Höllenfeuer von Feldteufel ================================================================================ Kapitel 22: Kapitel 22 ---------------------- Kapitel 22 Völlig in Gedanken versunken band Ethos seine Krawatte. Er hasste es, Schwarz zu tragen, wollte jedoch auch nicht pietätlos erscheinen. Generell hasste er es, diese Art von Kleidung zu tragen. Als er im Vatikan angekommen war, war ihm sofort die schreckliche Nachricht von Nikolas‘ Tod überbracht worden. Er hatte von der Explosion erfahren, die die Kutsche des Prälaten vollkommen zerstört hatte, so dass von dem Geistlichen nichts mehr übrig geblieben war. Ein grausamer Tod, doch insgeheim hegte Ethos die Vermutung, dass es so besser gewesen war. Der Krebs, den Nikolas mit sich herumgetragen hatte, hätte ihn unter wesentlich schmerzvolleren Umständen dahinsiechen lassen. Solch einen Abgang hätte er sich trotzdem nicht für den Prälaten gewünscht. Es gab halt den wesentlichen Unterschied zwischen dem, was neutral betrachtet gut war und dem, was das objektive Ich gleichzeitig als schlecht empfand, damit würde Ethos sich schlussendlich abfinden müssen. Nebenbei hatte er erfahren, dass sich Italien vermutlich bald aufrüsten würde. Doch dass Deutschland gerade Polen angegriffen hatte, gehörte eindeutig zu den weniger akuten Problemen des Priesters. Marylin hatte er inzwischen auch aus den Augen verloren. Seit dem Tag des Attentates war sie nicht mehr im Vatikan gesehen worden. Das wiederum hatte zu einigen Spekulationen geführt, an denen Ethos sich nicht hatte beteiligen wollen. Kaum hatte Ethos die schwarze Krawatte in die richtige Form gebracht, zog er die dunkle Jacke seines Anzuges über. Die Haare hatte er sich zusammengebunden, während er nach draußen ging, nahm er eine weiße Lilie und seinen Hut, den er sich aufsetzte. Als Ethos auf die Straßen des Vatikans trat, war bereits ein Ansturm an Priestern und Nonnen auf dem Weg zur Kapelle. Er ließ sich von der Masse mitreißen, ihm war ohnehin, als würden seine eigenen Füße ihn nicht tragen wollen. Seine Recherchen hatte er hintenanstellen müssen. Die Beerdigung von Nikolas hatte Vorrang. Zumindest konnte er sich inzwischen sicher sein, dass der Prälat nichts mit der Sache zu tun gehabt hatte. Natürlich blieb immer ein kleines Risiko bestehen, dass es sich hierbei um die Beseitigung von Beweisen handelte, aber davon ging Ethos eher weniger aus. Noch waren er, Artemis und Chino nicht tot, also war das Ziel noch längst nicht erreicht. Aufgrund einiger Äußerungen von McKenzey hatte Ethos allerdings den Verdacht, dass sich die Dämonengruppe, um die es sich hier handelte, innerlich zerstritten hatte. Inzwischen war Ethos vor der kleinen Kapelle angekommen. Die übrigen Priester und Nonnen hielten vor der ersten Treppenstufe an, wodurch sich Ethos seinen Weg durch die Masse hindurchbahnen musste, um die Kapelle betreten zu können. Die meisten hohen Geistlichen hegten den Wunsch, ohne viel Tamtam beerdigt zu werden. Wenn Ethos einmal sterben würde, würde er es genauso machen, nur dass er sich, im Unterschied zu Nikolas, anonym beerdigen lassen würde. Er hatte niemanden, der sich an ihn erinnern müsste oder der Wert darauf gelegt hätte, sein Grab zu besuchen. Artemis vielleicht, aber dafür musste er vor diesem sterben. Bevor er die Kapelle betrat, blickte Ethos noch einmal in den Himmel hinauf. Graue Wolken schoben sich über das Firmament und ein kühler Wind blies ihm ins Gesicht. Seufzend drückte der Priester die Klinke nach unten und trat durch die Tür. Innen nahm er seinen Hut ab und hängte ihn an die Graderobe direkt am Eingang. Schon beim Eintreten sah er den geschlossenen Sarg am hinteren Ende vor dem Altar stehen. Ethos stellte sich zwischen Steve und Marcus Dominic. Auch die Oberschwester Mathilde Franzoni war anwesend, sie stand etwas abseits neben Edoardo Albertus und Guiseppe Magnus. Allen Anwesenden stand die Trauer ins Gesicht geschrieben. Betreten schauten sie zu Boden, nur Leutnant Roth, welcher die Türen zum Friedhof hinaus bewachte, wirkte aufmerksam wie immer. „Wir sind dann vollzählig?