bemerkte Artemis und setzte sein altbekanntes Lächeln auf. „Wir sind hier in Indien. Es gab zwar schon erste Versuche, das Land unabhängig zu machen, aber es ist kein Verbrechen, sich Leute zu halten“, antwortete McDouglas mit einem Schulterzucken. „Außerdem habe ich mein Bestes getan, um sie vor dem Dämon zu beschützen. Leider ist es mir nicht gelungen.“ Am Ende des Satzes schien der Geweihte echtes Bedauern zu bezeugen. Es reichte jedoch noch nicht aus, um Lydias Bild von McDouglas zu bessern. Den Rest des Weges legten die drei schweigend zurück. Hin und wieder war einer der toten Angestellten zu sehen, von denen McDouglas gesprochen hatte. Bei jedem einzelnen hielt er inne und überprüfte noch einmal die Vitalfunktionen. Um die Beseitigung der Leichen würde er sich später kümmern, momentan konnte er eh nichts tun. Seinen Gästen diese Aufgabe zukommen zu lassen, wäre ihm niemals in den Sinn gekommen. Auch, wenn sie allem Anschein nach im gleichen Metier beschäftigt waren, wie er selbst. An dem Herrenhaus angekommen, zählte Lydia zehn Leichen. Plus die beiden in dem Haus machte zwölf Opfer, denen McDouglas jedoch keine große Bedeutung beizumessen schien. In aller Seelenruhe stieß er die Tür auf, trat hinein und bat Lydia und Artemis, ihm zu folgen. Das Wohnzimmer ignorierte der Geistliche und steuerte direkt auf die Küche zu. „Wie ich sehe, haben Sie sich bereits umgeschaut“, stellte McDouglas fest, als er das Chaos betrachtete, welches Artemis hinterlassen hatte. Überall lagen Küchenutensilien herum, Schränke waren geöffnet und Schubladen nahezu ausgeräumt worden. Einige Gläser waren auf dem Boden zerschlagen. „Immerhin haben wir Sie dadurch finden können.“ McDouglas war an eine der vielen Schubladen gegangen und suchte sich Verbandszeug heraus. Umständlich wickelte er dieses um seinen Arm, dann schnitt er es zurecht und befestigte alles mit einem Pflasterstreifen. Nebenbei lehnte er sich mit der Rückseite gegen eine der Ablagen. In der Mitte der Küche befand sich eine große Arbeitsfläche, auf welcher er den Verbandskasten ablegte. Dazu musste er erst einige Bestecke zur Seite räumen, die mit einem lauten Knall auf den Fliesen landeten. Kaum war er fertig, lehnte sich McDouglas nach vorne, so dass er sich an der Kante der Arbeitsfläche abstützen konnte. „Hätte ich etwas ausrichten können, hätte ich es getan.“ Besonders Lydia schien von dieser plötzlichen Beichte überrascht. „Verdammt, dieser Dämon ist einfach auf meinem Gelände erschienen und hat die Leute niedergemetzelt. Hätte ich mich zu der Zeit nicht im Haus befunden…“ „Wir sind nicht gekommen, um über Sie zu richten“, unterbrach Artemis den trauernden McDouglas. „Sie sind in großer Gefahr. Dieser Dämon war vermutlich nur der Anfang, es werden weitere folgen.“ „Was macht Sie da so sicher?“ „Es scheint, als haben es die Dämonen speziell auf die Geweihten abgesehen. Einige sind bereits tot. Alexandros Sokrates aus Athen, sowie Daniel Siemons aus London.“ „Wie war der letzte Name?“ McDouglas schien mit einem Mal wie aus seiner Trance erwacht. „Siemons? Uns wurde er unter dem Namen Simmons vorgestellt.“ „Daniel Simmons ist tot? Er war vor einigen Wochen bei mir.“ Artemis zog fragend eine Augenbraue nach oben. Lydia hingegen schluckte schwer, als sie dies hörte. „Was wollte er?“ „Ich weiß nicht, er wollte mich zu irgendetwas überreden. Er weiß, dass ich Probleme mit Schulden habe und wollte mir helfen. Als ich ihn fragte, woher er das wisse, meinte er nur, dass er einem Landsmann jederzeit helfen würde. Ich war davon ausgegangen, dass die Heilige Kirche irgendetwas hat durchsickern lassen. Da ich relativ schnell abgelehnt habe, war er auch schnell wieder ruhig und hat nichts weiter gesagt. Er blieb einige Tage, dabei kam es nie wieder zu einem Gespräch bezüglich der Schulden zwischen uns. Als er ging, sagte er, dass ich nur eine Münze vorzeigen müsse, wenn ich Hilfe benötigen würde.“ „Wie sah diese Münze aus?“ McDouglas kramte in seiner Hosentasche und zog die Münze heraus, dann hielt er sie Artemis entgegen. „Wir müssen Sie so schnell wie möglich von hier fort bringen.“ „Wie bitte?“, fragte McDouglas entsetzt, dazu packte er die Münze wieder weg. „Ich kann nicht einfach mein Anwesen hier zurücklassen und gehen. Alleine schon wegen der Leichen, die beseitigt werden müssen.“ „Keine Sorge, darum wird sich schon jemand kümmern. Als Geweihter kennen Sie die Vorzüge unserer Abteilung. Ich wiederhole mich nur ungerne, aber Sie sind in großer Gefahr. Wir haben ein Flugticket nach Rom für Sie, dort sind Sie sicher. Außerdem habe ich das hier dabei.“ Artemis nahm einen weißen Umschlag aus seiner Jacke und hielt ihn McDouglas entgegen. Zögernd nahm er den Umschlag entgegen, öffnete ihn und las das darin enthaltende Schreiben durch. Es handelte sich um einen Brief des Prälaten Nikolas, den dieser vorsorglich verfasst hatte, sollte sich einer der Geweihten sträuben, mit Artemis und Lydia zu kommen. „Dem Prälat werde ich mich kaum widersetzen können“, seufzte McDouglas und faltete den Brief wieder zusammen. „Wenn zudem schon zwei Geweihte tot aufgefunden wurden, habe ich wohl keine Wahl.“ „So sollten Sie es nicht sehen“, meldete sich Lydia zu Wort. Sie war es gewohnt, als Frau bei solchen Unterhaltungen ignoriert zu werden, weshalb sie sich so lange herausgehalten hatte. „Es ist wirklich nur zu Ihrem eigenen Besten. Auch wenn ich weiß, wie schwer es Ihnen fallen muss, Ihr Zuhause zurückzulassen.“ McDouglas richtete sich auf und musterte Lydia von oben bis unten. Sämtliches Wohlwollen, das Lydia vorher noch für den Priester empfunden hatte, wich mit einem Schlag aus ihr hinaus, als sie seinen arroganten Blick kreuzte. „Sie wissen gar nichts.“ Mit erhobenen Haupt wand dich McDouglas von Lydia ab und widmete sich wieder ihrem Kollegen. „Ich werde jetzt einige Sachen zusammen packen, dann werde ich Ihren Rat befolgen und nach Rom reisen. Werden Sie mich begleiten?“ „Nein, unser Ziel ist eine andere Stadt.“ Diese Antwort reichte McDouglas offensichtlich, denn er entfernte sich aus der Küche, um wie angekündigt seinen Koffer zu packen. „Ein schwieriger Zeitgenosse“, lachte Artemis und klopfte Lydia auf die Schulter. „Was du nicht sagst…“ „Wenigstens hat er dich nicht öffentlich beleidigt oder so.“ „Für mich ist das kein besonders guter Trost.“ „Das hätte ich auch niemals zugelassen.“ Lydia schaute Artemis fragend an. „Wenn dich jemals jemand beleidigen sollte, werde ich denjenigen erwürgen.“ Lächelnd wand sich Artemis von der Nonne ab, damit er nach draußen gehen konnte. Als er gerade an der Tür angekommen war, rief Lydia noch einmal seinen Namen. Daraufhin blieb der Priester stehen, drehte sich jedoch nicht um. „Du hast vorhin etwas zu dem Dämon gesagt, als ihr euch gegenüber standet.“ Lydia wartete einen Augenblick, doch als Artemis nichts sagte, fuhr sie fort. „Hast du ihn beim Namen genannt? Es hat sich so angehört, als wüsstest du, wie er heißt. Bist du ihm schon mal begegnet?“ „Warum interessiert dich das?“, wollte Artemis wissen, wand sich jedoch noch immer nicht seiner Gesprächspartnerin zu. „Es… interessiert mich einfach. Ich weiß nur sehr wenig über diese Mission, die du zusammen mit Ethos führst.“ „Es ist auch besser für dich, wenn das so bleibt.“ Obwohl ihre Frage damit noch lange nicht beantwortet war, ließ Lydia Artemis ziehen. Vermutlich würde sie während der Ausführung des Auftrages noch die eine oder andere Chance bekommen, den Priester noch einmal darauf anzusprechen. Bei einer Sache war sie sich allerdings ziemlich sicher. Artemis hatte etwas vor ihr zu verbergen. Zwar hatte er hauptsächlich mit Ausflüchten reagiert, doch gerade das war etwas, das bei Artemis unheimlich selten vorkam. Selbst wenn bei den Missionen strengste Geheimhaltung erforderlich war, wiegelte er sie niemals in solch einem Ton ab. Oder er hatte tatsächlich seine Gründe. Dass der Priester plötzlich erwachsen geworden war und sich endlich verantwortungsbewusst zu verhalten versuchte, bezweifelte Lydia trotzdem. Kapitel 22: Kapitel 22 ---------------------- Kapitel 22 Völlig in Gedanken versunken band Ethos seine Krawatte. Er hasste es, Schwarz zu tragen, wollte jedoch auch nicht pietätlos erscheinen. Generell hasste er es, diese Art von Kleidung zu tragen. Als er im Vatikan angekommen war, war ihm sofort die schreckliche Nachricht von Nikolas‘ Tod überbracht worden. Er hatte von der Explosion erfahren, die die Kutsche des Prälaten vollkommen zerstört hatte, so dass von dem Geistlichen nichts mehr übrig geblieben war. Ein grausamer Tod, doch insgeheim hegte Ethos die Vermutung, dass es so besser gewesen war. Der Krebs, den Nikolas mit sich herumgetragen hatte, hätte ihn unter wesentlich schmerzvolleren Umständen dahinsiechen lassen. Solch einen Abgang hätte er sich trotzdem nicht für den Prälaten gewünscht. Es gab halt den wesentlichen Unterschied zwischen dem, was neutral betrachtet gut war und dem, was das objektive Ich gleichzeitig als schlecht empfand, damit würde Ethos sich schlussendlich abfinden müssen. Nebenbei hatte er erfahren, dass sich Italien vermutlich bald aufrüsten würde. Doch dass Deutschland gerade Polen angegriffen hatte, gehörte eindeutig zu den weniger akuten Problemen des Priesters. Marylin hatte er inzwischen auch aus den Augen verloren. Seit dem Tag des Attentates war sie nicht mehr im Vatikan gesehen worden. Das wiederum hatte zu einigen Spekulationen geführt, an denen Ethos sich nicht hatte beteiligen wollen. Kaum hatte Ethos die schwarze Krawatte in die richtige Form gebracht, zog er die dunkle Jacke seines Anzuges über. Die Haare hatte er sich zusammengebunden, während er nach draußen ging, nahm er eine weiße Lilie und seinen Hut, den er sich aufsetzte. Als Ethos auf die Straßen des Vatikans trat, war bereits ein Ansturm an Priestern und Nonnen auf dem Weg zur Kapelle. Er ließ sich von der Masse mitreißen, ihm war ohnehin, als würden seine eigenen Füße ihn nicht tragen wollen. Seine Recherchen hatte er hintenanstellen müssen. Die Beerdigung von Nikolas hatte Vorrang. Zumindest konnte er sich inzwischen sicher sein, dass der Prälat nichts mit der Sache zu tun gehabt hatte. Natürlich blieb immer ein kleines Risiko bestehen, dass es sich hierbei um die Beseitigung von Beweisen handelte, aber davon ging Ethos eher weniger aus. Noch waren er, Artemis und Chino nicht tot, also war das Ziel noch längst nicht erreicht. Aufgrund einiger Äußerungen von McKenzey hatte Ethos allerdings den Verdacht, dass sich die Dämonengruppe, um die es sich hier handelte, innerlich zerstritten hatte. Inzwischen war Ethos vor der kleinen Kapelle angekommen. Die übrigen Priester und Nonnen hielten vor der ersten Treppenstufe an, wodurch sich Ethos seinen Weg durch die Masse hindurchbahnen musste, um die Kapelle betreten zu können. Die meisten hohen Geistlichen hegten den Wunsch, ohne viel Tamtam beerdigt zu werden. Wenn Ethos einmal sterben würde, würde er es genauso machen, nur dass er sich, im Unterschied zu Nikolas, anonym beerdigen lassen würde. Er hatte niemanden, der sich an ihn erinnern müsste oder der Wert darauf gelegt hätte, sein Grab zu besuchen. Artemis vielleicht, aber dafür musste er vor diesem sterben. Bevor er die Kapelle betrat, blickte Ethos noch einmal in den Himmel hinauf. Graue Wolken schoben sich über das Firmament und ein kühler Wind blies ihm ins Gesicht. Seufzend drückte der Priester die Klinke nach unten und trat durch die Tür. Innen nahm er seinen Hut ab und hängte ihn an die Graderobe direkt am Eingang. Schon beim Eintreten sah er den geschlossenen Sarg am hinteren Ende vor dem Altar stehen. Ethos stellte sich zwischen Steve und Marcus Dominic. Auch die Oberschwester Mathilde Franzoni war anwesend, sie stand etwas abseits neben Edoardo Albertus und Guiseppe Magnus. Allen Anwesenden stand die Trauer ins Gesicht geschrieben. Betreten schauten sie zu Boden, nur Leutnant Roth, welcher die Türen zum Friedhof hinaus bewachte, wirkte aufmerksam wie immer. „Wir sind dann vollzählig?“, fragte ein Priester, der bisher unbeteiligt hinter dem Altar verharrt hatte. „Seine Heiligkeit hat sich bereits von dem ehrenwerten Herrn Prälat verabschiedet.“ Unwillkürlich musste Ethos daran denken, dass der Sarg, welcher vor ihm stand, lediglich einige Steine enthielt, um den Eindruck zu erzeugen, jemand läge darin. Nicht einmal von den irdischen Überresten hätte er Abschied nehmen können, nicht einmal der Papst höchstpersönlich hätte dies bewerkstelligen können. An der unteren Seite des reich verzierten Sarges war ein großer Kranz niedergelegt worden. Langsam trat Ethos vor und legte seine weiße Lilie dazu. Die anderen folgten seinem Beispiel. Als alle ihre Blumen abgelegt hatten, begann der Priester mit der Trauerrede. Ethos beobachtete, wie der Oberschwester einige Tränen aus den Augen liefen und sie ihr Taschentuch anhob, um sich diese aus dem Gesicht zu wischen. Die Miene von Marcus Dominic hingegen war nur sehr schwer zu deuten. Vielleicht machte er sich, genau wie Ethos, gerade schwerwiegende Gedanken, es sah jedenfalls so aus, als dachte er angestrengt über etwas nach. Die beiden anderen Prälaten wirkten wie Geister, deren Präsenz kaum zu fassen war. Roth blickte weiterhin starr geradeaus. Als Ethos etwas zur Seite schaute, um Steve zu beobachten, fiel ihm auf, dass der Junge den Kopf unnatürlich stark gesenkt hielt. Auch wenn er trauern sollte, war er doch sehr darum bemüht, dass niemand sein Gesicht lesen konnte. So sehr sich Ethos auch darum bemühte, der Rede zu folgen, er schweifte in seinen Gedanken immer wieder ab. Er machte sich Gedanken um Chino, der sich, wie so häufig, dagegen gesträubt hatte, mit in den Vatikan zu kommen. Dies war nur verständlich, vermutlich hätte er sich auf heiligem Grund ohnehin nicht gut gefühlt. Zusammen mit dem Fehlschlag, Maria noch immer nicht ausfindig gemacht zu haben, wäre er vermutlich nur noch ein Häufchen Elend gewesen. Ethos konnte ihm immerhin genug vertrauen um zu wissen, dass er keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich ziehen würde. Noch immer wurde nach dem Spanier geahndet. Er würde da draußen schon zurechtkommen, allerdings würde es die Sache erschweren, sollte Ethos ihn in naher Zukunft aufsuchen müssen. Er fühlte sich schuldig. Nicht nur, weil er Chino gegenüber sein Versprechen nicht hatte halten können, auch aufgrund des frühzeitigen Ablebens des Prälaten. Hätte er eher etwas getan, wäre Nikolas möglicherweise noch am Leben. Sobald die Beerdigung vorbei sein würde, würde Ethos sich sofort daran machen, seine Theorie zu stützen. Ohne Hinweise stünden die Chancen allerdings ziemlich schlecht, seinen Verdacht vor den übrigen Prälaten zu äußern und auf Zustimmung zu stoßen. Der Priester hatte seine Rede beendet und nickte Roth zu. Dieser öffnete die Tür hinter sich, so dass einige Gardisten die Kapelle betreten konnten. Sie hoben den Sarg an und brachten diesen nach draußen, gefolgt von der Trauergemeinschaft. Der kleine Friedhof hinter der Kapelle war von hohen Mauern umgeben, an dessen Wänden sich wilder Efeu breitgemacht hatte. Auf einigen Gräbern waren Blumen zu sehen, die meisten wirkten allerdings eher anonym und waren voller Wildwuchs oder akkurat getrimmt. Nur einige wenige Grabstätten waren vorhanden, sie waren denjenigen vorbehalten, die etwas Besonderes geleistet hatten. Da es sich bei Nikolas um den jüngsten Geistlichen gehandelt hatte, der jemals als Oberhaupt der Geheimen Abteilung eingesetzt worden war und diese obendrein auch weiterentwickeln konnte, zählte er für den Vatikan offenbar zu diesem exklusiven Personenkreis. Nachdem der Sarg eingehangen und an seinen endgültigen Bestimmungsort gefahren war, trat Magnus nach vorne und nahm eine kleine Schaufel, die in einem kleinen Krug mit Erde steckte, in die Hand und schippte etwas von der Erde in das Grab. Dabei entstand der Eindruck, als würde ihm jeden Augenblick die Hand abbrechen, so sehr zitterte der Prälat. Die restlichen Anwesenden hatten sich in einer Reihe aufgestellt, nach Magnus kam Albertus, dann Steve, danach die Oberschwester und als letztes Marcus Dominic. Als Ethos sich an das Ende der Reihe eingliederte, war die Oberschwester gerade dabei, mit Marcus Dominic zu sprechen. „So sollte es nicht ausgehen“, schluchzte sie, ganz darauf bemüht, ihre Stimme so leise wie möglich zu halten. „Das habe ich nicht gewollt.“ „Es ging zu weit, aber…“, begann Dominic gerade einen Satz, brach diesen jedoch vorschnell ab, als er bemerkte, dass Ethos sich dazugesellte. Der Prälat verstummte und auch die Oberschwester wand sich ab, um nach der Schaufel zu greifen. Während sie die Erde hinunterfallen ließ, kamen ihr erneut einige Tränen. Schließlich standen Dominic und Ethos alleine vor Nikolas‘ Grab. Mit strenger Miene schaute Ethos den Prälat an. Dieser bemerkte zuerst gar nicht, dass er so intensiv beobachtet wurde und warf die Erde in das Grab. Als er seinen Kopf wieder hob, sah er in Ethos‘ blaue Augen. Ein leichter Schrecken schien ihm durch den Körper zu fahren. „Bitte, nach Ihnen“, sagte der Prälat, machte einen Schritt zurück und deutete auf die Schaufel. Ruhig hob Ethos diese an und nahm etwas dunkle Erde auf. „Was für eine Tragödie“, murmelte der Priester und tat seinen Teil dazu bei, den Sarg mit Erde zu bedecken. Danach drehte er sich um. „Ich gehe davon aus, dass Sie sich für das Nachfolgeramt bewerben werden.“ „So sehr ich Sie auch schätze, Pater Turino, das hier ist nicht der richtige Ort, um Konversation über Politik zu halten.“ Empört wand sich Dominic von Ethos ab und ging zurück in die Kapelle. Gerade noch rechtzeitig, denn die blau-grauen Wolken am Himmel rissen auf und dicke Regentropfen fielen auf die Erde nieder. Es schien, als würde selbst der Himmel Nikolas‘ Tod beweinen. Der Priester, der zuvor noch an dem Grab des Prälaten verharrt hatte, richtete seine Soutane und machte sich schnellstmöglich auf den Weg nach drinnen. Ethos war nun alleine auf dem Friedhof. Die Ruhe genießend und den Duft des kalten Regens einatmend, schritt er voran und begab sich zu einem anderen Grab. Es war nur wenige Schritte von dem des Prälaten entfernt. Bereits von einer ersten Woge aus Regen benetzt, kniete Ethos nieder. Ein kleines Kreuz aus Naturstein bezeugte, wer hier zur letzten Ruhe gebettet worden war. In halb abgeblätterten, von Moos überwucherten Lettern waren die Namen Eleonora & Raffaele Turino eingraviert worden. Unter den beiden Namen war der Satz Non mortem timemus, sed cogitationem mortis gerade eben noch zu lesen. Vorsichtig streckte Ethos die Hand aus und fuhr mit den Fingerspitzen über die Namen seiner Eltern. Es hatte lange gedauert, bis er herausgefunden hatte, wer seine leiblichen Eltern gewesen waren und aus welchen Gründen sie hatten sterben müssen. Wie Ethos hatten sie Dämonen gejagt und waren Geweihte gewesen. Erst nach der Geburt ihres einzigen Kindes hatten sie sich dazu entschlossen, der Kirche zu dienen, was letztendlich ihren Untergang bedeutet hatte. Doch Ethos verurteilte die Kirche nicht deshalb. Es war ein ehrenhafter Tod gewesen, den die beiden gestorben waren. Prälat Nikolas hatte sie gekannt und Ethos erzählt, dass sie vor allem deshalb gegen Dämonen hatten kämpfen wollen, um ihrem Sohn eine bessere Welt zu bieten. Zuvor waren die beiden eher mit sich selbst beschäftigt gewesen. Hier und da waren Drogen konsumiert worden, sein Vater hatte unter krankhaftem Alkoholismus gelitten. Einer der beiden hatte jene Fähigkeiten besessen, wie sie auch Ethos innewohnten. Umso überraschender, dass er jahrelang in einem von Nonnen geleiteten Waisenhaus gelebt hatte, ohne dass jemand auch nur geahnt hatte, was für ein Talent in ihm schlummerte. Die genauen Hintergründe, warum er nicht gleich vom Vatikan aufgenommen worden war, kannte Ethos nicht, sie interessierten ihn aber genauso wenig, wie die vollständige Geschichte seiner Eltern. Als Geweihte muss es etwas gegeben haben, das sie dazu prädestiniert hatte, von Dämonen angegriffen zu werden. Genau wie Ethos selbst. Er wollte das Bild, das er von seinen Eltern hatte, nicht zerstören. Sein Stiefvater hatte ihm gereicht. Als Ethos merkte, wie die Gedanken an seine Jugend hochgekrochen haben, ballte er die Hand zu einer Faust. Glücklicherweise wusste niemand außer Artemis und einige wenige, die Zugang zu den persönlichen Informationen von ihm hatten, etwas über den Mann. Die bloße Erwähnung seines Namens hatte das Potential, Ethos dazu zu bringen, völlig auszurasten. Noch immer regnete es in Strömen, weshalb Ethos bis auf die Knochen durchnässt war. Einzelne Tropfen liefen ihm über das Gesicht, tropften an seiner Nase und seinem Kinn herunter. Eine Haarsträhne klebte nass auf seiner Wange, weshalb Ethos die Hand hob und sie wegschob. Langsam erhob er sich und ging zurück zu dem Grab von Nikolas. Stumm formte er ein Kreuz auf seiner Brust, dann faltete er die Hände, um ein Gebet für den Prälaten zu flüstern. Nachdem dieses beendet war, ging auch Ethos zurück in die Kapelle. Er hatte seine Planung kurzfristig geändert. Erst würde er ein wenig meditieren gehen, damit er zur Ruhe kam. Danach war es an der Zeit, die Bibliothek aufzusuchen. Und einige Nachforschungen bezüglich der Oberschwester und Marcus Dominic anzustellen. Es hatte nicht lange gedauert, bis Marylin herausgefunden hatte, wo sich der Schlüssel zu Geminis Keller befand. Nicht umsonst hatte sie es geschafft, bei der Polizei angenommen zu werden, obwohl sie eine Frau war. Ihr war immer bewusst gewesen, dass sie dafür doppelt so viel leisten und draufhaben musste, als ihre männlichen Kollegen. Was sie sich nun umso besser zunutze machen konnte. Vor wenigen Minuten hatte sie sich von der Zigeunerin verabschiedet. Sie wollte noch das eine oder andere einkaufen gehen. Marylin hatte sich darüber geäußert, dass es ihr noch immer nicht so gut ging und sie lieber in der Wohnung bleiben wollte. Gemini hatte hierfür Verständnis gezeigt und gesagt, sie würde nicht lange weg bleiben. Somit blieb Marylin ungefähr eine Stunde, um ihre Neugierde zu befriedigen. Vorsichtig stieg sie die alte hölzerne Treppe hinunter, als könne sie jemand dabei ertappen, wie sie sich nach unten begab. Der Gang war eng, sie musste ihre Arme an den Körper drücken, damit sie sich fortbewegen konnte. Der Geruch nach Staub hang in der Luft. Bei jedem Schritt quietschte die Treppe, als würde sie jeden Augenblick unter Marylin nachgeben. Mit einer kleinen Taschenlampe in der Hand nestelte sie den Schlüssel hervor und öffnete die Tür. Als diese zur Seite Schwang, kam ein Gewölbe zum Vorschein, das so niedrig gebaut worden war, dass Marylin gerade eben aufrecht stehen konnte. Es war stockfinster und nirgendwo ein Lichtschalter zu finden. Der Boden bestand aus grauen Fliesen und als Marylin ihre Taschenlampe hob, sah sie mehrere Gänge, die durch