In the Dead of Night von Puppenspieler (Sommerwichteln '15) ================================================================================ Prolog: Liddell Alice --------------------- Mein Name ist Laci Overton. Ich komme aus Bakersfield, California. Als ist 10 Jahre alt war, beschloss ich, Polizistin zu werden. Mit 20 Jahren gab ich diesen Traum auf, um einem anderen Weg zu folgen. Einem Weg, den ich niemals für möglich gehalten hätte. Einen Weg, dessen Existenz ich verneint hätte, bis ich nicht unabsichtlich den ersten Schritt auf ihm tat. Heute bin ich 21, sitze im Zug von St. Petersburg nach Moskau. Draußen vor den Fenstern wirbeln Schneeflocken, die so dick sind wie mein Daumennagel. In weniger als einer Stunde treffe ich am Bahnhof zum ersten Mal auf meine neue Einheit. Wir sind WISP – World Intelligence for Supernatural Phenomena. Mein Name ist Liddell Alice. Irrlicht.   Jägerin.                                           Laci strich sich die schokobraunen Locken aus dem Gesicht, während sie kritisch die Buchstaben musterte. Sie hatte sich gegen ein digitales Tagebuch entschieden und an der Bahnhofsbuchhandlung in St. Petersburg ein wunderschönes, gebundenes Notizbuch gekauft, dessen Einband dunkelviolett mit einem goldenen, eingeprägten Muster war. Es sah ein bisschen altmodisch aus, aber das fand sie nur passend. Die Seiten waren auch nicht grellweiß, sondern hatten einen sanften, cremigen Farbton, die äußeren Ecken der Seiten waren abgerundet. Es war ein wunderschönes Buch – für eine wunderschöne Geschichte, wie sie hoffte. Eigentlich sollten sie ihre Geschichten nicht weitergeben. Sie waren immerhin ein Geheimdienst. Aber nachdem Laci ohnehin niemanden hatte, dem sie davon erzählen würde, oder der es ihr glauben würde, fand sie es nur recht und billig, dass sie ihre Gedanken festhalten durfte. Sie hatte doch sonst nichts, und sie schadete niemandem damit. Irgendwann, in fünfzig Jahren, wenn sie denn so alt wurde, wollte sie aber etwas haben, das sie daran erinnerte, wie es einmal gewesen war. Damals, als sie gerade auf dem Weg gewesen war, ihre erste Partnerin als Dämonenjäger kennenzulernen. Ihren ersten Auftrag nach der kräftezehrenden Ausbildung zu erhalten. Sie war aufgeregt. Über ihre Partnerin wusste sie nicht mehr als dass – ja, sie eine Partnerin war. Eine Frau, schon länger im Dienst, die ihr zukünftig zur Seite stehen würde. Sie konnte sich nicht vorstellen, was für eine Person das sein würde. Das Bild, das sie in ihrem Kopf hatte, war das von einer sonnengebräunten Holzfällerbraut, die rauchte und fluchte und eine große Narbe im Gesicht hatte. In jedem Fall, ob Holzfällerbraut oder nicht, Laci war unglaublich gespannt auf ihre neue Partnerin – und ihr neues Team.   Endhaltestelle ihres Zuges war der Leningrader Bahnhof in Moskau. Vor dem Eingang sollte ein Mitglied ihres neuen Teams sie in Empfang nehmen. Als sie hinaus in das Schneegestöber eilte, ihren Trolly hinter sich herziehend, die Kapuze schon tief ins Gesicht gezogen gegen die kalten Flocken, entdeckte sie zunächst Unmengen von Autos – und Menschen. Nach einem ziellosen Blick über die Masse beschloss sie, dass sie warten würde. Eine verloren aussehende, junge Frau würde doch auffallen, nicht wahr? Sie lief ein paar Schritte, bis sie das gigantische Bahnhofsgebäude hinter sich in Augenschein nehmen konnte. Mit der freundlichen, hell gestrichenen Fassade und dem schneebedeckten Uhrentürmchen fühlte sie sich wie ein einem Märchen. Es war wunderschön. Sie hätte sogar noch eine ganze Weile hier bleiben können, trotz der Kälte. Was anderes blieb ihr auch nicht übrig, allerdings: Sie wusste nicht, wie ihr Kontaktmann aussah. Man hatte ihr nur gesagt, sie würde abgeholt werden, und sie solle sich keine Sorgen machen, ihr Teammitglied würde sie schon erkennen. Also machte Laci sich auch keine Sorgen. „Hey, Liddell Alice!