Höllenfeuer von Feldteufel ================================================================================ Kapitel 1: Kapitel 01 --------------------- Kapitel 01 Die flackernden Röhren tauchten den Raum in bläulich fahles Licht. In den Röhren häuften sich die verwesenden Leichen einiger Motten und anderem Ungeziefer, das sich von dem ausstrahlenden Licht angezogen gefühlt hatte. Mit einem Tuch, welches er sich vor Mund und Nase hielt, folgte Ethos Turino, Gesandter des Vatikans, dem korpulenten Mann, der vor ihm her ging. In dessen Mund befand sich eine Zigarette, die fast bis zum Ende herunter gebrannt war. Nachdem die beiden Männer einige weitere Türen hinter sich gelassen hatten, blieb der mit der Zigarette stehen und drehte sich zu Ethos um. In dem engen Konstrukt aus feuchten Mauern zog ein eisiger Luftzug hindurch, welcher von der offen stehenden Metalltür direkt vor den beiden Männern erzeugt wurde. „Wir sind angekommen“, sagte der korpulente Mann mit dem blonden Schnauzbart. „Danke, Monsieur Leonce.“ Ohne weiterhin auf den Kommissar einzugehen, schob Ethos sich an diesem vorbei und achtete dabei peinlichst genau darauf, nicht mit seinem Gesprächspartner in Berührung zu kommen. Obwohl Ethos dem Kommissar nichts an Sympathie abgewinnen konnte, musste er doch zugeben, dass er es ihm hoch anrechnete, die Leichenhalle ohne Schutz vor dem Gestank zu betreten. Wahrscheinlich hatte der alte Knochen schon so einiges in seinem Leben gesehen – und gerochen – so dass ihm dieser kurze Gang in den Untergrund des Polizeireviers nichts mehr ausmachte. Ethos stellte seine Tasche auf den Boden und holte einige Utensilien heraus. Normalerweise waren zum Dokumentieren und für das Einsammeln von Proben und Beweisstücken andere Leute vorgesehen, doch der Vatikan hatte sich neuerdings mit einem leichten Personalmangel herumschlagen müssen. Nachdem die Kirche zum Ende des Großen Krieges hin vor einigen Jahren nicht alles hatte versprechen können, was sie zuvor angepriesen hatte, war es zu einer enormen Abwanderung der Angestellten in Ethos' Abteilung gekommen. „Wie Sie sehen können, befindet sich der Leichnam der jungen Frau in der Mitte des Raumes. Sie können sich gerne bei Fragen an Monsieur Pretout wenden, unseren Gerichtsmediziner.“ Ein kleiner untersetzter Mann mit einer dünnen Brille, der bisher still in der Ecke des Raumes gehockt hatte, hob die Hand zum Gruß. „Oder aber an mich, wenn nötig.“ Der quadratische Raum bot zwar nicht sonderlich viel Platz, aber er war ausreichend. An den Seiten türmten sich Regale mit allen möglichen Geräten. Ein kleines Waschbecken, das jedoch schon eine Ewigkeit nicht benutzt worden war und eine Ablage zum Schreiben rundeten die klinisch anmutende Einrichtung ab. Auch hier flackerten die Röhren an der Decke in einem wilden Tanz, doch spendeten sie um einiges mehr Licht als die Lampen in den Gängen. Vorsichtig zog Ethos das Leichentuch beiseite und musterte die junge Frau. Dazu hob er sein Diktiergerät und sprach einige Informationen hinein. „Ich befinde mich im Commissariat de Police in Joux. Vor mir liegt eine junge Frau, sechzehn Jahre alt zum Zeitpunkt des Todes, ihr Name ist Elise Picarde. Sie wurde gewaltsam durch einen Biss in den Hals getötet. An ihrem Körper befinden sich keine blauen Flecken. Dennoch muss sie sich vor ihrem Tod gegen jemanden gewehrt haben. Tiefe