aneinander stehende Metallregale gebildet wurden. An der Stirnseite der Regale waren vereinzelt Zettel angebracht, die Hinweise darauf lieferten, was sich in ihnen befand. Soweit Marylin es erkennen konnte, waren die doppelseitigen Regale ausschließlich mit Büchern gefüllt. Sie drohten schon fast aus allen Nähten zu platzen. Einige lagen kreuz und quer verstreut, andere so wild angeordnet, dass es an ein Wunder grenzte, dass sie nicht heraus fielen. Wieder andere waren so hingestellt worden, dass jeder Zentimeter perfekt ausgenutzt werden konnte. Marylin ließ die Tür offen stehen, für den Fall, dass Gemini früher zurückkommen und sie überraschen würde. Wie in Zeitlupe schritt sie voran, fasziniert davon, wie viel Literatur hier unten zusammen kam und wie weit die Gänge waren, durch die sie sich hindurch bewegte. Vereinzelt rieselte etwas Putz von oben herab, als sie die Hand hob und die Decke berührte. Fast hätte sie niesen müssen, als sie etwas davon in die Nase bekam, konnte sich jedoch im letzten Moment beherrschen. Marylin bestrahlte einige der Buchrücken. Scheinbar handelten alle davon von der Katholischen Kirche, jedenfalls ließen dies die Titel vermuten. Etwas weiter entfernt standen Bücher über den Vatikan. Als Marylin am Ende des Ganges angekommen war, warf sie einen Blick auf den Zettel. Praktisch daran war, dass diese in mehreren Sprachen verfasst worden waren, unter anderem auch in Englisch. Kirche, allgemein Vatikan Priester, allgemein Rom Die schwarzen Buchstaben waren schon etwas eingestaubt, anscheinend hatte hier schon länger keiner mehr sauber gemacht. Marylin ging einen Gang weiter. Hier standen die wenigsten Bücher, soweit sie das beurteilen konnte. Geweihte Fänger Priester, Fähigkeiten Die junge Polizistin wollte sich erst einmal einen Überblick verschaffen, weshalb sie diesmal weiterging, anstatt den Gang zu inspizieren. Das darauf folgende Regal war wieder deutlich stärker befüllt. Es schien, als würde es geradezu überquellen. Nur noch ein einziges Buch und es würde vermutlich bersten, dachte sich Marylin und leuchtete in den Gang. Dämonen, allgemein Dämonen, Fähigkeiten Dämonen, Arten Dämonische Symbole Sie kam bei den letzten Regalen an, hier hielt sich der Bestand die Waage. Menschen, allgemein Menschen, Schwächen Menschen, Zauber und Magie Mit einer hochgezogenen Augenbraue betrat Marylin den Gang und zog wahllos eines der Bücher heraus, damit sie es aufschlagen konnte. Ihre Taschenlampe legte sie auf das Regal hinter sich. Ungläubig blätterte sie die Seiten hin und her, als würde die Bewegung bewirken, den Inhalt des Buches besser zu verstehen. In der Mitte befand sich eine Zeichnung. Auf dieser waren ein menschlicher Körper und seine Organe zu sehen. Mittels akkurat gezogener Striche wurden sie markiert, benannt und beschrieben. Auf der gegenüberliegenden Seite war eine Tabelle aufgeführt, an dessen oberen Enden lateinische Worte geschrieben standen. Darunter waren weitere Beschreibungen zu finden. Doch Marylin verstand kein Latein, weshalb sie die Worte nicht deuten konnte. Sie blätterte einige Seiten weiter. Das gesamte Buch war in Latein verfasst worden, weshalb sie es wieder wegstellte. Verzweifelt suchte sie nach einem Einband, der darauf hindeutete, dass der Inhalt auf Englisch verfasst sein könnte. Sie fand nahezu alle Sprachen, Spanisch, Französisch und Deutsch, allen voran Italienisch und Latein, aber nach Englischer Literatur suchte sie vergebens. Es kam ihr merkwürdig vor, dass die Zettel mitunter in Englisch verfasst worden waren, sich aber augenscheinlich kein einziges englisches Buch hier unten befand. Enttäuscht seufzte die Blondine und nahm ihre Taschenlampe wieder auf. Sie erinnerte sich daran, dass Lydia, die Nonne aus dem Vatikan, ihr etwas von einem Fänger erzählt hatte. Also ging sie zurück zu dem entsprechenden Regal. Plötzlich vernahm sie ein Geräusch hinter sich. Erschrocken drehte Marylin sich um, dabei ließ sie die Taschenlampe fallen, welche lautstark auf dem Boden aufkam und daraufhin erlosch. Eine Maus kroch auf Augenhöhe an ihr vorbei. Hinter der Maus befand sich ein länglich angelegtes Fenster, das gegenwärtig geschlossen war. Spinnenweben hingen davor und fingen jedes Insekt auf, das sich hier runter verirrte. Erleichtert bückte Marylin sich, um die Taschenlampe wieder aufzuheben. Mit klopfenden Herzen begab sie sich zurück zum Ausgang, schloss die Tür hinter sich und schloss diese ab. Den Schlüssel brachte sie wieder zu der Stelle, an der sie ihn gefunden hatte. Die kaputte Taschenlampe verstaute sie zwischen ihren eigenen Sachen. Gerade noch rechtzeitig, denn wenige Minuten, nachdem Marylin sich an den Küchentisch gesetzt hatte, schwang die Haustür auf und Gemini kam herein. In ihren Händen hielt sie eine braune Papiertüte, aus dessen Ende einige grüne Zweige herausschauten. Als sie Marylin sah, hielt sie kurz inne und musterte sie erschrocken. „Du schaust ja aus, als hättest du einen Geist gesehen“, stellte sie fest und stellte die Tüte auf dem Tisch ab. „Nein. Ich habe mich vorhin etwas schlafen gelegt. Und ich musste schon wieder von der Explosion träumen. Da bin ich aufgewacht, habe mich angezogen und hierhin gesetzt.“ „Und seitdem starrst du Luftlöcher? Du Arme.“ Gemini kam auf Marylin zu und umarmte sie, wiegte sie kurz in ihren Armen und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Einige Zeit verharrte sie in dieser Position, dann rümpfte sie die Nase. „Ach du meine Güte, hier riecht es aber muffig.“ Marylin stellten sich die Nackenhaare auf. „Aber das kann schon mal passieren, wenn nicht gelüftet wird, diese Wohnung hier ist auch nicht gerade das Beste, was Rom zu bieten hat“, flötete die Südländerin und erhob sich, damit sie das Fenster öffnen konnte. Ein kühler Wind wehte und trug etwas von dem Regen, der gerade eingesetzt hatte, hinein. Der Duft von nassen Steinen strömte hinein und vertrieb den muffigen Geruch aus dem Keller schnell, was Marylin unheimlich beruhigte. Erleichtert sank sie in sich zusammen. Zum Glück hatte Gemini nicht ihren starken Herzschlag gespürt, als diese sie umarmt hatte. Es war nun schon zwei ganze Tage her, dass sich Chino wieder in Rom befand. Ungeachtet der ausgeschriebenen Fahndung nach ihm, hatte er sich bisher bedeckt halten und trotzdem frei bewegen können. Ethos und Roth in den Vatikan zu begleiten, war keine Option für ihn gewesen. Er mochte es dort nicht, zumal der geweihte Boden dauerhaft an seinen Kräften zerrte. Wobei es schon ein Privileg war, dass er das Gelände überhaupt betreten konnte. Immer, wenn er zu Besuch war, musste der Heilige Schutzwall ausgesetzt werden, was die Bewohner mehr als angreifbar machte. Umso größer war seine Verwunderung gewesen, als Ethos ihm angeboten hatte, mit ihm zu kommen. Trotzdem hatte er abgelehnt. Er wollte jetzt mit seinen Gedanken alleine sein. Innerlich war er hin und her gerissen. Einerseits verstand er Ethos und seine Beweggründe, andererseits fühlte er sich auch ein wenig von dem Priester enttäuscht. Allerdings konnte Chino auch nachvollziehen, dass er Artemis‘ Wohl dem von ihm vorzog. Möglicherweise war es aber auch alles ganz anders, Chino hatte es schon seit geraumer Zeit aufgegeben, Ethos‘ Gefühle verstehen oder gar deuten zu wollen. Seitdem er nicht mehr mit Maria zusammen war, litt vielleicht auch einfach sein Urteilsvermögen. An dieser Stelle kam das Wesen der Dunkelheit in ihm heraus und warf alles von der Selbstbeherrschung über Bord, die er sich all die Jahre über mühsam antrainiert hatte. Um nicht allzu stark aufzufallen, hielt Chino sich am Hafen auf, der einige Kilometer außerhalb lag. Ostia gehörte zwar noch zu der Stadt, war aber weit genug entfernt, um den Carabinieri aus dem Weg zu gehen. Glücklicherweise blieben zu dieser Jahreszeit die Badegäste des nahegelegenen Strandes weitestgehend aus. Manchmal hatte er Vergnügen daran gefunden, einige Wasserflugzeuge dabei zu beobachten, wie diese Anflug und Abflug geübt hatten. Leider kehrten seine Gedanken nur allzu bald zu Maria zurück. Da er inzwischen ein wenig wie ein Obdachloser zu leben schien, war Chino dem starken Regen am Nachmittag schutzlos ausgeliefert gewesen. Jetzt, wo bereits die ersten dunklen Wolken aufgezogen waren und die Nacht ankündigten, begann er zu frieren. Im Schatten einiger Lagerhäuser bewegte er sich fort, auf der Suche nach einem geeigneten Platz, an dem er sich ein kleines Feuer machen könnte. Inzwischen musste er völlig verwahrlost aussehen. Auch seine Kleidung hatte leicht angefangen zu riechen, der einstmals weiße Kittel war inzwischen zu einem Kaleidoskop aus grau, braun und schwarz geworden. Als Chino das Ende des befestigten Hafengeländes erreicht hatte, befand er sich auf wildem Gelände. Die Küste wurde hier etwas steiler und hin und wieder von einigen kleinen Buchten unterbrochen. Das Meer peitschte wütend gegen die Felsen und erzeugte ein lautes Rauschen. An einigen tiefer gelegenen Stellen trat es ab und an leicht über die Ufer. Nun war es so dunkel, dass ein Mensch die Hand vor Augen nicht mehr hätte sehen können. Für Chino war das allerdings kein Problem, aufgrund seiner guten Augen fand er ohne Probleme durch das Gewirr von Gestrüpp, kleinen Steinen und verfaulten Ästen. Nachdem Chino eine Düne ausfindig gemacht hatte, die genügend Sichtschutz zur Stadt hin und Deckung vor dem aufkommenden Wind bot, sammelte er etwas von dem angespülten, aber inzwischen getrockneten Gehölz zusammen und nutzte ein Streichholz, um dieses anzuzünden. Kaum brannte das Feuer, schreckte er zurück und fletschte die Zähne. Seine Augen nahmen sofort ihre rötliche Färbung an und jeder Muskel in seinem Körper spannte sich an wie die Sehne eines Bogens. „Komm‘ raus! Wer auch immer du bist!“, rief er in die Dunkelheit hinaus und fixierte einen Punkt im schwarzen Nichts. Zunächst blieb es ruhig, nur das Rauschen des Meeres war zu hören. Dann, ganz langsam, näherte sich eine Person. Sie schien nur mühsam voran zu kommen, denn die Schritte wirkten schwer und unregelmäßig. Begleitet von einem leisen Knurren schälte sich die Silhouette von Hildegard Krüger aus der Nacht heraus, gefolgt von dem weißen Löwen. Sofort richtete Chino seine Aufmerksamkeit auf das prachtvolle Tier. Er konnte sehen, dass sich um die Augen herum Schorf gebildet hatte und dass der Löwe seine Augen offenbar nicht mehr öffnen konnte. „Er ist blind“, kommentierte Hildegard, die Chinos Blick gefolgt war. Angewidert schüttelte sie erst den linken, dann den rechten Fuß, doch sobald sie wieder Bodenkontakt fand, legte sich erneut Matsch um den Absatz ihrer hohen Schuhe. Mit beiden Händen hielt sie den Saum ihres Kleides nach oben, damit dieser nicht ebenfalls vom Schmutz befallen wurde. Diesmal handelte es sich um ein einfaches schwarzes Kleid mit dünnen Trägern, der Überrock war jedoch mit einem aus Spitze bestehenden Stoff gearbeitet, mit einem Motiv aus Blumen bestickt. Ihre Haare hatte sie zurückgebunden und toupiert, den Mund blutrot geschminkt. „Was willst du von mir?“, knurrte Chino verärgert. „Um ehrlich zu sein, würde ich mich am liebsten für den Tod an meinem Mann rächen“, gestand die Dämonin ohne Umschweife. „Aber ich habe ein Anliegen, das mir im Moment wichtiger erscheint.“ Inzwischen hatte sie es aufgegeben, ihre Kleidungsstücke vor dem aufgeweichten Boden schützen zu wollen. Stattdessen stand Hildegard einfach nur da und schaute Chino in die Augen. „Ich will nicht kämpfen.“ Chino brauchte einen Moment, um sich wieder zu fassen. Er hatte sich so sehr auf einen Kampf vorbereitet, dass es ihm schwerfiel, seine Instinkte niederzukämpfen. „Was willst du dann?“ „Es geht um Maria.“ „Geht es ihr gut? Wo ist sie?“, sprudelte es aus Chino heraus, als habe er vergessen, dass er zwei seiner Feinde vor sich stehen hatte. „Lebt sie noch?“ „Keine Sorge, sie ist am Leben“, beschwichtigte Hildegard den aufgeregten Dämon und kraulte Leo am Kopf, woraufhin der Löwe seinen Kopf gegen ihre Hüfte lehnte. „Ich befürchte jedoch, dass es ihr nicht besonders gut geht.“ „Was habt ihr ihr angetan?!“ Sofort kehrte das rote Leuchten in Chinos Augen zurück. „Wir haben ihr gar nichts angetan. Doch Nathan Blackcage hat von Esrada die Erlaubnis bekommen, mit ihr zu verfahren, wie es ihm beliebt. Und das wiederum gefällt mir überhaupt nicht.“ Von den ehrlichen Worten der Dämonin überrascht, beruhigte Chino sich nun endgültig. Er fühlte, wie eine altbekannte Traurigkeit in ihm hervorkroch und nach und nach seinen Körper lähmte. „Schön, wie ich sehe, hörst du mir jetzt endlich zu. Ich muss dich um etwas bitten, Chino. Bitte, ich möchte, dass du dich wieder um Maria kümmerst.“ „Das hörte sich letztens noch anders an“, sagte Chino skeptisch und verschränkte die Arme vor der Brust. „Wieso sollte ich dir trauen?“ „Es wird für mich keine Möglichkeit geben, dir meine Loyalität zu beweisen. Das ist aber auch nicht nötig. Ich will, dass es meiner Schwester besser geht. Leider musste ich einsehen, dass ich einen riesigen Fehler begangen habe, als ich sie in meine Obhut habe zurückholen lassen. Damals wusste ich noch nicht, was Blackcage genau von Maria wollte. Esrada hat sie als Druckmittel benutzt, um Brooklyn und mich für sich arbeiten zu lassen und keinen Aufstand gegen ihn in die Wege zu leiten. Das ist die Kurzfassung, ich habe nicht viel Zeit. Jede Minute, die Maria mit diesem Monster verbringt, ist zu viel vergeudete Zeit. Ich frage dich, Chino. Würdest du Maria wieder in deine Obhut nehmen und sie beschützen?“ Noch immer traute Chino der Dämonin nicht. Er hatte nicht einen einzigen Grund dafür, ihr blind zu vertrauen, schon gar nicht jetzt, nachdem er daran beteiligt gewesen war, ihren Mann zu töten. Zögernd trat Chino einen Schritt vor. „Und wie hast du dir das vorgestellt?“ „Wir treffen uns an einem neutralen Ort. Dort werde ich dir Maria übergeben und danach verschwinden. Esrada wird mich nicht so einfach gehen lassen, ich werde ihn von euch weg locken. In dieser Zeit kannst du sie in Sicherheit bringen.“ „Vielleicht wirst du deine Schwester dann niemals wiedersehen. Ich werde mit ihr untertauchen müssen.“ „Das ist mir egal. Lieber weiß ich, dass sie in guten Händen ist, als dass ich es riskieren würde, ihr gesamtes Leben mit diesem Monster alleine verbringen zu lassen. Was ich denke oder fühle spielt hier keine Rolle. Also, hilfst du Maria und mir?“ Chino spürte, wie ihm flau im Magen wurde. Natürlich wollte er sofort alles tun, um Maria zu helfen, aber wie konnte er sichergehen, dass es sich hierbei nicht um eine Falle handelte. Da die anfängliche Hitze verflogen war, spürte Chino, wie die Kälte zurückkam. „Wann soll das Treffen stattfinden?“ „Am besten morgen oder übermorgen.“ Ein letztes Mal wiegte Chino seine Gedanken hin und her. Letztendlich würde er zustimmen, egal, wie irrational die Vorstellung war, dass die Dämonin ihm aus reiner Nächstenliebe helfen würde. In ihren Augen meinte Chino allerdings Verzweiflung lesen zu können. Auch ihre Haltung wirkte angespannter als bei ihrem letzten Aufeinandertreffen. „Übermorgen am Hafen. Sobald die Dunkelheit angebrochen ist, werde ich dort sein.“ Erleichtert ließ Hildegard die Schultern nach unten sinken. Auf ihrem Mund machte sich ein freundliches Lächeln bemerkbar. „Danke, Chino. Ich stehe tief in deiner Schuld.“ Hildegard deutete eine Verbeugung an. „Wenn das so ist, dann kannst du mir sicherlich etwas über Esrada erzählen.“ Sofort wich das Lächeln der Dämonin einer steinernen Maske. „Erst erfüllst du deinen Teil der Abmachung und dann können wir eventuell darüber sprechen, ob ich nicht noch das eine oder andere für euch tun kann. Solange ich nicht weiß, ob ich dir trauen kann, werde ich dir keine Informationen über irgendwen geben. Du sollst aber wissen, dass ich meine Schulden immer begleiche.“ „Dann sehen wir das beide im gleichen Licht“, murmelte Chino und kam noch ein wenig näher an Hildegard heran. Nun trennte ihn nur noch ein Meter von ihr. „Ich muss nun gehen und alles vorbereiten, damit ich Maria helfen kann. Ich weiß, dass dieser Pakt auf wackeligen Füßen steht und du nicht einen einzigen Grund hast davon auszugehen, dass ich die Wahrheit sage. Ich bitte dich nur darum, es zu tun, weil es hierbei um das Wohlergehen meiner Schwester geht. Ich weiß inzwischen, dass du sie besser behandelt hast als jeder andere.“ Ein schwerer Seufzer unterbrach Hildegards Erzählung. „Mich eingeschlossen. Ich verlasse mich auf dich.“ Mit diesen Worten machte die Dämonin auf dem Absatz kehrt und verschwand, zusammen mit Leo, wieder in den Schatten, aus denen sie gekommen waren. Von neuem Lebensmut erfüllt, blieb Chino noch einmal stehen und sammelte sich etwas um zu überlegen, wie das weitere Vorgehen aussehen sollte. Er musste unbedingt los und Ethos aufsuchen. Kapitel 23: Kapitel 23 ---------------------- Kapitel 23 Der Newski-Prospekt, welcher hinter Artemis und Lydia lag, war wie leergefegt. Eine seltsame Atmosphäre lag in der Luft. In dunkle Mäntel gehüllt, standen die beiden vor der Katharinenkirche. Die helle Fassade machte einen überaus freundlichen Eindruck, die barocke Architektur wirkte leicht verspielt. Es war, als bildete sie den vollkommenen Kontrast zu der tristen Stimmung, die vor Ort herrschte. Zögernd hob Artemis die Hand und klopfte gegen die mit Ornamenten bestückte Holztür. Hoffentlich würde überhaupt jemand anzutreffen sein, diese Kirche war seit fast einem Jahr gesperrt. Die kommunistischen Behörden duldeten keine Katholiken, was es schwer machte, eine entsprechende Gemeinde aufrecht zu erhalten. Von drinnen ertönten Schritte. Es dauerte einen Moment, dann öffnete sich die Tür ganz langsam und ein dünner, schon fast untersetzt wirkender Mann streckte seinen Kopf hinaus. Er musterte die beiden Fremden kurz, dann blickte er sie fragend an. „Kann ich Ihnen helfen?“ „Mein Name ist Pater Artemis Dal Monte, meine reizende Begleitung ist Schwester Lydia Dal Monte. Wir sind hier, weil wir mit Pater Dimitrij Ivanowitsch Ponomarjow reden müssen.“ Der Mann dachte nach. Dann schloss er die Tür und es war zu hören, wie ein Schloss umgedreht wurde. Kurz darauf öffnete er die Tür ganz, so dass Lydia und Artemis eintreten konnten. Als sich die beiden im Inneren der Kirche befanden, stieß er das schwere Holz sofort wieder zu und verriegelte es. Danach drehte er sich um und legte ein mildes Lächeln auf. „Bitte, folge Sie mir doch.“ Das braune Gewand, das der Mann trug, wippte durch seine Bewegungen leicht nach oben, bedeckte jedoch weiterhin seine Knöchel. Die Sandalen, die seine Füße umschlossen, knirschten leise. „Pater Ponomarjow erwartet Sie bereits.“ Schnellen Schrittes eilte der Mann voran, führte Lydia und Artemis durch mehrere Räume. Schlussendlich geleitete er sie in den riesigen Mittelteil der Kirche, welcher sich direkt unter der Kuppel befand. Der Boden war aus grauem Marmor gefertigt worden, ein farblich abweichender Teil führte die Drei direkt auf einen großen Altar zu, über dem ein monumentales Holzkreuz hing. Ungefähr auf der Hälfte des Weges zum Altar hielt der Mann plötzlich inne. Er machte ein Zeichen, dass seine Gäste hier warten sollten. Den Rest der kleinen Wanderung legte er alleine zurück. Schulterzuckend setzte Artemis sich auf einen der Stühle, die rechts und links neben dem Gang akkurat aufgereiht worden waren. Lydia sagte nichts dazu, obwohl sie diese Geste mehr als unhöflich von Artemis fand. Wenig später kehrte der Mann zurück, neben ihm war Pater Ponomarjow zu sehen. Sein faltiges Gesicht strahlte nahezu, als seine hellen Augen auf Lydia fielen. Peinlich berührt, schüttelte diese ihm die Hand, auch Artemis erhob sich wieder, um den Priester zu begrüßen. „Ich danke Ihnen, dass Sie unsere Gäste hierher begleitet haben, Florin. Ab jetzt übernehme ich.“ Der Angesprochene nickte kurz, dann machte er sich leise davon. Ponomarjow war sein Alter deutlich anzusehen. Unter seinem Talar war ein kleiner Bauchansatz zu sehen, zudem besaß seine wettergegerbte Haut eine gewisse Rauheit. Die blaugrauen Augen vermittelten den Eindruck, als hätten sie schon einiges gesehen. Vereinzelt waren ihm bereits einige Partien seiner Haarpracht ausgefallen, welche sich langsam grau zu färben schien und das volle schwarze Haar zu verdrängen drohte. „Bitte, setzen Sie sich doch“, sagte Ponomarjow und deutete auf die erste Reihe von Stühlen. Zusammen nahmen die drei Priester ihre Plätze ein. Artemis stellte seinen Stuhl so hin, dass er Ponomarjow gegenüber sitzen konnte. „Ich weiß, warum Sie hier sind“, begann der Priester unvermittelt. „Und ja, ich werde Ihre Unterstützung annehmen und nach Rom reisen.“ „Das war einfach“, kommentierte Artemis die Situation mit einem Grinsen. „Was habe ich denn für eine Wahl? Diese Kirche hier wird von gerade einmal einer Handvoll Mitgliedern frequentiert.“ „Ich habe gehört, dass diese Kirche hier letztes Jahr geschlossen wurde“, sagte Lydia. „Das stimmt. Die kommunistischen Schweinehunde… Verzeih mir, oh Herr.“ Während er seinen letzten Satz sprach, schaute Ponomarjow nach oben und formte ein Kreuz auf seiner Brust. „Sie haben unsere Kirche schließen lassen. Seitdem müssen wir jeden Tag darum fürchten, dass wir aufgesucht und hier rausgeschmissen werden. Notfalls auch mit Gewalt. Hier gibt es demnach nicht mehr viel, wegen dem es sich zu bleiben lohnt. Bei Florin könnte ich mir vorstellen, dass er sich trotzdem nicht verjagen lassen wird. Er ist und bleibt ein Dickkopf.“ Lachend schaute der Priester erst Artemis, dann Lydia an. „Ich weiß, nicht gerade besonders pflichtbewusst. Aber um ehrlich zu sein, hatte ich auf eine baldige Versetzung gehofft. Hier ist nicht wirklich etwas los und da ich nicht einmal die alltäglichen Kirchenarbeiten verrichten kann, ist es ziemlich langweilig. Ich habe im Krieg gedient, müssen Sie wissen.“ Bei dem letzten Satz schaute der Priester zu Lydia hinüber. „Das wissen wir“, sagte Artemis mit einem Lächeln, das inzwischen wesentlich verhaltener schien. „Wir haben Ihre Akte studiert, bevor wir angereist sind.“ „Prima, dann muss ich ja nicht mehr viel von mir erzählen. Außer vielleicht, dass es hier sterbenslangweilig ist.“ „Das haben Sie bereits erwähnt.“ „Jungchen“, sagte Ponomarjow an Artemis gewandt, was diesem sichtlich missfiel. „Man sollte jemanden, der älter ist, nicht einfach unterbrechen.