“, fragte ein Priester, der bisher unbeteiligt hinter dem Altar verharrt hatte. „Seine Heiligkeit hat sich bereits von dem ehrenwerten Herrn Prälat verabschiedet.“ Unwillkürlich musste Ethos daran denken, dass der Sarg, welcher vor ihm stand, lediglich einige Steine enthielt, um den Eindruck zu erzeugen, jemand läge darin. Nicht einmal von den irdischen Überresten hätte er Abschied nehmen können, nicht einmal der Papst höchstpersönlich hätte dies bewerkstelligen können. An der unteren Seite des reich verzierten Sarges war ein großer Kranz niedergelegt worden. Langsam trat Ethos vor und legte seine weiße Lilie dazu. Die anderen folgten seinem Beispiel. Als alle ihre Blumen abgelegt hatten, begann der Priester mit der Trauerrede. Ethos beobachtete, wie der Oberschwester einige Tränen aus den Augen liefen und sie ihr Taschentuch anhob, um sich diese aus dem Gesicht zu wischen. Die Miene von Marcus Dominic hingegen war nur sehr schwer zu deuten. Vielleicht machte er sich, genau wie Ethos, gerade schwerwiegende Gedanken, es sah jedenfalls so aus, als dachte er angestrengt über etwas nach. Die beiden anderen Prälaten wirkten wie Geister, deren Präsenz kaum zu fassen war. Roth blickte weiterhin starr geradeaus. Als Ethos etwas zur Seite schaute, um Steve zu beobachten, fiel ihm auf, dass der Junge den Kopf unnatürlich stark gesenkt hielt. Auch wenn er trauern sollte, war er doch sehr darum bemüht, dass niemand sein Gesicht lesen konnte. So sehr sich Ethos auch darum bemühte, der Rede zu folgen, er schweifte in seinen Gedanken immer wieder ab. Er machte sich Gedanken um Chino, der sich, wie so häufig, dagegen gesträubt hatte, mit in den Vatikan zu kommen. Dies war nur verständlich, vermutlich hätte er sich auf heiligem Grund ohnehin nicht gut gefühlt. Zusammen mit dem Fehlschlag, Maria noch immer nicht ausfindig gemacht zu haben, wäre er vermutlich nur noch ein Häufchen Elend gewesen. Ethos konnte ihm immerhin genug vertrauen um zu wissen, dass er keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich ziehen würde. Noch immer wurde nach dem Spanier geahndet. Er würde da draußen schon zurechtkommen, allerdings würde es die Sache erschweren, sollte Ethos ihn in naher Zukunft aufsuchen müssen. Er fühlte sich schuldig. Nicht nur, weil er Chino gegenüber sein Versprechen nicht hatte halten können, auch aufgrund des frühzeitigen Ablebens des Prälaten. Hätte er eher etwas getan, wäre Nikolas möglicherweise noch am Leben. Sobald die Beerdigung vorbei sein würde, würde Ethos sich sofort daran machen, seine Theorie zu stützen. Ohne Hinweise stünden die Chancen allerdings ziemlich schlecht, seinen Verdacht vor den übrigen Prälaten zu äußern und auf Zustimmung zu stoßen. Der Priester hatte seine Rede beendet und nickte Roth zu. Dieser öffnete die Tür hinter sich, so dass einige Gardisten die Kapelle betreten konnten. Sie hoben den Sarg an und brachten diesen nach draußen, gefolgt von der Trauergemeinschaft. Der kleine Friedhof hinter der Kapelle war von hohen Mauern umgeben, an dessen Wänden sich wilder Efeu breitgemacht hatte. Auf einigen Gräbern waren Blumen zu sehen, die meisten wirkten allerdings eher anonym und waren voller Wildwuchs oder akkurat getrimmt. Nur einige wenige Grabstätten waren vorhanden, sie waren denjenigen vorbehalten, die etwas Besonderes geleistet hatten. Da es sich bei Nikolas um den jüngsten Geistlichen gehandelt hatte, der jemals als Oberhaupt der Geheimen Abteilung eingesetzt worden war und diese obendrein auch weiterentwickeln konnte, zählte er für den Vatikan offenbar zu diesem exklusiven Personenkreis. Nachdem der Sarg eingehangen und an seinen endgültigen Bestimmungsort gefahren war, trat Magnus nach vorne und nahm eine kleine Schaufel, die in einem kleinen Krug mit Erde steckte, in die Hand und schippte etwas von der Erde in das Grab. Dabei entstand der Eindruck, als würde ihm jeden Augenblick die Hand abbrechen, so sehr zitterte der Prälat. Die restlichen Anwesenden hatten sich in einer Reihe aufgestellt, nach Magnus kam Albertus, dann Steve, danach die Oberschwester und als letztes Marcus Dominic. Als Ethos sich an das Ende der Reihe eingliederte, war die Oberschwester gerade dabei, mit Marcus Dominic zu sprechen. „So sollte es nicht ausgehen“, schluchzte sie, ganz darauf bemüht, ihre Stimme so leise wie möglich zu halten. „Das habe ich nicht gewollt.