Zodiac von BleedingRose ================================================================================ Kapitel 8: Das Buch der Erinnerungen ------------------------------------ Herbst 2015, Anderwelt Selest Peterson „Wir müssen noch immer einen Weg hier raus finden“, sage ich schwer atmend. Ich bleibe stehen und gehe etwas in die Hocke. Wir sind jetzt bestimmt schon seit gut anderthalb Stunden hier unterwegs und suchen nach einem Ausgang. Arashi lehnt sich gegen die Mauer zu meiner Rechten und Kira setzt sich auf den Boden. „Wahrscheinlich brauchen wir dafür einen Kynigós. Kostja wird diesen Ort hier so verzaubert haben, dass Außenstehende weder rein noch raus können. Zumindest nicht ohne sein Einverständnis“, sagt Arashi und sieht dabei zu mir. Er sieht mehr als entkräftet aus. Der Kampf mit Lykan muss ihn ziemlich zugesetzt haben. Lykan! Ich wende mich von Arashi ab und sehe stattdessen zu Kira. Seit sie Lykan in Eileens Körper getötet hatte, hat sie kein Wort mehr geredet. Sie erhob sich einfach nur und ging dann aus diesen Altarraum raus. Und Arashi und ich folgten ihr, denn alleine lassen, wollten wir sie nicht. „Was ist eigentlich mit Julian?“, frage ich. Sofort blickt Kira auf, doch sagen tut sie immer noch nichts. „Was soll mit ihm sein?“, will Arashi wissen und wendet seinen Blick seufzend von Kira ab. „Nun. Er ist ein Kynigós und du sagtest…“ „Ich glaube nicht dass er uns helfen wird“, unterbricht Arashi mich. „Immerhin ist es sein Verdienst, das wir alle hier sind.“ Eigentlich ist es nur seine Schuld das Kira hier ist. Aber das sage ich ihm wohl lieber nicht. Wir haben immerhin wichtigeres zu besprechen. „Als wenn uns ein Vater oder sein Bruder helfen würden“, gebe ich stattdessen von mir. „Da werden wir bei Julian vermutlich mehr Glück haben.“ Arashi lässt sich von der Wand runtergleiten und sitzt jetzt direkt neben Kira auf dem Boden. Er legt seinen Kopf in den Nacken und stöhnt leise. „Was ist los?“ „Nichts!“, sagt er. Und doch weiß ich dass er lügt. „Du brauchst Blut, richtig?“ Arashi nickt nach einer gefühlten Ewigkeit. „Ja!“ Ich erhebe mich und lasse mich dann vor ihm nieder. Einmal hole ich kurz Luft, ehe ich ihm mein rechtes Handgelenk hinhalte. Es wäre nicht das erste Mal, dass er von mir trinkt. Und darüber hinaus, hat Arashi schon genug für mich getan. Jetzt kann ich mich bei ihm revanchieren. „Trink!“ Arashi schüttelt den Kopf. „Nein!“ „Doch“, sage ich mit Nachdruck. Allgegenwertig greife ich nach einem Stein – Es liegen ja mehr als genug davon hier rum – und drücke ihn tief in mein Fleisch. Sofort sickert etwas Blut aus der Wunde und ich halte sie Arashi unter die Nase. „Das solltest du wirklich nicht tun“, wispert er. Er hält sich zurück, das sehe ich, doch lange wird er dem Drang zu trinken nicht standhalten. „Und Kira hätte ihre beste Freundin nicht töten sollen“, gebe ich schnippig zurück. „Du siehst also, wir alle müssen Opfer bringen. Und jetzt trink endlich, damit wir endlich von hier weg können.“ Ich bin diese ewigen Diskussionen leid. Arashi blickt mir tief in die Augen und greift dann widerwillig, aber dennoch fest, nach meinem Handgelenk. Er schnuppert an der frischen Wunde – ohne den Blick von mir zu wenden. Er öffnet langsam seinen Mund, fährt seine Schneidezähne aus und beißt dann kräftig zu. Schmerzhaft verziehe ich mein Gesicht. Das letzte Mal als ich ihm mein Blut gab, da hat es nicht so wehgetan. Zumindest bilde ich mir das ein. Ich versuche nicht laut aufzuschreien – sein Biss tut mittlerweile höllisch weh – und konzentriere mich daher nur auf meine Atmung. Ich werde das durchstehen. „Es reicht!