“ Artemis schwieg daraufhin und beobachtete, dass sich sein Gegenüber bald wieder daran machte, seine Lebensgeschichte auszubreiten. Das tat er vor allem für Lydia, wie es den Anschein hatte. Die Nonne fühlte sich unwohl dabei, wollte Ponomarjow gegenüber aber auch nicht als unhöflich erscheinen. Hilflos schaute sie einige Male zu Artemis hinüber. Der Priester wirkte, als wäre er in eine Art Schlaf mit offenen Augen gefallen, worum er von Lydia beneidet wurde. So wie es aussah, würden sie noch etwas länger in der Kirche bleiben müssen, als geplant. Skeptisch musterte Ethos das Bücherregal, das sich vor ihm erstreckte. Auf den ersten Blick sah es vollständig aus. Keine freie Lücke, keine auffällig gefärbten Buchrücken. Die Bibliothek des Vatikans war ein wahrer Schatz, hier waren so viele Bücher archiviert worden, dass mehrere Räume dafür eingeplant worden waren. Um Platz zu sparen, waren die Regale meterhoch angelegt worden, mit der Hilfe einer Leiter konnten auch die Etagen weiter oben erreicht werden. Die Bücher, die Ethos‘ Interesse auf sich gezogen hatten, mussten sich jedoch weiter unten befinden. Als der Priester eines der Bücher aus dem Regal zog, schwang ihm sofort der typische Geruch nach alten Büchern entgegen. Ethos warf einen kurzen Blick auf den Titel. Wie bereits vermutet, passte das Buch vom Typus her nicht zu den übrigen dort gelagerten Exemplaren. Er behielt es in der Hand und zog eine Augenbraue nach oben, als er sah, dass, wenige Zentimeter entfernt, wieder ein artfremdes Buch zu entdecken war. Auch dieses zog er heraus. Diese Prozedur wiederholte er, als er in dem Regal darüber noch solch ein verirrtes Buch entdeckte. Nachdem er fertig war, machte Ethos einen Schritt nach hinten und betrachtete, was er da arrangiert hatte. Dort, wo sich die Bücher vorher befanden hatten, klafften auffällig große Löcher. Hätte er nicht vermutet, dass jemand die Bücher entwendet hätte, wäre wahrscheinlich niemals jemand auf die Idee gekommen, dass an dieser Stelle die Exemplare ausgetauscht worden waren. Es handelte sich um eine Auflistung von Dämonen, deren Namen mit den Buchstaben A – E anfingen, eine Abhandlung über Große Dämonen und eine Strategiesammlung, wie gegen Große Dämonen vorgegangen werden sollte. Die genauen Titel waren Ethos allerdings nicht bekannt, er kannte den Bestand nicht auswendig. Mit Ausnahme des Buches, welches Dämonen von A – E führte, musste er sich vorrangig an den Beschilderungen orientieren, um zu vermuten, was da ausgetauscht worden sein könnte. Aber die Themenfelder, aus denen Bücher entwendet worden waren, hatte er überprüfen wollen und wieder einmal hatte sein Instinkt bewiesen, dass er sich auf diesen verlassen konnte. Statt der ursprünglichen Bücher waren irgendwelche wild durcheinander geworfene Titel dort gelagert worden. Ethos musste bei Gelegenheit ein ernstes Wort mit dem Bibliothekar reden. Vielleicht steckte auch dieser in der ganzen Sache mit drin, inzwischen wollte er für niemanden mehr die Hand ins Feuer legen. Die herausgepickten Bücher legte Ethos auf einen der kleinen Lesetische in der Nähe, dann kehrte er vor das riesige Regal zurück. Während er überlegte, näherte sich ein weiterer Priester. Zunächst schaute er sich um, als würde er etwas suchen, dann, als er Ethos erkannte, kam er direkt auf diesen zu. „Pater Turino?“ Doch Ethos war so in Gedanken vertieft, dass er nicht reagierte. „Pater Turino?“, flüsterte der Priester noch einmal, diesmal etwas lauter und ungeduldiger. Langsam drehte Ethos seinen Kopf. „Ich wurde geschickt, um Ihnen das Ergebnis der Vorwahl mitzuteilen.“ Da Nikolas das zeitliche gesegnet hatte, musste ein Nachfolger für die Geheime Abteilung gefunden werden. Theoretisch kam dafür jeder Prälat in Frage, der sich im Vatikan aufhielt. Bei einer ersten Vorwahl wurden zwei Kandidaten gewählt, die in einer alles entscheidenden Hauptwahl gegeneinander antreten würden. Während beim ersten Wahlgang nur die Prälaten unter sich wählen durften, waren bei der zweiten Wahl nur Angehörige der Abteilung und des Rates berechtigt, ihre Stimme abzugeben. So sollte einerseits verhindert werden, dass die Abteilung stets unter sich bleiben würde, andererseits sollten diejenigen, die Ahnung von dem Geschäft hatten, einen für sich geeigneten Führer wählen. Ethos war einer derjenigen, die ebenfalls ihre Stimme abgeben durften. Zwar war Artemis ebenfalls Mitglied der Abteilung, aber da er nicht vor Ort war, würde seine Stimme verfallen. Das Anliegen war zu wichtig, um es aufzuschieben. Obwohl die Wahl normalerweise nicht so schnell voranschritt. „Wer sind die Kandidaten?“ „Marcus Dominic und Steve O’Neill“, verkündete der Priester mit hörbar ungläubiger Stimme. Doch auch Ethos war überrascht. Er hätte nicht gedacht, dass Steve sich so schnell hatte gegen die anderen Prälaten durchsetzen können. „Ich danke Ihnen, dass Sie mir Bescheid gegeben haben. Ich werde gleich gehen, um meine Stimme abzugeben.“ Der Priester verbeugte sich leicht, dann richtete er sein Gewand und verließ die Bibliothek. Ein letztes Mal schaute Ethos zurück auf das Regal. Es hatte durchaus seine Vorteile, wenn bereits jetzt zwei potentielle Nachfolger für den Posten von Nikolas ausgewählt worden waren. Doch verhinderte dies gleichzeitig, dass Ethos genügend Zeit zur Verfügung stand, um die Spuren des Verräters sichtbar zu machen. „Ich dachte schon, der Mann würde nie zum Ende kommen“, stöhnte Lydia genervt, nachdem sie und Artemis die Katharinenkirche verlassen hatten. „Endlich haben wir das hinter uns.“ „Hast du bemerkt, wie er dich dabei angesehen hat?“ Obwohl sie bereits vermutet hatte, dass Artemis sie darauf ansprechen würde, hätte Lydia erwartet, dass der Priester dies in einem gehässigen Ton und mit seiner altbekannten Art der Schadenfreude tun würde. Stattdessen wirkte Artemis angespannt und überaus ernst. „Ja, habe ich. Nicht zu fassen. Als ob er mich beeindrucken wollte mit seinen ganzen Geschichten.“ „Und, hat es funktioniert?“ „Nicht so gut, wie bei dir damals.“ Was von Lydia als spöttischer Kommentar gedacht gewesen war, wurde von Artemis mit Stolz aufgenommen. „Tatsächlich?“ Lydia schwieg daraufhin und schaute sich um. Ihr Flug nach Amerika würde erst am nächsten Tag am Abend gehen und laut ihrer Unterlagen sollte das Hotel, in dem sie übernachten würden, nicht weit entfernt liegen. Sie wollte endlich ihren Koffer loswerden und sich etwas entspannen. Immerhin würde Ponomarjow ebenfalls erst am nächsten Tag zurück nach Rom fliegen, was bedeutete, dass sie vorerst etwas Ruhe vor ihm hatte. Eine Weile irrten die beiden über den Newski-Prospekt, dann machte Lydia ein Gebäude aus, welches der Abbildung, die sich in den Unterlagen befand, äußerst ähnlich sah. Auch das Hotel besaß eine freundlich aussehende Fassade, wie eigentlich fast alle Gebäude im Zentrum von St. Petersburg. Die Stadt war erfreulich sauber, es roch nicht so unangenehm wie in der Stadt, aus der sie kam und auch die wenigen Menschen, die sie trafen, wirkten nett und freundlich. Die beiden Geistlichen hatten von Ponomarjow erfahren, dass sich zurzeit wenige Menschen draußen aufhielten, weil sie die Nachrichten verfolgten. Wer kein Radio besaß, quartierte sich bei besser betuchten Bekannten oder Verwandten ein. Diejenigen, die es sich leisten konnten, holten sich spätestens jetzt ihr eigenes Gerät ins Haus. Deutschland hatte Polen angegriffen, was wiederum das Interesse der russischen Bevölkerung stark auf sich gezogen hatte. In dem Hotel war davon jedoch nichts zu spüren. Die Rezeptionistin teilte den beiden schnell ihr Zimmer zu. Lydia konnte sich einen skeptischen Blick nicht verkneifen, als sie erfuhr, dass sie sich mit Artemis ein Zimmer teilen musste. „Neue Methoden der Einsparung. Ausnahmsweise habe ich damit mal nichts zu tun. Mal klappt es noch mit separaten Zimmern, mal nicht“, entschuldigte sich Artemis sofort, als er Lydia ansah. „Auch, wenn ich es nicht bereue.“ Bevor sich Lydia hätte beschweren können, waren die beiden vor dem Zimmer angekommen. Kaum hatte Artemis ihre neue Bleibe aufgeschlossen, ließ Lydia ihren prüfenden Blick darüber schweifen. Es handelte sich um ein einfaches Zimmer, ein großes Bett, eine Kommode mit Spiegel, ein Schrank, ein Badezimmer und ein Sessel, mehr gab die Einrichtung nicht her. Sofort stürmte sie an Artemis vorbei und fasste unter das Doppelbett. Mit einem kräftigen Ruck zog sie daran, bis die beiden Betten geteilt waren. Danach schwang sie sich auf die andere Seite und drückte ihren Schlafplatz bis an die äußerste Kante des Zimmers. Danach richtete sie Decken und Kopfkissen. „So“, sagte Lydia mit einem Strahlen. „Jetzt ist es perfekt.“ Artemis ging an der Nonne vorbei und setzte seinen Koffer ab, dann schritt er zu dem mannshohen Fenster. Sie hatten Glück gehabt, das Fenster zeigte nicht in den Innenhof des Hotels, sondern auf einen Abschnitt des Prospektes. Unten tummelten sich inzwischen ein paar mehr Menschen, es dämmerte bereits. Möglicherweise wollten sich zum Abend hin auch einige der Russen wieder vergnügen und für einen Moment Abstand von den neuesten Entwicklungen des weltlichen Geschehens nehmen. „Hast du Hunger?“, fragte Artemis plötzlich und drehte sich zu Lydia herum. „Na ja… Ein bisschen vielleicht“, antwortete die Nonne leicht verlegen. Sie hatte wirklich Hunger, auch wenn sie wusste, was das bedeutete. „Wollen wir etwas essen gehen?“ Innerlich wollte Lydia ablehnen, doch inzwischen war ihr Magenknurren so stark geworden, dass sie nachgab. An einem kurzen Essen würde schon nichts dran sein. „Na gut, warum auch nicht.“ Mit einem Schulterzucken widmete sich Lydia ihrem Koffer, damit sie sich die richtigen Klamotten heraussuchen konnte. Auch Artemis machte sich daran, sich etwas Passendes anzuziehen. Nachdem die beiden umgezogen waren, traten sie hinaus auf den Flur. Artemis hielt Lydia seinen Arm hin, den die Nonne zögernd ergriff. Sie waren geschäftlich hier, daran würde sich nichts ändern. Und auch an Lydias Einstellung, sich von Artemis bestmöglich fernzuhalten. Allerdings war der Priester gegenwärtig der einzige, der ihre innere Unruhe verstehen konnte. Was jedoch nicht bedeutete, dass sie die gesteckte Grenze zu diesem jemals wieder übertreten würde. Der Saal, in welchem der zweite Wahlgang stattfand, war für den Anlass umfunktioniert worden. Eigentlich handelte es sich um einen Kapellenabschnitt, doch nun standen zwei Urnen auf einem unscheinbaren Tisch, in die die Teilnehmer der Wahl ihre Stimme abgeben konnten. Da es der kirchlichen Auffassung von Vertrauen unterlag, war die Wahl für die Mitglieder der Geheimen Abteilung öffentlich. Jeder konnte sehen, wer wen wählte. Ethos sollte das nur recht sein. Während er hierhergekommen war, hatte er nachdenken können und war zu dem Entschluss gekommen, wen er wählen würde. Hoffentlich würde dies als eine Art Statement von den übrigen Geistlichen angesehen werden. Die Türen waren hinter ihnen zugeschlossen worden, so dass niemand die Wahl stören konnte. Es waren keine Stühle vorhanden, damit die Wählenden nicht auf den Gedanken kamen, es sich gemütlich zu machen. Nichts an diesem Raum trug dazu bei, sich länger als nötig dort aufhalten zu wollen. Auch die Fenster durften während der Wahl nicht geöffnet werden und waren entsprechend verschlossen. Obwohl niemand etwas sagte, spürte Ethos eine enorme Anspannung. Da er als letzter gekommen war und jeder darauf wartete, dass es endlich losging, blieb Ethos nicht einmal Zeit, die Gesichter der übrigen Geistlichen zu studieren. Zunächst wählte Marcus Dominic, welcher für sich stimmte, ebenso wie Steve. Oberschwester Mathilde wiederum stimmte für Dominic. Magnus ebenfalls. Mit leichtem Erstaunen stellte Ethos fest, dass Albertus sich diesmal nicht an seinem Kollegen orientierte und für Steve stimmte. Erst jetzt fiel Ethos auf, dass sich noch jemand anderes in dem Raum befand. Er kannte den Mann nicht, der sich nun in Bewegung setzte und seine Stimme in die Urne von Steve warf. Mit seinem khakifarbenem Hemd, der breit geschnittenen Hose und den Stiefeln sah er eher aus wie ein Abenteurer, denn wie jemand, der zu der Abteilung gehörte. Als der Mann sich umdrehte, kreuzten sich ihre Blicke für einige Sekunden. Sofort war Ethos klar, dass es sich um einen Geweihten handeln musste. Doch den Namen des Mannes kannte er trotzdem nicht. Er hatte ihn noch nie zuvor in seinem Leben gesehen. Allerdings war das zum gegenwärtigen Zeitpunkt auch nicht wichtig. Wenn dieser Mann dazu berechtigt war, seine Stimme abzugeben, würde das seine Richtigkeit haben. Langsam schritt Ethos auf die Urne zu. Sämtliche Blicke waren nun auf ihn gerichtet. Bisher hatte es gerade einmal zu einem Gleichstand der beiden Kontrahenten gereicht, es lag also an ihm, eine Entscheidung herbeizuführen. Ethos griff nach den letzten Schnipsel weißen Papiers, welches neben den Urnen lag. Es wog schwer in seiner Hand, obwohl es leicht wie eine Feder war. Bevor er den Schnipsel in eine der Urnen warf, hielt er noch einmal kurz inne. Im Inneren ging Ethos die Hinweise, die er bisher ausfindig gemacht hatte, noch einmal durch. Diese Wahl würde einiges beeinflussen und wenn er sich irrte, würde dies verheerende Folgen nach sich ziehen. Als er an Nikiolas dachte, durchzog Ethos ein Schwall an Schuldgefühlen. Wäre er doch nur viel früher tätig geworden. Auf der Beerdigung hatte er es, aufgrund seiner unendlichen Wut, noch nicht zulassen können, doch inzwischen wurde Ethos von tiefer Trauer erfasst, wenn er an den Prälaten dachte. Er hatte ihm so viel beibringen können und hatte nie an ihm gezweifelt. Hatte Ethos seine eigenen Entscheidungen treffen lassen und ihn selten in irgendetwas belehrt. Selbst, wenn einige Aufträge nicht ganz sauber abgelaufen waren, hatte Nikolas ihn stets in Schutz genommen und sich vor ihn gestellt. Ethos war es ihm mehr als schuldig, jetzt die richtige Wahl zu treffen. Der Priester merkte, wie die Belastung, die er auf sich genommen hatte, mit jeder verstreichenden Sekunde stärker zu werden schien. Für Zweifel war es jetzt zu spät. Er musste sich endlich entscheiden. Seufzend schaute Ethos auf die beiden Urnen hinunter. Mit leichter Überraschung stellte er fest, dass sich sein Arm unbewusst über die Urne von Steve bewegt hatte. Eine schnelle Bewegung reichte aus, um dies zu ändern. Der Schnipsel fiel in die Urne, die für Dominic bestimmt war. Da die sittlichen Regeln es verboten, sich lautstark über die entschiedene Wahl zu äußern, war kein einziges Geräusch zu hören. Es war, als hätten alle Personen das Atmen eingestellt. Ethos drehte sich um und las die Gesichter der Anwesenden. Auf Steves Gesicht war eine Mischung aus Missmut und Enttäuschung zu erkennen, während Dominic sich, wie erwartet, freute. Der Rest war uninteressant, da jeder seine Mimik so weit im Griff zu haben schien, dass Ethos nichts erkennen konnte, das von Bedeutung gewesen wäre. „Wir haben ein gültiges Ergebnis“, sprach Ethos aus, was alle dachten. „Marcus Dominic ist somit neuer Leiter der Geheimen Abteilung.“ „Und du meintest damals, ich solle mich zum Teufel scheren“, lachte Artemis und hob sein Glas. Er und Lydia hatten ein schönes Restaurant gefunden, das sie von der Rezeptionistin empfohlen bekommen hatten. Es war zwar etwas gehobener und somit auch teurer, doch Artemis hatte seine Begleitung eingeladen und damit hatte Lydia tatsächlich keinen Grund mehr, abzulehnen. Die Räume der gastronomischen Einrichtung lagen etwas höher, so dass den beiden ein wunderbarer Ausblick auf die Newa zuteilwurde. Was Artemis besonders schätzte, war, dass sich hier niemand um seine Augenklappe scherte. Die einzelnen Tische wurden von dem seichten Licht einiger Kerzen ausgestrahlt, wirkten sonst jedoch größtenteils anonym. Es hatte nicht lange gedauert und Artemis hatte das Eis brechen können, indem er einen Wein geordert hatte, von dem er wusste, dass Lydia ihn mögen würde. Sie war zwar beeindruckt davon, dass Artemis so etwas noch wusste, doch ihm gegenüber weiterhin skeptisch geblieben. Das Essen hatte fabelhaft geschmeckt und die leeren Weinflaschen mehrten sich. Anfangs war es Lydia noch sauer aufgestoßen, dass sich Artemis ständig nach der blonden Bedienung umgesehen hatte, doch je mehr sie trank, desto unwichtiger erschien ihr dieser Umstand. Immerhin teilte sie etwas mit dem Priester, das ihnen niemand nehmen konnte. Das war nicht ihre Ehe, sondern die gemeinsamen Erinnerungen, die, obwohl sie es eher widerstrebend zugeben musste, auch schöne Seiten gehabt hatten. Seltsam, dass ihr solche Gedankengänge kamen, nur, weil Artemis einer anderen Frau hinterher schaute. Es war ja nicht so, dass Lydia eifersüchtig gewesen wäre. „Du hast es damals ja auch nicht anders verdient“, grinste Lydia und stieß mit Artemis an. Ihr schwarzes Kleid besaß ein tiefes Dekolleté, das jedoch auch nicht zu viel preisgab. Ausnahmsweise hatte sie sich an diesem Abend geschminkt, ihr roter Mund zuckte verführerisch, als sie das Glas zum Trinken ansetzte. Auch ihre Fingernägel hatte sie sich lackiert. Zudem hatte sie darauf geachtet, dass ihre Haare so über ihre linke Schulter fielen, wie Artemis es immer gemocht hatte. Damit hatte sie weniger bezwecken wollen, dass er den Eindruck bekam, noch eine Chance bei ihr zu haben. Viel eher ging es Lydia darum, Artemis zu beweisen, wie viel Macht sie noch immer über ihn besaß. Der Priester hatte sie die letzten Tage nicht gerade behandelt, als wäre sie eine gleichberechtigte Partnerin auf seiner Mission. Ihrer Mission. Eher hatte sie das Gefühl, er sähe sie wie ein unerfahrenes Mädchen, das nicht wusste, worauf es sich hierbei einließ. Möglicherweise wollte er sie beschützen, doch darauf konnte die Nonne verzichten. Von diesen Überlegungen war sie inzwischen abgekommen, denn der Wein zeigte seine Wirkung. Sowohl Lydia, als auch Artemis drifteten in die Art der Zerstreuung ab, nach der sie sich seit einigen Tagen sehnten. So professionell sie auch waren, die vergangenen Ereignisse liefen auch an ihnen nicht spurlos vorbei. Als Artemis Lydia nachkippte, spielte diese an einer ihrer braunen Haarlocken. Sie überschlug die Beine, dazu grinste sie Artemis gespielt schüchtern an, was ihre grünen Augen noch größer wirken ließ. „Hast du so deine anderen Kunden auch um den Finger gewickelt?“, fragte Artemis in dem Wissen, dass solch eine Frage sich eigentlich nicht gehörte. Doch Lydia nahm es gelassen. „Es reicht doch, wenn ich dich um den Finger wickeln konnte. Oder?“ Mit einem fragenden Blick nahm Lydia einen Schluck Wein. Danach fuhr sie mit der Fingerkuppe über den Rand des Glases, um die Reste ihres Lippenstiftes zu entfernen. Sie merkte, wie sie allmählich die Kontrolle verlor. Doch das war in Ordnung. Warum sollte sie sich nicht auch ein einziges Mal eine Auszeit gönnen. Bisher war sie so gut gewesen, dass sie aus den restlichen Nonnen herausstach. Jede einzelne Aufgabe, die man ihr zuteilte, erfüllte sie mit Bravour. Wann immer sie benötigt wurde, war sie da. Eine bessere Nonne konnte man sich doch gar nicht wünschen. Und trotzdem kam sie nie über den jetzigen Status hinaus. Als Frau in der Kirche war für hohe weibliche Würdenträger einfach kein Platz. Davor hatte Artemis sie in der Vergangenheit zwar gewarnt, aber gleichzeitig auch Mut gemacht, dass sie es schaffen könnte. Das war eine jener Eigenschaften gewesen, die sie an ihrem Mann immer geliebt hatte. „Weißt du, manchmal muss ich noch an dich denken“, gab Lydia plötzlich zu und schaute tief in ihr leeres Glas. „Aber das tut mir nicht wirklich gut.“ „Geht mir genauso.“ Auch Artemis war deutlich anzuhören, dass er betrunken war. Er hatte sich noch etwas besser im Griff als Lydia, doch langsam aber sicher sah er den richtigen Zeitpunkt, um zu gehen. „Wollen wir zurück in das Hotel? Ansonsten trinken wir denen hier noch den gesamten Weinkeller leer und verlieren uns in Sentimentalitäten.“ Von Lydias Seite kam nicht viel mehr als ein leichtes Nicken, offenbar hatte sie ihre motorischen Fähigkeiten nicht mehr ganz so gut im Griff. Artemis stand auf und half Lydia dabei, es ihm gleichzutun. Nachdem er bezahlt hatte, reichte er ihr ihren Mantel, dann verließen sie zusammen das Restaurant. Die kalte Luft war genau, was Lydia gerade brauchte. Nach und nach kehrte etwas von ihrer Vernunft zurück in ihren Kopf, jedenfalls meinte sie das. Den ganzen weg über schaute sie auf ihre Füße, so dass sie verwundert aufsah, als sie sich vor dem Eingang ihres Hotels befanden. Stolpernd geleitete Artemis sie in das Zimmer, wo sie sich mit einer wilden Geste von ihrem Mantel befreite. Normalerweise hätte Artemis an dieser Stelle gefragt, ob alles in Ordnung sei, doch er war selbst noch immer viel zu betrunken, um zu reagieren. Eigentlich mochte er betrunkene Frauen nicht besonders. Es machte einiges einfacher, wenn sie nicht mehr wussten, wer oder wo sie waren, aber im Großen und Ganzen bevorzugte er es, wenn sie nüchtern waren. Nur Lydia… Lydia war immer schön, egal, welchem Status sie gerade unterlag. Verzweifelt versuchte Lydia, an den Reißverschluss ihres Kleides zu kommen, was ihr aber nicht gelang. Sie wand sich einige Male hin und her, warf sich auf ihr Bett, kam jedoch noch immer nicht an den Verschluss heran. Schwer atmend setzte sie sich auf die Bettkante und schaute zu Artemis hoch. Inzwischen waren die vorher so penibel in Form gebrachten Haare der Nonne völlig zerzaust, ihr Lippenstift war verwischt. Der dunkle Lidschatten unterstrich ihren verzweifelten Zustand noch, weshalb Artemis sich dazu entschied, ihr zu helfen. Wer wäre er, eine Frau in Not einfach so alleine zu lassen. Langsam kniete er sich vor Lydia, die angespannt verfolgte, was Artemis vorhatte. Vorsichtig beugte sich Artemis nach vorne, dann griff er nach dem Reißverschluss des Kleides und zog ihn so weit hinunter, wie es ihm durch Lydias sitzende Position gewährt wurde. Doch als er den Verschluss nach unten gezogen hatte, entfernte er seine Hände nicht sofort, sondern kostete den Moment noch etwas länger aus. Als Artemis merkte, dass Lydia sich nicht gegen seine Anwesenheit wehrte, beugte er sich noch etwas weiter vor, so dass sich ihre Lippen beinahe berührten. Noch immer tat Lydia nichts, weshalb Artemis sich dazu entschloss, auch den letzten Abstand zwischen ihm und der Nonne zu überbrücken. Er küsste sie auf den Mund, zunächst sanft, dann fordernder. Die Handflächen auf Lydias Rücken gepresst, drückte Artemis sie zart gegen seinen Oberkörper. Lydia ging darauf ein, hob ebenfalls die Hände, um diese auf Artemis‘ Brust abzulegen. Der wohlige Schauer, der ihr dabei durch den Körper lief, blieb auch Artemis nicht verborgen. Lächelnd löste er sich von Lydia, um diese anzuschauen. „Wie es aussieht, findest du mich doch nicht so schrecklich.“ „Reden war noch nie deine Stärke. Also mach lieber das, was du gut kannst.