Höllenfeuer von Feldteufel ================================================================================ Kapitel 18: Kapitel 18 ---------------------- Kapitel 18 Es war vermutlich mehr als bezeichnend, dass der Morgen, an dem Artemis mit Lydia zusammen nach Griechenland fliegen musste, grau und vernebelt war. Das Rollfeld draußen war kaum zu erkennen und die Passagiere schauten immer wieder auf die Anzeigetafeln, aus Angst, dass ihr Flugzeug aufgrund des schlechten Wetters nicht abheben würde. Lydia war in ein dunkelblaues Kleid gehüllt, ihre Haare hielt sie unter einem weißen Tuch mehr schlecht als recht bedeckt. Eine Sonnenbrille verhinderte, dass Artemis ihren Blick deuten konnte. Ansonsten saß die junge Frau regungslos da, die Hände in den Schoß gelegt und stur geradeaus schauend. Es war, als nehme sie den starrenden Priester neben ihr gar nicht wahr. Artemis war ebenfalls in zivil. Auch er trug eine Sonnenbrille, allerdings eher, um seine Augenklappe etwas zu kaschieren. Die beiden hatten aufgetragen bekommen, so wenig Aufmerksamkeit wie möglich auf sich zu lenken. Um sich etwas abzulenken, griff Lydia nach ihrer großen braunen Handtasche. Sie wühlte etwas darin herum und zog dann eine kleine Mappe heraus, von der sie die erste Seite aufschlug. Ein letztes Mal wollte sie sich alle ihre neuen Fälle ansehen. In der Eile hatte sie die Mappen nicht sortiert. Dimitrij Ivanowitsch Ponomarjow besaß nicht nur einen bezeichnenden Namen, sondern auch eine beeindruckende Geschichte. Der Geweihte, dessen Eltern in der Russischen Revolution getötet worden waren, da sie sich gegen das Zarenreich gestellt hatten, war der dritte Priester, den sie aufsuchen würden. Er hatte sich im Großen Krieg verdient gemacht, bevor er aufgrund einer Verletzung ausscheiden musste mit dem Rang eines Hauptmannes. Mit fast fünfzig Jahren hatte er sich, für einen Geweihten, der sich offenkundig gegen die Dämonen stellte, lange gehalten. Ein kleiner Stich fuhr der Nonne ins Herz, als sie darüber nachdachte, wie kurz das Leben der meisten Geweihten dauerte. Auch Artemis hatte seine Lebensspanne fast überstrapaziert. Obwohl sie schon genau wusste, weshalb sie sich so sehr darum bemühte, sich von Artemis scheiden zu lassen, war der Gedanke, dass der Priester eines Tages von einem Dämon zerfetzt werden könnte, kaum zu ertragen. Um auf andere Gedanken zu kommen, nahm Lydia die nächste Akte zur Hand. Sokrates Alexandros war ein überraschend gutaussehender Mann von dreißig Jahren. Seine hohen Wangenknochen verliehen ihm eine männliche Art von Härte, die von seinem freundlichen Lächeln jedoch etwas abgeschwächt wurde. Viel stand über den jungen Mann nicht in der Akte, sie war relativ uninteressant. Lydia sortierte sie über die Akte von Ponomarjow. Archibald Roman McDouglas war der Sohn einer reichen Großfamilie, die als Kolonnisten ein ruhiges Leben in Indien verbracht hatte. Jedenfalls so lange, bis der Großteil der Familie zu verschwinden begann. Nach und nach wurden Verwandte als vermisst gemeldet, bis nur noch McDouglas übrig geblieben war. Er war ein schlaksig wirkender Kerl mit der Nase eines Habichts und träge wirkenden Augen. Ein kleiner Schnurrbart, der an den Enden zusammengezwirbelt war, klebte wie ein dünner Strich über seiner Oberlippe. Der Safarihut, welchen er auf dem Bild trug, ließ ihn leicht idiotisch wirken. Sein Mund war ebenfalls kaum mehr als ein schmaler Strich, die Lippen wirkten fast etwas zu weiblich. Zu große Ohren hatte er außerdem. McDouglas' Akte wanderte zwischen die von Ponomarjow und Alexandros. Die letzte Akte befand sich am untersten Ende ihrer Tasche und Lydia musste etwas länger suchen, bis sie diese finden konnte. Jonathan Smith. Auf den ersten Blick hätte