“, höre ich Kira leise flüstern. Sie fast Arashi auf die Schulter und will ihn von mich ziehen, doch Arashis Knurren lässt sie zurückweichen. War nicht eigentlich sie es, die damals, als Arashi von meiner Tante trank, dass man einen Vampir beim Essen nicht stören darf? Oh nein, das war Constantin. Wie es ihm und Jolina wohl gerade geht? Ich habe die beiden seit Tagen nicht mehr gesehen. Hoffentlich geht es ihnen gut. Ich spüre wie mich meine Kraft verlässt. Meine Augenlider werden schwer und schon wird alles schwarz um mich herum. Das letzte was ich mitbekomme ist, dass Arashi meinen Namen ruft. Unter Schmerzen stöhne ich auf und öffne dann meine schweren Augen. Es kostet mich einiges an Kraft um sie ganz zu öffnen, dennoch gelingt es mir. Arashis tiefroten Augen ist das erste was ich sehe. Daran könnte ich mich glatt gewöhnen. „Mach vorsichtig“, sagt er, als ich mich aufrichten will. Er stützt meinen Rücken mit seinen Händen und hilft mir so mich richtig hinzusetzen. „Was ist passiert?“, frage ich. Ich blicke auf mein Handgelenk, welches ich Arashi angeboten hatte. Die Wunde hat sich mittlerweile vollständig wieder geschlossen. „Hat Kira dich von mir weggezerrt, oder…“, ist es dir gelungen dem Blutrausch – indem du dich ganz offenbar befunden hattest – standzuhalten? Ich spreche es nicht laut aus, denn ich will Arashi keine Vorwürfe machen. Immerhin war ich es, die ihm sagte er solle von mir trinken. „Weder noch“, antwortet mir Arashi. Seine Stimme hat einen merkwürdigen Unterton, der mich stutzen lässt. „Was ist passiert? Und wo ist Kira?“ Ich sehe einmal nach rechts und einmal nach links. Wir befinden uns wieder in diesem Altarraum, in dem Eileen mir das Herz entreißen wollte. „Antoniella, oder besser gesagt Edema ist passiert“, kommt er endlich mit der Wahrheit heraus. „Sie hatte es geschafft ein Portal in die Anderwelt zu erschaffen. Mit ihrer letzten verbliebenen Kraft muss Eileen ihr wohl so eine Art Hinweis geschickt haben, in welcher Dimension sich die Anderwelt befindet. Dieses hinterhältige Miststück“, fügt er leise knurrend noch hinzu. Ich kann es ihm nicht verübeln. „Redet man so über seine Ex“, vernehme ich plötzlich die mir vertraute Stimme von meiner Tante. Sofort blicke ich auf und in die Richtung, aus der ich meine Tante vermute. Nanu. Wo kommen die denn alle auf einmal her? Rings um uns herum stehen an die dreißig, wenn nicht sogar noch mehr, Frauen und Männer. Und bis auf meine Tante und mein Vater… „Dad!“, rufe ich nach ihm und rappe mich auf. Bevor Arashi die Gelegenheit hat mich aufzuhalten, renne ich auch schon zu meinem Vater und umarme ihn stürmisch. „Bin ich froh dass du hier bist“, sage ich und drücke mich dichter an ihn. Doch statt wie sonst auch, umarmt er mich nicht, sondern stößt mich von sich. Perplex starre ich ihn und auch meine Tante – die sich neben ihn gestellt hat – an. Beide sehen mich mit so viel Hass in den Augen an, dass ich erschrocken zurückweiche. Was ist mit ihnen? „Sie stehen unter dem Einfluss von Edema“, sagt Arashi. Er stellt sich neben mich. „Und zwar sie alle.