Kratzer an den Armen und Abschürfungen an den Oberschenkeln, deren Ränder keine Blutungen aufweisen, unterstreichen dies. Die Haut ist, aufgrund des fehlenden Blutes, extrem blass. Die Gesichtszüge der Frau sind erstarrt. Sie geben vermutlich den Ausdruck wieder, kurz bevor sie getötet wurde. Am besten lässt sich der Ausdruck als erschrocken, panisch und ängstlich, beinahe flehend beschreiben, die Frau wusste, dass sie dabei war, um ihr Leben zu kämpfen. Die komplette linke Seite ihres Halses ist heraus gerissen. Es stehen noch abgerissene Enden von durchtrennten Adern heraus. Durchtrennt wurden die besagten Adern und das Muskelfleisch wahrscheinlich durch tierähnliche Zähne, eher Fänge.“ Ethos diktierte alles, was ihm auffiel und was ihm Leonce an Wissen zur Verfügung gestellt hatte. „Gefunden wurde die Leiche von Passanten, die gerade die Rue Andrieux entlanggingen. Der Angreifer hat sein Opfer nicht in den nahe gelegenen Fluss geworfen, was vermuten lässt, dass er es durchaus darauf abgesehen haben könnte, dass man sie findet. Das Elternhaus des Opfers befindet sich jedoch einige Kilometer entfernt von der Fundstelle.“ Als Ethos mit den wichtigsten Informationen fertig war, holte er eine Dose und ein Messer hervor, um einige Haut- und Haarproben zu nehmen. Zudem machte er ein paar Fotos mit einer Kamera. Vorsichtig packte er alles wieder in seine Ledertasche zurück und hob sie an, um zu signalisieren, dass er fertig war. Kommissar Leonce hatte die gesamte Zeit daneben gestanden, zum Ärgernis des Gerichtsmediziners geraucht und mit glasigen Augen auf die Tote gestarrt. Erst als Ethos sich direkt vor ihn stellte, bemerkte er, dass der Priester mit ihm reden wollte. „Sie sagten, dass Sie noch etwas hätten, das mir bei meiner Suche behilflich sein könnte?“ „Sicher. Folgen Sie mir bitte.“ Indem er sich umwand und voranging, wies der Kommissar Ethos den Weg. Die zu einem wahren Labyrinth zusammengefügten Gänge mit ihren schmutzigen Wänden erinnerten den Priester an dunkle Katakomben. An einigen Stellen tropfte etwas Wasser auf den Boden und verursachte ein plätscherndes Geräusch. Immer wieder schaute Ethos hinauf, um zu vermeiden, von den Tropfen getroffen zu werden. Nachdem sie noch einige Male abgebogen waren, erstreckte sich eine Metalltreppe vor den beiden und Ethos war dankbar, dass sie anscheinend wieder nach oben gingen würden. Es war weniger die Gewissheit, dass um ihn herum Leichen lagen, als die unheilvolle Atmosphäre, die Ethos in Alarmbereitschaft versetzte. Als sie schließlich wieder in der Zentrale des Kommissariats angekommen waren, herrschte dort das altbekannte Chaos. Polizisten rannten sich gegenseitig fast über den Haufen, trugen Kaffeetassen durch die Gegend und behaupteten, dass ihr jeweiliger Auftrag das Höchstmaß aller Dinge darstellte. Die ausladende Halle fasste an die zweihundert Leute und es schien, als befänden sich auch genauso viele zurzeit in ihr. Tatsächlich wuselte nicht einmal die Hälfte an Menschen durch das Gebäude, aber ihre Hektik setzte die wenigen Individuen einem unaufhaltsamen Bienenschwarm gleich. Erneut führte Leonce Ethos durch einige Gänge, diesmal jedoch ohne große Umschweife direkt in sein Büro. „Bitte, nehmen Sie doch Platz.