Lydia den Mann für eine jüngere Version von Ethos halten können. Doch dann sah sie, dass sich die beiden doch stärker voneinander unterschieden, als es der erste Eindruck erscheinen ließ. Die hellen Haare waren deutlich kürzer und standen wild vom Kopf des Mannes mit dem schlanken, schon beinahe kantig wirkenden Gesicht ab. Mit achtundzwanzig Jahren war der Amerikaner genauso alt wie Lydia. Seine Augen waren etwas heller als die von Ethos und auch das wenige, das Lydia von dem Kleidungsstil des Priesters erblicken konnte, hob sich deutlich von dem ewig murrenden Geistlichen im Vatikan ab. Er trug anscheinend die normale Priesterrobe. Auch hier fand sich nichts Spektakuläres. Die Eltern waren bereits seit langer Zeit tot, ähnlich wie Ethos war Smith in einem Waisenhaus aufgewachsen. Diese Mappe sortierte Lydia an das hintere Ende. „Würdest du mir die Mappen bitte geben?“, fragte Artemis und streckte einen Arm aus. Lydia übergab dem Priester die Unterlagen. Offiziell war sie Artemis bei dieser Mission unterstellt. Auch wenn ihr das nicht passte, musste sie sich diesem Umstand wohl oder übel fügen. „Danke.“ Als Antwort bekam Artemis nur ein Nicken. Er sollte zusammen mit Lydia ein reiches Ehepaar mimen. Früher hätte ihm das durchaus Spaß gemacht, heute bereute er, dass sie den gleichen Nachnamen auf dem Pass stehen hatten. Sie waren damit für solch eine Art von Einsatz nahezu prädestiniert. Seitdem die beiden aus dem Vatikan aufgebrochen waren, hatten sie nicht ein vernünftiges Wort miteinander gewechselt. Stummes Nicken, ein knappes Ja oder Nein oder aber desinteressiertes Schulterzucken beherrschte die zwei. Eine Stimme ertönte und rief die Passagiere nach Athen auf, zu ihrem Gate zu gehen. Lydia und Artemis erhoben sich, um zu ihrem Flugzeug zu gehen. Wie auch die Stunden zuvor geschah dies in einvernehmlichem Schweigen. Als Ethos merkte, dass der Gardist neben ihm vor Nervosität mit den Knien geradezu schlotterte, hätte er ihm gerne mehr Verständnis entgegen gebracht. Doch er sah auch die anstehende Mission vor sich. Und von diesem Standpunkt aus gesehen besaß er nur einen sehr kurzen Geduldsfaden. „Bitte, reißen Sie sich doch am Riemen!“, flüsterte Ethos im scharfen Ton und stupste seinen Nachbarn leicht mit der Ledertasche an, welche er mit sich führte. „Es tut mir leid, Pater Turino, aber ich kann nicht anders“, war die knappe Antwort des Gardisten. Um nicht aufzufliegen, hatte sich der Gardist als Museumsinhaber verkleidet, welcher von Ethos zu der Übergabe einer alten Holztruhe begleitet wurde. Da es nach wie vor ein Leck im Vatikan gab, mussten auch die Dämonen von dieser gespielten Übergabe wissen. Allerdings wussten gerade mal Ethos, Roth, Chino, die fünf Gardisten und Nikolas von den genauen Details des Planes. Offiziell war nur Roth ausgesandt worden, um den Fänger an einen sicheren Ort zu bringen. Da es den Dämonen so leicht gefallen war, in den Vatikan einzudringen, wollte man nun den einzigen verfügbaren Fänger in Sicherheit bringen. Dies wiederum sollte durch ein Museum in Palermo sichergestellt werden. Ethos befand sich im Rahmen einer anderen Mission angeblich in einem anderen Land und Chino galt als verschwunden. Demnach das gefundene Fressen für Esrada und seine Untergebenen. Der Gardist trug mit beiden Händen eine sperrige Truhe, so dass er darauf warten musste, dass Ethos ihm die Tür zu dem Museum öffnete. Das Museo Archeologico Regionale Antonino Salinas war aufgrund von Renovierungsarbeiten geschlossen. Somit konnte die gespielte Übergabe fernab neugieriger Blicke stattfinden. Von außen machte das Museum einen unscheinbaren Eindruck. Die Fassade war in einer Mischung aus beige und hellem braun gehalten, Verzierungen oder gar eine