“ Dann greift er unter mein Kinn und dreht meinen Kopf sachte nach rechts. Unter den ganzen Leuten, die um uns herum stehen, ist auch Jolina. Sie hält sich mit den übrigen jungen unter ihnen – das sind… ich zähle kurz nach… sieben – an der Hand und zusammen sprechen sie so eine Art Zauberformel. Ich verstehe kein einziges Wort, da sie mehr als leise dabei sind. Im Grunde also, sehe ich nur, wie sich ihre Lippen bewegen. „Was machen die da?“, will ich von Arashi wissen. Ich ziehe meine Augenbrauen nach oben und runzle die Stirn. Und wie zum Teufel ist es Edema gelungen die Kontrolle über all diese Hexen zu erlangen? Muss man dafür nicht verdammt stark sein und sehr viel magische Kraft besitzen? „Sie besitzt die Kräfte von zwei Zodiac-Hexen“, sagt Arashi. „Darüber hinaus ist sie auch noch die Hohepriesterin deines Zirkels und wenn man das zusammenfügt, dann kann man schon sagen, dass sie mächtig ist. Verdammt mächtig sogar.“ „Doch lass mich raten…“ Ich sehe Arashi wieder einmal in die Augen – was ich in letzter Zeit ziemlich häufig tue, wenn ich mal darüber nachdenke, „die reicht ihr nicht aus. Sie will noch mächtiger werden und sucht deshalb nach den anderen drei Zodiac-Kräften?“ Das es machen Leuten aber auch immer wieder nach solch großer Macht strebt. Kann man nicht einfach mal mit dem zufrieden sein was man hat? Das tue ich doch… Nein. Das tat ich auch nicht. Ich hasste mein langweiliges Leben und wünschte mir so sehr, dass es aufregender sein würde. Doch jetzt wo es das ist, wünsche ich mir nichts weiter, als dass es wieder so wie früher wäre. Auch wenn ich Arashi und auch Kira, genauso wie Jolina und Constantin vermissen würde. Tja… Wie vorhin schon gesagt, hat alles seinen Preis. Nichts bekommt man umsonst. „Edema wird erst zufrieden sein, wenn sie alle fünf Zodiac-Kräfte in sich vereint, da hast du vollkommen recht. Und so wie es aussieht, wird sie bald herausfinden, wer die oder der letzte Zodiac ist. Und wir können nichts tun um sie aufzuhalten.“ Arashi ballt seine Hände zu Fäusten und schlägt dann mit seiner rechten an die Mauer neben uns. Erde bröckelt beim Einschlag seiner Hand und hinterlässt so eine Kuhle an der Wand. „Wieso glaubst du dass sie bald auch die Letzte bekommt? Und wo steckt Edema überhaupt? Hast du nicht gesagt, dass ich es ihr zu verdanken habe, dass du mich nicht restlos ausgesaugt hast?“ Arashi Augen werden groß als er meine Worte vernimmt. Oh Mist… Das habe ich doch gar nicht sagen wollen. Entschuldigend ziehe ich meine Schultern etwas hoch und mache ein geknicktes Gesicht. Er soll wissen dass ich es ihm nicht krumm nehme. Ich nahm an das Arashi mir sofort erklären würde was er meinte, doch das tut er nicht. Stattdessen dreht er sich weg von mir und starrt in die entgegengesetzte Richtung. Was ist denn jetzt los? Er wird doch wohl nicht beleidigt sein? Nein, so sieht er nicht aus, vielmehr macht er den Eindruck, dass er sich nicht traut mir die Wahrheit zu erzählen. Also muss es wohl etwas nicht so gutes sein. Verdammt! Ich strecke sachte meine Hand nach Arashi aus, ziehe sie aber sofort wieder zurück. Dafür mache ich zwei große Schritte und stehe so direkt hinter ihm. Wortlos schlinge ich meine Arme um seinen Unterleib und drücke mich dicht an ihn. Mehrere Minuten bleiben wir so schweigend stehen. Es tut gut ihm so nah sein zu können. „Du erinnerst dich an das Buch der Erinnerungen“, unterbricht Arashis Stimme die Ruhe zwischen uns. Ich nicke, was er spürt und so fährt er fort. „Es ist eines von drei heiligen Relikten des Wicca-Zirkels. Frage mich bitte nicht nach den anderen zweien, ich weiß auch nur von dem hier. Jedenfalls kann die Hohepriesterin der Wiccas, indem sie ihren Geist in das Buch projiziert, als stumme Beobachterin, in die Vergangenheit reisen.