“ Dieser Aufforderung kam Artemis gerne nach. Indem er seine Gegenüber auf das Bett drängte, verschaffte er sich etwas Platz, damit er sein Hemd ausziehen konnte. Als er sich über Lydia beugte, legte diese ihre Fingerkuppen auf der Haut des Priesters ab. Genau wie früher war sein Körper mit Muskeln und feinen Sehnen durchzogen, auch die Narben waren noch immer da. Narben, die oberflächlich waren sowie tiefere Narben, die niemals richtig verheilen würden. Es waren einige dazugekommen, seitdem sie Artemis das letzte Mal unbekleidet gesehen hatte. Doch das störte Lydia nicht. Ein wohliges Zittern durchlief sie, als Artemis sich daran machte, ihr Kleid herunter zu streifen. Kaum war dies geschehen, fing Artemis an, nahezu jeden Zentimeter ihrer unbedeckten Haut zu erkunden. Zunächst mit den Händen, bald darauf mit den Lippen. Mit einem wohligen Knurren warf Lydia ihren Kopf in den Nacken und übergab sämtlichen Rest an Kontrolle, den sie noch hatte, an Artemis. Es war lange her gewesen, dass jemand sie so berührt, so geküsst, so geliebt hatte. Kapitel 24: Kapitel 24 ---------------------- Kapitel 24 „Geschätzte Kollegen“, begann Marcus Dominic seine Rede auf dem Petersplatz. Es waren ein Podest mit Mikrophon und eine kleine Bühne aufgebaut worden, um das neue Oberhaupt der Geheimen Abteilung und des dazugehörigen Rates von dem Rest der Masse abzuheben. Hinter seinem Rücken ragte der Obelisk gen Himmel, der sich heute zumindest teilweise freundlich präsentierte. Vor dem Redner hatten sich nahezu alle Priester und Nonnen des Vatikans und aus dem näheren Umkreis zusammen gesammelt, um der Ansprache lauschen zu können. Ethos befand sich ebenfalls unter ihnen. „Nach dem tragischen Tod von Monsignore Nikolas musste jemand gewählt werden, der die Aufgaben unseres tapferen, erfahrenen, vor allem aber freundlichen und fähigen Kollegen übernehmen würde. Monsignore Nikolas wird eine große Lücke hinterlassen. Ich persönlich fühle mich geehrt, dass ich mit ihm habe zusammen arbeiten dürfen. Sowohl die Kirche, als auch das private Umfeld von Monsignore Nikolas haben einen unvorstellbaren Verlust erleiden müssen. Umso wichtiger ist es, dass seine Nachfolge mit jemanden besetzt wird, dem ein ähnliches Vertrauen entgegengesetzt werden kann. Außerdem wird eine Person benötigt, die die Aufgaben ebenso gewissenhaft und mit einer fachlichen Expertise erledigen kann, wie es einst unserem geschätzten Kollegen zu eigen gewesen ist. Ich fühle mich äußerst geehrt, dass dabei die Wahl auf mich gefallen ist. An dieser Stelle möchte ich noch einmal besonders betonen, auch wenn es selbstverständlich sein sollte, dass ich alles in meiner Macht stehende tun werde, um ein ebenso gutes Oberhaupt zu werden und somit die entstandenen Lücken möglichst klein zu halten. Dies schließt auch mit ein, dass ich alles daran setzen werde, die Vorfälle, die sich in der letzten Zeit ereignet haben, aufzudecken und unsere geliebten Brüder und Schwestern, die bei dem letzten Angriff durch Dämonen gefallen sind, zu rächen. Ihrem Tod soll eine höhere Bedeutung beigemessen werden, als das bloße Ableben während der Verteidigung des Vatikans. Es ist eines der Anliegen, die mir am meisten am Herzen liegen und dementsprechend hart werde ich gegen diejenigen vorgehen, die sich uns und unserer Aufgabe, Gottes Wort und Gottes Gnade auf der Erde zu vertreten, in den Weg stellen. Seien es dabei Dämonen oder Menschen, die den rechten Pfad verlassen haben. Für Monsignore Nikolas kam dieses Versprechen leider zu spät. Doch das soll nicht bedeuten, dass ich deshalb untätig herumsitzen und abwarten werde, dass es den nächsten von uns trifft. Im Gegenteil. Um zu gewährleisten, dass wir bestmöglich arbeiten können, werde ich das eine oder andere ändern, zum Beispiel was die Modernisierung gewisser Abteilungen anbelangt. Es ist an der Zeit, mit dem Alten zu brechen und Neues für uns zu entdecken, wenn auch mit der Berücksichtigung, dass unsere Traditionen und Werte nicht gebrochen werden dürfen oder darunter zu leiden haben. Welche Neuerungen eingeführt werden und was ich aus den vergangen Amtszeiten meiner Vorgänger beibehalten werde, werde ich zu einem späteren Zeitpunkt näher erläutern. Nun gilt es erst einmal, die vorhandenen Probleme zu lösen und dafür zu sorgen, dass wir nachts wieder beruhigt schlafen können. Aus diesem Grund möchte ich Sie nicht weiter von Ihrer Arbeit abhalten. Ich bedanke mich noch einmal vielmals für das mir entgegengebrachte Vertrauen. Ich werde euch, liebe Brüder und Schwestern, nicht enttäuschen.“ Kaum hatte Dominic seine Rede beendet, begannen die ersten Priester mit den Händen zu klatschen. Immer mehr fielen in den Applaus mit ein, bis ein wahres Feuerwerk an Bekundungen daraus wurde. Ethos spürte geradezu, wie leidenschaftlich einige der Anwesenden die Rede aufgenommen hatten. Sie johlten und stießen Zurufe aus, in denen Marcus Dominic sich geradezu zu baden schien. Immerhin hatte Ethos ein wenig von der Bestätigung bekommen, die er sich erhofft hatte. Er hatte sich richtig entschieden. Die Leute schienen den Prälaten zu mögen, was es wesentlich einfacher machen würde, das Vertrauen der Priester und Nonnen zu gewinnen. Lief es innerhalb des Vatikans schleppend, übertrug sich dies irgendwann auch auf Ethos‘ Abteilung. Und Verzögerungen konnten sie sich nicht mehr leisten. Zumindest von diesem Gesichtspunkt aus gesehen, hatte Ethos alles richtig gemacht. Zufrieden wand sich der Priester ab und wollte sich gerade seinen Weg durch die Menge bahnen, als er eine Hand auf seiner Schulter spürte. „Pater Turino, dürfte ich Sie einen Augenblick sprechen?“ Ethos hatte bereits vermutet, dass Dominic ihn zum Gespräch bitten würde, doch dass es direkt nach seiner Einführungsrede war, damit hatte er weniger gerechnet. Er drehte sich wieder um und folgte Dominic, vorbei an dessen Pult in einen abgesperrten Bereich, in dem er nicht von den übrigen Priestern belagert werden würde. Jeder wollte anscheinend mit ihm reden, ihn zu seiner gelungen Rede und zu dem neuen Posten beglückwünschen, doch dafür hatte Dominic momentan keine Zeit. Nun wurde er von den Gardisten abgeschirmt, damit er sich in Ruhe mit Ethos unterhalten konnte. „Es dauert auch nicht lange“, sagte Dominic ruhig und entspannte sich etwas. „Bevor er starb, waren Sie von Nikolas zu einer wichtigen Mission abgestellt worden oder?“ „Das ist richtig. Aber, ohne Sie angreifen zu wollen, Sie jetzt in die Details einzuweihen, würde zu lange dauern.“ „Das ist auch nicht nötig. Ich habe mir über Nacht alles angesehen, ich bin bestens über die Umstände informiert. Es geht mir um etwas anderes. Sie jagen nach dem Verräter, nicht wahr?“ „Auch das ist korrekt“, antwortete Ethos und verschränkte die Arme vor der Brust. „Nun, ich möchte, dass Sie sich voll und ganz auf die Suche konzentrieren. Vorerst werde ich Ihnen keine neuen Aufträge erteilen. Was auch immer anliegt, wird erst einmal von Pater McDouglas, dem Geweihten aus Indien, erledigt.“ Als er sah, wie Ethos eine Augenbraue nach oben zog, hob Dominic beschwichtigend die Handflächen. „Ich sehe das keinesfalls als Geringschätzung Ihrer Arbeit. Eher das Gegenteil. Sie sind überaus loyal, Pater Turino. Genau solch einen Mann benötige ich gerade.“ „Ich arbeite für die Kirche, nicht für Sie direkt.“ „Das weiß ich. Es geht hier auch nicht darum, dass ich Ihnen vertraue, weil Sie mich gewählt haben. Ich weiß aber auch, dass der Verräter ein Anliegen ist, das gerade für die Kirche von unheimlich hoher Dringlichkeit ist. Von daher möchte ich, dass Sie sich vor allem darauf konzentrieren. Was immer Sie brauchen, Sie werden es von mir bekommen. Wenden Sie sich jederzeit an mich, aber, wie gesagt, Sie werden sich um keine anderen Angelegenheiten mehr kümmern.“ „Wenn Sie das so möchten“, sagte Ethos und verspürte einen leichten Widerwillen. Er war es weder gewohnt, Befehle auf solch eine Art und Weise zu bekommen, noch von dieser Person. Zweites würde sich mit der Zeit legen. „Ich tue das, da ich Ihnen vertraue. Und weil ich der Meinung bin, dass Sie einer der wenigen sind, die sowohl den Durchblick für solch eine Sache besitzen, als auch fähig genug sind, den Verräter ausfindig zu machen.“ „Was soll ich machen, wenn ich ihn wirklich finden sollte?“ „Dann haben Sie, von meiner Seite aus, freie Hand. Tun Sie, was auch immer Sie als nötig erachten.“ „Dann würde ich Sie bereits jetzt um Ihre Mithilfe bitten.“ Dominic wirkte etwas überrascht. „Haben Sie schon einen konkreten Verdacht?“ „Ja. Aber ich werde ihn erst öffentlich machen, sobald ich genügend Beweise gesammelt habe.“ „Das klingt vernünftig. Also, wie kann ich Ihnen helfen?“ „Geben Sie mir den Schlüssel zu Nikolas‘ Büro.“ Zunächst wirkte der Prälat von Ethos‘ Aufforderung so überrumpelt, dass er etwas Zeit benötigte, um sich wieder zu fangen. Er schaute den Priester mit sichtbaren Misstrauen an. „Ich würde nicht danach verlangen, wenn es nicht dringend wäre.“ „Davon gehe ich aus. Allerdings muss ich bald mit den übrigen Prälaten in das Büro, um die restlichen Abläufe zu besprechen und erste Umräumungen vorzunehmen.“ „Dann halten Sie sie hin. Versuchen Sie bitte, mir etwas Zeit zu verschaffen. Ich werde mich beeilen.“ Dominic schaute sich einige Male um und vergewisserte sich, dass niemand zuschaute, wie er Ethos den Schlüssel zu dem besagten Büro übergab. „Ich werde sehen, was ich tun kann. Rechnen Sie aber nicht mit mehr als einer Dreiviertelstunde.“ „Das sollte ausreichen“, antwortete Ethos und packte den Schlüssel in seine Tasche. Die Gardisten ließen einige Prälaten passieren, weshalb Dominic das Gespräch plötzlich abbrach. Er würde sich nun erst einmal um die Übernahme kümmern müssen und entfernte sich von Ethos, um seine Kollegen in Empfang zu nehmen. Ethos wiederum achtete darauf, dass ihm niemand folgte. Damit sein Weg nicht allzu offensichtlich schien, nahm er einen kleinen Umweg und durchkreuzte mehrere Straßen des Vatikans, bis er endlich in Nikolas‘ Büro eintraf. So leise wie möglich schloss er die Tür auf und schlüpfte hindurch, obwohl er wusste, dass sich niemand in der Nähe befand. Das Büro war genau so, wie Ethos es in Erinnerung hatte. Noch hatte sich niemand die Mühe gemacht, die Sachen des verstorbenen Geistlichen wegzuräumen. Nur der eine oder andere kleine Karton mit persönlichen Gegenständen war bereits gepackt worden. Soweit Ethos wusste, hatte Nikolas keine Verwandten innerhalb der Kirche. Ob es außerhalb einen Erben gab, wusste er nicht, aufgrund dessen, dass er anscheinend einmal verheiratet gewesen war, schloss er es aber auch nicht mehr völlig aus. Doch das war im Moment nebensächlich. Das, wonach Ethos suchte, würde er kaum in den privaten Sachen des Prälaten finden. Stattdessen führte ihn sein Weg direkt an den großen Schreibtisch. Ethos wusste, dass die unterste Schublade Steve gehörte. Er hatte sie bekommen, um wichtige Unterlagen auch im Büro zu haben, wo er von Nikolas ausgebildet worden war. Als Ethos daran zog, rührte sich jedoch nichts. Sie war abgeschlossen. Ethos schaute sich um und wurde fündig, als er einen Brieföffner in Form eines massiven Messers auf dem Schreibtisch liegen sah. Die Spitze war dünn genug, um sie zwischen Schreibtisch und Schublade zu schieben. Indem er Druck ausübte, hebelte Ethos die Schublade auf. Mit einem leichten Knacken gab das Holz nach, das Schloss brach leicht hinaus und gab so seinen Inhalt frei. Zum Glück war das Ding bereits so alt, dass Ethos sich nicht hatte besonders anstrengen müssen. Vorsichtig legte er den Brieföffner auf dem Teppich ab, dann kniete er sich auf den Boden. Zum Vorschein kam etwas, das wie Dokumente aussah. Ethos nahm die Papiere hinaus und schaute kurz drüber, konnte jedoch nichts finden, das für ihn von Belang gewesen wäre. Darunter sah er jedoch etwas, das wie ein Buch aussah. Er legte die unwichtigen Papiere beiseite und entnahm stattdessen die Literatur. Bei dem ersten Buch handelte es sich um die Aufzählung der Dämonen von A – E. Fassungslos legte Ethos das Buch auf dem Schreibtisch ab und wollte sich gerade das nächste Buch näher besehen, als er hörte, wie sich jemand näherte. Zu spät, um zu reagieren. Steve stand im Türrahmen und schaute den Priester misstrauisch an. Inzwischen durfte er sich in der Kleidung der Prälaten durch den Vatikan bewegen und hatte einiges an Rechten dazubekommen. „Was tun Sie da?“, fragte er mit leicht verärgerten Unterton. Ethos entspannte sich wieder etwas. Er hatte den Jungen nicht hören können, erst, als er fast vor ihm stand, war ihm dessen Gegenwart bewusst geworden. Eindeutig zu spät, er würde zukünftig besser aufpassen müssen. „Ich schaue mir lediglich einige Dokumente an“, antwortete Ethos und duckte sich wieder, nahm dabei die Blätter vom Schreibtisch in die Hand und tat, als würde er sie lesen. „Gehen Sie von meinem Schreibtisch weg.“ „Und was, wenn nicht“, fragte Ethos, noch immer in die Dokumente vertieft und in einer leicht amüsierten Tonlage. „Was wollen Sie dann machen? Mich erschießen?“ Wenige Sekunden, nachdem er dies ausgesprochen hatte, vernahm Ethos ein leises Klicken. Langsam richtete er seinen Blick zurück auf Steve. In dessen Hand sah er einen Revolver, der nun langsam auf seinen Kopf gerichtet wurde. „Möglich“, antwortete Steve und nickte Ethos zu als Zeichen, dass dieser die Hände nach oben nehmen sollte. Vorsichtig kniete Ethos sich auf den Boden hinter den Schreibtisch, um die Dokumente abzulegen. Gleichzeitig griff er nach dem Brieföffner und platzierte diesen unter seinem Gürtel auf der rechten Seite. Er ließ seine Jacke darüber gleiten, so dass Steve nicht sehen konnte, dass er eine Waffe bei sich trug. Dann erhob Ethos sich wieder, genauso langsam, wie er die Hände über seinen Kopf nahm. „Ich hoffe du weißt, was du da gerade tust“, murmelte Ethos, als er Steve in die Augen sehen konnte. Der Junge zitterte etwas, wodurch der Revolver leicht hin und her schwang. Ethos verspürte keine Angst, bemühte sich jedoch darum, die Hand des Iren im Blick zu behalten. Es war durchaus möglich, dass er abdrücken würde, ohne zu wollen, so aufgeregt, wie er war. „Keine Sorge, das weiß ich ganz genau. Und jetzt kommen Sie hinter dem Schreibtisch vor.“ Ethos machte einen Schritt nach vorne, so dass er neben dem Tisch stand. Nun bot er Steve seinen gesamten Körper als mögliches Ziel an. „Ich habe mich lange genug herumschubsen lassen. Ich will wissen, warum Sie in meinen Sachen herum wühlen.“ „Die Frage beantworte ich gerne. Zunächst einmal hatte Nikolas dir aufgetragen, Literatur über Esrada zusammen zu suchen. Dem bist du anscheinend nachgekommen, wie ich gesehen habe. Doch du hast deine Ergebnisse nicht an uns weiter getragen. Stattdessen hast du versucht, die Bücher, die es in der Bibliothek zu finden gibt, zu verstecken. Wie hast du es geschafft, die Bücher an dem Bibliothekar vorbei zu schmuggeln? Du weißt, besser als ich vermutlich, dass in diesen Abschnitt der Bibliothek nicht jeder hinein kommt und dass es nicht so einfach ist, Bücher unbemerkt zu entwenden.“ „Ich habe es ja nicht unbemerkt getan.“ „Da hat der Bibliothekar mir aber etwas anderes erzählt.“ „Der Bibliothekar“, lachte Steve, dazu schüttelte er amüsiert den Kopf. „Der hat gelogen. Er wusste, dass ich die Bücher habe. Jeder hat eine Schwäche oder eine Geschichte, die besser nicht weiter verbreitet wird. Somit ist auch jeder irgendwie käuflich.“ „Du hast ihn also erpresst“, stellte Ethos nüchtern fest. „Und wobei habe ich dich jetzt gerade gestört?“ „Um ehrlich zu sein, wollte ich die Bücher gerade weg bringen.“ „Also aus dem Vatikan schaffen?“ „Das geht dich nichts an.“ Inzwischen war Steve in das Du gewechselt, was Ethos jedoch nicht weiter kümmerte. Er musste einen Weg finden, sich aus der Situation heraus zu manövrieren. Und Zeit gewinnen. „Allgemein geht es dich nichts an, was ich hier mache. Ich bin den dienstälteren Prälaten unterstellt, nicht einem einfachen Priester wie dir.“ „Mich geht das hier schon etwas an, immerhin bin ich auch von dem Verrat betroffen.“ „So, so. Und was macht dich so sicher, dass ich der Verräter bin?“ „Einiges. Die ganze Situation hier zum Beispiel. Allerdings weiß ich auch, dass du nicht alleine gehandelt hast. Weshalb ich auch nicht für dich gestimmt habe. Außerdem tu nicht so, als ob du einen so großen Sprung getan hättest. Du wurdest aufgrund einer simplen Regelung in den Dienst eines Prälaten berufen. Wärst du nicht in die Auswahl gekommen, wärst du noch immer ein Priester wie ich. Letztendlich mag es angehen, dass du in Sachen Verwaltung und Kirchenpolitik mehr weißt als ich, aber was den aktiven Dienst angeht, wirst du mit mir und Artemis nicht mithalten können.“ „Das ist mir egal. Ich habe…“ Plötzlich hielt Steve inne. Von draußen waren Schritte zu hören. Schnell steckte Steve seinen Revolver weg, woraufhin Ethos seine Hände wieder nach unten nahm. Er griff in seinen Gürtel und umfasste den Griff von dem Brieföffner, als Steve nach hinten sah um zu schauen, wer sich auf dem Gang befand. In der Zeit platzierte Ethos den Brieföffner hinter seinen Rücken und griff mit der anderen Hand nach dem Stapel mit den Büchern, welchen er sich unter den linken Arm klemmte. Von draußen war ein Mann zu vernehmen, dessen Atmen hörbar schnell ging, anscheinend hatte er sich beeilt. Als er Steve sah, grüßte er diesen kurz, indem er ihn auf den Arm klopfte. Steve rieb sich über den Oberarm, anscheinend hatte der Pater einen nicht zu unterschätzenden Schwung, den man ihm gar nicht zutraute auf den ersten Blick. „Beim nächsten Mal vielleicht.“ Dann wand er sich an dem jungen Priester vorbei und richtete sich direkt an Ethos. „Pater Turino, ich soll Ihnen eine Nachricht überbringen. Nachdem ich überall nachgefragt habe, hat mir Marcus Dominic gesagt, Sie wären hier. Ich dachte, Sie wären alleine.“ „Das tut nichts zur Sache“, erwiderte Ethos mit einem leichten Lächeln und in freundlichem Ton. „Am besten geleiten Sie uns mit nach draußen, wir wollten eh gerade gehen.“ Als Ethos sich auf Steve zubewegte, umfasste er den Griff des Brieföffners hinter seinem Rücken so fest er konnte. Er schob sich an dem Jungen vorbei, ließ ihn dabei keine Sekunden aus den Augen und vermied es, ihm den Rücken zuzudrehen. Mit einem letzten warnenden Blick schaute Ethos dabei zu, wie Steve die Tür mit seinem eigenen Schlüssel verschloss, dann befanden sich die drei Geistlichen zusammen auf dem Gang. „Chino Estevez möchte Sie sprechen“, sagte der Priester, als die drei sich in Bewegung gesetzt hatten. „Es scheint sehr dringend zu sein. Ich habe hier eine Adresse, an der er auf Sie wartet.“ „Weiß Marcus Dominic davon?“ „Nein, ich habe ihn lediglich gefragt, wo Sie sind. Er hatte gerade viel zu tun und fragte, wie dringend es sei. Daraufhin meinte er, ich fände Sie in dem Büro von Monsignore Nikolas. Und dass ich mit niemanden darüber sprechen soll, wo Sie sich aufhalten.“ „Ich wäre Ihnen äußerst verbunden, wenn das auch so bleiben sollte. Legen Sie den Zettel mit der Adresse einfach auf den Stapel in meiner Hand.“ Verwundert schaute der Priester zwischen Ethos und Steve hin und her, dann legte er den Zettel ab. Glücklicherweise war diese Art von Priester, die eher als bessere Laufburschen anzusehen waren, leicht zu beeinflussen. Steve war inzwischen in einem anderen Gang abgebogen, ohne etwas zu sagen. Ethos winkte den Priester, der bereits weiter hasten wollte, noch einmal zu sich zurück. Er drückte ihm den Brieföffner in die Hand, den er vorhin noch hinter dem Rücken versteckt gehalten hatte. Wenige Sekunden später gab er ihm zudem den Schlüssel von Nikolas‘ Büro. „Geben Sie dem Prälaten das und sagen ihm Bescheid, dass er sich darum kümmern soll, dass Steve O’Neill von den Gardisten verhaftet wird. Am besten von Leutnant Roth persönlich. Aber kein Wort darüber, dass ich mich mit Chino Estevez treffe. Haben Sie das verstanden?“ Der Priester hatte verstanden und machte sich auf den Weg. Ethos schaute ihm noch kurz nach, dann machte er sich daran, die Bücher in Sicherheit zu bringen. Wenn das Treffen mit Chino beendet war, würde er sich mit Marcus Dominic persönlich in Verbindung setzen. Und dann würde er Steve zerschmettern. Als Artemis aufwachte, war der Platz neben ihm leer. Die Betten hatten sie wieder zusammen geschoben, da es auf einem doch recht eng geworden war im Laufe des Abends. Verschlafen schaute er sich um, dabei hielt er sich den Kopf. Der Wein machte sich gerade ein weiteres Mal bemerkbar. Wenigstens würde heute nicht mehr allzu viel anliegen, er würde mit Lydia Ponomarjow abholen, ihn zum Flughafen bringen und sich dann selbst aus dem Staub machen. Artemis schaute auf den Wecker. Es war noch genügend Zeit, er brauchte sich nicht zu beeilen. Er hörte, wie im Badezimmer die Dusche anging. Wahrscheinlich duschte Lydia. Also würde er noch ein wenig vor sich hindösen können, bevor er sich selbst fertig machen würde. Müde sank der Priester in die Kissen zurück und schaute an die Decke. Innerlich beglückwünschte er sich zu seinem Sieg. Er hatte es immer gewusst. Lydia und er waren einfach füreinander bestimmt und niemand konnte etwas dagegen unternehmen. Nicht mal er oder Lydia selbst. Aber darüber wollte er sich keine Gedanken machen, er genoss einfach den Augenblick. Als Artemis die Augen wieder schloss, ging das Wasser im Badezimmer aus und er hörte, wie Lydia sich die Haare föhnte. Wenige Augenblicke später ging die Tür auf und die Nonne trat in den Raum, den Körper nur durch ein weißes Handtuch bedeckt. Während sie ihre Anziehsachen zusammen suchte, schlug Artemis die Augen auf und beobachtete sie. Noch immer waren ihre Haare etwas nass, einzelne Tropfen perlten auf ihre makellose Haut hinunter und wurden kurz darauf von dem Stoff des Handtuches absorbiert. Lydia warf das Handtuch beiseite und zog sich eine dunkle Jeans, Shirt und Pullover an. Dazu schlüpfte sie in ihre flachen Stiefel. Als sie sich umdrehte, kreuzte ihr Blick den von Artemis. „Warum beeilst du dich so?“, fragte dieser und richtete den Oberkörper auf. „Wir haben doch noch genug Zeit. Komm doch noch mal ins Bett.“ Lydia seufzte. Sie wirkte mit einem mal reserviert und wich Artemis‘ Blick lange aus, bevor sie etwas sagen konnte. „Artemis… Gestern, das war… Ich war betrunken und das war eine einmalige Sache.“ „Wie bitte?“ Auch Artemis schwang sich aus dem Bett und machte sich daran, sich etwas anzuziehen. „Du hast doch nicht ernsthaft gedacht, dass ich mich wieder auf dich einlasse oder?“ „Das hat gestern aber anders gewirkt.“ „Dann hast du mich nicht richtig verstanden. Es war nett, mit dir… Dir wieder etwas mehr Zeit zu verbringen, abseits der Arbeit.“ „So, nett war es also, ja?“, brüllte Artemis geradezu, so dass Lydia zusammen zuckte. „Weißt du, wenn es dir so wenig bedeutet hat, dann hättest du auch einfach so etwas in der Art sagen können. Du weißt, wie ich das mit uns sehe. Ich dachte, du würdest mir noch eine Chance geben, ich lasse mich darauf ein und dann so etwas? Es war nett? Das ist alles?