Tafel, die darauf hinwies, um was es sich bei diesem Gebäude handelte, suchte der Besucher vergeblich. Links wie rechts von der Holztür waren jeweils drei Fenster im untersten Stock nebeneinander angeordnet worden. Für den zweiten Stock hatte man sich für das gleiche Arrangement entschieden. Rechts neben dem Museum befand sich eine prachtvolle Kirche, die die Touristen wesentlich stärker in ihren Bann zog als das bedeutungsvolle Bauwerk daneben, das immerhin einen beachtlichen Teil italienischer Kulturgeschichte beherbergte. Zwar hatten die Funde aus Selinunt eine wesentlich größere Berühmtheit erlangt als die italienischen Ausstellungsstücke, doch Ethos hatte die einheimischen Schätze denen aus Ägypten stets vorgezogen, wenn er in Palermo zu Besuch gewesen war. Dass er sich ausgerechnet hier, zwischen all den teuren Exponaten, eventuell ein Gefecht mit einem seiner mächtigsten Feinde liefern könnte, erschien ihm noch immer etwas surreal. Ein kurzer schmaler Gang führte in das Innere des Museums. Ethos schlug eine weitere Tür auf, um den Gardisten auch diese passieren zu lassen. Kurz darauf befanden sich die beiden in dem ersten Ausstellungsraum. Einige der weißen Wände lagen frei, wieder andere waren von milchigen Folien überzogen worden. Der freigeräumte Teil zu Ethos‘ rechten wurde von Farbeimern und einigen Leitern dominiert, links waren noch einige Exponate unter blickdichten Folien zu erahnen. Die Ruhe, die in dem Museum herrschte, war nahezu gespenstisch. Aufgrund der geschlossenen Fenster und Türen herrschte ein muffiger Geruch vor, weshalb Ethos kurz die Nase rümpfte. Als er sich wieder in Bewegung setzte und somit ein leises Knirschen von seinen Lederschuhen ausging, zuckte der junge Gardist zusammen. Er hatte sich nur kurz umgeschaut und sich sofort erschrocken, als Ethos sich bewegt hatte. Während Ethos dem Mann einen warnenden Blick zuwarf, machte er einige Schritt in Richtung Innenhof. Mit dem echten Inhaber des Museums war vereinbart worden, dass Ethos und seine Gruppe an diesem Tag das Museum nur für sich hatten. Keine Arbeiter, keine Museumsmitarbeiter, keine Direktoren, niemandem außer den Gesandten des Vatikans war es gestattet, das Gebäude zu betreten. Wie so oft hatte vorher eine Absprache stattgefunden, dessen genauen Inhalt wohl nur Prälat Nikolas kannte. Im Innenhof wehte ein leichter Wind, welcher die Büsche und die kleinen Bäume zum Rascheln brachte. In der Mitte des quadratisch angelegten Platzes befand sich ein Brunnen. Dieser war jedoch nicht angeschaltet, so dass die männliche Statue, die im Zentrum stand und sich eine Schale an den Mund hielt, im wahrsten Sinne des Wortes auf dem Trockenen stand. Umgeben war der Platz von den hohen Mauern des Museums, so dass nur einige Lichtstrahlen sich ihren Weg bis in den Innenhof hinein bahnen konnten. Ethos blieb stehen und schaute sich um. Von Chino und Roth mitsamt seinen Leuten war nichts zu sehen, ganz wie geplant. Hinter den Säulen, die ein kleines, künstlerisch verziertes Vordach stützten, gingen vier Eingänge in das Museum ab. Alle vier Türen waren geöffnet, außer die, die Ethos und der Gardist im Rücken hatten. Ebenfalls alles wie geplant. Langsam richtete Ethos seinen Blick nach oben. Die Fenster, die in den Innenhof zeigten, waren geschlossen. Aufgrund der hohen Mauern würde er zu keinem Zeitpunkt gegen das Sonnenlicht sehen. Als er den Kopf wieder senkte, wand er sich dem Gardisten zu und nickte diesem leicht entgegen. Der Angesprochene verstand, was Ethos von ihm wollte und stellte die Kiste auf dem Boden ab. Er holte einen Schlüssel hervor, um das Vorhängeschloss zu öffnen, wenig später hielt er den Inhalt der Truhe in beiden Händen. Wie ein Kind hob er es an, aus Angst, dass er