“ „Und das hat Edema getan?“ Diesmal ist es Arashi der nickt. „Genau!“ „Aber wie? Du sagtest doch dass das nur die Hohepriesterin der Wiccas kann und Edema… Moment mal.“ Ich löse mich ruckartig von Arashi. Er dreht sich mir wieder zu und sieht mich traurig an. „Deswegen hat sie Kira ihrer Macht beraubt? Um sie für sich selbst nutzen zu können?“, rate ich. „Nein! Denn es sind nicht die Kräfte, die eine Hexe an einen Zirkel bindet, sondern es ist ihr Blut“, flüstert Arashi. Beinahe hätte ich ihn nicht verstanden, da der Singsang von Jolina und den anderen lauter geworden ist, da nun auch die anderen mit eingestimmt haben. Was will er mir damit sagen? Doch nicht etwas das Kira tot ist? Nein, das hätte Edema niemals getan. Oder doch? Ich sehe mich nach meinem Dad und meiner Tante um. Die beiden sind die einzigen, die sich nicht an den Händen halten und dem Singsang mit einstimmen. Sie beobachten mich und Arashi. Vermutlich sollen sie eingreifen, falls wir irgendwas unternehmen. Die anderen von Edemas Marionetten sind ja beschäftigt und irgendwas sagt mir, dass sie mit dem Singsang nicht aufhören dürfen, solange sich Edema in diesem Relikt befindet. Und das heißt dann wohl auch, dass Kira wirklich noch lebt und Edema sie nicht geopfert hat, um so an ihr Blut zu kommen. Wenigstens eine gute Nachricht. „Also müssen wir nur noch einen Weg finden meine Tante und meinen Dad auszuschalten, um Edema zu töten“, rate ich einfach mal wild drauf los. Diese Gleichgültigkeit, mit der ich Edemas Tod in Kauf nehme, macht mir zwar ein klein wenig Angst, doch weiß ich auch, dass das unsere einzige Chance ist, um sie aufzuhalten. Von Angesicht zu Angesicht, kann keiner von uns was ausrichten. Ich am aller wenigsten. „Leider ist das nicht so einfach“, sagt Arashi. Wieder klingt seine Stimme traurig. Ich überlege was der Grund dafür sein kann, doch egal wie lange ich überlege und hoffe das es etwas anderes sein muss, komme ich immer wieder zu derselben Erkenntnis. Edema hat sich mit Kira verbunden und das heißt… das sollten wir sie töten, Kira ebenfalls sterben wird. Hört das denn niemals auf? Herbst 2015, Ort unbekannt Kira Vaillant „Wieso glaubt ihr ausgerechnet hier, die letzte noch verbliebene Zodiac-Kraft zu finden“, versuche ich Edema die Wahrheit zu entlocken. Das Buch der Erinnerungen zeigt schließlich nur die Vergangenheit der Wiccas und es ist ja nicht gesagt, dass es ausgerechnet eine Wicca-Hexe sein muss, nach der Edema so krampfhaft sucht. Genauso gut könnte sie auch zum Stonehenge-Zirkel gehören. Das wäre sogar fast anzunehmen, da mit Edema, Selest und Vanessa, schon die Wicca- und Phönix-Hexen Zodiacs haben. Und ich bezweifle, dass Ian ursprünglich dem Stonehenge-Zirkel angehört. Den Eindruck, dass er mit der Natur im Einklang ist, hat er auf mich nicht gemacht. Vielmehr habe ich den Verdacht, dass der Kynigós-Clan einst den Wiccas angehört hat. Ausgerechnet meinem Zirkel. Wieder mal ist das Schicksal also nicht auf meiner Seite. Wie vorhersehbar. „Ich weiß es einfach“, bekomme ich von Edema doch tatsächlich eine Antwort. Das ist, seit wir hier drin sind – was mir fast schon wie eine Ewigkeit vorkommt – das erste Mal, dass sie mit mir redet. „Ich spüre es ganz deutlich.