“ Indem er einen kleinen Eichenstuhl von dem riesigen Schreibtisch abrückte, bot der Kommissar seinem Besuch einen Platz an, der ihm gegenüber lag. Etwas widerwillig setzte Ethos sich, dann sah er dabei zu, wie sich Leonce eine weitere Zigarette ansteckte und sich ebenfalls hinsetzte. Kettenraucher, dachte Ethos ungerührt und legte die Hände in den Schoß. Nachdem Leonce einige unsinnige Sekunden verstreichen ließ, in dem Anliegen bemüht, alles so dramatisch wie möglich zu machen, öffnete er eine Schublade seines kahlen Schreibtisches und reichte tief hinein. Wenig später zog er seine Hand zurück, in ihr eine kleine Dose haltend. „Zuerst einmal - Sie wissen, womit wir es hier zu tun haben?“, fragte der Kommissar, nachdem er die Schublade wieder geschlossen und die Dose vor sich platziert hatte. „Sicher. Ich bin bestens aufgeklärt über das, was hier einige Straßen weiter vorgefallen sein soll. Und darüber, was Sie denken, wer oder was das gewesen ist.“ Um von dem Stuhl, auf dem er saß, an seine Tasche zu kommen, beugte sich Ethos etwas hinunter. Die Ledertasche auf seinem Schoss platzierend, griff er hinein und holte einige Dokumente heraus. „Der Papst ist gar nicht erfreut über Ihre Entdeckung. Konnten Sie sie wenigstens geheim halten?“ „Wir haben es so gut wie möglich versucht.“ „Versucht klingt für mich nicht nach einem eindeutigen Ja, Monsieur Leonce.“ Ein letztes Mal zog der Kommissar an seiner Zigarette, bevor er sie in dem Keramikaschenbecher, der neben ihm stand, legte. Er zog sich kurz am Kragen, an dem sich sichtbare Schweißflecken gebildet hatten. Bei einem weißen Hemd waren das eindeutige Nachteile. „Nun ja, Sie wissen, wie das heutzutage so ist, Monsieur Turino. Man kann noch so sauber arbeiten und alles unter Verschluss halten. Irgendjemand findet immer irgendetwas und lässt es an die Öffentlichkeit dringen.“ „Also weiß die Bevölkerung von Ihrem Verdacht?“ „Es gibt einige Gerüchte, aber ich denke nicht, dass diese sich lange halten werden. Wer glaubt schon an Vampire oder andere Monster?“ Mit einem hörbar aufgesetzten Lachen winkte Kommissar Leonce Ethos’ Einwände ab. Dazu zog er ein beflecktes Tuch aus seiner Tasche und tupfte sich den Schweiß von der Stirn. Hätte er die Gerüchte über den "Weißen Priester" nicht gehört – wer weiß, ob er diesen schmalen blonden Mann für die kaltblütige Person gehalten hätte, von der sich in seinen Kreisen erzählt wurde. Ethos Turino war ein schlanker Mann, dessen blonde Haare ihm bis knapp an die Schulter reichten. Die blauen Augen tasteten ihre Umgebung ab wie ein scharfer Laserstrahl und ließen nichts unentdeckt. Der goldene Ohrring, der in seinem linken Ohr steckte, hätte bei einem anderen Mann als unangemessen befunden werden können, doch der Priester wirkte keinesfalls lächerlich damit. In seinen Mundwinkeln hatte sich eine eisige Härte eingenistet, die selbst in den Momenten, in denen Ethos erfreut schien, nicht ganz verschwinden konnte. Wenn er lachte, was nicht allzu häufig vorkam, kam es mehr einem belustigten Grinsen gleich. Ein makelloser weißer Kleidungsstil, bestehend aus Mantel, Hemd und Tuchhose (die schwarzen Schuhe waren das einzige, das Ethos in einer anderen Farbe erwarb) und die dazu passenden Handschuhe rundeten sein Erscheinungsbild ab. Inzwischen hatte Ethos das oberste Papier von dem Stapel in die Hand genommen und reichte es an Leonce weiter. „Das hier ist der Auftrag seiner Heiligkeit persönlich. Entweder, Sie sagen mir die Wahrheit und kooperieren, oder aber ich bin dazu berechtigt, sie mit allen Mitteln herauszufinden.