“ Lydia wusste nicht, was sie noch darauf erwidern sollte. Sie hatte einen Fehler gemacht, leider wurde ihr das Ausmaß dieses Fehlers erst jetzt bewusst. Schuldbewusst sah sie dabei zu, wie Artemis wutentbrannt seine Sachen zusammen suchte und im Badezimmer verschwand. Vorsichtig schritt sie an die Tür und versuchte, diese zu öffnen, doch Artemis hatte sie von innen verschlossen. „Artemis, bitte… Ich…“ Doch noch bevor Lydia ihren Satz hätte beenden können, unterbrach sie sich selbst. Sie wusste selbst, wie dämlich sich ihre Worte anhörten. Somit begab sie sich zu ihrem Koffer, suchte ihre letzten Sachen zusammen und verließ das Hotel. Vermutlich würde Artemis jetzt etwas Ruhe gebrauchen können und sie störte an dieser Stelle, das wusste sie. Damit Artemis wusste, dass sie zum besprochenen Zeitpunkt an der Katharinenkirche erscheinen würde, hatte sie ihm eine Notiz hinterlassen. Auch sie selbst könnte eine kleine Auszeit, in der sie sich allein und ungestört über alles Gedanken machen konnte, gut gebrauchen. Ethos glaubte seinen Augen nicht trauen zu können, als er Chinos Gestalt erblickte. Der Spanier war völlig verdreckt, sein Gesicht wirkte abgespannt und seine gesamte Körperhaltung verriet stille Resignation. Der Treffpunkt war nicht weit entfernt, in einer der Seitenstraßen, von dessen Ausgang aus sich ein Teil des Vatikans einsehen ließ, erschien Chino als der geeignete Ort, um sich mit Ethos zu unterhalten. Da es sich um eine Sackgasse handelte, in der die umliegenden Haushalte vor allem ihren Müll lagerten, war der Platz auch nicht besonders beliebt oder gut besucht. Solange sie die Stimmen gedämpft halten würden, war auch das Risiko, dass irgendjemand mithören könnte, überaus gering. „Was hast du die letzten Tage gemacht, dass du so aussiehst?“, fragte Ethos und rümpfte die Nase, als er sich Chino bis auf einen Meter genähert hatte. „Das ist unwichtig. Hör zu, ich weiß jetzt, was mit Maria ist und wie ich sie zurück in meine Obhut bekomme“, legte Chino sofort los ungeachtet dessen, dass Ethos gerade seinen Zustand hatte kommentieren wollen. „Hildegard Krüger, ihre Schwester, hat mir einen Handel vorgeschlagen. Wobei, Handel kann man es nicht nennen. Sie möchte ebenfalls, dass Maria wieder zu mir zurückkehrt.“ „Und das tut sie einfach so? Wo ist der Haken?“, kam es sofort von dem Priester, der seine Skepsis nicht verbergen konnte. „Sie wird doch nicht einfach so, aus heiterem Himmel, plötzlich die Seiten wechseln wollen.“ „Aber ihr Mann wollte das auch.“ „Ich hoffe, du hast dich nicht völlig von ihr verblenden lassen.“ „Deshalb habe ich dich kontaktiert. Ich habe lange darüber nachgedacht. Heute Abend will sie mich am Hafen treffen, bis dahin will sie Maria befreit haben. Sie sagte, dass sie sich mit mir alleine treffen will. Aber das könnte eine Falle sein. Aus diesem Grund möchte ich, dass du mich begleitest.“ Bevor Ethos antwortete, studierte er Chinos Gesichtszüge. Er meinte auf jeden Fall ernst, was er da gerade gesagt hatte und wirkte zudem völlig davon überzeugt. Es war unsinnig, Chino von seinem Vorhaben abhalten zu wollen. Viel mehr würde es darauf ankommen, das ganze Unterfangen so sicher wie möglich zu gestalten. „Du willst das wirklich tun?“ „Ja. Also, hilfst du mir diesmal?“ Ethos musste an das denken, was der Prälat zu ihm gesagt hatte. Marcus Dominic hatte sich, was seinen Auftrag anbelangte, klar und deutlich ausgedrückt. Chino zu helfen würde bedeuten, gegen seinen Auftrag zu verstoßen. „Wann werdet ihr euch treffen?“ „Wenn es anfängt zu dämmern, werde ich mich auf den Weg zum Hafen machen.“ „Gut. Wir werden uns hier treffen und zusammen gehen.“ „Danke“, sagte Chino und strahlte so sehr, dass Ethos das Gefühl hatte, er würde ihn jeden Augenblick anspringen und umarmen. Stattdessen streckte Chino ihm die Hand entgegen. „Zuerst einmal“, klagte Ethos und schob die Hand beiseite, so weit wie möglich von seinen weißen Klamotten weg. „Werden wir dich duschen. Wenn du Maria in diesem Zustand wiedersehen solltest, wird sie dich sofort wieder verlassen.“ Chino lächelte daraufhin und ging mit Ethos mit, damit er die Möglichkeit bekommen würde, sich frisch zu machen. Während die beiden nebenher gingen, bewunderte Ethos den neuen Frohmut und die Gelassenheit des Dämons. Wie einfach es war, Chino glücklich zu machen. Sobald er daran dachte, dass Maria bald wieder mit ihm vereint war, schien es für ihn nichts mehr auf der Welt zu geben, das ihm etwas hätte antun können. Es war, als würde alles Böse aufhören zu existieren. „Habt ihr eigentlich einen weiteren dämonischen Kontaktmann bei euch?“ „Nein, warum?“, fragte Ethos überrascht. Plötzlich verdüsterten sich Chinos Züge wieder. „Dann hat, schon wieder, jemand euren Bannkreis ausgesetzt.“ Nachdem sie mehrere Stunden für sich geblieben war, kehrte Lydia zu der Katharinenkirche zurück. Innerlich rüstete sie sich bereits für die nächste Begegnung mit Artemis. Er hatte einen guten Grund, wütend auf sie zu sein, aber Lydia wusste ebenso gut, dass auch Artemis nicht ohne Schuld an ihrer Situation war. Denn genauso wenig, wie sie etwas gegen seine Annäherungsversuche gesagt hatte, hatte sie verlauten lassen, dass sie danach vorgehabt hätte, wieder mit ihm zusammen sein zu wollen. Natürlich, sie hatten sich geliebt, wie es nur Paare vermochten, doch das lag daran, dass sie sich immerhin lange kannten und auch schon häufig miteinander geschlafen hatten. Da wusste sie eben, wie sie Artemis behandeln musste und umgekehrt. Lydia schaute auf ihre Uhr. Sie hatte nun schon eine Viertelstunde draußen gewartet. Artemis war noch nicht aufgetaucht und auch Ponomarjow hatte sich noch nicht blicken lassen. Trotz des Sonnenscheins merkte Lydia, wie sie leicht zu frösteln begann. Wenn Artemis sich verspätete, konnte er kaum von ihr verlangen, dass sie länger als nötig draußen wartete. Die Nonne wand sich in Richtung Tür und wollte gerade klopfen, als sie sah, dass sie lediglich angelehnt worden war. Vielleicht wurde sie bereits erwartet. Sich umschauend, ging Lydia durch die Gänge und versuchte sich an einigen Merkmalen zu orientieren, um zurück in das Innere der Kirche zu finden. Einige Minuten später stand sie erneut zwischen den Stühlen gegenüber des großen Altars. Gespenstische Stille beherrschte den Raum. Sie legte den Kopf in den Nacken und schaute zu der beeindruckenden Kuppel hinauf. Wie aus dem nichts ertönte plötzlich ein Grummeln zu ihrer rechten. Sofort senkte Lydia ihr Haupt, konnte jedoch die Ursache des Geräusches nicht ausmachen. Langsam bewegte sie sich vorwärts, direkt auf den Altar zu. Wieder ertönte ein Geräusch, diesmal hörte es sich nach einem lauten Knacken an, als würde etwas entzwei gebrochen werden. Lydia kam am Altar an und stellte sich auf die Zehenspitzen, damit sie etwas sehen konnte. Hinter dem Altar saß etwas. Da sie sich schnellstmöglich zurückgezogen hatte, um nicht gesehen zu werden, hatte auch Lydia nicht erkennen können, um was es sich handelte. Lydia spürte, wie ihr Herz anfing schneller zu schlagen. Noch bevor sie ihren Fehler erkannte, nämlich, dass sie ihre Waffe in ihrem Koffer gelassen hatte, stürzte sich vor ihr ein Schatten in die Tiefe. Erneut blickte sie in die Augen eines weißen Löwen, der sein Maul weit aufriss und auf sie zusprang. Lydia bückte sich und hechtete an dem Tier vorbei, das seine Krallen in das Holz hinter sie geschlagen hatte. Fauchend drehte der Löwe sich um, Lydia war bereits an ihrem Koffer angekommen. Doch bevor sie ihn öffnen konnte, hatte der Löwe aufgeholt und schlug ihn ihr mit seiner Pranke aus den Händen. Polternd schlitterte der Koffer über den Kirchenboden, dabei öffnete sich der Verschluss. Sämtliche Kleidung und weitere Inhalte verteilten sich auf dem Marmor, darunter auch Lydias Degen. „Hey, Kätzchen“, ertönte es hinter Lydia und auch der Löwe drehte sich um. „Hier bin ich.“ Sofort ließ der Löwe von Lydia ab und konzentrierte sich auf Ponomarjow, der neben dem Altar aufgetaucht war. Lydia nutzte die Ablenkung, um an ihre Waffe zu kommen. Während der Löwe verhalten auf den Geweihten zuschritt, züngelten schwarze Fäden aus seinem Körper hervor. Nach und nach löste er sich auf und verwandelte sich in die Gestalt eines Mannes. Lydia erkannte in ihm den Asiaten wieder, dem sie in Indien begegnet war. Nur wenige Meter von Ponomarjow hielt er an, dann streckte er seinen Arm aus. Wieder löste sich sein Körper auf und wechselte die Gestalt. Zum Vorschein kam ein Mann mit leicht gelockten schwarzen Haaren, braunen Augen und einer athletischen Statur. In der Hand, welche er ausgestreckt hielt, sammelten sich Funken. Ponomarjow reagierte sofort. Sobald der Feuerball, welcher sich aus den Funken generiert hatte, auf ihn zuschoss, hob er seinen eigenen Arm. Auch in seiner Hand hatte sich Energie gesammelt, die das Feuer verpuffen ließ, als wäre es eine kleine Flamme auf einer Kerze, die in Wasser getaucht wurde. „Da musst du dir schon etwas mehr einfallen lassen“, lachte Ponomarjow siegessicher. Daraufhin stürzte sich der Dämon auf ihn und holte aus, doch Ponomarjow wehrte den Angriff mit Leichtigkeit ab. Erstaunt stellte Lydia fest, wie es aussah, wenn sich ein Priester mit jenen Fähigkeiten in den Kampf stürzte, wie auch Ethos sie besaß. Sie hatte so etwas noch nie in natura sehen können. Umso faszinierender war das Schauspiel, welches sie gerade verfolgte. Jeder einzelne Angriff wurde entweder mit Leichtigkeit abgewehrt, pariert oder ihm ausgewichen. Es schien, als habe der fremde Dämon nicht den Hauch einer Chance. Wann immer er eine Partie berührte, die mit der seltsamen Energie des Priesters aufgeladen war, schoss Qualm hervor und führte ihm teils schwere Verbrennungen zu, je nachdem, wie lange er Ponomarjow zu nahe kam. Obwohl sie davon ausging, nicht unbedingt in den Kampf eingreifen zu müssen, blieb Lydia wachsam. Teilweise bewegten sich die beiden so schnell, dass sie nicht erkennen konnte, was genau vor sich ging. Ihre Augen huschten wild durch die Gegend, immer darum bemüht, das Geschehen verfolgen zu können. Solch eine Schnelligkeit hätte sie dem alternden Priester gar nicht zugetraut. Plötzlich landete Ponomarjow einen kräftigen Schlag und traf den Dämon direkt in den Bauch. Dieser wurde, auch durch den Schwall Energie, der durch seinen Körper floss, so stark nach hinten geschleudert, dass Lydia sich ducken musste, um ausweichen zu können. Wenige Meter hinter ihr landete der Dämon, jedoch schaffte er es, dabei mit den Füßen aufzukommen. Wieder in seiner ursprünglichen Form, hechtete er sofort nach vorne. Sein Ziel war jedoch nicht der Priester, sondern Lydia. Indem er seine Hand um den Hals der Nonne legte, packte er diese und zog sie an sich heran. Anstatt weiter nach vorne zu eilen, zog er Lydia mit sich nach hinten, was Ponomarjow sichtlich verwirrte und dadurch verhinderte, dass der schnellstmöglich reagieren konnte. Dem Dämon blieb genügend Zeit, um Lydia wegzuschleifen. Zwar schlug Lydia wild um sich, doch dies brachte nicht viel. Der Griff um ihren Hals lockerte sich kein bisschen. Verzweifelt stellte Lydia sich die Frage, wann Artemis endlich eintreffen würde. Mit seinem dämonischen Auge wäre er dazu in der Lage, ihr zu helfen. Tränen stiegen ihr in die Augen, als sie daran dachte, dass er nicht auftauchen würde. Nun, im hintersten Teil des Raumes, hockte er auf Lydias Hüfte und legte beide Hände um ihren Hals. Nach Luft schnappend, verlor Lydia ihre Waffe, wodurch sie praktisch hilflos wurde. Es dauerte nicht lange und ihr wurde schwarz vor Augen. Es kam ihr schon fast ein wenig zu einfach vor. Esrada hatte Blackcage auf einen Beobachtungsposten geschickt, anscheinend stimmte irgendetwas mit einem ihrer Informanten nicht. Dementsprechend hatte sie freie Bahn, um sich Maria zu schnappen und abzuhauen. Sämtliche Dämonen, die sie hätten entdecken können, waren gebunden. Natürlich war das Zimmer von Blackcage abgeschlossen, das hatte sie bereits in ihrer Planung einbezogen. Gestern hatte sie einige wenige Minuten gehabt, in denen sie mit Maria gesprochen hatte. Blackcage war zu einer Besprechung gerufen worden und somit hatte Hildegard ihr gesagt, was sie machen musste. Nun schob Maria einen kleinen Zettel unter der Tür hervor. Um die Worte, die darauf geschrieben standen, aufzuschreiben, hatte sie sämtlichen Mut zusammen nehmen müssen. Hätte Blackcage etwas davon mitgekriegt, dass sie sich notierte, welche Worte er für das magische Schloss seines Gemaches benutzte, hätte er sie mit Sicherheit getötet. Hildegard reichte es, dass ihre Schwester die Worte nach Laut aufgeschrieben hatte. Viele der Worte dürften ihr nicht geläufig gewesen sein, aber Hildegard wusste, wie schlau Maria war. Bereits in ihrer Kindheit war es Maria gewesen, die besser hatte zuhören können und die sich jedes einzelne Wort merken konnte, während Hildegard bis heute damit zu kämpfen hatte, einzelne Sätze wortgetreu bis ins letzte Detail zu rekonstruieren. Sie schaute sich den Zettel an und legte ihre Hand auf den Türknauf. Dazu flüsterte sie einige Worte. Es funktionierte, die Tür schwang auf und Maria kam auf Hildegard zu gerannt. Weinend legte sie die Arme um ihre Schwester, die sie mahnend ansah. „Hildi, du bist gekommen.“ „Wir müssen jetzt schnellstmöglich hier weg. Ich bringe dich hier raus, aber du darfst keinen einzigen Mucks von dir geben, in Ordnung?“ Maria nickte, dann raffte sie sich auf und schaute nach draußen. Hinter Hildegard stand ein weißer Löwe, dessen Augen aufgrund einer Wunde nicht mehr zu erkennen waren. Schnell fasste Hildegard Maria bei der Hand, dann zog sie sie auf ihre Höhe und schaute den Flur herunter. Niemand zu sehen. Als Hildegard noch einmal zu ihrer Schwester sah, hätte auch sie zu weinen anfangen können. Maria wirkte völlig zerstreut. Ihre Augen waren leer und ausdruckslos, ihre Haut fahl wie Asche. So, wie sie sich bewegte, schien es, als habe sie Schmerzen. Besonders in dem Bereich ihres Unterleibes, denn Maria ging leicht nach vorne gebeugt und mit sehr vorsichtigen Schritten. Wut wallte erneut in Hildegard auf, doch sie schluckte den Zorn erst einmal herunter, um einen klaren Kopf zu behalten. So schnell es ging bewegte sie sich vorwärts, dicht gefolgt von Maria und Leo. Als sie an der Treppe nach unten ankam, gab sie Maria ein Zeichen, dass diese für einen kurzen Augenblick warten sollte. Nachdem Hildegard sich vergewissert hatte, dass auch hier keiner zu sehen war, winkte sie Maria zu sich herunter. Nun lag nur noch die schwere Eingangstür zwischen ihr und der Freiheit. Wieder wartete Hildegard, bis Maria bei ihr angekommen war. Dann bewegte sie sich, so leise sie konnte, auf den Ausgang zu. Erwartungsvoll und mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen, streckte sie ihre Hand aus. Gerade, als sie die Tür berühren wollte, zuckte sie zusammen und machte einige Schritte zurück, wodurch sie Maria beinahe umgestoßen hätte. Einen Angstschrei ausstoßend, beobachtete Maria, wie sich vor der Tür ein Mann zu materialisieren schien. Wenig später stand er vor ihnen und schaute angewidert und verärgert auf die drei Individuen vor sich herab. „Esrada“, knurrte Hildegard verächtlich und schob Maria schützend hinter sich. „Wo wollen du und deine Schwester denn so spät noch hin?“ Als Hildegard ihm die Antwort schuldig blieb, ging Esrada langsam auf sie zu. „Du weißt, was ich davon halte, wenn mich jemand verrät. Ich kenne kein Mitleid mit Dämonen, die sich gegen mich wenden.“ Hildegard wich immer weiter nach hinten. Ihre Augen glühten rot vor Aufregung, um sie herum bildeten sich immer stärker werdende Schatten. Maria war so weit zurück gewichen, dass ihre Schwester genügend Platz hatte, um, zusammen mit dem Löwen, Esrada entgegen zu treten. Mit all ihrer Verzweiflung und all ihrem Mut stürmte Hildegard auf Esrada zu. Angeblich hatte Gemini vor, jemanden zu treffen, der ihr neue Bücher verkaufen wollte, weshalb Marylin die Gelegenheit gekommen sah, sich auf eine neue Erkundungstour zu begeben. Aus irgendeinem Grund hatte sie ein besseres Gefühl, wenn sie dabei die Kette trug, welche Ethos ihr gegeben hatte. Sie fühlte sich um einiges sicherer, irgendwie geborgener. Nachdem sie ihre Taschenlampe repariert hatte, stieg Marylin in den Keller hinunter und stapfte diesmal direkt auf das Regal zu, auf welchem die Fänger ausgewiesen worden waren. Mittlerweile hatte sie auch herausgefunden, auf welchen anderen Sprachen die Bezeichnungen verfasst worden waren. Spanisch, Deutsch, Englisch, Latein und Italienisch. Was auch immer das bedeuten mochte. Gleichzeitig hatte Marylin sich das Wort „Fänger“ auf allen diesen Sprachen herausgesucht. Mit dieser Vorbereitung konnte, ihrer Meinung nach, nicht mehr allzu viel schief gehen. In der Tat hatte sie schnell den Teil gefunden, welchen sie ins Auge gefasst hatte. Da hier nicht allzu viele Bücher standen, die in ihrem Titel das Wort „Fänger“ führten, würde ihr Aufenthalt auch nicht lange dauern. Sie zog einige Bücher heraus, blätterte sie durch und stellte sie dann wieder zurück. Erst beim fünften Buch schaute sie genauer hin. Zwar konnte sie nicht jedes einzelne Wort verstehen, aber die Abbildungen und einige Stichworte erschienen ihr äußerst vielversprechend. Eine Welle der Euphorie und der Freude überkam Marylin. Sie hatte es tatsächlich geschafft. So wie es aussah, hielt sie hier eines der Bücher in den Händen, nach dem so lange im Vatikan gesucht worden war. Notizen, die bis in das frühe Mittelalter hinein datiert waren, zeugten davon, dass es bereits sehr alt sein musste. Was Marylin allerdings stark verunsicherte, war der annehmbare Zustand. Offenbar war säurefreies Papier verwendet worden, was zu der damaligen Zeit unmöglich war. Die Ränder waren zerflettert und die Seiten wellten sich, aber bis auf die gelbliche Färbung und der unangenehme Geruch waren keine weiteren Verfallsspuren zu erkennen. Trotzdem wollte sie ihren Fund mitnehmen und Ethos zeigen. Vielleicht wusste der etwas damit anzufangen. Und außerdem könnte sie dann noch weitere Bücher von hier unten besorgen. Ein schlechtes Gewissen, dass sie Gemini beklaute, hatte Marylin nicht. Immerhin hatte die Zigeunerin genügend eigene Geheimnisse vor ihr. Zum Beispiel diese geheime Bibliothek. Obwohl Gemini wusste, dass sich Marylin für diese Art von Büchern interessierte, hatte sie sie nie hier unten her geführt. Noch nicht einmal, nachdem die beiden ihre intime Beziehung zueinander eingegangen waren, hatte Gemini eine Notwendigkeit darin gesehen, Marylin mit hierher zu nehmen. Natürlich war die Südländerin auch nicht dazu verpflichtet, so innig waren sie dann doch nicht miteinander verbunden. Es war Spaß und Ablenkung, damit Marylin nicht daran denken musste, was ihr in England und auch hier vor Ort wiederfahren war. Gemini sah es vermutlich genauso. Voller Vorfreude auf die Reaktion, welche Marylin sich von ihrem Fund erhoffte, blätterte sie noch einmal in dem Buch herum. Keine Zweifel, es waren Beschreibungen von Gegenständen, denen ein magisches Element innewohnte. Plötzlich hörte sie eine Tür zufallen. Erschrocken hob Marylin den Kopf und sah, wie sich ein seichtes Licht näherte. Wenige Sekunden später schälte sich Geminis Gestalt aus dem Dunkel, in ihrer Hand hielt sie eine Öllampe. Mit ihren dunklen schwarzen Augen starrte sie Marylin an. Ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem missbilligenden Ausdruck, der Marylin bereits erahnen ließ, was jeden Moment auf sie zukommen würde. Kapitel 25: Kapitel 25 ---------------------- Kapitel 25 Lydia wusste nicht, wie lange sie ohnmächtig gewesen war, es konnte sich jedoch nur um Sekunden, im schlimmsten Fall um Minuten gehandelt haben. Dumpf nahm sie das Geräusch von mindestens zwei sich bekriegenden Individuen wahr, ihr Sehvermögen hatte sich noch nicht dazu durchringen können, seinen gewohnten Dienst wieder aufzunehmen. Nur langsam bekam Lydia ihre Sinne wieder unter ihre Kontrolle. Es brauchte einiges an Überwindung, die Augen wieder zu öffnen. Zunächst wurde sie von dem hereinfallenden Sonnenlicht geblendet, dann gewöhnte sie sich wieder an die Helligkeit. In ihrem Kopf pochte es unregelmäßig, beinahe hatte sie das Gefühl, als würden ihr die Adern unter der Haut platzen. Trotzdem schaffte sie es, sich aufzurichten. Einige Meter entfernt kämpfte der russische Priester noch immer mit dem Dämon. Schwankend duckte Lydia sich nach ihrem Degen. Als sie den Griff umfasste, fühlte sie sich noch immer etwas schwach, brachte es aber fertig, die Waffe hochzuheben. Bevor sie sich in den Kampf einmischen sollte, würde sie noch ein wenig warten müssen, bis sich ihr Kreislauf wieder stabilisiert haben würde. Es machte sie wütend, dabei zusehen zu müssen, wie ein anderer Geistlicher alleine gegen einen Dämon antrat, während sie tatenlos daneben stand, aber sie sollte auch nicht noch einmal so unüberlegt handeln. Was Lydia jedoch noch mehr Zorn verspüren ließ, war Artemis‘ Abwesenheit. Er war noch immer nicht gekommen und zeigte einmal mehr, wie unzuverlässig er war. Gerne hätte Lydia ihm alle möglichen Verwünschungen entgegen gebrüllt, aber Artemis war nicht da und sie hatte definitiv andere Probleme, als sich über ihn und seine kindische Reaktion den Kopf zu zerbrechen. Lydia spürte, wie es ihr wieder besser ging. Sie hatte zu alter Kraft zurück gefunden (meinte dies jedenfalls) und machte sich bereit, in den Kampf einzugreifen. Aus irgendeinem Grund hatte Ponomarjow an Kraft verloren, das konnte sie an seinen Bewegungen sehen. Ob das daran lag, dass er alt war oder an etwas anderem, konnte sie wiederum nicht bestimmen. Während sie auf die beiden zulief, bereitete Lydia ihren Angriff vor. Sie hob den Degen mit der rechten Hand über die linke Schulter, um einen breiten Schlag ausführen zu können. Der Dämon sah sie allerdings kommen und wich dem Angriff aus. Im gleichen Augenblick hatte Ponomarjow ebenfalls zuschlagen wollen, doch selbst ohne Lydias Intervention wäre sein Angriff ins Leere gelaufen. Der Dämon ließ sich von einem zweiten Gegner jedoch kaum beeindrucken. Indem er die beiden Geistlichen ansah, schätzte er seine Optionen ein. „Wo ist denn Ihre jugendliche Begleitung?