“ „Es ging zu weit, aber…“, begann Dominic gerade einen Satz, brach diesen jedoch vorschnell ab, als er bemerkte, dass Ethos sich dazugesellte. Der Prälat verstummte und auch die Oberschwester wand sich ab, um nach der Schaufel zu greifen. Während sie die Erde hinunterfallen ließ, kamen ihr erneut einige Tränen. Schließlich standen Dominic und Ethos alleine vor Nikolas‘ Grab. Mit strenger Miene schaute Ethos den Prälat an. Dieser bemerkte zuerst gar nicht, dass er so intensiv beobachtet wurde und warf die Erde in das Grab. Als er seinen Kopf wieder hob, sah er in Ethos‘ blaue Augen. Ein leichter Schrecken schien ihm durch den Körper zu fahren. „Bitte, nach Ihnen“, sagte der Prälat, machte einen Schritt zurück und deutete auf die Schaufel. Ruhig hob Ethos diese an und nahm etwas dunkle Erde auf. „Was für eine Tragödie“, murmelte der Priester und tat seinen Teil dazu bei, den Sarg mit Erde zu bedecken. Danach drehte er sich um. „Ich gehe davon aus, dass Sie sich für das Nachfolgeramt bewerben werden.“ „So sehr ich Sie auch schätze, Pater Turino, das hier ist nicht der richtige Ort, um Konversation über Politik zu halten.“ Empört wand sich Dominic von Ethos ab und ging zurück in die Kapelle. Gerade noch rechtzeitig, denn die blau-grauen Wolken am Himmel rissen auf und dicke Regentropfen fielen auf die Erde nieder. Es schien, als würde selbst der Himmel Nikolas‘ Tod beweinen. Der Priester, der zuvor noch an dem Grab des Prälaten verharrt hatte, richtete seine Soutane und machte sich schnellstmöglich auf den Weg nach drinnen. Ethos war nun alleine auf dem Friedhof. Die Ruhe genießend und den Duft des kalten Regens einatmend, schritt er voran und begab sich zu einem anderen Grab. Es war nur wenige Schritte von dem des Prälaten entfernt. Bereits von einer ersten Woge aus Regen benetzt, kniete Ethos nieder. Ein kleines Kreuz aus Naturstein bezeugte, wer hier zur letzten Ruhe gebettet worden war. In halb abgeblätterten, von Moos überwucherten Lettern waren die Namen Eleonora & Raffaele Turino eingraviert worden. Unter den beiden Namen war der Satz Non mortem timemus, sed cogitationem mortis gerade eben noch zu lesen. Vorsichtig streckte Ethos die Hand aus und fuhr mit den Fingerspitzen über die Namen seiner Eltern. Es hatte lange gedauert, bis er herausgefunden hatte, wer seine leiblichen Eltern gewesen waren und aus welchen Gründen sie hatten sterben müssen. Wie Ethos hatten sie Dämonen gejagt und waren Geweihte gewesen. Erst nach der Geburt ihres einzigen Kindes hatten sie sich dazu entschlossen, der Kirche zu dienen, was letztendlich ihren Untergang bedeutet hatte. Doch Ethos verurteilte die Kirche nicht deshalb. Es war ein ehrenhafter Tod gewesen, den die beiden gestorben waren. Prälat Nikolas hatte sie gekannt und Ethos erzählt, dass sie vor allem deshalb gegen Dämonen hatten kämpfen wollen, um ihrem Sohn eine bessere Welt zu bieten. Zuvor waren die beiden eher mit sich selbst beschäftigt gewesen. Hier und da waren Drogen konsumiert worden, sein Vater hatte unter krankhaftem Alkoholismus gelitten. Einer der beiden hatte jene Fähigkeiten besessen, wie sie auch Ethos innewohnten. Umso überraschender, dass er jahrelang in einem von Nonnen geleiteten Waisenhaus gelebt hatte, ohne dass jemand auch nur geahnt hatte, was für ein Talent in ihm schlummerte. Die genauen Hintergründe, warum er nicht gleich vom Vatikan aufgenommen worden war, kannte Ethos nicht, sie interessierten