“ Indem er seine Hände hob, deutete Leonce seinem Gesprächspartner, dass er bereit war, ihm die Wahrheit zu sagen. Langsam drückte der Kommissar seinen Zigarettenstummel aus und sah dann wieder zu Ethos herüber. Er musste das Dokument nicht erst lesen um zu wissen, was in ihm stand. Die unbegründeten Drohungen ärgerten Leonce zwar, doch er ließ sich davon nicht allzu viel anmerken. „Also gut Herr Turino. Was wollen Sie wissen? Oder eher gesagt, was wissen Sie denn noch nicht?“ „Zuerst einmal ist es wichtig zu wissen, wie viele Menschen hier von den Gerüchten Kenntnis genommen haben.“ „Um ehrlich zu sein geht das Gerücht zwar seine Bahnen, jedoch werden diejenigen, die ernsthaft daran glauben, als Spinner und Idioten bezeichnet. Immerhin leben wir im zwanzigsten Jahrhundert. Da leider Bürger die Leiche entdeckt haben, ließen sich die Gerüchte jedoch nicht vermeiden. Die Presse hat sich auch eingeschaltet. Sie wurden von uns aber gezielt mit falschen Informationen gefüttert, um den Aufruhr abzuschwächen. Demnach gehe ich davon aus, dass der Großteil Kenntnis genommen hat, sich die Situation aber sehr bald wieder beruhigen wird.“ „Gut, dann wäre dieser Punkt geklärt.“ Mit einem goldenen Kugelschreiber hakte Ethos einen der Sätze, die sich auf dem Papier befanden, ab. „Was lässt Sie vermuten, dass die Verstorbene von Vampiren oder Monstern angegriffen wurde?“ In diesem Augenblick sah Ethos, wie sich etwas in dem Blick des Kommissars veränderte. Die Angst wich etwas aus seinen Augen und auch die Farbe kehrte allmählich in sein speckiges Gesicht zurück. Anscheinend hatte er sich seinen größten Triumph bis zum Schluss aufbewahrt. „Nun, um das zu klären, möchte ich gerne hierauf zu sprechen kommen“, sagte Leonce ruhig und nahm die Dose erneut in die Hand. „Wir haben dieses Beweisstück im Hals der jungen Frau gefunden, die Sie eben untersucht haben. Es handelt sich um einen Zahn. Einen Zahn mit unmenschlichen Ausmaßen.“ Lächelnd schob der Kommissar Ethos die Dose über den Tisch zu. Da das kleine Gebilde nicht durchsichtig war, öffnete Ethos den Deckel und griff vorsichtig hinein. Zwischen seinen Fingerspitzen förderte er einen braun-gelben Gegenstand zutage, der bei genauerer Betrachtung tatsächlich einem Zahn ähnlich sah. Zum Glück hatte er sich Handschuhe angezogen „Dieser Zahn sieht mir ziemlich abgenutzt aus. Was macht Sie so sicher, dass es sich nicht um den Zahn eines Hundes handelt?“ „Unsere Mediziner haben den Zahn bereits untersucht. Zuerst dachten wir, die junge Frau könnte auch von einem großen Hund oder einem Wolf angefallen worden sein. Jedoch konnte der Zahn keiner bekannten Rasse zugewiesen werden.“ „An sich ist das aber noch kein Beweis für Vampire.“ „Das nicht. Aber sie haben sich daran gemacht, das Alter des Zahns zu knacken. Und dieses liegt deutlich über hundert Jahre.“ Um sich wieder einmal eine Zigarette anzustecken, machte Kommissar Leonce eine Kunstpause. „Wir können nicht sagen, wie alt der Zahn genau ist, aber er ist definitiv älter, als ein Hund oder ein Wolf alt werden kann.“ „Sie haben nichts dagegen, wenn ich Ihren Fund mitnehme?“ Etwas widerwillig musterte Leonce den Priester, doch er wusste, dass es besser wäre, diesem seinen Willen diesbezüglich zu gewähren. „Sicher. Nehmen Sie den Zahn mit. Ich möchte Sie lediglich darum bitten, mir Bescheid zu geben, sobald Sie zu einem Ergebnis gekommen sind.