das zerbrechliche Objekt fallen lassen könnte. Es handelte sich um eine kleine abgenutzt wirkende Truhe, die bereits dem Lochfraß einiger Insekten zum Opfer gefallen war. Das Messing, welches sich um den oberen Teil der Kanten legte, war angelaufen und die Henkel an den Seiten drohten beinahe abzureißen. Auf dem Deckel war ein Siegel zu erkennen, dessen genaue Details von der Zeit davongespült worden waren. „Wie Sie sehen, ist das Objekt so gut wie unbeschadet, Signore Liccardi“, sprach Ethos den Gardisten an. Er hatte ihn im Hotel öfters mit diesem Namen angesprochen um sicherzugehen, dass er auch darauf reagieren würde. „Ich würde es Ihnen gerne übergeben. Können Sie dafür garantieren, dass es bei Ihnen gut aufgehoben sein wird?“ „Natürlich, Signore. Machen Sie sich darüber überhaupt keine Gedanken“, antwortete der falsche Museumsdirektor mit einer Sicherheit, die Ethos positiv überraschte. Zusätzlich betrachtete er die Truhe von allen Seiten. „Wie ich sehe, ist das Objekt durchaus geeignet, um zwischen die anderen Objekte gestellt zu werden. Es kann demnach als Teil unserer Ausstellung Verwendung finden.“ „Das ist gut zu hören. Dort, wo es vorher war, ist es nicht mehr sicher.“ „Kunsträuber?“ „Unter anderem.“ Wo bleiben die Dämonen, dachte Ethos und schaute sich noch einmal um. Sollte sein Plan möglicherweise doch nicht aufgehen? Der Priester spürte, wie ihm warm wurde. Auch auf der Stirn des Gardisten waren Schweißperlen zu sehen, doch ob diese von der Wärme oder seinem Unbehagen stammten, konnte Ethos nicht mit Sicherheit sagen. „Gibt es etwas, das bei diesem Objekt beachtet werden muss? Eine besondere Pflege oder so?“ „Behandeln Sie es einfach wie einen Ihrer teuersten Schätze. Sie wissen, warum es gerade für uns so wertvoll ist. Am besten wird es sein, es so zu platzieren, dass es nicht von neugierigen Besuchern angefasst wird.“ Inzwischen hatte Ethos die Lautstärke seiner Stimme gesteigert. Sollten Dämonen anwesend sein, konnten diese ruhig mitbekommen, dass er sich über einen Fänger unterhielt. Schließlich stellte dieser das einzig akkurate Lockmittel dar, das der Vatikan besaß. „Und denken Sie daran, dass der Fänger niemals, wirklich niemals, als ein solcher ausgewiesen werden darf. Niemand darf wissen, worum es sich in Wirklichkeit handelt.“ Ethos hatte sich noch nie als besonders guten Schauspieler betrachtet und auch heute würde er an dieser Einschätzung nichts ändern. Dass dieses Gespräch aufgesetzt war, konnte jeder, der es mithörte, hunderte von Metern gegen den Wind riechen. Vielleicht hätte er doch lieber Chino und den Gardisten schicken sollen, doch in der Konstellation, in der sie sich momentan arrangiert hatten, sah Ethos das geringste Gefahrenpotential für alle Beteiligten. Zwar war es sein ursprünglicher Plan gewesen, Roth an seiner Stelle gehen zu lassen, da dieser offiziell auf diese Mission geschickt worden war, doch Ethos hatte sich dann doch noch anders entschieden. Um ihn einem solchen Risiko auszusetzen, war ihm der Leutnant zu wertvoll. Außerdem besaß Roth einen gewissen Eigensinn, welchen Ethos nicht einzuschätzen vermochte, weshalb er den jungen und noch einigermaßen unerfahrenen Gardisten leichter schützen können würde, wenn es zu einer kritischen Situation kommen sollte. Für einige Minuten blieben Ethos und der Gardist stehen und sahen sich gegenseitig in die Augen. Jede Sekunde, in der nichts passierte, entspannten sich die Muskeln des jungen Mannes etwas. Eine Wolke zog vor die Sonne und verdunkelte den Innenhof leicht. Seufzend stellte Ethos seine Tasche auf den Boden und trat einen Schritt auf den Gardisten zu. „Ich glaube, wir können uns das sparen. Es scheint keinen Sinn zu haben. So wie es aussieht, haben die Dämonen niemanden ausgesendet, um sich den Fänger zu holen.