“, fragte Ponomarjow, sein Atem ging schwer. „Ich weiß es nicht“, stieß Lydia unter zusammengepressten Zähnen hervor. Noch immer schaffte sie es nicht, den Zorn aus ihrer Stimme zu verbannen. Auch Ponomarjow begriff dies anscheinend, denn er stellte keine weiteren Fragen. Zusammen beobachteten die Nonne und der Priester, wie der Asiate nach einem Weg suchte, durch die beiden hindurch zu brechen. Plötzlich hielt der Dämon mitten in seiner Bewegung inne. Es schien, als habe er einen neuen Plan gefasst. Wieder stiegen Fäden auf, wieder zersetzte sich sein Körper und bildete eine vollkommen neue Gestalt. Lydia hielt den Atem an, als sie der Gestalt von Artemis gegenüber stand, ohne Augenklappe, das dämonische Auge auf sie gerichtet. Bereits der erste Schritt, den der Dämon auf sie zu machte, führte dazu, dass Lydia sich nahezu hilflos fühlte. Warum sie plötzlich das Herz in ihrer Brust hämmern hörte, konnte sie nicht sagen. Sie wusste, dass es nicht wirklich Artemis war, der ihr da gerade gegenüber stand. Doch alleine sein Anblick reichte aus, um sie komplett aus der Bahn zu werfen. Diesmal war dem Dämon die Imitation wesentlich besser gelungen, als bei Chino. Als er in Indien die Gestalt von dem Spanier angenommen hatte, waren seine Mimik und seine Augen so ausdruckslos gewesen, dass er eher wie eine Puppe, denn wie ein lebendiges Wesen gewirkt hatte. Je näher ihr der Dämon kam, desto stärker spürte Lydia, wie ihr Wille aus ihr herausgesogen wurde. Es musste an dem rot glühenden Auge liegen, von dem sie fixiert wurde. Das Gefühl der Willenlosigkeit kam ihr vertraut vor, immerhin wusste sie, wie Artemis‘ Auge unter seiner Augenklappe aussah und welche Wirkung es besaß. Sie hatte es nur selten miterleben müssen, doch diese wenigen Momente hatten ausgereicht um erkennen zu müssen, dass Artemis eine überaus mächtige Waffe in seinem Körper beherbergte. Auf Ponomarjow wirkte der Zauber des Dämons jedoch nicht. Er konnte sich weiterhin frei bewegen, was er ausnutzte, damit er seinen Feind angreifen konnte. Doch wieder liefen seine Attacken ins Leere, er war inzwischen noch einmal etwas langsamer geworden. Lydia hörte, wie der Priester etwas murmelte, das sich entfernt danach anhörte, wie schlecht er in Form geblieben war, seitdem er im Krieg gedient hatte. Jetzt fiel es auch Lydia wieder ein. Die Verletzung aus dem Krieg. Sie wusste nicht, um was für eine Verletzung es sich handelte, aber sie war es womöglich, die Ponomarjow behinderte. Demnach musste dieser Kampf schnellstmöglich zu Ende gebracht werden. Andererseits konnte es passieren, dass Ponomarjow seine Kräfte verloren hätte, bevor sie auch nur ansatzweise einen Erfolg verbuchen könnten. Somit machte Lydia sich ein weiteres Mal zu einem Angriff bereit. Ihr Degen schnellte nach vorne, doch der Dämon machte sich nicht einmal die Mühe, ihrer Attacke auszuweichen. Er griff nach der Waffe und umfasste sie in der Mitte. Lydia stand dem Dämon nun relativ wehrlos gegenüber. In ihrer Verzweiflung erhob sie die Faust und schlug zu. Auch ihre Hand wurde abgefangen, so dass sie bewegungsunfähig wurde. Indem er seine Arme zur Seite schwang, entwaffnete der Dämon sie, gleichzeitig besaß er eine sonderbare Energie, dass Lydia spürte, wie ihre Füße den Kontakt zu dem Boden verloren. Ihr Körper wurde mit einer solchen Gewalt durch die Luft geschleudert, dass sie keine Möglichkeit hatte, sich auf die Landung vorzubereiten. Mit ungebremster Kraft schlug sie auf dem harten Boden auf. Ein brutaler Schmerz kroch ihre Wirbelsäule hinauf und brachte sie dazu, laut zu schreien. Da ihr gesamtes Gewicht ungefedert auf sie gedrückt hatte, zusätzlich zu der unmenschlichen Kraft des Dämons, kam es ihr vor, als hätte der Aufprall sämtliche Knochen in ihr zum Bersten gebracht. Als der Dämon sie los ließ, stützte Lydia schwer atmend ihren Oberkörper ab und schaute hinauf. Sie sah die Spitze eines Schwertes vor sich auftauchen. Sekunden waren es gewesen, in denen der Dämon sein Erscheinungsbild verändert hatte. Ein blonder Mann mit grünen Augen und langen Haaren, gekleidet in einem Artistenkostüm, stand vor ihr. Das alles musste innerhalb eines Augenschlages passiert sein, ihr kamen es wie Stunden vor. Langsam stand Lydia auf. Unter dem Prostest ihres Körpers schaffte sie es sogar, sich zu voller Größe aufzurichten. Dabei wanderte das Schwert stetig mit, bis es auf Höhe ihres Herzens zum Stehen kam. Ohne ein Wort holte der Dämon aus und stach zu. Lydia kniff sie Augen zusammen. Sie wusste, dass sie verloren hatte. Wenigstens würde sie im Stehen sterben, nicht wie ein Hund am Boden. Doch der vermutete Schmerz blieb aus. Stattdessen spürte sie, wie sie erneut zur Seite gerissen wurde. Ein widerliches Geräusch von durchstochenem Fleisch und dem Reißen von Sehnen erfüllte den Raum. Lydia öffnete ihre Augen und fand sich in den Armen von Ponomarjow wieder. Sie spürte, wie ihr Bauch von einer warmen Flüssigkeit erfasst wurde. In dem Rücken des russischen Priesters steckte das Schwert, das eigentlich dafür gedacht war, Lydia hinzurichten. Als sie den Blick hob, bemerkte die Nonne, dass der Dämon verschwunden war. Sofort brachte sie etwas Abstand zwischen sich und Ponomarjow, der sich schwer atmend zu Boden fallen ließ. Lydia schaffte es gerade noch, ihn aufzufangen und sich zu ihm auf den Boden zu setzen. Den Kopf des Priesters hielt sie in beiden Händen. Tränen stiegen ihr in die Augen, kamen jedoch noch nicht zum Vorschein. „Warum haben Sie das getan?“ „Wer wäre ich, wenn ich einer Frau in Not nicht helfen würde.“ Als Lydia diesen Satz hörte, konnte sie ihre Tränen nicht mehr zurück halten. Ein leises Husten ertönte, dazu spie Ponomarjow etwas Blut aus dem Mund. Nach und nach wich das Leben aus seinen Augen heraus, bis sein Körper schlaff in Lydias Armen lag. Weinend beugte sich die Nonne über den leblosen Körper, dazu zog sie das Schwert aus Ponomarjow heraus. Ein weiterer Schwall Blut ergoss sich, doch darum kümmerte sie sich in diesem Augenblick nicht. Wut, Trauer und Verzweiflung vermischten sich in diesem Augenblick und ließen Lydia alles andere um sie herum ausblenden. Der animalische Schrei, den sie ausstieß, schien die gesamte Kirche zu erschüttern. Während Blackcage auf dem Dach der Katharinenkirche stand und angestrengt die Umgebung beobachtete, tauchte hinter ihm plötzlich ein Mann auf. Erst, als dieser sich räusperte, fuhr Blackcage herum. „Wie ich sehe, lernst du schnell dazu, Kyro“, stellte der Schwarzhaarige grinsend fest und verließ seinen Posten. Als er vor Kyro angekommen war, schaute er den Asiaten von oben bis unten an. Das Grinsen wich langsam aus seinem Gesicht. „Was sind das für Verbrennungen an den Händen?“ „Ich habe sie mir im Kampf gegen den Priester zugezogen.“ „Hat Esrada sich nicht klar ausgedrückt? Du sollst es vermeiden, sichtbare Verletzungen aus einem Kampf davon zu tragen. Sie werden bei deinen Verwandlungen teilweise noch übernommen. Man könnte dich so identifizieren.“ „Aber alle, die das könnten, sind nicht im Vatikan.“ „Außer McDouglas.“ In Blackcages Ton schwang unüberhörbar Missbilligung mit. Das entging auch Kyro nicht, der daraufhin leise mit den Zähnen knirschte. „Mich musst du dafür nicht kritisieren. Dass er mit dem Leben davon kam, daran hat jemand anderes Schuld.“ „Ja, wir sollten wirklich aufpassen, dass uns nicht die Kontrolle entrissen wird“, war Blackcages einziger Kommentar zu der Rechtfertigung des Asiaten. „Wie dem auch sei, ich sehe keinen Grund mehr, dass wir uns länger hier aufhalten. Es gibt vorerst keinen Handlungsbedarf mehr. Da du lebst, gehe ich davon aus, dass Ponomarjow tot ist?“ Kyro bestätigte die Feststellung mit einem Nicken. „Gut, dann wird es an der Zeit, dass ich zu meiner Geliebten zurückkehre.“ „Und was ist mit der Nonne?“, fragte Kyro, bevor Blackcage sich davon machen konnte. „Was soll mit ihr sein?“ „Wollen wir sie wirklich am Leben lassen?“ „Warum nicht“, seufzte Blackacge, inzwischen sichtlich genervt. „Sie ist keine Bedrohung für uns. Jedenfalls will es Esrada doch so. Lydia soll kein Schaden zugefügt werden. Wenn er es so will, soll er es so haben.“ Mit diesen Worten war das Gespräch für Blackcage beendet. Rauch bildete sich um den Dämon, wenig später war er verschwunden. Kyro drehte sich noch einmal um und beobachtete, wie Lydia, in einen Mantel gehüllt, die Kirche verließ und scheinbar ein wenig ziellos durch die Gegend lief, bis sie die scheinbar für sie richtige Richtung gefunden hatte. Kyro hielt es noch immer für einen Fehler, die Frau laufen zu lassen, aber Blackcage hatte Recht. Wenn Esrada es so wollte, konnte es ihm auch egal sein. Nachdem Chino sich einigermaßen akzeptabel hergerichtet hatte, hatte er sich, zusammen mit Ethos, auf den Weg zum Hafen gemacht. Seine Klamotten waren noch immer dreckig, doch in der erforderlichen Zeit an neue Klamotten zu kommen oder seine alten zu säubern, das war etwas, das selbst Ethos nicht hatte bewerkstelligen können. Die Zeit hatte so gedrängt, dass er nicht einmal Nachforschungen hatte anstellen können, ob Steve inzwischen verhaftet worden war. Immerhin hatte Ethos zusätzlich noch dafür sorgen müssen, dass der Bannkreis wieder aufrechterhalten werden konnte. Chinos Hilfegesuch hatte diesmal außerdem die höhere Priorität von ihm beigemessen bekommen. Ein kalter Wind zog auf, als die beiden sich dem Hafen näherten. Die im Dunkel liegenden Schiffe und Ruderboote wiegten sich in den aufkommenden Wellen. Hin und wieder wurden einzelne Passagen des Steges und der angrenzenden Lagerhallen von einer Laterne erleuchtet, doch der Großteil des Gebietes war kaum zu erschließen. Für einen kurzen Augenblick machte sich Chino Sorgen darüber, dass Hildegard ihn nicht finden würde, doch er verwarf diesen Gedanken schnell wieder. Wenn sie ihn in dem Gestrüpp außerhalb der befestigten Anlagen hatte aufspüren können, würde sie es an diesem Ort auch können. „Wo werdet ihr euch genau treffen?“, fragte Ethos und blieb mitten auf einem unbeleuchteten Steg stehen. „Und wäre es nicht klüger, wenn ich mich im Hintergrund aufhalte?“ „Ich denke, dass Hildegard uns hier schon finden wird. Und verstecken solltest du dich ebenfalls nicht. Sie soll sehen, dass jemand bei mir ist. Wenn sie überrascht wird, könnte sie sich möglicherweise wieder zurückziehen.“ Ethos nickte nur zustimmend und schaute sich noch einmal um. Das Gelände lag vollkommen verlassen vor ihnen, lediglich das Geräusch der Boote und der Wellen war zu vernehmen. Hier und da kreuzten einige Ratten auf, verschwanden jedoch gleich wieder, wenn sie Ethos oder Chino allzu nahe kamen. Vor einem schwach beleuchteten Tor blieben sie stehen. Es gehörte zu einer Lagerhalle die so heruntergekommen aussah, dass sie wohl schon lange nicht mehr genutzt wurde. Wenn Ethos eines hasste, dann war es der Verlust der Kontrolle über die Situation. Und genau das passierte gerade. Nicht nur, dass er darauf angewiesen war, dass Chinos Plan aufgehen würde, er musste sich zudem darauf verlassen, dass Hildegard Krüger die Wahrheit gesagt hatte. Die Warterei war ebenfalls etwas, das Ethos nur sehr schwer mit seiner Arbeitsweise in Einklang bringen konnte. Nicht nur, dass er dadurch wertvolle Zeit verlor, er fühlte sich auch nutzlos und ausgebremst. In seinem Kopf ging Ethos mehrere Möglichkeiten durch, wie dieses Treffen verlaufen würde. Damit hatte er nicht nur etwas zu tun, sondern verhinderte, dass es zu überraschenden Momenten kommen konnte. Nebenbei konnte er sich noch einmal in der Überlegung vertiefen, warum der Bannkreis ein weiteres Mal ausgesetzt worden war. Ein Mensch konnte den Kreis nicht spüren oder sehen. Nur Dämonen waren dazu in der Lage. Was wiederum bedeutete, dass die Priester sich untereinander vertrauen mussten, dass der Bann aufrecht erhalten bleiben würde. Womit Ethos wieder bei den potentiellen Verrätern angekommen war. Es waren definitiv mehrere Personen involviert. Mit Steve stimmte etwas nicht, aber er konnte unmöglich alleine gehandelt haben. Dazu kam noch das Gespräch zwischen Mathilde und Dominic, welches er bei der Beerdigung gestört hatte. Noch war Ethos nicht dahinter gekommen, was es bedeutete. Plötzlich horchte Chino auf. „Da kommt jemand“, sagte er und beugte sich nach vorne. Auch Ethos rührte sich, war jedoch noch immer skeptisch. Zwei Personen tauchten auf. Die eine konnte Chino als Hildegard Krüger identifizieren, die andere als Maria. Seine Kinnlade klappte herunter, als er die beiden näherkommen sah, dazu wirkte er geradezu entsetzt. „Maria!“ Sofort stürmte Chino auf die beiden Schwestern zu. Hildegard konnte sich gerade so eben auf den Beinen halten. Blut lief ihre Schläfe herunter, auch ihr dunkles Kleid wies einige Spuren von Blut auf. Maria wiederum konnte sich überhaupt nicht mehr bewegen. Ihre Glieder hingen leblos an ihr herunter, auch ihr Körper war voller Blut. Wo genau die einzelnen Wunden saßen, konnte Chino auf den ersten Blick allerdings nicht erkennen. „Was ist passiert?!“, fragte Chino und nahm Maria in den Arm. „Du hast gesagt, du würdest alleine kommen!“, schrie Hildegard den Dämonen verzweifelt an, doch dieser schien sie nicht mehr wahrzunehmen. „Du hast dein Versprechen gebrochen, ich dachte, ich könne dir vertrauen!“ „Das kannst du auch“, antwortete Chino und strich Maria eine blutige Haarsträhne aus der Stirn. „Chino…“, murmelte Maria schwach. „Ich bin so froh, dich zu sehen.“ Ein leichtes Lächeln, das sie einiges an Kraft kostete, legte sich auf Marias Lippen. Sie griff nach Chinos Hand, verlor diese jedoch wieder, da ihr Arm ihr nicht mehr gehorchen wollte. Chino drückte die junge Frau so fest er konnte an sich. Dazu flüsterte er einige beruhigende Worte, während Hildegard noch immer zu Ethos hinüber schaute. Ihr weißer Löwe gesellte sich knurrend neben sie. Auch sein Fell hatte sich an einigen Stellen hellrot gefärbt. Das Tier streckte seine Nase in die Luft und als es den Geruch des Priesters aufgenommen hatte, fletschte es bedrohlich die Zähne. „Ich werde Ihnen nichts tun“, versicherte Ethos. „Genauso wenig, wie Sie meinem Mann etwas getan haben?“, spottete Hildegard, die zornigen Augen von tiefem Rot durchzogen. „Warum sollte ich gerade Ihnen Glauben schenken?!“ Ethos hatte nicht vor, auf diesen Vorwurf einzugehen. Als er sah, wie liebevoll sich Chino um Maria kümmerte, wurde ihm bewusst, wie sehr er sie lieben musste. Nach all den Jahren, in denen sie nicht einmal mit ihm gesprochen hatte. Etwas in Ethos schien sich zu verändern. „Ich werde dafür sorgen, dass sie behandelt wird.“ Chino horchte auf. „Ich kann mich um sie kümmern.“ „Nicht, wie es eine voll ausgestatte Ärztestation könnte“, sagte Ethos mit einem Kopfschütteln. „Wir werden Maria in den Vatikan bringen. Dort werden sich hervorragend ausgebildete Ärzte um sie kümmern. Und sie würde gut geschützt sein. Zumindest vor den Dämonen. Um den Rest kümmere ich mich.“ Was Chino einen Hoffnungsschimmer in die Augen trieb, ließ Hildegard nur noch misstrauischer werden. „Der Vatikan? Ich werde mich nicht freiwillig dorthin begeben. Das wäre der sichere Tod für mich. Nein, es muss anders gehen.“ Gerne hätte Ethos Hildegard daran erinnert, wer seit ihrem letzten Aufeinandertreffen im Vatikan den größeren Verlust hatte hinnehmen müssen, doch wenn er Chino wirklich helfen wollte, musste er diplomatischer agieren. „Hören Sie, ich weiß, dass das für Sie nicht der beste Handel ist. Aber wollen Sie, dass Ihrer Schwester geholfen wird? Ich meine, Sie werden mit Sicherheit überleben. Auch wenn Ihre Verletzungen deutlich schwerer gewesen sein dürften, als die von Maria“, versuchte Ethos der Dämonin zu erklären, nebenbei rieb er seine Handflächen ineinander. Er war wirklich nicht gut in diesen Dingen. „Doch damit dürfte es umso wichtiger sein, dass Maria schnellstmöglich ärztliche Hilfe bekommt. Chino kann mit Sicherheit einiges für sie tun, doch ihre Chancen stünden besser, wenn sie in ein Krankenhaus oder zumindest in eine Praxis kommt.“ Hildegard schien noch immer nicht überzeugt. Ständig wechselte ihr Blick zwischen Ethos, Chino und Maria. Ethos sah sich zu etwas gezwungen, von dem er sich geschworen hatte, es niemals zu tun. Bevor er das einzige Wort, das er niemals gegenüber einem Dämon auszusprechen gewagt hatte, hervorbringen würde, presste er die Zähne aufeinander und sah kurz zu Boden. „Bitte.“ Sichtlich überrascht fixierte Hildegard nun lediglich den Priester. „Bitte, lassen Sie uns Maria zu einer Krankenstation bringen.“ Auch Chino war dermaßen überrascht, dass er für einen Augenblick von Maria abließ. Dankbar schaute er zu Ethos hinüber, der den Dämon aber nicht wahrnahm. Er schaute Hildegard so fest in die Augen, bis diese einen schweren Seufzer ausstieß. „In Ordnung. Maria wird so lange im Vatikan bleiben, bis die erste Behandlung erfolgt ist. Sobald sie stabil genug ist, wird sie in ein Krankenhaus verlegt, das ich betreten kann, ohne zu Staub zu verfallen.“ „Sie haben die richtige Entscheidung getroffen“, erwiderte Ethos erleichtert. Chino hatte Maria bereits mit beiden Armen angehoben. Mittlerweile rührte sie sich gar nicht mehr, ihre Augen blieben geschlossen und ihr Atem ging so flach, dass Chino nicht mit Sicherheit sagen konnte, ob er überhaupt noch vorhanden war. „Oh, ich befürchte, ihr werdet nirgendwo hingehen“, ertönte eine Stimme über ihnen. Alle, bis auf Ethos, schauten in den schwarzen Himmel hinauf. In diesem Augenblick bildeten sich hinter Chino Rauchfäden und Ethos sprintete los. Noch bevor der Dämon seinen Arm heben konnte, war Ethos bei diesem angekommen und hatte Blackcages Handgelenk gepackt. Erschrocken drehte Chino sich um und wich einige Meter zurück. Blackcage und Ethos standen sich nun alleine gegenüber. Lächelnd blickte der Schwarzhaarige an dem Priester herab, bevor er ihm erneut in die Augen sah. „Wie praktisch, dass ich dich auch hier antreffe. Dann kann ich dir gleich eine Nachricht überbringen. Esrada freut sich schon darauf, dich wiederzusehen, Ethos.“ Von dieser Nachricht irritiert, lockerte Ethos seinen Griff unbewusst wieder. Blackcage befreite daraufhin seinen Arm, blieb allerdings weiterhin stehen. „Das sieht aus, als ob du dich nicht erinnern kannst. Anscheinend weißt du nicht, wer er ist. Das wird euer Widersehen umso interessanter machen. Wenn ich erst einmal mit dem Rest hier fertig bin, werde ich in der ersten Reihe stehen und Beifall klatschen.“ Da sich Ethos noch immer nicht zu Blackcages Worten äußerte, stieß dieser ein lautes Lachen aus. Ethos wollte sich gerade auf den Dämon stürzen, als er eine Hand auf seiner Schulter spürte. Chino hatte Maria an Hildegard weitergegeben und schob sich an Ethos vorbei, ohne diesen anzusehen. „Das hier ist meiner“, sagte Chino mit einem Ernst, der selten in seiner sonst so wohlklingenden Stimme zu vernehmen war. „Bring du zusammen mit Hildegard Maria in Sicherheit.“ „Aber du…“ „Nein, Ethos. Das hier ist etwas Persönliches. Nimm mir nicht meine Rache. Verschwinde und kümmere dich um Maria.“ Obwohl es ihm schwerfiel, wand sich Ethos von den beiden Dämonen ab und ging zu Hildegard hinüber. Diese nickte ihm nur zu und ließ sich Maria ohne Widerstand abnehmen. Zusammen liefen die beiden los, gefolgt von Leo. „Diesmal wird es keinen Ausweg für dich geben“, knurrte Chino verbittert. „Ich werde dich töten. Und dich für das bestrafen, was du Maria angetan hast.“ „Was willst du denn, Chino. Sie hat immerhin mit dir gesprochen. Du solltest eher dankbar sein.“ Chino spürte, wie seine Wut ins Unermessliche getrieben wurde. Sein Hass auf Blackcage flammte im Inneren seines Herzens auf und drohte, es zu verbrennen. Neben den bebenden Nasenflügeln und den roten Augen zeugten Chinos entblößte Reißzähne von den Gefühlen, die gerade in ihm aufwallten. Was auch immer passieren würde, es war das allerletzte Mal, dass Blackcage ihm oder Maria wehgetan haben würde. „Was machst du hier unten?“, fragte Gemini aufgebracht. Es hörte sich nicht so an, als ob die Zigeunerin diese Frage nur stellte, weil sie sich darüber ärgerte, dass Marylin in ihren Keller eingebrochen war. Da die Lampe genügend Licht spendete, schaltete Marylin ihre Taschenlampe aus und legte sie, zusammen mit dem Buch, in einem der Regale ab. „Was ist das hier?“, stellte Marylin die Gegenfrage, ohne auf Gemini einzugehen. Sie war verwundert darüber, wie viel Selbstsicherheit ihre Stimme aufwies. Insgeheim hatte Marylin immer geglaubt dass sie, sollte sie erwischt werden, wesentlich nervöser sein würde. „Wonach sieht es denn aus? Es ist ein Raum, in welchem ich Bücher aufbewahre.“ „Netter Versuch. Ich bin doch nicht blöd. Also sag mir, wozu brauchst du alle diese Bücher? Und warum hast du mir nie etwas davon erzählt?“ Um ihre Standfestigkeit zu unterstreichen, verschränkte Marylin die Arme vor der Brust. Sie wich Geminis Blick nicht für eine Sekunde aus. Plötzlich fing die Zigeunerin an zu lachen. Ihr Lachen klang so schrill, dass Marylin das Gefühl hatte, es treibe ihr einen eiskalten Schauer über den Rücken. „Ehrlich, du bist tatsächlich nicht ganz so dumm, wie du aussiehst.“ Als Gemini merkte, dass Marylin nichts darauf erwiderte, wurde sie wieder ernst. „Ich bin abgestellt worden, um auf diese Bücher aufzupassen.“ „Von wem? Warum sind die Bezeichnungen auf so vielen verschiedenen Sprachen?“ „Ich befürchte, dass du nicht in der Position bist, Fragen zu stellen.“ Marylin schwieg daraufhin erneut. Sie hatte das Gefühl, dass Gemini jemand war, der gerne redete, wenn sie gerade nicht dazu aufgefordert wurde. Auch in diesem Fall wurde die Polizistin nicht von ihrem Instinkt enttäuscht. „Diese Bezeichnungen repräsentieren die Sprachen meiner Meister. Damit es leichter für sie ist, das zu finden, was sie benötigen, habe ich die Bezeichnungen in allen für sie relevanten Sprachen aufgeschrieben.“ Inzwischen war Gemini so nah an Marylin herangetreten, dass die beiden nur noch eine Armlänge voneinander trennte. Für Marylin reichte dieser Abstand, um, trotz der spärlichen Lichtverhältnisse, die dunklen Augen der Südländerin lesen zu können. Sie strahlte eine ähnliche Selbstsicherheit aus, wie sie selbst. Das würde es einfacher machen, etwas aus ihr heraus zu bekommen. „Ich glaube, du bist nicht ganz dicht. Meister…“ „Tu nicht so, als würdest du nichts über Dämonen wissen. Ich weiß, was vor einiger Zeit in England vorgefallen ist.“ „Und trotzdem hast du dich auf mich eingelassen? Wird einer deiner Meister dann nicht wahnsinnig wütend sein?“ „Wieso? Es kann doch auch sein, dass das ein Teil unseres Planes gewesen ist.“ „Eher unwahrscheinlich. Wenn das wirklich so sein sollte, willst du mich mit Sicherheit töten. Und das hättest du schon längst tun können.“ Marylin konnte erkennen, dass Gemini leicht zwinkerte. Ein Zeichen, dass sie versuchte, nach einer Erklärung zu suchen. In diesem Fall hatte sie also schon einmal geblufft. „Es geht dich nichts an, was wir wie vorhaben.“ „Da bin ich mir sicher“, sagte Marylin schnell und schnappte sich das Buch und ihre Taschenlampe. So schnell sie konnte duckte sie sich und versuchte, mit der Schulter voran, an Gemini vorbei zu stürmen. Allerdings hatte die Dämonin den Plan der Polizistin bereits durchschaut. Sie packte zu, so dass sie Marylins Oberarm umklammerte. Der Griff der Zigeunerin war so stark, dass Marylin das Buch und die Taschenlampe wieder fallen ließ. Es kam ihr vor, als würde sie von einer unmenschlichen Kraft zurück gehalten. Als sie aufsah, konnte sie erkennen, dass Geminis Augen einen leichten Rotton angenommen hatten. „Du… Du bist ein Dämon?“ „Du bist doch ein dummes Ding“, tadelte Gemini ihre Gefangene und hob den Zeigefinger. Während sie ihn schwenkte, schwenkte auch die Lampe und warf unheimliche Schatten an die Regale. „Da schaffst du es bis in diese Bibliothek und dann stellst du noch so blöde Fragen?