“ „Natürlich.“ Mit diesen Worten legte Ethos den Zahn zurück in die Dose und verschloss diese sorgfältig. Danach verschwand der Gegenstand in seiner Tasche, zusammen mit all den anderen Utensilien. „Haben Sie sonst noch irgendwelche Fragen, Monsieur Turino?“ „Würden Sie mir freundlicherweise die Daten durchgeben, an welchem Ort die junge Frau Ihrer Meinung nach genau ums Leben gekommen und wo sie aufgefunden worden ist? Ich würde mir gerne in den nächsten Tagen den Tatort noch einmal genauer ansehen.“ „Aber sicher doch. Am Empfang habe ich einen Umschlag für Sie hinterlegen lassen. In diesem befinden sich die wichtigsten Informationen über den Fall in einer Zusammenfassung. Zudem habe ich Ihnen einige Angaben hinzugelegt, die Ihre Unterkunft für die nächsten Tage betreffen. Ich dachte mir, dass Sie möglicherweise interessiert daran sein könnten, wo genau wir Sie einquartiert haben. Ein Vorteil des Hauses, in dem Sie residieren, ist, dass es sich in der Nähe des Elternhauses des Opfers befindet. Für eventuelle Befragungen der Anwohner also eine überaus günstige Position.“ Ethos konnte den Stolz, mit dem Leonce ihm die Gründe seiner Wahl vortrug, geradezu spüren. „Vielen Dank. Ansonsten wäre ich soweit erst einmal fertig für heute.“ Indem er sich verabschiedete, stand Ethos auf und ließ sich von dem Kommissar noch bis zum Empfang bringen, bevor der Priester seiner eigenen Wege ging. Vor dem Kommissariat hatte er sein Pferd angebunden, eine Fuchsstute mit blonder Mähne, dem er nun die mitgebrachte Tasche überwarf und sich schließlich selbst in den Sattel schwang. Zwar war es inzwischen bei dem reicheren Teil der Bevölkerung in Mode gekommen, sich ein Automobil zuzulegen, doch bekanntlich dauerte es eine Weile, bis der Fortschritt auch in die Gefilde des Vatikans einzog. Zudem besaß Ethos keinen großen Anreiz, sich auf ein Stück Blech zu verlassen. Ihm gefiel das Reisen auf dem Rücken eines Pferdes. Langsam trottete die Fuchsstute, die auf den Namen Bellezza hörte, durch die schmutzigen Gassen der kleinen französischen Stadt, schnaubte zufrieden aus und ließ entspannt den Kopf hängen, während knatternd einige Autos an ihr und ihrem Reiter vorbeizogen. Durch den langen Ritt war das Tier so ruhig, dass es nicht einmal scheute, als ein lautes Hupen ertönte. Auch Ethos kümmerte sich nicht weiter darum, da der nervende Laut nicht ihm, sondern einem scharf bremsenden Fahrzeug auf der Straße gegolten hatte. Um seine Bleibe zu erreichen, musste Ethos in den Vorort von Joux reisen. Nur so war ein Stall für sein Tier gewährleistet, da sich die Stadt rasend schnell verändert hatte. Inzwischen war es schwierig, überhaupt noch in irgendwelchen Städten Stallungen für Pferde zu finden, die noch unbenutzt waren, selbst wenn sie nach wie vor bei Polizisten und Soldaten als geschätzte Tiere galten. Für sein Pferd hatten die Polizisten hier jedoch nichts übrig. Doch auch daran störte sich Ethos nicht, denn immerhin sicherte ihm eine Unterkunft außerhalb des städtischen Zentrums auch eine bessere Nachtruhe. Nach einer Stunde erreichte Ethos ein altes Herrenhaus, welches sich perfekt in die ländlich wirkende Silhouette der Vorstadt einzufügen schien. Soweit Ethos dies beurteilen konnte, lag das Haus zwar etwas