“ Erleichtert atmete der Gardist aus und ließ die Hände sinken. Entspannt lockerte er seine Muskeln, indem er seinen Nacken einige Male kreisen ließ, dann streckte er sich und reichte Ethos die Truhe entgegen. Dieser wollte gerade ebenfalls seine Hände ausstrecken, um das Objekt entgegen zu nehmen, als er einen warnenden Ruf vernahm. „Ethos! Vorsicht!“ Doch die Warnung kam zu spät. Ethos merkte nur, wie seine Wange anfing zu brennen. Vor ihm schlug etwas in die Kiste ein, es ertönte ein lautes Knacken und das alte Relikt wurde dem Gardisten aus den Händen gerissen. Splitter und etwas Blut flogen durch die Luft und trafen Ethos an dessen Brust. Der junge Mann vor ihm hob schreiend die linke Hand, an der das Blut nach unten lief und auf den Boden tropfte. Dort, wo es sich sammelte, steckte ein längliches Schwert im Gestein, die kläglichen Überreste der Truhe in Form von zerschmetterten Holzplanken zerschlagen. Plötzlich war die Wolke, die noch wenige Sekunden zuvor die Sonne bedeckt hatte, verschwunden. Ein Brüllen ertönte hinter Ethos und ein lauter Knall war zu vernehmen. Lange Krallen schlugen sich in die Holztüre und drohten, diese zu zerreißen. Als Ethos sich an die Wange fasste, spürte er eine warme Flüssigkeit. Er blutete ebenfalls, jedoch längst nicht so stark wie der Gardist, der nun voller Panik einen Punkt hinter Ethos fixierte und seine Wunde vergessen zu haben schien. Ein weiteres Mal ertönte ein Knacken, diesmal gefolgt von dem Bersten massiven Holzes. Leise knurrend bewegte sich etwas hinter Ethos. Doch anstatt sich umzudrehen, schaute der Priester weiterhin den Gardisten an. Dass dies die richtige Entscheidung gewesen war, wusste Ethos, als sich erneut ein Schatten vor die Sonne zog. Von oben war ein kurzes Pfeifen zu vernehmen, weshalb Ethos in Sekundenschnelle in seine Hosentasche griff, um seinen Rosenkranz zutage zu fördern. Danach streckte er die Hand aus und überbrückte den letzten Abstand zwischen sich und dem jungen Gardisten. Als er dem schreienden Gardisten das Kreuz auf die Brust drückte, schien es, als würde sich die Luft, die um sie herum strömte, sich materialisieren. Schimmernde, hellblaue Linien stiegen auf, zogen sich zusammen und legten sich, ähnlich einer schützenden Hülle, um den Priester und den Gardisten. Zwei weitere Schwerter prallten auf dem Schutzwall auf, brachen beim ersten Kontakt mit diesem allerdings entzwei und richteten somit keinen Schaden an. So schnell sich der Schutzwall geformt hatte, so schnell war er bereits verschwunden, als Ethos das Kreuz von der Brust des Mannes entfernte und einige Schritte Abstand zwischen sie brachte. Völlig entgeistert sank der Gardist auf die Knie. Zitternd kauerte er sich zusammen und besah sich seine Hand. Auf den ersten Blick schätzte Ethos die Verletzung des jungen Mannes nicht allzu schlimm ein. Sie blutete stark, doch tödlich war sie definitiv nicht. Doch wirklich mit der Wunde beschäftigen konnte er sich nicht. Die Gefahr war noch längst nicht gebannt. Ethos handelte in einem nahezu übermenschlichen Tempo, als er seine Tasche anhob, diese öffnete und seinen Revolver griff. Sofort richtete er die Waffe in den Himmel und gab einige Schüsse ab. Diese verfehlten den Dämonen zwar, da dieser sich von der Mauer abstieß und so nach und nach hinunter gesprungen kam, indem er immer die gegenüberliegende Häuserwand als Zwischenstation nutze, doch um den Angreifer aus dem Konzept zu bringen, reichte es allemal. Aus dem Gleichgewicht gebracht, schaffte es der Dämon gerade so eben, auf der Statue des Brunnens zu landen. Er wackelte einige Male, bis er sich wieder gefangen hatte und aufrecht zu Ethos und dem Gardisten hinunter blickte. Seine