ihn aber genauso wenig, wie die vollständige Geschichte seiner Eltern. Als Geweihte muss es etwas gegeben haben, das sie dazu prädestiniert hatte, von Dämonen angegriffen zu werden. Genau wie Ethos selbst. Er wollte das Bild, das er von seinen Eltern hatte, nicht zerstören. Sein Stiefvater hatte ihm gereicht. Als Ethos merkte, wie die Gedanken an seine Jugend hochgekrochen haben, ballte er die Hand zu einer Faust. Glücklicherweise wusste niemand außer Artemis und einige wenige, die Zugang zu den persönlichen Informationen von ihm hatten, etwas über den Mann. Die bloße Erwähnung seines Namens hatte das Potential, Ethos dazu zu bringen, völlig auszurasten. Noch immer regnete es in Strömen, weshalb Ethos bis auf die Knochen durchnässt war. Einzelne Tropfen liefen ihm über das Gesicht, tropften an seiner Nase und seinem Kinn herunter. Eine Haarsträhne klebte nass auf seiner Wange, weshalb Ethos die Hand hob und sie wegschob. Langsam erhob er sich und ging zurück zu dem Grab von Nikolas. Stumm formte er ein Kreuz auf seiner Brust, dann faltete er die Hände, um ein Gebet für den Prälaten zu flüstern. Nachdem dieses beendet war, ging auch Ethos zurück in die Kapelle. Er hatte seine Planung kurzfristig geändert. Erst würde er ein wenig meditieren gehen, damit er zur Ruhe kam. Danach war es an der Zeit, die Bibliothek aufzusuchen. Und einige Nachforschungen bezüglich der Oberschwester und Marcus Dominic anzustellen. Es hatte nicht lange gedauert, bis Marylin herausgefunden hatte, wo sich der Schlüssel zu Geminis Keller befand. Nicht umsonst hatte sie es geschafft, bei der Polizei angenommen zu werden, obwohl sie eine Frau war. Ihr war immer bewusst gewesen, dass sie dafür doppelt so viel leisten und draufhaben musste, als ihre männlichen Kollegen. Was sie sich nun umso besser zunutze machen konnte. Vor wenigen Minuten hatte sie sich von der Zigeunerin verabschiedet. Sie wollte noch das eine oder andere einkaufen gehen. Marylin hatte sich darüber geäußert, dass es ihr noch immer nicht so gut ging und sie lieber in der Wohnung bleiben wollte. Gemini hatte hierfür Verständnis gezeigt und gesagt, sie würde nicht lange weg bleiben. Somit blieb Marylin ungefähr eine Stunde, um ihre Neugierde zu befriedigen. Vorsichtig stieg sie die alte hölzerne Treppe hinunter, als könne sie jemand dabei ertappen, wie sie sich nach unten begab. Der Gang war eng, sie musste ihre Arme an den Körper drücken, damit sie sich fortbewegen konnte. Der Geruch nach Staub hang in der Luft. Bei jedem Schritt quietschte die Treppe, als würde sie jeden Augenblick unter Marylin nachgeben. Mit einer kleinen Taschenlampe in der Hand nestelte sie den Schlüssel hervor und öffnete die Tür. Als diese zur Seite Schwang, kam ein Gewölbe zum Vorschein, das so niedrig gebaut worden war, dass Marylin gerade eben aufrecht stehen konnte. Es war stockfinster und nirgendwo ein Lichtschalter zu finden. Der Boden bestand aus grauen Fliesen und als Marylin ihre Taschenlampe hob, sah sie mehrere Gänge, die durch aneinander stehende Metallregale gebildet wurden. An der Stirnseite der Regale waren vereinzelt Zettel angebracht, die Hinweise darauf lieferten, was sich in ihnen befand. Soweit Marylin es erkennen konnte, waren die doppelseitigen Regale ausschließlich mit Büchern gefüllt. Sie drohten schon fast aus allen Nähten zu platzen. Einige lagen kreuz und quer verstreut, andere so wild angeordnet, dass es an ein Wunder grenzte, dass sie nicht heraus fielen. Wieder andere waren so hingestellt worden, dass jeder Zentimeter perfekt ausgenutzt werden konnte. Marylin ließ die Tür offen stehen, für den Fall, dass Gemini früher zurückkommen und sie überraschen würde. Wie in Zeitlupe schritt sie voran, fasziniert davon, wie viel Literatur hier unten zusammen kam und wie weit die Gänge waren, durch die sie sich hindurch bewegte. Vereinzelt rieselte etwas Putz von oben herab, als sie die Hand hob und die Decke berührte. Fast hätte sie niesen müssen, als