“ „Also ich spüre nichts“, sage ich, während ich mich von Edema immer tiefer ins Innere des Reliktes ziehen lasse. Als wenn sie Angst hätte, dass ich ihr hier davonlaufen würde. Rechts und links von mir ziehen Bilder der Vergangenheit meines Zirkels an mir vorbei. Sogar Vanessa war schon zu sehen, die mit einer blonden jungen Frau einen Zauber vollführt hatte. Leider konnte ich nicht erkennen um was für einen es sich gehandelt hatte da die Erinnerung viel zu schnell wieder weg war. Fast so schnell, wie sie erschienen ist. „Wir sind fast da. Nur noch ein Stückchen und…“ Ich will Edema geredet danach fragen was sie meint, als ich es auch schon selber sehen kann. War bis eben noch alles steril und leer – abgesehen von den einzelnen Bildern der Vergangenheit – hat sich unsere Umgebung jetzt vollständig verändert. Wir stehen inmitten eines Schlachtfeldes. Doch nicht irgendeinem Schlachtfeldes, sondern dem, von vor 17 Jahren. Wir befinden uns mitten drin, im den Krieg, den angeblich meine Eltern begonnen haben sollen. Warum sind wir hier? „Sieh genau hin, Kira“, sagt Edema und zieht mich näher zu sich ran. Sie zeigt mit ausgestrecktem Finger in die Ferne. Ich muss mich richtig anstrengen um zu sehen, was Edema mir zeigen will. Doch sobald ich es erfasst habe, werden meine Augen groß. Zwei Frauen stehen sich gegenüber. Eine mit dunkelrotem Haar und eine mit schwarzem. Sie sehen aus wie… „Sind das…“ Ich bin unfähig die Worte auszusprechen, die mir auf der Zunge liegen. Viel zu sehr bin ich von dem gefesselt, was sich vor meinen Augen abspielt. „Ganz Recht“, säuselt Edema mir ins Ohr. Sie umgreift mein Kinn und zieht es wieder in die Richtung, von der ich mich gerade eben erst abgewandt habe. „Sieh hin, Kindchen. Sieh, wie deine Mutter ihre beste Freundin ermordet.“ Gehässiges Lachen folgt Edemas Worten. Ich löse mich von Edemas Griff und will zu meiner Mutter rennen, will sie daran hindern den größten Fehler ihres Lebens zu machen, doch Edema ist leider schneller. Sie greift wieder nach meinem rechten Arm und hält mich so eisern an Ort und Stelle. „Wieso tut ihr das?“, will ich wispernd von ihr wissen. „Ich dachte ihr habt es so eilig herauszufinden, wer die letzte Zodiac-Kraft in sich hat?“ „Alles zu seiner Zeit, Liebes“, haucht sie mir ins Ohr und drängt mich weiter dazu, dem grausamen Spiel vor uns, zuzusehen. „Ich habe bereits einen Verdacht um wen es sich handelt. Doch um ihn bestätigt zu wissen, müssen wir hier weiter zusehen.“ „Ihr seid grausam“, zische ich und kneife meine Augen zusammen, in genau dem Moment, als sich meine Mom auf Selests stürzt. Ich vernehme Rubys überraschten Schrei, als sich die Klinge die meine Mutter führt, tief in ihren Unterleib bohrt. Der Schrei klingt so nah, obwohl sich das Geschehen nicht direkt vor uns abspielt. Vermutlich habe ich das Edema zu verdanken. „Es ist gleich vorbei“, flüstert Edema und zieht mich wieder mit sich. Je näher wir meiner Mom und Selests Mom kommen, desto mehr wehre ich mich gegen Edemas festen Griff. Ich will da nicht näher ran. Doch es bringt nichts, denn Edema ist einfach stärker als ich. Mir bleibt also nichts anderes übrig, als hinter ihr