grünen Augen waren voller Hohn, die langen weißblonden Haare wiegten in dem leichten Wind hin und her. Aus seinem Gürtel zog der Dämon ein weiteres Schwert, das er zuerst auf den Gardisten richtete, dann schwenkte er herum und zielte auf Ethos. Als er in die dunklen blauen Augen schaute, die Ethos vor Zorn zu engen Schlitzen verzogen hatte, hielt er kurz inne. Das Grinsen wich ihm schlagartig aus dem Gesicht, stattdessen legte sich Verwunderung über seine Züge, gemischt mit einem leichten Hauch von Panik. „Wie… Der Weiße Priester? Ich dachte, Artemis wäre hier“, knurrte der Dämon, was Ethos ein kühles Lächeln entlockte. „Falsch gedacht würde ich sagen.“ Woher auch immer der Dämon diese Falschinformation hatte, Ethos sollte es nur recht sein. Aufgrund der Verwirrung, die McKenzey deutlich anzusehen war, bemerkte er nicht, was hinter ihm geschah. Ein Pfeil flog auf den Dämonen zu und bohrte sich durch dessen Schulter. Einen Schmerzensschrei ausstoßend drehte sich McKenzey zur Seite und zog sich den Pfeil aus der Schulter. Sofort färbten sich seine Augen rot. „Du elender Verräter“, zischte er verächtlich, als er wenige Meter entfernt Chino mit einer kleinen Armbrust stehen sah. Der Angesprochene hatte nicht mehr übrig als ein gehässiges Grinsen, das ihn in seinem Arztkittel einen extrem grotesken Ausdruck verlieh. Auch Chinos Augen glühten in einem pulsierenden Rot, dazu hatte er die Mundwinkel so weit nach oben gezogen, dass seine scharfen Eckzähne deutlich über die Lippen traten. Sichtlich verärgert schaute McKenzey erst Ethos, dann Chino an. Er stand zwischen dem Priester und dem Dämonen, so dass nur noch zwei Auswege übrig blieben. Einer davon wurde kurz darauf ebenfalls versperrt, als eine Handvoll Gardisten erschien und eine weitere Tür in Beschlag nahm. Den Anführer hatte McKenzey im Vatikan schon einmal gesehen. Wieder trug der Mann eine Hellebarde in seinen Händen. Misstrauisch starrte dieser zu dem weißen Löwen hinüber, der noch immer hinter Ethos herumschlich. Für einen kurzen Augenblick schien McKenzey zu überlegen. Er war definitiv hereingelegt worden, so viel stand fest. Nach seinen Informationen sollten sich gerade einmal Artemis und einige Gardisten an diesem Ort aufhalten. Niemals hätte er eingewilligt, es mit dem Weißen Priester allein aufzunehmen. Und schon gar nicht hätte er darauf bestanden, dass Hildegard sich um ihre Schwester kümmerte, anstatt ihn zu begleiten. Hätte er gewusst, was auf ihn zukommen würde, hätte er ihr Angebot, ihn zu unterstützen, ganz sicher nicht abgeschlagen. Doch es war zu spät, sich darum noch Gedanken zu machen. Indem er ein weiteres Schwert aus seinem Gürtel zog, machte sich McKenzey zum Kampf bereit. „Und Sie sind Verwandte von Pater Alexandros?“, fragte der alte Priester mit dem faltigen Gesicht, als er Artemis und Lydia durch das Innere der Kathedrale führte. Der Boden der Kathedrale St. Dionysus Areopagita war aus feinstem Marmor, was zusammen mit den schönen Glasfenstern sehr beeindruckend wirkte, was besonders von Lydia bewundert wurde. Artemis war zu müde und gestresst, um sich großartig um die Architektur der Kirche zu kümmern. Alleine die Nachricht vom Vortag, dass er eventuell nach Deutschland versetzt werden würde, reichte aus, seine schlechte Laune in die Unendlichkeit zu steigern. Die ganzen Fragen, mit denen er die ganze Zeit über von dem Priester bombardiert worden war, nervten ihn obendrein gewaltig. Als habe er es mit einem Verhör zu tun. Eigentlich war er davon ausgegangen, dass die Kollegen im Vatikan ihre Ankunft angekündigt hätten. „Nein, sind wir nicht“, antwortete Lydia an Artemis‘ Stelle, da sie wusste, wie ungehalten dieser reagieren konnte. Noch immer war sie in der Lage, die Mimik des Priesters so zu lesen, dass sie genau wusste, was in diesem vorging. „Wir sind aus einem anderen Grund hier.