“ Eine Stimme ließ sie herumwirbeln, und sie lachte erleichtert auf, als sie einen ihrer Ausbilder aus Fort Hunter Liggett entdeckte. Fort Hunter Liggett war eigentlich ein Trainingsstützpunkt der US-Army, doch seit einiger Zeit und einem Vorfall, den jeder lieber geheimnisvoll ausschwieg, hatte WISP die Erlaubnis, dort ihr praktisches Training durchzuführen. Greg Rivera, der Mann, der sie gerade strahlend in Empfang nahm, war innerhalb der Einheit eher unter dem Spitznamen Sasquatch bekannt. Was nicht daran lag, dass Greg Rivera ein großer Mann war; der schwarzhaarige Kerl mit den dunklen, funkelnden Augen, dem sonnengebräunten Teint selbst im tiefsten Winter und dem breiten, immer lachenden Mund war mit seinen knapp ein Meter siebzig nun wirklich kein Riese. Einige munkelten, der Name käme daher, dass ein kanadischer Bigfoot sein erster Auftrag gewesen war, andere behaupteten, es käme von einer dichten Körperbehaarung, die er unter seiner Kleidung versteckte. Laci fand, Hobbit hätte ob der behaarten Füße viel besser gepasst. Sie lief zu ihrem Ausbilder hinüber, fiel ihm erleichtert um den Hals, froh, ein bekanntes Gesicht in der Fremde zu sehen. Natürlich freute sie sich auf die neuen Bekanntschaften, aber ein bisschen Vertrautheit kam ihr gerade auch nur gelegen. So weit entfernt vom heimischen Nordamerika tat das einfach gut. „Wieso hast du mir nicht gesagt, dass du auch hier sein wirst?!“ Sie wollte vorwurfsvoll klingen, aber sie war einfach so erleichtert, dass in ihren Worten immer noch ein glockenhelles Lachen mitschwang. Sasquatch lachte, umarmte sie fest und wirbelte sie erst einmal durch die Luft. Erst, als er Laci wieder sicher abgestellt hatte, ließ er sie los, griff stattdessen nach ihrem Trolly. „Los, komm. Das Team wartet. Ich erzähle dir unterwegs alles.“ Während sie von einem Chaffeur in einem unauffälligen, schwarzen Wagen durch Moskau gefahren wurden, erzählte Sasquatch, auch wenn seine Geschichte denkbar langweilig war. Die Leitung hatte beschlossen, die Zweigstelle in Russland aufgrund der zuletzt vermehrt gesichteten paranormalen Vorkommnisse zu vergrößern und hatte im Zuge dessen neben Laci auch Sasquatch, dessen Partnerin – und Ehefrau. Laci fand das wahnsinnig romantisch – Bloody Mary und ein paar andere aus diversen US-amerikanischen Stützpunkten hierhergeschickt. Laci war erleichtert, ein paar bekannte Gesichter um sich zu haben. Die Einsatzzentrale ihrer Einheit lag in den oberen beiden Stockwerken eines nichtssagenden Bürogebäudes, das nicht gerade in der besten Gegend der Stadt lag. Die Fassade brauchte dringend wieder einmal einen Anstrich, und die alten, etwas schiefen Holztreppenstufen knarzten, wenn man hinauflief. Der Personenlift sah so wacklig aus, dass sich weder Sasquatch noch Laci hineintraute. Einmal im richtigen Stockwerk angekommen, begrüßte sie hinter der Tür vom Treppenhaus gleich der Geruch nach heißem Kaffee und nassen Mänteln. Ihren eigenen nassen Mantel hängte Laci an die Garderobe, dann eilte sie Sasquatch hinterher in die Küche, um sich dort eine große Tasse Kaffee mit viel Milch und Zucker zu genehmigen. „Mary ist gerade noch unterwegs. Sie holt ein paar der anderen ab“, informierte Sasquatch sie über seinen eigenen Kaffee hinweg, „Aber deine Partnerin ist schon da. Wenn du sie kennenlernen willst? Lady Di ist in der Kommandozentrale, das ist hinten die Tür rechts. Ansonsten gibt’s ohnehin eine Teambesprechung, wenn alle da sind.