hinterher zu stolpern. Glücklicherweise war auch dieses Schauspiel, das von meiner Mom und Ruby, Moms bester Freundin, schnell wieder vorbei. Zwar nicht schnell genug, denn ich habe mehr gesehen als ich eigentlich wollte, doch Gott sei Dank verschwand es, noch bevor Edema und ich dort waren. Leider aber folgten weitere solcher Bilder. Und jedes davon, war grausamer als das davor. So sah ich wie jungen Hexen, Loup-Garous und auch einige Vampire, ihr Leben lassen mussten. Doch seltsamerweise starben sie nicht weil die Hexen meines Zirkels sie aus reiner Bosheit angriffen, sondern weil sie sich mit tödlicher Magie, gegen diese verteidigen mussten. Da frage ich mich doch echt, ob mein Zirkel diesen Krieg wirklich angefangen hat. So wie sich mir das hier zeigt, hat es eher den Anschein, als wollen die anderen diesen Krieg. Doch kann ich mich da auch täuschen. „Ist das nicht ein herrliches Bild“, fragt mich Edema. Ich hoffe sie erwartet keine Antwort von mir. Denn ich kann dem Bild, welches sich uns gerade präsentiert, nichts Herrliches abgewinnen. Eine junge Hexe, ich schätze sie auf mein Alter, liegt Blutüberströmt auf dem Boden. Ihr Stab, der in zwei Teile zerbrochen ist, liegt neben ihr. Ihre zitternden Hände greifen nach ihm, doch da wird sie von einer großen Feuerkugel getroffen. Vor meinen Augen verbrennt die junge Hexe, begleitet von einem unerschütterlichen Schrei, der mir durch Mark und Bein geht. Ich verstehe das nicht. Diese junge Hexe war eindeutig eine Stonehenge-Hexe und diese Feuerkugel… auch wenn wir Wiccas über die Naturgewalten gebieten, wären wir niemals in der Lage eine solche Feuerkugel zu erschaffen, und das heißt, dass sie Feuerkugel von einer Phönix-Hexe stammen musste. Doch wieso sollte eine Phönix… Das ergibt doch gar keinen Sinn. Alles Lügen. Mein ganzes Leben war eine einzige Lüge und selbst jetzt, stellt sich das, was für lange Zeit im Dunkeln lag, und sich seit ein paar Tagen als die Wahrheit kristallisierte, als weitere Lüge heraus. Denn es waren weder meine Eltern, noch mein Zirkel, die diesen Krieg gewollt haben. Es waren aber auch nicht die Phönix-Hexen, sondern einzig und alleine Edema. Edema und ihre Anhänger. Nur Gott alleine weiß, wie lange sie diesen Krieg schon geplant hatte. „Ich habe oft in Erinnerungen geschwelgt, Kira. Habe an all das Chaos und den Schmerz gedacht, den meine treuen Anhänger und ich verursacht haben. Und jetzt all das noch einmal zu sehen, nein, nicht nur zu sehen, sogar erneut dabei sein zu können, das ist etwas ganz besonderes für mich. Dein Zirkel ist etwas Besonderes.“ Die Bilder um uns herum verändern sich erneut, nachdem der Schmerzens- und Todesschrei der jungen Hexen endlich abgeklungen ist. Und das was sich jetzt vor uns als nächstes Bild der Vergangenheit materialisiert, könnte persönlicher gar nicht sein. Wir stehen in einem kleinen Verlies, und vor uns hocken, auf dem dreckigen Boden, meine Mom und mein Dad. Der Kopf meiner Mom ruht auf Dads Schultern. Beide sehen sehr mittgenommen aus. „Das ist eines meiner liebsten Erinnerungen“, sagt Edema und zieht mich näher an meine Eltern ran. Und wäre das hier keine Erinnerung, sondern real, dann könnte ich sie berühren. Das erste Mal in meinem noch recht jungen Leben. „Das hier ist das letzte Mal, dass deine Eltern sich sehen. Sie wissen es in diesem Moment vielleicht noch nicht, doch ahnen tun sie es. Immerhin kennen sie unsere Gesetze nur zu gut. Sie wissen, was mit Verrätern passiert. Oh. Ist das nicht herzallerliebst?