“ Indem sie sie zur Seite drückte, presste Gemini Marylin gegen das Regal. Eine der Kanten drückte Marylin so stark in den Rücken, dass sie vor Schmerz leise aufstöhnte. Durch den Aufprall waren einige Bücher auf den Boden gefallen. Nach wie vor brauchte Gemini lediglich eine ihrer Hände, um Marylin in Schach zu halten. Hilflos suchte Marylin nach etwas, mit dem sie sich zur Wehr setzen könnte. Doch bis auf die Bücher war nichts zu finden. Langsam wich die Zuversicht, die sie noch bis vor kurzem gespürt hatte und an ihrer Stelle trat Panik. Gemini glitt langsam Marylins Arm nach oben. Zunächst wirkte die Geste zärtlich, doch als sie an dem Hals der Polizistin angekommen war, spürte Marylin, wie die Fingernägel der Zigeunerin über ihre dünne Haut scharten. Ein brennendes Gefühl blieb an den Stellen, an denen sie von Gemini berührt wurde. Marylin wappnete sich innerlich dazu, Gemini jeden Augenblick anzugreifen. Bevor sie sich kampflos ergeben würde, würde eher die Hölle zufrieren. Trotz ihrer Angst ballte sie bereits ihre Hände zu Fäusten, als Gemini plötzlich innehielt. Ihr Blick fiel dabei auf die Kette, die um Marylins Hals hing. „Ich glaube nicht, dass du die noch brauchst“, lachte Gemini, umfasste das Schmuckstück und zog daran. Marylin spürte, wie sich die Kette in ihren Nacken schnürte. Eine unheimliche Wut durchfuhr sie. Glücklicherweise hatte sie vorher keine wirklich tiefer gehenden Gefühle für Gemini empfunden, so dass es ihr nicht schwerfallen würde, sich gegen sie zur Wehr zu setzen. Selbst unter dem Einsatz von Gewalt. Eigentlich hatte sie vorgehabt, die Kette mit Gewalt von Marylin herunter zu reißen, doch stattdessen passierte etwas, mit dem Gemini niemals gerechnet hatte. Kaum hatte die Dämonin damit begonnen, Druck auf das Amulett mit dem Edelstein auszuüben, leuchtete dieser auf. Helle Strahlen schossen aus ihrer Handfläche und mit einem lauten Schmerzensschrei ließ Gemini die Kette wieder los. Das, was einst ihre Hand gewesen war, war nur noch eine Mischung aus verbranntem Fleisch, Blut und freigelegten Sehnen, aus der einige Fingerknochen herausschauten. Das Licht war so stark gewesen, dass Marylin ihre Augen hatte schließen müssen. „Du scheiß Schlampe!“, schrie Gemini und warf ihre Lampe voller Wut auf den Boden. Dort zerschellte sie und setzte die Bücher, die sich auf dem Marmor befanden, sofort in Brand. Nur wenige Sekunden später war das Feuer auf das erste Regal übergegangen. Vorsichtig öffnete Marylin ihre Augen wieder und stellte fest, dass sie, im Gegensatz zu der Dämonin, unverletzt geblieben war. Wenige Sekunden spürte sie einen heftigen Schlag gegen die Brust. Gemini war auf Marylin zugestürmt und hatte sie gegen das Regal gestoßen, wodurch dieses zu wackeln begann. Schmerzen breiteten sich ihr aus, die Marylin allerdings ignorierte. Sie wusste, dass es hier um ihr Leben ging. Mit lautem Krachen fiel das Regal um, wodurch auch Marylin an Halt verlor. Ein Regen aus Büchern schien auf sie niederzugehen. Zusammen mit dem Regal stürzte sie zu Boden und hatte erhebliche Schwierigkeiten, sich wieder aufzurichten. Inzwischen hatten die ersten Bücher dieses Regals ebenfalls Feuer gefangen. Auf allen Vieren kletterte Marylin von dem Regal herunter. Vor sich sah sie das Buch über die Fänger liegen. Sie wollte gerade danach greifen, als Gemini sie aufhielt, indem sie auf Marylins Hand trat. Da sich der aufsteigende Rauch inzwischen gesammelt hatte, musste Marylin gleichzeitig husten und vor Schmerz schreien, was Gemini ein heiseres Lachen entlockte. „Ich weiß gar nicht, was du so lachst“, sagte Marylin schwach und unterdrückte ein Husten. „Deine Bibliothek brennt ab.“ „Mag sein. Aber dafür habe ich das Vergnügen, dich zu töten.“ Ohne ein weiteres Wort rollte Gemini Marylin zur Seite. Als Marylin mit dem Rücken vor ihr lag, stellte Gemini ihren Fuß auf die Brust der Engländerin. Sie trat so lange auf verschiedene Stellen auf Marylins Brust, bis sie die richtige Stelle auf dem Brustbein gefunden hatte. „Wenn ich jetzt mit ganzer Kraft zutrete, werde ich deinen Brustkorb zerschmettern und dein Herz zerquetschen. Noch irgendwelche letzten Wünsche?“ „Fick dich einfach!“, keifte Marylin, dazu spuckte sie, so weit sie konnte, nach oben. Dadurch traf sie Gemini zwar nur an der Hüfte, doch das reichte ihr bereits. Wenn sie schon so unwürdig sterben musste, dann wenigstens, ohne sich vorher ergeben zu haben. Gemini ignorierte sie Spucke und hob ihr Bein. In den darauffolgenden Tritt legte sie all ihr Gewicht, dazu grinste sie siegessicher auf die Polizistin hinab. Doch bevor ihr Fuß Marylin berührte, strahlte erneut der Stein in ihrem Amulett auf. Diesmal waren die Strahlen so hell, dass sie den gesamten Raum erfassten. Es war, als würde ein Blitz in ihren Augen explodieren. Sofort schirmte Marylin ihr Gesicht ab, während Gemini direkt in das Licht hineinstarrte. Ein schriller und ohrenbetäubender Schrei ertönte und als Marylin sich traute, ihre Arme von dem Gesicht zu nehmen, erschrak sie. Wenige Meter von ihr entfernt lag Gemini, ihr Körper völlig durchlöchert und zur Unkenntlichkeit entstellt. Schwer atmend richtete Marylin sich auf, schnappte sich das am Boden liegende Buch und lief an Gemini vorbei. Sie vermied es, auf den verkrüppelten Körper zu schauen, konnte es jedoch nicht verhindern, einmal kurz hinüber zu blinzeln. Anscheinend atmete die Dämonin noch, doch da ihre Brust und auch Teile ihres Kopfes völlig durchbohrt worden waren, ging Marylin davon aus, dass dieser Zustand nicht mehr lange anhalten würde. An der Tür angekommen, musste Marylin feststellen, dass sie abgeschlossen worden war. Viel Zeit blieb ihr nicht mehr, denn der Rauch hatte sich mittlerweile so stark verdichtet, dass sie kaum noch etwas sehen könnte. Das Fenster! So schnell sie konnte lief Marylin wieder in die entgegengesetzte Richtung. Schweiß rann ihr die Stirn und den Rücken herunter. Ihre Kleidung klebte an ihr und machte es ihr schwer, sich zu bewegen. Sie spürte, wie die Luft immer dünner wurde. Ihre Lungen brannten. Sie brannten so stark, dass sie es kaum wagte zu atmen. Wann immer sie den Mund öffnete, strömte ein unangenehmer Schwall heißer Luft herein. Schwankend erreichte Marylin das Fenster. Ihre Beine versagten langsam den Dienst und es kostete sie all ihre Kraft, sich überhaupt noch zu einer Bewegung durchzuringen. Verzweifelt stellte Marylin fest, dass das Fenster genauso verschlossen war, wie die Tür. Tränen sammelten sich in ihren Augen, aufgrund des Rauches, wie auch aus Wut und der Misere, in der sie sich befand. Mit allerletzter Kraft nahm sie das Buch und schlug damit auf die Scheibe ein. Doch diese gab einfach nicht nach. Weinend und schreiend, dabei alle Schmerzen ignorierend, ließ Marylin den Rücken des Buches gegen das Glas schlagen. Ein leises Knacken ertönte. Von neuem Mut erfasst, ließ Marylin das Buch noch einige Male gegen das Glas prallen, dann lösten sich die ersten Splitter. Nachdem das Glas gebrochen war, sprang Marylin auf den kleinen Vorsprung und legte sich auf diesem ab. Dazu zog sie sich vorsichtig über den Boden, sie musste sich, trotz ihrer geringen Größe, geradezu durch das kaputte Fenster hindurch zwängen. Einige der Splitter, die sich nicht vollständig gelöst hatten, bohrten sich in ihren Körper. Ein brennender und stechender Schmerz durchfuhr Marylin, was sie jedoch nicht davon abhielt, sich weiterhin voran zu ziehen. Hinter ihr spürte sie den Luftzug. Panik erfasste die junge Frau. Jetzt musste sie sich beeilen. Hinter dem Fenster befand sich eine kleine Mauer, die es verhinderte, dass jemand von oben in den Keller hätte hineinschauen können. Zuerst warf Marylin das Buch nach oben, dann zog sie selbst sich hinauf in die Freiheit. Gerade noch rechtzeitig, denn hinter ihr schoss eine Feuerfontäne durch das Fenster und versenkte sogar den dahinterliegenden Stein. Auf der Straße hatte sich eine Traube aus Menschen gesammelt. Schwer atmend und dabei ein rasselndes Geräusch ausstoßend, blieb Marylin auf dem kalten Pflasterstein liegen, das Buch an sich gepresst. Ihr Blick ging gen Himmel, in die schwarze Leere, die dort oben lag und eine Form der Ruhe ausstrahlte, wie auch Marylin sie sich gegenwärtig wünschte. Sie spürte, wie ihre Augenlider schwer wurden. Ohne weiteren Widerstand legte sie sich schlafen. Was auch immer passieren würde, sie hatte ihre Ruhe gefunden. Für immer. Kapitel 26: Kapitel 26 ---------------------- Kapitel 26 Ethos spürte, wie ihm der Schweiß den Rücken herunter lief, trotz der kalten Temperaturen. Die junge Frau, die er trug, hatte sich schon seit längerer Zeit nicht mehr geregt. In diesem Fall war Ethos froh, von einem Dämon begleitet zu werden. Durch Hildegards Fähigkeit, Schatten heraufzubeschwören, konnte sie sich, Ethos und Leo in der Dunkelheit nahezu unsichtbar machen. Abgeschirmt vor den neugierigen Blicken der Passanten konnten sie ihren Weg so ungehindert fortsetzen. Der eine oder andere drehte sich nach ihnen um, so dass Ethos sich ertappt fühlte, doch bis auf ein seltenes diffuses Kopfschütteln hielten sich die Reaktionen in Grenzen. Besorgt schaute Hildegard immer wieder zu ihrer Schwester hinüber, während sie sich, zusammen mit Ethos, schnellstmöglich voran bewegte. Hildegard hatte es nicht gewagt, ein Gespräch zu beginnen, aus Angst, dass dies wertvolle Zeit kosten könne. Anscheinend sah der Priester dies genauso, es mochte aber auch gut sein, dass er generell nicht an einer Unterhaltung mit der Dämonin interessiert war. Normalerweise hätte Hildegard Ethos niemals Vertrauen geschenkt, doch als er sie darum gebeten hatte, Maria helfen zu dürfen, war ihre Skepsis gewichen. Marias Wohl ging vor. „Wir werden gleich beim Vatikan ankommen“, riss Ethos Hildegard aus ihren Gedanken. „Sie werden ihn nicht betreten können aufgrund des Bannkreises.“ Hildegard schwieg daraufhin, sie hatte sich bereits auf diesen Umstand eingestellt. Ethos sagte ebenfalls nichts mehr. Gerne hätte er Hildegard gefragt, ob sie davon wusste, dass der Bannkreis, der ihn und die übrigen Priester schützte, über längere Zeiträume hinweg ausgesetzt worden war, doch er würde sich diese Frage für einen späteren Zeitpunkt aufheben. Plötzlich regte sich Maria in Ethos Armen. Unruhig versuchte sie sich zu drehen, dazu schlug sie müde die Augen auf. „Gehrmann…“, flüsterte Maria so leise, dass es fast nicht zu hören war. „Frederik Gehrmann… Nicht Chino…“ „Was?“, fragte Hildegard aufgebracht, noch immer im Laufschritt. „Er ist schuld… Dass ich aufgehört habe… Aufgehört zu sprechen… Nicht… Chino…“ Da das Sprechen sichtlich an ihren Kräften zerrte, deutete Hildegard ihrer Schwester still zu sein. Es war gut zu wissen, dass sie offenbar noch atmete. Die ersten Lichter des Vatikans tauchten vor ihnen auf. In der Dunkelheit wuchsen die Kuppeln unheilvoll hinauf, so dass Hildegard unweigerlich zum Stehen kam. Bereits mehrere Meter vor dem Bannkreis bemerkte sie, wie eine unsichtbare Kraft sie aufzuhalten versuchte und an ihr zerrte. „Warten Sie am Eingang auf mich. Ich werde Maria hinein bringen und, sobald sie behandelt wird, zu Ihnen zurückkommen und dann besprechen wir das weitere Vorgehen.“ Anstatt eine Antwort abzuwarten, drehte sich Ethos sofort um und rannte zum Eingang des Vatikans. Das Tor war verschlossen, doch es waren einige Gardisten davor positioniert worden. Marcus Dominic hatte sich darum gekümmert, dass die Sicherheitsvorkehrungen noch einmal verstärkt worden waren. So musste Ethos wenigstens nicht Maria ablegen, um das Tor öffnen zu können. Mit Erleichterung stellte Ethos fest, dass sich Roth zwischen den Gardisten befand und gerade dabei war, ihnen einige Anweisungen zu geben, als Ethos zu ihnen stieß. Eine ernste Miene auflegend, wand sich Roth von seinen Leuten ab und kam auf Ethos zu. Noch bevor er den Priester jedoch erreicht hatte, schob sich ein jüngerer Gardist zwischen sie und funkelte Ethos entschlossen an. „Pater Ethos Turino?“ „Ja“, antwortete Ethos genervt und wollte gerade etwas erwidern, als der Gardist ihm das Wort abschnitt. „Im Namen seiner Heiligkeit sind Sie verhaftet. Sie haben…“ „Verdammt, was soll das? Sehen Sie nicht, dass ich eine Frau bei mir habe, die dringend Hilfe benötigt?!“, keifte Ethos geradezu und ignorierte, was der Gardist gerade zu ihm gesagt hatte. „Kümmern Sie sich gefälligst um wichtigere Dinge und schließen Sie das Tor auf.“ „Ich fürchte, das wird nicht so einfach möglich sein.“ Roth hatte den Gardisten beiseite genommen und stellte sich selbst Ethos in den Weg. „Ich muss Ihnen mit Bedauern mitteilen, dass wir Sie tatsächlich in Gewahrsam nehmen müssen.“ Während der Gardist hinter Roth triumphierend vor sich hin grinste, wurde Ethos nur noch wütender. Dass sich selbst Roth unkooperativ zeigte, wurde zwar als Warnung in seinem Kopf registriert, was jedoch nicht bedeutete, dass er von seinem Vorhaben abwich. Einen Schritt nach vorne machend, wollte Ethos an Roth vorbei, doch der Leutnant streckte seine Hellebarde aus, um den Priester daran zu hindern, weiter voranzuschreiten. „Roth, was soll das werden?“ „Das, was ich bereits sagte. Sie sind verhaftet.“ Fluchend schaute Ethos auf Maria hinab. Würde sie nicht bald behandelt werden, würde sie definitiv sterben. Um zu erreichen, dass wenigstens Maria geholfen wurde, entschloss sich Ethos dazu, sich vorerst abführen zu lassen. „Würden Sie sich wenigstens darum kümmern, dass diese junge Frau hier auf die Krankenstation kommt?“, bat Ethos und hielt Roth den leblosen Körper entgegen. „Ich werde ohne weiteren Widerstand mitkommen, aber dass Maria zu einem Arzt kommt hat absolute Priorität.“ Zögerlich nahm der Leutnant Maria in seine Arme. Als er in das dünne und blutverschmierte Gesicht schaute, die Augen geschlossen, den Mund leicht geöffnet, wurde auch Roth schlagartig klar, wie dringend die Angelegenheit war. Er gab seinen Leuten noch einige Instruktionen, dann wand er sich ab und eilte in das Innere des Vatikans. Der übereifrige Gardist, welcher Ethos vorhin bereits aufgehalten hatte, trat erneut vor. „Was wird mir eigentlich vorgeworfen?“, fragte Ethos, während der Gardist unsanft seine Hände auf dem Rücken platzierte und ihm Handschellen anlegte. „Hätten Sie mich vorhin ausreden lassen, wüssten Sie das längst. Sie werden des Mordes beschuldigt. Des Mordes an Pater Lorenzo.“ Dunkel erinnerte sich Ethos an den Mann, dem er aufgetragen hatte, Dominic auszurichten, Steve verhaften zu lassen. Welche Ironie, dass er jetzt derjenige war, der abgeführt wurde. „Pater Lorenzo wurde, mit einem Brieföffner in Form eines Messers im Rücken, auf dem Ihre Fingerabdrücke identifiziert wurden, in einer der Seitengasse tot aufgefunden.“ Ethos verkniff sich jeglichen Kommentar, der den Gardisten darüber aufklärte, dass das Wort „Mord“ den Umstand, dass jemand tot war, bereits beinhaltete. Sollte sich der junge Mann für fünf Minuten mächtig fühlen. Indem er Ethos mehrfach rüpelhaft in den Rücken stieß, um diesen voranzutreiben, machte er diesen Umstand auch sofort klar. Was Ethos weniger behagte, war jedoch die Vorstellung, dass es tatsächlich erneut jemand geschafft hatte, unbehelligt einen Mord inmitten der heiligen Grundmauern des Vatikans zu begehen. Er hatte zwar lange Zeit darüber nachzudenken, da sich das kleine Gefängnis, das einmal eingerichtet worden war, aber nur sehr selten benutzt wurde, erst nach einem kleinen Fußmarsch zeigte, aber wirklich zu einer Lösung kam Ethos dabei nicht. Zu sehr wirbelten die Gedanken in seinem Kopf herum. Steve, Maria, Chino, Hildegard… Dazu drängte sich Artemis in sein Gedächtnis zurück. Noch hatte sich sein Kollege nicht gemeldet, was ungewöhnlich war. Normalerweise hätte Artemis zumindest einen Zwischenbericht bei ihm abliefern sollen, was bisher gänzlich ausgeblieben war. Dass Ethos erst so spät davon erfahren hatte, dass sich einer der Geweihten, nach denen Artemis mit Lydia zusammen suchte, bereits im Vatikan befand, war einer dieser Umstände, über die Ethos viel zu spät Kenntnis erlangt hatte. Mittlerweile waren sie an der Zelle angekommen, die Ethos für die nächsten Stunden (er hoffte jedenfalls, dass es sich lediglich um Stunden handeln würde) sein zu Hause nennen würde. Bald würde sich das Missverständnis aufklären. Immerhin besaß Ethos ein Alibi, je nachdem, wann sich der Mord ereignet hatte. Die Handschellen wurden ihm abgenommen und die schweren Stahlgitter hinter ihm zugeschoben. Wenigstens hatte Roth dafür gesorgt, dass Ethos nicht in jene Zellen eingeschlossen wurde, in denen sie die wirklich schweren Fälle unterzubringen pflegten. Auf eine Tür, die nur mit einem Guckloch ausgestattet war, konnte der Priester gut verzichten. Bisher war Ethos eher dafür zuständig gewesen, die Zellen zu füllen, weniger, sie selbst zu besetzen. Eine Pritsche, bestehend aus einer einfachen Holzkonstruktion und einer durchgelegenen Matratze, war alles an Ausstattung, was der winzige Raum zu bieten hatte. Die Wände waren etwas feucht, doch es war noch auszuhalten. Erleichtert stellte Ethos fest, dass er seinen blutverschmierten Mantel abgeben musste. Nachdem er zusätzlich durchsucht worden war, ließ man jedoch schnell von ihm ab und bemühte sich darum, ihn bestmöglich zu ignorieren. Kaum war die Tür hinter ihm geschlossen worden, fühlte Ethos, wie die Stille den Raum zurück eroberte. Der Gardist, der dazu abgestellt worden war, ihn fortan zu bewachen, durfte nicht mit ihm reden, was Ethos allerdings nicht ungelegen kam. Von nun an war er mit sich und seinen Gedanken alleine. Schockiert fragte die Rezeptionistin, was passiert war. Anstatt eine Antwort zu geben, verlangte Lydia, mit vor Wut und Trauer gezeichneten Augen, den Schlüssel zu ihrem Zimmer. Dass das Zimmer noch immer belegt war, ließ die Nonne nur noch wütender werden. Es bedeutete, dass sich Artemis noch immer dort aufhielt. Ohne Rücksicht stieß Lydia die Tür auf, die Krachend gegen die Wand schlug. Ein erschrockenes Quietschen ertönte und Lydia glaubte, sie würden jeden Augenblick von ihrem Zorn zerrissen werden. Vor ihr lag, entkleidet und zwischen einigen leeren Flaschen, in denen eindeutig Alkohol gewesen war, Artemis, halb von der Bettdecke umschlossen. Zu seiner rechten wie zu seiner linken lagen Frauen, eine Blondine und eine Schwarzhaarige. Die Mädchen waren ebenfalls leicht bekleidet, bis auf einen Slip, der ihre intimsten Körperstellen gerade so eben bedeckte, waren sie nackt. Während diejenige, die den erschrockenen Laut ausgestoßen hatte, aufsprang und sich nach ihrem Top bückte, schlug die andere verschlafen ihre Augen auf. Sie war eindeutig noch immer betrunken. Den Kopf unter ihren blonden Haaren haltend, schwang die Frau, kaum älter als achtzehn, ihre langen Beine aus dem Bett. Kaum fiel ihr Blick auf Lydia, legte sie verwirrt die Stirn in Falten. Einige russische Worte vor sich hin murmelnd, suchte auch sie auf dem Boden ihre Anziehsachen zusammen. Beide Frauen zogen sich rasch an, nahmen etwas von dem Geld, das auf einem der Nachtschränke lag und stolzierten, für diese Jahreszeit viel zu spärlich bekleidet, an Lydia vorbei. Nachdem die beiden verschwunden waren, ließ Lydia die Tür zurück in das Schloss fallen. Der daraus entstandene Knall reichte aus, um Artemis aus seinem Schlaf zu reißen. Orientierungslos schaute er sich um, dabei stieß er einige der leeren Flaschen aus dem Bett. Gähnend rieb er sich die Augen, streckte sich ausgiebig und kratzte sich am Hinterkopf, bis er Lydia erblickte. Mit verschränkten Armen und neuen Tränen, die aus ihren grünen Augen liefen, schaute die Nonne ihn durchdringend an. „Du blödes Arschloch“, knurrte Lydia nur, dazu schüttelte sie fassungslos den Kopf. „Wie konnte ich mich nur, auch nur für eine Nacht, wieder auf dich einlassen?“ „Was hast du denn?“, wollte Artemis wissen und rollte sich aus dem Bett. „Das wagst du ernsthaft zu fragen?!“, stieß Lydia hervor, dabei lief ihr Gesicht vor Wut rot an. Artemis kroch unterdessen auf dem Teppich herum und war darum bemüht, seine eigenen Klamotten zu finden. Auch er war noch immer betrunken. „Wir hatten den Auftrag, Ponomarjow sicher zum Flughafen zu bringen!“ „Und, ist er da?“ Lydia wusste nicht, was sie in diesem Augenblick mehr reizte, die Tatsache, was Artemis getan hatte oder die Art und Weise, wie unbekümmert er mit ihr redete. Sie entschied sich dazu, beides mit der gleichen Verachtung zu strafen. „Was glaubst du eigentlich, wer du bist?“, fragte Lydia mit gedämpfter Stimme. „Du tauchst nicht zur vereinbarten Zeit am Treffpunkt auf, sondern säufst dich hier halb zu Tode und fickst sämtliche Huren der Stadt. Während ich um mein Leben kämpfen musste und ein weiterer Geweihter tot ist.“ Artemis hielt für einen kurzen Moment inne. Er hatte sich größtenteils wieder angezogen und war aufgestanden, schwankte jedoch unsicher auf seinen Beinen. Es sah aus, als wollte er versuchen, entschuldigende Worte zu finden, doch es blieb lediglich bei einem Versuch. Anstatt sich Lydias Vorwürfen zu stellen, wand Artemis sich von der Nonne ab und packte seine Sachen. „Glaub ja nicht, dass du dich so einfach aus der Verantwortung ziehen kannst, Artemis. Diesmal bist du zu weit gegangen. Jemand ist gestorben. Wegen dir und deiner Unzuverlässigkeit.“ Inzwischen hatte Lydia es aufgegeben, sich zurückhalten zu wollen. Es war, als würde ein ganzer Wasserfall aus ihren Augen herausbrechen, der nie wieder versiegen würde. Die roten Ränder um ihre Augenlider traten noch stärker hervor. Dazu hatte sie einen völlig verzweifelten Tonfall angenommen. „Ich verstehe nicht, wie du uns nur so im Stich lassen konntest. Was auch immer zwischen uns war, was rechtfertigt das, dass du nicht aufgetaucht bist? Wärst du dabei gewesen, hätten wir Ponomarjow vielleicht retten können. Aber er hat sich geopfert, um mir das Leben zu retten. Und du scheinst dich nicht einmal dafür zu interessieren.“ Die Hände zu Fäusten geballt, schaute Lydia zu Artemis hinab, der gerade dabei war, seinen Koffer zu schließen. Ohne ein Wort zu sagen, ging Artemis an Lydia vorbei, dazu schaute er sie nicht einmal an. Sein Gesichtsausdruck war ernst, seine Mimik nahezu erstarrt. „Du willst dich nicht einmal dazu äußern?