“ Laci hätte sie zu gern kennengelernt, doch als sie neugierig in die Kommandozentrale linste und dort eine viel zu hübsche, elegante Frau erblickte, die ihrem Spitznamen alle Ehren machte, verließ sie der Mut wieder. Sie zog sich in den Pausenraum zurück, mit Kaffee und Notizbuch, und begann, ihre ersten Eindrücke zu schildern.     WISP – Worldwide Intelligence for Supernatural Phenomena. Ein internationaler Geheimdienst, der bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts gegründet worden war. Im Zeitalter der Technologisierung war er immer und immer weiter zusammengeschrumpft, bis nur noch wenige Zweigstellen und Mitarbeiter existiert hatten. Erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts boomte die Branche wieder. Niemand konnte genau sagen, warum, doch seit der Jahrtausendwende vermehrten sich die übernatürlichen Sichtungen und Phänomene, und so war WISP in den letzten fünfzehn Jahren wieder stark aufgeblüht. Der Hauptsitz hatte sich von England schon vor Jahrzehnten in die USA verlagert und lag dort an einem nicht näher bekannten Ort im Landesinneren. Alle Agenten – nicht ohne ein bisschen Selbstironie nannten sie sich Irrlichter – waren eigens rekrutiert und kamen oft aus paranormalen Fällen, die von WISP bearbeitet wurden. Jedes Mitglied hatte seine eigene, unglaubliche Geschichte zu erzählen. Wer nicht mit dem Paranormalen in Berührung kam, wusste von WISP nichts, und auch die meisten, die das Übernatürliche erlebten, hatten keine Ahnung. WISPs oberstes Gebot war es, den Opfern paranormaler Erscheinungen zu helfen und ihnen zu ermöglichen, ihre simple, normale Weltanschauung zu behalten. Bei WISP war es üblich, dass alle Mitglieder einen seltsamen Spitznamen hatten. Es hatte sich einfach etabliert, und inzwischen ging das soweit, dass viele Agenten einander nur unter ihren Spitznamen kannten und die richtigen Namen häufig überhaupt nicht wussten. Laci selbst war gerade einen Monat bei den Rekruten gewesen, als man ihr ihren Namen verpasste – Liddell Alice. Ein Wortspiel aus dem Namen des Mädchens, das Inspiration für Alice im Wunderland gewesen war, und dem Wort little, das auf ihre geringe Körpergröße von gerade mal ein Meter achtundfünfzig anspielte. Zuerst war es befremdlich für sie gewesen, doch sie hatte sich schnell daran gewöhnt – und im Vergleich zu manch anderem hatte sie es mit ihrem Spitznamen auch sehr gut getroffen. Ihre neue Einheit im Herzen Moskaus bestand aus insgesamt rund zwanzig Mann, von denen aber nur etwa die Hälfte der operativen Abteilung angehörte. Diese zehn Leute, sowie der Chef der organisatorischen Abteilung, waren es, die sich am Abend mit heißem Kaffee und süßem Gebäck in der Kommandozentrale versammelten. Einem einfachen, großen Besprechungsraum mit einer großen und detaillierten Karte Russlands an der Wand. Der Chef der Organisation war Parker Choi, dem man seine asiatischen Wurzeln wirklich an der Nasenspitze ansah. Unter dem Spitznamen Big in Japan hatte er sich schon lange einen Namen innerhalb der Gruppe gemacht. Jeder kannte ihn für seinen überragenden Scharfsinn, sein Organisations- und Informationsbeschaffungstalent. Die Operationseinheit bestand aus drei Paaren zur Untersuchung übernatürlicher Sichtungen, sowie vier weiteren Mitgliedern, deren Aufgabe die Verschleierung der tatsächlichen Vorkommnisse