sie etwas davon in die Nase bekam, konnte sich jedoch im letzten Moment beherrschen. Marylin bestrahlte einige der Buchrücken. Scheinbar handelten alle davon von der Katholischen Kirche, jedenfalls ließen dies die Titel vermuten. Etwas weiter entfernt standen Bücher über den Vatikan. Als Marylin am Ende des Ganges angekommen war, warf sie einen Blick auf den Zettel. Praktisch daran war, dass diese in mehreren Sprachen verfasst worden waren, unter anderem auch in Englisch. Kirche, allgemein Vatikan Priester, allgemein Rom Die schwarzen Buchstaben waren schon etwas eingestaubt, anscheinend hatte hier schon länger keiner mehr sauber gemacht. Marylin ging einen Gang weiter. Hier standen die wenigsten Bücher, soweit sie das beurteilen konnte. Geweihte Fänger Priester, Fähigkeiten Die junge Polizistin wollte sich erst einmal einen Überblick verschaffen, weshalb sie diesmal weiterging, anstatt den Gang zu inspizieren. Das darauf folgende Regal war wieder deutlich stärker befüllt. Es schien, als würde es geradezu überquellen. Nur noch ein einziges Buch und es würde vermutlich bersten, dachte sich Marylin und leuchtete in den Gang. Dämonen, allgemein Dämonen, Fähigkeiten Dämonen, Arten Dämonische Symbole Sie kam bei den letzten Regalen an, hier hielt sich der Bestand die Waage. Menschen, allgemein Menschen, Schwächen Menschen, Zauber und Magie Mit einer hochgezogenen Augenbraue betrat Marylin den Gang und zog wahllos eines der Bücher heraus, damit sie es aufschlagen konnte. Ihre Taschenlampe legte sie auf das Regal hinter sich. Ungläubig blätterte sie die Seiten hin und her, als würde die Bewegung bewirken, den Inhalt des Buches besser zu verstehen. In der Mitte befand sich eine Zeichnung. Auf dieser waren ein menschlicher Körper und seine Organe zu sehen. Mittels akkurat gezogener Striche wurden sie markiert, benannt und beschrieben. Auf der gegenüberliegenden Seite war eine Tabelle aufgeführt, an dessen oberen Enden lateinische Worte geschrieben standen. Darunter waren weitere Beschreibungen zu finden. Doch Marylin verstand kein Latein, weshalb sie die Worte nicht deuten konnte. Sie blätterte einige Seiten weiter. Das gesamte Buch war in Latein verfasst worden, weshalb sie es wieder wegstellte. Verzweifelt suchte sie nach einem Einband, der darauf hindeutete, dass der Inhalt auf Englisch verfasst sein könnte. Sie fand nahezu alle Sprachen, Spanisch, Französisch und Deutsch, allen voran Italienisch und Latein, aber nach Englischer Literatur suchte sie vergebens. Es kam ihr merkwürdig vor, dass die Zettel mitunter in Englisch verfasst worden waren, sich aber augenscheinlich kein einziges englisches Buch hier unten befand. Enttäuscht seufzte die Blondine und nahm ihre Taschenlampe wieder auf. Sie erinnerte sich daran, dass Lydia, die Nonne aus dem Vatikan, ihr etwas von einem Fänger erzählt hatte. Also ging sie zurück zu dem entsprechenden Regal. Plötzlich vernahm sie ein Geräusch hinter sich. Erschrocken drehte Marylin sich um, dabei ließ sie die Taschenlampe fallen, welche lautstark auf dem Boden aufkam und daraufhin erlosch. Eine Maus kroch auf Augenhöhe an ihr vorbei. Hinter der Maus befand sich ein länglich angelegtes Fenster, das gegenwärtig geschlossen war. Spinnenweben hingen davor und fingen jedes Insekt auf, das sich hier runter verirrte. Erleichtert bückte Marylin sich, um die Taschenlampe wieder aufzuheben. Mit klopfenden Herzen begab sie sich zurück zum Ausgang, schloss die Tür hinter sich und schloss diese ab. Den Schlüssel brachte sie wieder zu der Stelle, an der sie ihn gefunden hatte. Die kaputte Taschenlampe verstaute sie zwischen ihren eigenen Sachen. Gerade noch rechtzeitig, denn wenige Minuten, nachdem Marylin sich an den Küchentisch gesetzt hatte, schwang die Haustür auf und Gemini kam herein. In ihren Händen hielt sie eine braune Papiertüte, aus dessen Ende einige grüne Zweige herausschauten. Als sie Marylin sah, hielt sie kurz inne und musterte sie erschrocken. „Du schaust ja aus, als hättest du einen Geist gesehen“, stellte sie fest und stellte die Tüte auf dem Tisch ab. „Nein. Ich habe mich vorhin etwas schlafen gelegt. Und ich musste schon wieder von der Explosion träumen. Da bin ich aufgewacht, habe mich angezogen und hierhin gesetzt.