“ Der Priester, der immer schneller voranzuschreiten schien, was aufgrund des beträchtlichen Umfangs seines Bauches eine beachtliche Leistung war, wirkte mit einem Mal überrascht. „Sie sind nicht wegen Pater Alexandros gekommen?“ „Doch. Aber wahrscheinlich nicht so, wie Sie denken. Wäre es möglich, uns mit Pater Alexandros alleine zu lassen, wenn wir bei ihm sind?“ Da Lydia nicht wusste, wie gut der Priester informiert war, wollte sie ihm schonend beibringen, dass sie ihn von den übrigen Gesprächen ausschließen würde. Manche Geistliche wirkten dann pikiert, doch hier schien das genaue Gegenteil der Fall zu sein. „Aber natürlich! Was denken Sie von mir?“ „Entschuldigen Sie bitte. Es war nicht so gemeint.“ „Ja, ich verstehe Sie schon. Wir sind alle etwas aufgewühlt.“ Lydia warf Artemis einen fragenden Blick zu. Auch Artemis wusste jedoch nicht, was er sagen sollte. Anscheinend hatten sie es hier mit einem besonders schwierigen Exemplar zu tun, dem man es ohnehin nicht recht machen konnte. Artemis hatte so etwas bereits einige Male erlebt. Priester, denen vor seiner Ankunft nur halbes Wissen zugespielt wurde und daher nicht so genau wussten, was sie erwartete, gab es zuhauf. Doch in diesem speziellen Fall wäre es wirklich gut gewesen, hätte der Vatikan ausnahmsweise nicht mit seinen Informationen geknausert. Somit zuckte Artemis lediglich mit den Schultern und folgte dem Priester ebenso schnellen Schrittes. Einige Türen später waren sie anscheinend vor dem Raum angekommen, in welchem Sokrates Alexandros sich für gewöhnlich aufzuhalten pflegte. Vorsichtig öffnete der Priester die Tür und schaute hinein. Dann stieß er sie bis zum Ende auf, stellte sich davor und winkte Artemis und Lydia hinein. „Sagen Sie mir bescheid, wenn ich Sie wieder abholen kann. Lassen Sie sich ruhig Zeit, niemand wird Sie stören, solange Sie bei Pater Alexandros sind.“ Das will ich auch hoffen, dachte Artemis und schritt erhobenen Haupts an seinem Kollegen vorbei. Lydia folgte, den Kopf etwas gesenkter. Nachdem die beiden eingetreten waren, verschwand der andere Priester und schloss leise die Tür hinter sich. Zu Lydia gewandt stemmte Artemis die Hände in die Hüften, dazu legte er einen wütenden Blick auf. „Wer denkt der eigentlich, wen er hier vor sich hat?“, schnaubte Artemis wütend, dazu ignorierte er Lydias fragendes Gesicht. „Was glaubt der denn, warum wir hier sind? Bestimmt nicht aus Spaß, ich glaube dem sollte man mal…“ „Artemis“, unterbrach Lydia den schimpfenden Priester. Dieser stellte seine Tiraden sofort ein und drehte sich langsam in die Richtung, in welche die Nonne zeigte. Als er sich vollkommen umgedreht hatte und die Stirnseite des Raumes sehen konnte, hielt Artemis für einige Momente die Luft an. Am anderen Ende war ein Altar aufgebaut, nahezu hunderte von Kerzen spendeten das einzige Licht in dem Raum. Die hohen Fenster waren zugezogen und vor den roten Samtvorhängen war ein Sarg aufgebaut worden. Ein Bild stand davor, das demjenigen ähnelte, das in Alexandros‘ Akte zu sehen gewesen war. Ein Kranz und einige Blumen waren vor dem Sarg niedergelegt worden. Vorsichtig näherten sich sowohl Lydia, als auch, mit etwas Verspätung, Artemis dem Sarg. Vor ihnen lag Pater Alexandros, die Hände über der Brust gefaltet, die Augen geschlossen, als läge er in einem tiefen Schlaf. Für einen Toten strahlte sein Gesicht eine beeindruckende Ruhe aus, wie Artemis feststellte. Lydia hingegen schien kurz davor, die Fassung zu verlieren. „Anscheinend sind wir zu spät“, seufzte Artemis und stieß schwer die Luft aus seinen Lungen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)