war. Da es WISPs oberste Maxime war, den Menschen ein Leben ohne die übernatürliche Bedrohung zu ermöglichen, war es selbstverständlich, dass jeder Fall durch darauf geschulte Mitarbeiter nach Abschluss so verfälscht wurde, dass sich eine logische Erklärung für die Vorkommnisse finden ließ. Unter anderem aus diesem Umstand heraus war der Name Irrlichter zustande gekommen, mit dem die Einzelnen sich identifizierten – sie führten die Menschen in die Irre, während sie ungesehen für ihren Schutz sorgten. Zu den Vieren gehörte unter anderem Firestarter, den Laci noch aus den USA kannte; er war bekannt dafür, dass er Beweise fürs Übernatürliche einfach in Flammen aufgehen ließ. Die anderen drei waren zwei Russen und ein weiterer Amerikaner. Die beiden Russen hörten – Amtssprache von WISP war Englisch, immerhin musste man sich international miteinander verständigen können – auf die Spitznamen Shadow und Liquid Liar, der zweite Amerikaner, ein junger Bursche mit zerzaustem Haar und klugen Augen hinter verspiegelten Brillengläsern, wurde Paper Boy gerufen. Ironischerweise hörte Laci schon aus den ersten Gesprächsfetzen heraus, dass Paper Boy von Papier so gar nichts hielt und der wohl technologisierteste Mensch im Raum war. Sie erinnerte sich vage, ihn bei der Ausbildung gesehen zu haben, doch wer von vornherein eher in die Spurenverwischung als den aktiven Kampf wollte, genoss den Großteil der Ausbildung an einem anderen Ort. Die aktiven Agenten waren immer in Pärchen unterwegs. Neben Sasquatch war natürlich seine Frau Bloody Mary dabei. Niemand konnte so recht sagen, woher sie den Namen hatte, doch einige behaupteten steif und fest, dass Mary zumindest tatsächlich ihr richtiger Name war. Laci hatte zwar nachgefragt, aber nur ein geheimnisvolles Grinsen als Antwort bekommen von ihr, und auch Sasquatch verriet es nicht. Das andere Pärchen waren zwei Männer Ende zwanzig; ihre Spitznamen waren Splatter und Gore und sie waren scheinbar bekannt dafür, ganz schön viel Dreck zu hinterlassen – dafür nahmen sie es aber auch mit den übelsten Monstern auf. Die letzte im Bunde, neben Laci, war Lady Di. Ihr richtiger Name war Dinah Withrow, hatte sie Laci verraten, also konnte man ihren Spitznamen auf ihren Namen und ihr elegantes Aussehen heruntermünzen. Paper Boy hatte trocken kommentiert, dass ihr bei dem Namen ja ein früher Tod bevorstünde. Lady Di zuckte nicht einmal mit den Mundwinkeln bei dem Kommentar. Laci fand, der Name passte zu ihr. Sie war wirklich schön. Rote Lippen in einem ernsten Gesicht mit strengen, aber schön geformten Augen. Ihr Haar war kastanienbraun und zu einem eleganten Kurzhaarschnitt geschnitten. Sie trug Ohrstecker in beiden Ohren, Edelsteine in Weißgold eingefasst, die im Licht sanft glitzerten. Sie war mit ihren Anfang dreißig schon etwas älter und hatte schon einiges an Erfahrung bei WISP sammeln können. Ihr ehemaliger Partner war wohl bei einem der letzten Einsätze umgekommen, deshalb war ihr Laci zugeteilt worden. Bloody Mary wusste zu berichten, dass es nicht der erste verstorbene Partner gewesen war. Vielleicht kam der Spitzname auch daher – nicht Lady Di, sondern Lady Die. Lady Stirb. Nur, dass sie nicht sich selbst, sondern ihren Partnern den Tod brachte. Laci glaubte das nicht. Ihr Job ging eben mit einem gewissen Berufsrisiko einher, und wie Paper Boy schnell herausfand, war Lady Di eine der Agenten mit der höchsten Fallaufklärungsrate. Jemand so Kompetentes konnte unmöglich Schuld am Tod seiner Partner sein. 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