weit ab vom Schuss, das würde ihn jedoch vorerst davor bewahren, allzu fragenden Blicken der ansässigen Bewohner ausgesetzt zu werden. Ob die Franzosen ihn als waschechten Italiener überhaupt schätzen würden, blieb ebenso fraglich. Ein langer Kiesweg führte hinauf zu dem Haus und war von verwilderten Büschen umrahmt. Einige Ranken hingen bis auf den Weg hinunter und Ethos stieg lieber ab, um die Fuchsstute an den Zügeln sicher um die Stolperfallen herumzuführen, außerdem musste er das schwarze Tor aus Gusseisen aufschließen, um Zugang zu dem Weg zu erlangen. Das fahle Mondlicht war die einzige Lichtquelle, die dem Priester gegeben war und er fluchte einige Male, als er über Wurzeln von festem Unkraut strauchelte. Nachdem er sich halbwegs über die Pflanzen hinweg gekämpft hatte, war Ethos an der ehemals weißen Haustür angekommen, die nun vor Dreck eine gräuliche Farbe angenommen hatte. Auch die Fensterrahmen sahen nicht besser aus und die roten Backsteine des zweistöckigen Gebäudes waren vereinzelt von Moos bedeckt. Ethos ging um das Haus herum, um zum Stall zu gelangen. Die Nase rümpfend öffnete er die dünne Holztür, die in das gelb gestrichene Gebilde führte. Einige Boxen waren zu erkennen und Ethos stellte die Stute in die größte, die er finden konnte. Zumindest hatte man seiner Bitte, frisches Stroh und Heu zur Verfügung zu stellen, Folge geleistet. Etwas abseits des Gemäuers lagen einige Ballen, die Ethos zu der Box schleppte und auf dem Boden verteilte. Als er fertig war und dem Tier Sattel und Zaumzeug abgenommen und frisches Wasser bereitgestellt hatte, machte Ethos sich auf den Weg in das Innere des Herrenhauses. Die Tür quietschte laut, als er sie öffnete. Sofort kam Ethos ein modriger Geruch entgegen. Elektrischen Strom schien es nicht zu geben, weshalb er eine Kerze anzündete, die glücklicherweise auf der Kommode am Eingang stand. Links neben dem Flur führte eine Treppe hinauf, doch Ethos schaute sich erst einmal unten um. Ein großes Kaminzimmer mit einem alten Billardtisch und Durchreiche zur großen Küche, ein Badezimmer, ein Lesezimmer und ein riesiger Wohnbereich, der komplett möbliert war, standen ihm hier zur Verfügung. Da er einen Kerzenständer entdeckt hatte, zündete Ethos erst einige von den halb herunter gebrannten Kerzen an und nahm den Ständer mit, bevor er in das Kaminzimmer ging. Dieses hatte er sich ausgesucht, da er in dem Schrank eine beachtliche Sammlung an exklusiven Schnäpsen entdeckt hatte, die passenden Gläser standen praktischerweise genau daneben. Aus dem Wohnbereich holte sich Ethos zudem einen kleinen Tisch und einen Stuhl, um seine Dokumente darauf zu verbreiten. Seinen weißen Mantel warf Ethos über die Lehne. Kurz darauf holte er die Plastikdose mit dem Zahn heraus und stellte sie neben die Dokumente auf den Tisch. Mit verschränkten Armen betrachtete Ethos das Fundstück. Er atmete tief durch, gähnte einmal laut und schüttelte dann den Kopf. Während er ein Glas Brandy an seine Lippen führte, öffnete er mit der anderen Hand die Dose. Mit einem ploppenden Geräusch flog der Deckel durch die Luft. Danach senkte Ethos das Behältnis und der Zahn purzelte auf den Tisch. Mehrere Male hielt er ihn gegen das Kerzenlicht, drehte und wendete ihn, bis er ihn schließlich wieder zurück in die Dose legte. Um sich die Papiere mit den zusätzlichen Informationen