“ Meine Mom greift nach der Hand von meinem Dad und führt sie zusammen zu ihrem Bauch. Sofort schleicht sich ein Lächeln auf ihrer beider Gesichter und Mom drückt sich noch dichter an Dad. Liebevoll sehen sie sich in die Augen. „Unser Kind ist ziemlich aktiv“, höre ich meinen Dad flüstern. Seine Stimme klingt rau, vermutlich haben er und meine Mom lange nichts mehr zu trinken bekommen. „Sie ist eine Kämpferin, Alex. Was also auch immer Antoniella – nein Edema – was auch immer sie plant, Kira wird die Wahrheit herausfinden. Sie und die kleine Selest, sie werden unseren Zirkel wieder aufbauen.“ „Mom!“, schluchze ich und strecke meine Hände nach ihr aus. Federleicht liegt sie auf ihrer Wange. „Du wirst sie besiegen, mein kleiner Liebling“, sagt meine Mom und es hat fast den Anschein, als würde sie ihre Wange gegen meine Hand schmiegen. „Ich weiß dass du es kannst!“ „Das reicht“, zischt Edema, reißt mich von meiner Mom und dann immer weiter von meinen Eltern weg. Wir durchdringen die Stäbe des Verlieses, dabei benetzen meine Tränen mein ganzes Gesicht, sodass ich meine Eltern nur noch durch einen Tränenschleier sehen kann. Ich strecke meinen rechten Arm nach ihnen aus, doch alles was ich zu greifen bekomme, sind die Stäbe des Verlieses. Wieder lacht Edema triumphierend. „Ich komme meiner geliebten Antwort immer näher“, lacht sie und beobachtet mit Freuden, wie ihr Vergangenheits-Ich, in der Gestalt Antoniellas, zusammen mit Ilona, der Halbschwester von Xenia, der Hohepriesterin der Stonehenge-Hexen und Zarjo Nikolov, Ioans Vater, vor das Verlies meiner Eltern tritt. Alle drei sehen sehr zufrieden aus. „Es ist gleich soweit, Alex“, höre ich Edema, mit Antoniellas Stimme sagen. „Das Triumvirat hat entschieden, dass sämtliche Verräter, mit Ausnahmen ein paar weniger, heute Abend hingerichtet werden. Und dazu zählst du auch. Doch freu dich, deine liebe Ileana bleibt noch ein Weilchen am Leben. Zumindest so lange, bis eure Tochter geboren wurde. Danach wird sie dir und den anderen, selbstverständlich folgen. Auch das hat das Triumvirat beschlossen.“ „Irgendwann werden sie die Wahrheit erfahren, Edema“, zischt mein Vater. Das Vergangenheit-ich von Edema starrt ihn erschrocken an, was ihn kurz auflachen lässt. Dann wird er allerdings wieder ernst. „Hast du wirklich geglaubt wir würden dich nicht durchschauen? Wir wissen schon länger dass du Lady Antoniellas Körper besetzt.“ „Was wir aber nicht wissen ist, wie du das geschafft hast. Immerhin ist Lady Antoniella alles andere als schwach.“ „Das stimmt!“ Edemas Vergangenheit-Ich hat ihre Sprache scheinbar wiedergefunden. „Doch ist meine liebe Tochter nicht stark genug gewesen um mich abzuwehren.“ Jetzt ist es an meinen Eltern erschrocken dreinzublicken. „Sie ist eure Tochter?“ Edema nickt meiner Mom zu. „Ganz Recht. Und bald werde ich sie vollständig übernommen haben. Dann gehört die Macht aller Phönix-Hexen mir. Ich muss schon zugeben. Nie hätte ich ihr zugetraut, zu einer Hohepriesterin zu werden. Ich war mehr als erstaunt, als ich davon erfuhr.