“ „Und seitdem starrst du Luftlöcher? Du Arme.“ Gemini kam auf Marylin zu und umarmte sie, wiegte sie kurz in ihren Armen und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Einige Zeit verharrte sie in dieser Position, dann rümpfte sie die Nase. „Ach du meine Güte, hier riecht es aber muffig.“ Marylin stellten sich die Nackenhaare auf. „Aber das kann schon mal passieren, wenn nicht gelüftet wird, diese Wohnung hier ist auch nicht gerade das Beste, was Rom zu bieten hat“, flötete die Südländerin und erhob sich, damit sie das Fenster öffnen konnte. Ein kühler Wind wehte und trug etwas von dem Regen, der gerade eingesetzt hatte, hinein. Der Duft von nassen Steinen strömte hinein und vertrieb den muffigen Geruch aus dem Keller schnell, was Marylin unheimlich beruhigte. Erleichtert sank sie in sich zusammen. Zum Glück hatte Gemini nicht ihren starken Herzschlag gespürt, als diese sie umarmt hatte. Es war nun schon zwei ganze Tage her, dass sich Chino wieder in Rom befand. Ungeachtet der ausgeschriebenen Fahndung nach ihm, hatte er sich bisher bedeckt halten und trotzdem frei bewegen können. Ethos und Roth in den Vatikan zu begleiten, war keine Option für ihn gewesen. Er mochte es dort nicht, zumal der geweihte Boden dauerhaft an seinen Kräften zerrte. Wobei es schon ein Privileg war, dass er das Gelände überhaupt betreten konnte. Immer, wenn er zu Besuch war, musste der Heilige Schutzwall ausgesetzt werden, was die Bewohner mehr als angreifbar machte. Umso größer war seine Verwunderung gewesen, als Ethos ihm angeboten hatte, mit ihm zu kommen. Trotzdem hatte er abgelehnt. Er wollte jetzt mit seinen Gedanken alleine sein. Innerlich war er hin und her gerissen. Einerseits verstand er Ethos und seine Beweggründe, andererseits fühlte er sich auch ein wenig von dem Priester enttäuscht. Allerdings konnte Chino auch nachvollziehen, dass er Artemis‘ Wohl dem von ihm vorzog. Möglicherweise war es aber auch alles ganz anders, Chino hatte es schon seit geraumer Zeit aufgegeben, Ethos‘ Gefühle verstehen oder gar deuten zu wollen. Seitdem er nicht mehr mit Maria zusammen war, litt vielleicht auch einfach sein Urteilsvermögen. An dieser Stelle kam das Wesen der Dunkelheit in ihm heraus und warf alles von der Selbstbeherrschung über Bord, die er sich all die Jahre über mühsam antrainiert hatte. Um nicht allzu stark aufzufallen, hielt Chino sich am Hafen auf, der einige Kilometer außerhalb lag. Ostia gehörte zwar noch zu der Stadt, war aber weit genug entfernt, um den Carabinieri aus dem Weg zu gehen. Glücklicherweise blieben zu dieser Jahreszeit die Badegäste des nahegelegenen Strandes weitestgehend aus. Manchmal hatte er Vergnügen daran gefunden, einige Wasserflugzeuge dabei zu beobachten, wie diese Anflug und Abflug geübt hatten. Leider kehrten seine Gedanken nur allzu bald zu Maria zurück. Da er inzwischen ein wenig wie ein Obdachloser zu leben schien, war Chino dem starken Regen am Nachmittag schutzlos ausgeliefert gewesen. Jetzt, wo bereits die ersten dunklen Wolken aufgezogen waren und die Nacht ankündigten, begann er zu frieren. Im Schatten einiger Lagerhäuser bewegte er sich fort, auf der Suche nach einem geeigneten Platz, an dem er sich ein kleines Feuer machen könnte. Inzwischen musste er völlig verwahrlost aussehen. Auch seine Kleidung hatte leicht angefangen zu riechen, der einstmals weiße Kittel war inzwischen zu einem Kaleidoskop aus grau, braun und schwarz geworden. Als Chino das Ende des befestigten Hafengeländes erreicht hatte, befand er sich auf wildem Gelände. Die Küste wurde hier etwas steiler und hin und wieder von einigen kleinen Buchten unterbrochen. Das Meer peitschte wütend gegen die Felsen