“ Ein letztes Mal drehte Artemis sich zu Lydia um. Der Blick, mit dem er sie musterte, flutete ihr Herz mit Schmerz und Verabscheuung. „Wir müssen zum Flughafen. Unser Flug nach Amerika geht bald. Übrigens, mir ist da etwas aufgefallen. Als ich die Münze bei Alexandros gefunden habe, hast du dich dazu nie geäußert oder nachgefragt, was ja sonst so deine Art ist. Als ob du wüsstest, wofür sie stehen“, sagte Artemis trocken und verließ das Hotelzimmer. Lydia blieb noch einige Minuten zurück. Sie nahm sich einige Taschentücher, beruhigte sich, so gut es ging. Danach ging sie in das Badezimmer und schippte sich etwas von dem kalten Wasser in das Gesicht. Wenn Artemis dachte, er könne sie erpressen, setzte er auf das falsche Pferd. Es dauerte noch einige Minuten, bis Lydia sich wieder vollständig gefangen hatte. Als sie hinaus trat, wartete Artemis bereits mit einer Zigarette im Mund. Wortlos setzte sich der Priester in Bewegung, Lydia folgte ihm. Ihre Stirn lag nachdenklich in Falten, während sie Artemis‘ Bewegungen beobachtete. Irgendetwas war anders an ihnen, aber sie konnte nicht genau bestimmen, was es war. An seinem betrunkenen Zustand lag es allerdings nicht. Da die Hafenanlage weder großartig patrouilliert, noch von Touristen frequentiert wurde und sich die Bewohner Roms aufgrund der angespannten Lage im Ausland weitestgehend in ihren Häusern aufhielten, war dieser Ort perfekt. Um seinen Feind ohne großes Aufsehen aus dem Weg zu räumen, hätte sich Chino keinen besseren Platz vorstellen können. Blackcage hingegen wirkte noch immer entspannt, obwohl Chino ihn bereits wie ein Raubtier fixiert hatte. „Ich hoffe, du bleibst diesmal und verkriechst dich nicht wieder wie ein feiges Tier“, fauchte Chino. „Keine Sorge, diesmal werde ich es zu Ende bringen. An deiner Stelle würde ich mir keine Gedanken mehr darüber machen, immerhin wirst du diese Konfrontation nicht überleben.“ Von Blackcages Arroganz nur noch mehr angetrieben, stürzte sich Chino auf diesen. Der Schwarzhaarige wich aus, indem er einen Schritt zur Seite machte, dabei verfärbten sich seine Augen. In seinen Händen loderte ein kleiner Feuerball auf, den Blackcage schützend in seiner Handfläche vergrub. Chino drehte sich zu ihm um, woraufhin Blackcage seinen Arm nach vorne schnellen ließ. Er traf Chino an der rechten Schläfe, Funken sprühten auf und ließen Chino zurückweichen. Es waren keine schweren Verbrennungen, die Blackcage hinterlassen hatte, sie reichten jedoch aus, um Chino kurzzeitig aus dem Konzept zu bringen. Blackcage nutzte dies, um einen weiteren Angriff zu starten. Die Faust in Flammen gehüllt, stürmte er voran und holte aus. Chino parierte den Angriff, indem er sich in Blackcage hineinfallen ließ und dessen Arm abfing. Lange Fingernägel bohrten sich in den Arm des Dämons, einige Tropfen Blut fielen auf den Boden. Gleichzeitig rammte Chino seine Schulter gegen Blackcages Brust. Für einen kurzen Moment stockte Blackcage der Atem, der Aufprall besaß mehr Kraft, als er angenommen hatte. Den Moment der Überraschung nutzend, legte Chino nach und verpasste seinem Gegner einen Kinnhaken. Gleichzeitig ließ er Blackcages Arm los. Der Dämon flog einige Meter durch die Luft und prallte auf die Holzdielen des Steges. Sofort richtete sich Blackcage wieder auf. Ein blauer Fleck hatte sich an seinem Kinn gebildet und wenn er es berührte, schien es zu schmerzen. „Ich fürchte, mit diesen Kleinigkeit wirst du bei mir nicht allzu viel erreichen können“, rief Blackcage Chino entgegen, um diesen zu verspotten. „Im ersten Moment tut es vielleicht etwas weh, aber tödlich sind deine Angriffe nicht wirklich.“ „Du solltest weniger reden als kämpfen“, erwiderte Chino gelassen. Das letzte, das er gebrauchen konnte, war, dass Blackcage ihn dazu bekam, in völlige Rage zu verfallen. Sein Groll war bereits so stark angeschwollen, dass jeder Tropfen das Fass zum Überlaufen bringen konnte. Würde Chino sich dazu bringen lassen, sich vollständig von seinem Hass zu leiten, würde ihm das erhebliche Nachteile einbringen. Trotzdem war er es diesmal, der den nächsten Angriff startete. Mit einer Geschwindigkeit, die es selbst Blackcage schwierig machte, seinen Abläufen zu folgen, lief Chino auf seinen Gegner zu. Doch kurz bevor Chino bei diesem angekommen war, schoss eine Fontäne aus Feuer aus dem Boden und hüllte Blackcage ein. Wie ein Schutzschild legten sich die Flammen um den Körper des Dämons. In diesem Zustand war es Chino unmöglich, Blackcage anzugreifen. Ein Blick auf den Boden erfüllte ihn allerdings mit Zuversicht. Da Blackcage auf durchnässtem Holz stand, fing dieses zwar nicht sofort Feuer, färbte sich aber zusehends Schwarz. Lange würde es nicht mehr dauern und Blackcage würde durch die Holzplanken fallen. Dies schien auch Chinos Widersacher nicht zu entgehen. Als Blackcage einen Schritt nach vorne machte, erloschen die Flammen wieder. Zu schnell jedoch, dass Chino darauf hätte reagieren können. Nun war es Blackcage, der Chino ungeschützt erwischte. Blackcage legte seine Handfläche auf Chinos Brust, dann riss es den Spanier auch schon von den Beinen. Ein Ball aus hartem Magma wurde gegen sein Brustbein geschleudert und presste sämtliche Luft aus Chinos Lungen. Glücklicherweise richtete der Angriff keine weiteren Schäden an, was Chino wie ein kleines Wunder vorkam. Seine Kleidung war leicht angesengt, ansonsten waren keine auf Feuer basierenden Verletzungen zu finden. Nur der Druck auf seiner Brust gab erst allmählich nach. Blackcage nutzte seinen Vorteil und kniete sich zu Chino hinunter. Er packte den Spanier am Hals und zog seinen Kopf zu sich hinauf. „Diesmal wird leider kein sommerliches Gewitter aufziehen und dich retten, Chino“, flüsterte Blackcage mit einem höhnischen Grinsen. „Das habe ich auch gar nicht nötig“, erwiderte Chino ruhig. „Ich habe das Meer.“ Noch bevor Blackcage seinen Fehler bemerkte, hatte Chino bereits nach dem Kragen von dessen Mantel gegriffen. Er hielt sich daran fest und rollte sich zur Seite, dann verpasste er Blackcage einen starken Tritt. Der Dämon verlor den Halt und fiel nach hinten, spürte, wie er mehrere Meter über das Holz schlitterte, bis das Ende des Steges erreicht war. So sehr er sich auch bemühte, Blackcage schaffte es nicht mehr rechtzeitig, sich in dem Holz festzukrallen. Dunkle Leere umgab ihn, als er in das kalte Wasser eintauchte. Lediglich einige Schemen, die durch das Licht der wenigen Laternen an der Oberfläche zu erkennen waren, konnten von dem Dämon wahrgenommen werden. Gerade, als er zum ersten Schwimmzug ansetzen wollte, sah er über sich eine Gestalt auftauchen. Chino war ihm in das Wasser gefolgt, in einer seiner Hände hielt er eine schwere Eisenkette. Panisch versuchte Blackcage wieder aufzutauchen, doch Chino hatte in erreicht, bevor er das dichte Wasser hatte durchbrechen können. Unfähig, seine Kräfte an solch einem Ort zu entfalten, wirkte Blackcage wie ein hilfloses Kind. Er ruderte wild mit den Armen, dazu stieß er einige Male Luft aus, als er merkte, dass Chino ihn am Mantel gepackt hatte und nach unten zu ziehen drohte. Mit flinken Bewegungen hatte Chino die Kette um Blackcages Hüfte gebunden, doch nun musste er auftauchen, um Luft zu holen. Auch Blackcage durchbrach die Wasseroberfläche und sog gierig Luft in seine Lungen. Einige seiner Haare klebten ihm in den Augen, so dass er Chinos Gewicht spürte, bevor er den Dämon über sich erblickte. Erneut drückte Chino Blackcages Kopf unter Wasser. Er schmeckte Salz auf seiner Zunge, als er sich auf genau ebendiese biss, da Chino mit ganzer Energie auf ihn eingewirkt hatte, als er gerade einen tiefen Atemzug hatte nehmen wollen. Gegen Chinos übermenschliche Stärke hatte er keine Chance. Mochten Vampire auch noch so verschrien sein, wie mächtig diese als Gegner werden konnten – davon konnte sich Blackcage nun persönlich überzeugen. In seiner Rage bekam Chino jedoch nicht mit, wie Blackcage einen Dolch aus der Innentasche seines Mantels gezogen hatte. Als der Spanier versuchte, die Kette um seine Hände zu binden, ging Blackcage zum ersten Mal zum Gegenangriff über. Eine kurze Bewegung reichte aus, um Chino den Dolch in den Oberschenkel zu rammen. Sofort nutzte Blackcage seine Chance und schwamm nach oben. Als er sich wieder über Wasser befand, ignorierte er vorerst die Kette um seine Hüfte und schwamm auf den rettenden Steg zu. Mit einem Dolch im Bein würde Chino erst einmal nicht schwimmen können, doch Blackcage unterschätzte die Tobsucht, in der sich Chino derzeit befand, erheblich. Gerade, als er die Finger in eine der Holzdielen verhakt hatte und sich nach oben ziehen wollte, spürte Blackcage einen kräftigen Ruck in der Magengegend. Brutal riss es ihn zurück in das Wasser, mindestens einer seiner Finger fühlte sich, da sie sich teilweise zwischen den Dielen verkeilt hatten, gebrochen an. Chino hatte Blackcage von hinten gepackt und seinen Arm um dessen Hals geschlungen. „Wenn ich dich nicht ertränken kann, dann werde ich dich eben erwürgen“, knurrte Chino voller Hass. Auf seinem Mund machte sich ein verächtliches, aber dennoch amüsiertes Grinsen breit. Er spürte, wie der Dämon in ihm die Kontrolle übernahm. Der Wunsch, den wehrlosen Blackcage zu quälen und zu demütigen wurde immer stärker. Ein animalisches Gefühl der Überlegenheit durchflutete Chino und drohte, seine Sinne zu übernehmen. Maria war in diesem Augenblick aus seinem Kopf verschwunden. Stattdessen erfüllten ihn Hass und eine perverse Gier nach Macht. Die Macht über sein Opfer. Die verzweifelten Bewegungen von Blackcage schienen ihn nur noch süchtiger nach dieser Empfindung zu machen. In der Schwärze der Nacht schienen die Augen des Dämons so stark zu glühen, als drohten sie zu explodieren. Tatsächlich fühlte Chino auch eine Explosion in sich aufsteigen, allerdings eine des Schmerzes. Seufzend fuhr sich Ethos über die Augen. Er saß auf der Pritsche und starrte die gegenüberliegende Wand an. Dazu legte er die Hände in den Schoß. Hoffentlich hatte Hildegard begriffen, dass Ethos vorerst nicht mehr wiederkommen würde und war stattdessen losgezogen, um Chino zu helfen. Das war zwar unwahrscheinlich, Ethos hoffte es aber dennoch. Anscheinend kam die erste Wachablösung, denn der Gardist redete mit einer weiteren Person und verschwand kurz darauf. Als Ethos sah, wie Roth an die Gitterstäbe herantrat, sprang er auf und trat bis an das Gitter heran. „Was geht hier vor sich?“, fragte Ethos, auch wenn er nicht davon ausging, dass es Roth erlaubt war, mit ihm zu sprechen. Roth dachte anscheinend das Gleiche, denn er wiegte langsam den Kopf hin und her und dachte nach, bevor er Ethos antwortete. „Ich weiß es nicht. Ich glaube aber auch nicht, dass Sie tatsächlich an dem Mord eines Priesters beteiligt sind.“ Ethos schien erleichtert. „Das bin ich auch nicht. Was ist mit Steve? Wurde er noch nicht festgenommen?“ „Monsignore O’Neill ist verschwunden.“ Als Roth bemerkte, dass Ethos keine verwunderte Reaktion zeigte, fuhr er fort. „Einige meiner Gardisten suchen nach ihm, aber es ist, als wäre er vom Erdboden verschluckt. Aber selbst wenn wir ihn finden sollten, gibt es nicht genügend Beweise, um ihn zu verhaften.“ „Ach, aber bei mir gibt es die“, beschwerte sich Ethos, ermahnte sich jedoch dazu, ruhig zu bleiben. Roth konnte noch mit am wenigsten etwas dafür. „Egal. An seiner Stelle hätte ich mich auch aus dem Staub gemacht. Hören Sie, können Sie mir einen Gefallen tun? Ich habe in meiner Kammer einige Bücher untergebracht. Ich würde sie gerne lesen. Hier ist der Schlüssel.“ Roth horchte auf, schüttelte jedoch schnell den Kopf. Ethos hatte eine Kette mit einem goldenen Kreuz unter seinem Hemd hervorgeholt, neben dem ein Schlüssel baumelte. Er hielt Roth die Kette entgegen. „Tut mir Leid, Pater Turino, aber ich dürfte eigentlich nicht einmal mit Ihnen reden.“ „Diese Gitterstäbe halten mich nicht auf. Wir wissen beide, dass ich, wenn ich wollte, jederzeit hier herausspazieren könnte“, schnarrte Ethos und lehnte sich verschwörerisch gegen die Eisenstäbe. „Ich würde das aber ungerne tun. Zumal Sie sagten, dass Sie ebenfalls wissen, dass ich nicht der Täter bin. Es sind nur drei Bücher, nicht mehr und nicht weniger. Wenn ich die Bücher hier hätte, würde ich wenigstens etwas zu tun haben.“ Roth wirkte noch immer skeptisch und unentschlossen. „Das hier ist größer, als Sie vermuten, Roth. Es geht um mehr, als den Mord an Pater Lorenzo. Wir haben kaum noch Zeit und wenn sich nicht schnell etwas ändert werden die Möglichkeiten zu agieren immer weniger. Denken Sie an den Tag zurück, an dem wir hier im Vatikan angegriffen worden sind. Wollen Sie, dass sich das wiederholt? Oder wollen Sie, dass es verhindert wird?“ Nun hob Roth das Haupt und endlich hatte Ethos das Gefühl, zu ihm durchgedrungen zu sein. „Und wie soll ein Stapel Bücher dabei helfen, einen Angriff zu verhindern?“ „Überlassen Sie das mir. Und noch viel wichtiger, vertrauen Sie mir. Es würde zu lange dauern, Ihnen alle Einzelheiten zu erklären. Die Auswirkungen schlagen schon zu weite Kreise.“ Unglücklich schaukelte Roth mit seinem muskulösen Oberkörper vor und zurück. Es war eine Angewohnheit, die Ethos schon öfter an dem Leutnant beobachtet hatte, wenn dieser ernsthaft über etwas nachdachte. Scharf sog er die Luft ein, dann stand er wieder still. „Nur die Bücher. Mehr nicht. Mehr kann ich nicht für Sie tun, bis Monsignore Dominic Sie angehört hat.“ „Das reicht mir“, sagte Ethos mit einem kaum zu erkennenden Lächeln. „Das reicht mir vollkommen.“ Nervös lief Hildegard auf und ab. Warum kam der verdammte Priester nicht zurück. Dauerte es so lange, Maria an einen Arzt zu übergeben oder hatte er sie einfach nur hintergangen? Zwar hatte sie mitbekommen, dass es am Eingang ein paar Probleme gegeben hatte, doch damit sie nicht doch noch versehentlich entdeckt wurde, hatte sie sich weiter entfernt. Jetzt stand sie vor einem Dilemma. Sollte sie auf Ethos warten und sich persönlich die Bestätigung geben lassen, dass Maria in Behandlung war oder sollte sie zu Chino und Blackcage zurückkehren, um dort zu intervenieren. Es mochte gut sein, dass Chino es nicht wollte, dass sich jemand in den Kampf einmischte, doch auch Hildegard empfand eine geheime Sehnsucht nach Rache. Immerhin hatte Blackcage ihre Schwester geschändet und sie verletzt. Psychisch wie physisch. Es würde ihr eine Genugtuung sein, ihm langsam und qualvoll das Leben auszusaugen. Ihre Schatten würden sich an seiner Angst nähren und wachsen, während Blackcage erst lernen würde, was Furcht wirklich bedeute. Furcht, wie sie noch um ein vielfaches schlimmer war, als Maria sie hatte erleiden müssen. Erst recht nachdem Esrada ihre Flucht hatte verhindern wollen. Bis zur Erschöpfung hatte sie sich gegen ihn zur Wehr gesetzt, leider war es dennoch nicht zu verhindern gewesen, dass sowohl sie selbst, als auch ihre Schwester und Leo teils schwer verletzt worden waren. Bei ihr und Leo war dies nicht allzu tragisch, sie würden sich schnell wieder regenerieren, aber um Maria machte sich Hildegard inzwischen ernsthafte Sorgen. Ein letztes Mal blickte Hildegard zum Vatikan hinüber. Ihr blieb nichts anderes übrig, als dem Priester ihr Vertrauen zu schenken. So, wie er sich geäußert und benommen hatte, würde er sich gut um Maria kümmern. Vielleicht gab es einen Grund, dass er den Heiligen Grund nicht mehr verließ. Komplikationen bei Maria oder andere Angelegenheiten innerhalb des Vatikans. Wenn Hildegard jetzt nicht handelte, würde sie ihre Rache niemals bekommen. Ihre Schwester war ihr zwar wichtiger als jegliche Befriedigung ihrer Rachegefühle, aber inmitten all ihrer schweren Überlegungen war etwas in Hildegards Gedächtnis gedrungen. In den Informationen, welche sie einmal über Ethos Turino gelesen hatte, war verzeichnet gewesen, dass er unnütze Opfer verabscheute und unter dem Verlust Unschuldiger schrecklich zu leiden hatte. Zusammen mit der Vorstellung, dass Chino alleine vielleicht auch gar nicht gegen Blackcage bestehen könnte, hatte Hildegard endlich einen Grund, sich endgültig loszureißen und sich um das zu kümmern, nach dem ihre innere Stimme verlangte. Vendetta. Blackcage hatte seinen Ellenbogen in Chinos Gesicht gerammt. Die Nase des Spaniers war gebrochen, süßes Blut sickerte dick über seine Lippen. In der Zwischenzeit hatte Blackcage sich befreien können und war zurück zu dem Steg geschwommen. Brennende Schmerzen durchzogen seine Finger. Diejenigen, die nicht gebrochen worden waren, waren zumindest gezerrt oder anderweitig in Mittleidenschaft gezogen. Am Ufer angekommen, befreite er sich von der Kette. Als Blackcage sich wieder umdrehte, stand Chino bereits schon wieder hinter ihm. Wütend und schwer atmend funkelte er Chino an. „Ich dachte, Vampire würden in Salzwasser sterben.“ „Möglich. Einige schwache Dämonen gibt es bestimmt, bei denen das der Fall ist. Ich gehöre nicht dazu.“ Eine lockere Bewegung reicht aus und Chino hatte sich den Dolch aus seinem Bein gezogen. Fast augenblicklich verschloss sich die Wunde wieder, noch bevor der Dolch auf dem Boden aufprallte, schien es, als wäre Chino an dieser Stelle niemals verletzt gewesen. Die Zeit schien für einige Minuten stillzustehen. Auch Chinos Atem ging schwer und ohne festen Rhythmus, jedoch dauerte es nicht lange, bis sich ein verzerrtes Grinsen in seinem Gesicht bildete, das seine Eckzähne deutlich über die blutverschmierten Lippen treten ließ. Er senkte den Kopf, so dass ein unheimlicher Schatten den Großteil seiner Mimik verschluckte. „Ich werde dich töten, Nathan. Dich töten und danach deinen Körper ausnehmen. Doch vorher werde ich noch ausprobieren, wie viel deine dämonische Seele aushält, bevor sie stirbt“, flüsterte Chino mit tiefer Stimme und näherte sich dem Angesprochenen. Es war, als gehörte weder der Körper noch der Klang der Stimme wirklich zu Chino. Erst jetzt erkannte Blackcage, dass der Dämon, der Chino innewohnte, seinen Wirt zurückerobert hatte. Langsam machte sich ein Gefühl in ihm bemerkbar, das er nur selten gespürt hatte. Angst. Bisher hatte es nur wenige Dämonen gegeben, die diese Empfindung in ihm hatten hervorrufen können, richtig erinnern konnte er sich nur an Esrada und Hildegard. Unweigerlich wich Blackcage zurück, sobald Chino einen Schritt auf ihn zumachte. Unter seinen malträtierten Fingern fiel es ihm schwer, die richtigen Bewegungen auszuführen, um das Feuer zu beschwören. Aufgrund seiner Angst kämpfte Blackcage die Beschwerden vorerst nieder und erschuf einen Feuerball, den er sofort auf seinen Gegner schleuderte. Chino wich aus und obwohl Blackcage einen waren Hagel an Feuerkugeln auf ihn niederregnen ließ, bahnte sich der Spanier einen kontinuierlichen Weg nach vorne. Seitdem der letzte Rest Menschlichkeit aus ihm gewichen war, schien es, als hätte Chino noch einmal an Schnelligkeit hinzugewonnen. Kurz bevor er Blackcage erreichen konnte, hatten die beiden wieder steinernen Boden unter den Füßen. Blackcage kam eine Idee. Solange er sich nicht bewegte, würde ihm seine Feuerfontäne beschützen. Indem er mit den Finger schnippte, was ihn einiges an Überwindung kostete, schoss erneut eine hohe Flamme aus dem Boden hervor und kreiste ihn ein. Hierher sollte Chino ihm erst einmal folgen. Und tatsächlich blieb Chino stehen und umkreiste Blackcage wie ein Raubtier, das darauf wartete, seine Beute zu erlegen. Es würde eine halbe Ewigkeit dauern, bis diese Flamme erlosch. Blackcage konnte sich ein triumphales Grinsen nicht verkneifen. Er besaß so viel Energie, dass er es notfalls Tage durchhalten würde, die Flamme aufrecht zu erhalten. Nebenbei regenerierte das Feuer seinen geschundenen Körper. Nur noch wenige Minuten und er würde so fit sein, wie zu Beginn des Kampfes. Chino hingegen wäre weiterhin geschwächt. Dieser stand nun auf der Rückseite von Blackcage. Als Chino die Augen zusammenkniff, um in das Feuer sehen zu können, erkannte auch er, dass Blackacge zu seiner alten Kraft zurückzufinden schien. In diesem Moment sah er Maria vor sich. Maria, wie sie ihn anlächelte. Unbeschwert und voller Freude. Ihre wohlklingende Stimme, auch wenn das Vergnügen, sie hören zu dürfen, nur von sehr kurzer Dauer gewesen war. Ein Teil seiner Menschlichkeit floss in Chino zurück. Wenn er jetzt versagen würde, würde Blackcage auf ewig hinter Maria her sein. Er würde ihr wieder wehtun, sie wieder verletzen, wieder ihre Seele zerstören. Nein, das konnte er nicht zulassen. „Verzeih mir, Maria“, flüsterte Chino. Es bildeten sich einige Tränen in seinen Augen, die jedoch nicht mehr die Zeit hatten, sich ihren Weg über seine Wangen zu bahnen. Mit einem letzten Schrei stürzte sich Chino in das Feuer. Die Hitze, die ihn erfasste, ließ sämtliche Tränen verdampfen, noch bevor sie sich hätten bilden können. „Was machst du da, du Schwachkopf?!“, schrie Blackcage aus voller Kehle. Chino hatte sich an seinen Rücken geheftet. Spitze Fingernägel drückten sich in seinen Bauch und seine Schulter, was es unmöglich machte, Chino ohne weiteres wieder abzuschütteln. Messerscharfe Reißzähne bohrten sich in Blackcages Hals und entlockten diesem einen ohrenbetäubenden Schrei. Als Chino das Blut des Dämons auf seiner Zunge schmeckte, musste er ein Würgen unterdrücken. Es schmeckte säuerlich und verfault, brannte in seinem Mund und seinem Hals. Wie Säure rann es seine Speiseröhre herunter, ließ ihn von innen verbrennen, wie das Feuer dies mit seiner äußeren Erscheinung tat. Chino wusste, dass es ihm das Leben kosten würde, würde er zu viel dämonisches Blut trinken. Während das Blut der Menschen seinem Körper das Überleben sicherte und ihn regenerierte, tat das Blut seiner Artgenossen das genaue Gegenteil. Es würde ihn langsam und qualvoll zugrunde richten, ihn von innen heraus in einem langsamen Prozess zersetzen. Mit weit aufgerissenen Augen griff Blackcage nach hinten, aufgrund der starken Emotionen, die ihn beherrschten, wurde die Hitze des Feuers noch einmal erhöht. Er spürte, wie das Leben aus ihm herausgezogen wurde. Mit jedem Schluck, den Chino von ihm trank, konnte Blackcage nahezu zusehen, wie seine Adern sich leerten und die Farbe aus ihnen herauswich. Seine Venen zogen sich unter größter Pein zusammen, drückten auf seine Muskeln und auf seine Organe. Von unten nach oben spürte Blackcage eine Lähmung hinaufziehen, die nach und nach jede einzelne Faser in ihm erfasste, bis sie kurz vor seinem Herz angelangt war. Ein letztes Mal brüllte er laut auf, die Hitze und das Feuer, das ihn und Chino umschloss, flammte so stark auf, dass selbst die Steine unter ihnen zu schmelzen begannen. Auch Chino spürte unaussprechliches Leid, als die Hitze ihn mit voller Kraft erfasste. Zunächst brannte seine Kleidung an seinem Körper weg, dann ging das Feuer auf seine Haut über. Innerhalb weniger Sekunden war sie vollkommen schwarz. Genau in dem Moment, in dem Chino das Herz seines Widersachers aussaugte, legte sich trotzdem ein zufriedenes Lächeln auf seine Lippen. Maria würde niemals wieder leiden müssen. Eine Stichflamme schoss in den Himmel empor und mit einem Mal war die gesamte Umgebung wieder stockdunkel. Hildegard, die den letzten fünf Minuten des Kampfes unbeteiligt beigewohnt hatte, ließ sich auf die Knie fallen. Leo trat neben sie und die Dämonin vergrub ihr Gesicht in der Mähne des mächtigen Tieres. Schluchzend presste sie sich an Leo heran, sowohl aus Freude, dass zumindest einer der Alpträume ein Ende hatte, als auch aus Trauer über den Tod des Dämons, der sie und ihre Schwester gerettet hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)