anzusehen, öffnete Ethos den Umschlag aus dem Kommissariat. Über den Fall Elise Picarde waren keine aufschlussreichen Besonderheiten herauszulesen. Mit der Ausnahme der Adresse des Elternhauses und einer Karte, auf der der Fundort des Leichnams markiert war, konnte Ethos nichts Neues entdecken. Leonce teilte ihm zudem mit, dass er sich in dem Anwesen der Familie Gargon befand. Das Haus stehe erst seit kurzem leer, zuvor habe sich ein Junge namens Christopher um seinen kranken Vater gekümmert. Nachdem der Vater verstorben war, habe es Christopher nicht mehr länger ausgehalten und sei wieder verzogen. Das Gut ging in den Besitz der Stadt über. Welche sich im Übrigen sehr erfreut darüber zeige, dass ein geweihter Mann sich des Problems annehmen würde. Die Menschen hier wären noch immer relativ abergläubisch und Ethos solle sich daher nicht von ihren Geschichten in die Irre führen lassen. Außerdem habe Leonce eine Einheit zusammengestellt, welche zusammen mit Ethos in den Wald, in dessen Nähe die Leiche gefunden worden war, reiten und nach merkwürdigen Erscheinungen Ausschau halten solle. Sie würden ihn morgen zum späten Nachmittag erwarten, damit sie zu Sonnenuntergang los reiten könnten. Ethos zerknüllte den Brief mit seiner Handfläche und warf ihn auf den Boden. Wahrscheinlich war Leonces Plan, irgendwelche Vampire zu finden, von denen er wohl glaubte, sie würden sich lediglich in der Nacht zu erkennen geben und im Wald verstecken. Aufgrund von so viel Ignoranz und Unwissen konnte Ethos nur den Kopf schütteln. Angeblich sollte die Patrouille in den Wald erfolgen, damit sich die Bewohner von Joux wieder sicherer fühlten. Vor einigen Stunden hatte der Kommissar noch versichert, dass es lediglich Gerüchte über Vampire gab, diese jedoch keine besonders hohe Wichtigkeit einnehmen würden. Möglicherweise war Leonce auch nur durcheinander gewesen oder hatte Angst vor Ethos‘ Erscheinungsbild gehabt. Ein Umstand, dem Ethos sich häufiger ausgesetzt sah. Andererseits eröffnete ihm genau dieser Umstand auch Möglichkeiten, die ihm dabei halfen, seine Aufträge schneller und effizienter zu erledigen. Seinen eigenen Plan, sich in der Nachbarschaft umzuhören, würde Ethos wohl trotzdem auf einen anderen Tag verlegen müssen. Obwohl Ethos sich bereits nach Schlaf sehnte, nahm er sich die Zeit, den Zahn noch einmal zu untersuchen und seine Echtheit zu überprüfen. Dafür holte er einige weitere Materialien aus seiner Tasche, unter anderem zwei verschiedene Flüssigkeiten. Eine davon träufelte er über den Zahn, wartete einige Minuten und packte ihn dann in die andere Flüssigkeit. Er wartete erneut, holte den Zahn heraus und trocknete ihn vorsichtig ab. Inzwischen hatte der Zahn eine leicht blaue Verfärbung angenommen, ähnlich der hässlichen Tapeten seiner Unterkunft. Er war also definitiv echt. Nun holte Ethos seufzend die Fotos und sein Diktiergerät heraus, um sich intensiver mit dem Fall der toten Elise Picarde vertraut zu machen. Vorher nahm er einen weiteren Schluck Brandy zu sich. Zwar hatte er es bereits befürchtet, doch die Überprüfung des Zahns hatte es noch einmal bestätigt – der Vatikan hatte es hier mit einer echten Ausgeburt der Hölle zu tun. Doch wie diese genau aussah und über welche übermenschlichen Fähigkeiten sie verfügte, würde sich erst noch herausstellen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)