und erzeugte ein lautes Rauschen. An einigen tiefer gelegenen Stellen trat es ab und an leicht über die Ufer. Nun war es so dunkel, dass ein Mensch die Hand vor Augen nicht mehr hätte sehen können. Für Chino war das allerdings kein Problem, aufgrund seiner guten Augen fand er ohne Probleme durch das Gewirr von Gestrüpp, kleinen Steinen und verfaulten Ästen. Nachdem Chino eine Düne ausfindig gemacht hatte, die genügend Sichtschutz zur Stadt hin und Deckung vor dem aufkommenden Wind bot, sammelte er etwas von dem angespülten, aber inzwischen getrockneten Gehölz zusammen und nutzte ein Streichholz, um dieses anzuzünden. Kaum brannte das Feuer, schreckte er zurück und fletschte die Zähne. Seine Augen nahmen sofort ihre rötliche Färbung an und jeder Muskel in seinem Körper spannte sich an wie die Sehne eines Bogens. „Komm‘ raus! Wer auch immer du bist!“, rief er in die Dunkelheit hinaus und fixierte einen Punkt im schwarzen Nichts. Zunächst blieb es ruhig, nur das Rauschen des Meeres war zu hören. Dann, ganz langsam, näherte sich eine Person. Sie schien nur mühsam voran zu kommen, denn die Schritte wirkten schwer und unregelmäßig. Begleitet von einem leisen Knurren schälte sich die Silhouette von Hildegard Krüger aus der Nacht heraus, gefolgt von dem weißen Löwen. Sofort richtete Chino seine Aufmerksamkeit auf das prachtvolle Tier. Er konnte sehen, dass sich um die Augen herum Schorf gebildet hatte und dass der Löwe seine Augen offenbar nicht mehr öffnen konnte. „Er ist blind“, kommentierte Hildegard, die Chinos Blick gefolgt war. Angewidert schüttelte sie erst den linken, dann den rechten Fuß, doch sobald sie wieder Bodenkontakt fand, legte sich erneut Matsch um den Absatz ihrer hohen Schuhe. Mit beiden Händen hielt sie den Saum ihres Kleides nach oben, damit dieser nicht ebenfalls vom Schmutz befallen wurde. Diesmal handelte es sich um ein einfaches schwarzes Kleid mit dünnen Trägern, der Überrock war jedoch mit einem aus Spitze bestehenden Stoff gearbeitet, mit einem Motiv aus Blumen bestickt. Ihre Haare hatte sie zurückgebunden und toupiert, den Mund blutrot geschminkt. „Was willst du von mir?“, knurrte Chino verärgert. „Um ehrlich zu sein, würde ich mich am liebsten für den Tod an meinem Mann rächen“, gestand die Dämonin ohne Umschweife. „Aber ich habe ein Anliegen, das mir im Moment wichtiger erscheint.“ Inzwischen hatte sie es aufgegeben, ihre Kleidungsstücke vor dem aufgeweichten Boden schützen zu wollen. Stattdessen stand Hildegard einfach nur da und schaute Chino in die Augen. „Ich will nicht kämpfen.“ Chino brauchte einen Moment, um sich wieder zu fassen. Er hatte sich so sehr auf einen Kampf vorbereitet, dass es ihm schwerfiel, seine Instinkte niederzukämpfen. „Was willst du dann?“ „Es geht um Maria.“ „Geht es ihr gut? Wo ist sie?“, sprudelte es aus Chino heraus, als habe er vergessen, dass er zwei seiner Feinde vor sich stehen hatte. „Lebt sie noch?“ „Keine Sorge, sie ist am Leben“, beschwichtigte Hildegard den aufgeregten Dämon und kraulte Leo am Kopf, woraufhin der Löwe seinen Kopf gegen ihre Hüfte lehnte. „Ich befürchte jedoch, dass es ihr nicht besonders gut geht.“ „Was habt ihr ihr angetan?!“ Sofort kehrte das rote Leuchten in Chinos Augen zurück. „Wir haben ihr gar nichts angetan. Doch Nathan Blackcage hat von Esrada die Erlaubnis bekommen, mit ihr zu verfahren, wie es ihm beliebt. Und das wiederum gefällt mir überhaupt nicht.“ Von den ehrlichen Worten der Dämonin überrascht, beruhigte Chino sich nun endgültig. Er fühlte, wie eine altbekannte Traurigkeit in ihm hervorkroch und nach und nach seinen Körper lähmte. „Schön, wie ich sehe, hörst du mir jetzt endlich zu. Ich muss dich um etwas bitten, Chino. Bitte, ich möchte, dass du dich wieder um Maria kümmerst.“ „Das hörte sich letztens noch anders an“, sagte Chino skeptisch und verschränkte die Arme vor der Brust. „Wieso sollte ich dir trauen?“ „Es wird für mich keine Möglichkeit geben, dir meine Loyalität zu beweisen. Das ist aber auch nicht nötig. Ich will, dass es meiner Schwester besser geht. Leider musste ich einsehen, dass ich einen riesigen Fehler begangen habe, als ich sie in meine Obhut habe zurückholen lassen. Damals wusste ich noch nicht, was Blackcage genau von Maria wollte. Esrada hat sie als Druckmittel benutzt, um Brooklyn und mich für sich arbeiten zu lassen und keinen Aufstand gegen ihn in die Wege zu leiten. Das ist die Kurzfassung, ich habe nicht viel Zeit. Jede Minute, die Maria mit diesem Monster verbringt, ist zu viel vergeudete Zeit. Ich frage dich, Chino. Würdest du Maria wieder in deine Obhut nehmen und sie beschützen?“ Noch immer traute Chino der Dämonin nicht. Er hatte nicht einen einzigen Grund dafür, ihr blind zu vertrauen, schon gar nicht jetzt, nachdem er daran beteiligt gewesen war, ihren Mann zu töten. Zögernd trat Chino einen Schritt vor. „Und wie hast du dir das vorgestellt?“ „Wir treffen uns an einem neutralen Ort. Dort werde ich dir Maria übergeben und danach verschwinden. Esrada wird mich nicht so einfach gehen lassen, ich werde ihn von euch weg locken. In dieser Zeit kannst du sie in Sicherheit bringen.“ „Vielleicht wirst du deine Schwester dann niemals wiedersehen. Ich werde mit ihr untertauchen müssen.“ „Das ist mir egal. Lieber weiß ich, dass sie in guten Händen ist, als dass ich es riskieren würde, ihr gesamtes Leben mit diesem Monster alleine verbringen zu lassen. Was ich denke oder fühle spielt hier keine Rolle. Also, hilfst du Maria und mir?“ Chino spürte, wie ihm flau im Magen wurde. Natürlich wollte er sofort alles tun, um Maria zu helfen, aber wie konnte er sichergehen, dass es sich hierbei nicht um eine Falle handelte. Da die anfängliche Hitze verflogen war, spürte Chino, wie die Kälte zurückkam. „Wann soll das Treffen stattfinden?“ „Am besten morgen oder übermorgen.“ Ein letztes Mal wiegte Chino seine Gedanken hin und her. Letztendlich würde er zustimmen, egal, wie irrational die Vorstellung war, dass die Dämonin ihm aus reiner Nächstenliebe helfen würde. In ihren Augen meinte Chino allerdings Verzweiflung lesen zu können. Auch ihre Haltung wirkte angespannter als bei ihrem letzten Aufeinandertreffen. „Übermorgen am Hafen. Sobald die Dunkelheit angebrochen ist, werde ich dort sein.“ Erleichtert ließ Hildegard die Schultern nach unten sinken. Auf ihrem Mund machte sich ein freundliches Lächeln bemerkbar. „Danke, Chino. Ich stehe tief in deiner Schuld.“ Hildegard deutete eine Verbeugung an. „Wenn das so ist, dann kannst du mir sicherlich etwas über Esrada erzählen.“ Sofort wich das Lächeln der Dämonin einer steinernen Maske. „Erst erfüllst du deinen Teil der Abmachung und dann können wir eventuell darüber sprechen, ob ich nicht noch das eine oder andere für euch tun kann. Solange ich nicht weiß, ob ich dir trauen kann, werde ich dir keine Informationen über irgendwen geben. Du sollst aber wissen, dass ich meine Schulden immer begleiche.“ „Dann sehen wir das beide im gleichen Licht“, murmelte Chino und kam noch ein wenig näher an Hildegard heran. Nun trennte ihn nur noch ein Meter von ihr. „Ich muss nun gehen und alles vorbereiten, damit ich Maria helfen kann. Ich weiß, dass dieser Pakt auf wackeligen Füßen steht und du nicht einen einzigen Grund hast davon auszugehen, dass ich die Wahrheit sage. Ich bitte dich nur darum, es zu tun, weil es hierbei um das Wohlergehen meiner Schwester geht. Ich weiß inzwischen, dass du sie besser behandelt hast als jeder andere.“ Ein schwerer Seufzer unterbrach Hildegards Erzählung. „Mich eingeschlossen. Ich verlasse mich auf dich.“ Mit diesen Worten machte die Dämonin auf dem Absatz kehrt und verschwand, zusammen mit Leo, wieder in den Schatten, aus denen sie gekommen waren. Von neuem Lebensmut erfüllt, blieb Chino noch einmal stehen und sammelte sich etwas um zu überlegen, wie das weitere Vorgehen aussehen sollte. Er musste unbedingt los und Ethos aufsuchen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)