“ Meine Eltern und Edema unterhalten sich noch eine Weile, während Ilona und Zarjo Nikolov nur stumm daneben stehen. Ich versuche so gut es geht sie alle vier auszublenden, und mich auf das hier und jetzt zu konzentrieren. Und glücklicherweise hilft mir meine Edema dabei, indem sie mich mal wieder vollquatscht. Herbst 2015, Anderwelt Selest Peterson „Und wenn wir sie nur so stark verletzen, dass sie zu schwach ist um uns anzugreifen?“, versuche ich Arashi einen weiteren meiner Einfälle schmackhaft zu machen. Ich hatte schon einige, doch keiner davon gefiel ihm. Auch der hier nicht, wenn ich seine Mimik richtig deute. „Selbst wenn wir das tun, würde Kira vermutlich immer noch das Nachsehen haben. Wir wissen schließlich nicht, ob eine verletzte Edema, die gezwungen wird das Buch zu verlassen, auch Kira wieder mit raus nimmt.“ Oh… Daran habe ich nicht gedacht. Aber irgendwas müssen wir doch unternehmen, denke ich und seufze innerlich laut auf. Wieso nur bin ich immer so nutzlos für die anderen? Immer müssen sie mir den Weg weisen und mich retten. Wenigstens einmal möchte ich diejenige sein, die uns aus einer brenzligen Situation befreit – das damals mit Lykan zählt nicht, denn da habe ich ja nicht direkt, sondern indirekt zu unserer Rettung beigetragen, da ich mich noch immer nicht wirklich an meine Taten erinnern kann. Verdammt! Irgendwas muss ich doch tun können. Ich will mich gerade wieder über Arashi beugen, der seinen Kopf auf meinem Schoß gebettet hat und mit geschlossenen Augen wohl einen weiteren meiner Einfälle wartet, als ich ein dumpfes Rumsen vernehme. Ich schaue auf und bin um ehrlich zu sein, etwas geschockt. Mein Dad und meine Tante liegen auf dem Boden, genauso wie unsere sogenannten Aufpasser und rühren sich nicht. Vielleicht eine Millisekunde lang, bleibt mein erschrockener Blick auf Jolina und den anderen hängen, ehe er dann aber wieder zu meinem Dad und meiner Tante zurückkehrt. Also entweder ist es ihr und den anderen egal, oder aber sie sind so in ihrem Singsang vertieft, dass sie nicht mitbekommen haben, das ihre Wächter ausgeschaltet wurden. Doch von wem wurden sie ausgeschaltet? Arashi und ich waren es nicht. „Wie lange wollt ihr dort eigentlich noch hocken bleiben?“ Ruckartig drehe ich meinen Körper um Neunzig Grad. Hinter uns stehen Julian, sein Vater und seine Brüder. Und das mit einem Ausdruck in den Augen, der mir wirklich Angst macht. So schnell kann ich gar nicht kucken, wie Arashi sich erhoben hat und nun Angriffsbereit vor mir steht. Bereit mich jederzeit zu verteidigen. Ich seufze laut. Fängt also schon wieder an. „Ruhig Blut, Brauner“, belächelt Ian Arashis Aktion. „Wir sind hier um euch zu helfen“, fügt er dem noch hin und stolziert mir anmutigen Schritten auf meinen Dad und meine Tante zu. „Was hast du vor“, frage ich ihn, dränge mich an Arashi vorbei und folge Ian. Ich werde bestimmt nicht zulassen, dass er meine Familie verletzt. Egal ob er ein Zodiac und gefährlicher Hexenjäger ist oder nicht. Dem würde ich es dennoch zeigen. Ich folge ihm also und lasse mich als erstes neben meinen Dad fallen. Gegenwärtig überprüfe ich seinen Puls – er schlägt regelmäßig. Da ich annehme das es meiner Tante auch soweit ganz gut geht, verdränge ich den Impuls auch bei ihr nach dem Puls zu fühlen und greife stattdessen nach Ians Hemdkragen. Er lässt sich widerstandslos von mir etwas nach unten und zu mir ran ziehen. Giftig blicke ich ihn an. „Warum habt ihr das getan?“, will ich von ihm wissen. Belustigt über mein Verhalten, schenkt Ian mir ein schelmisches Lächeln. Dann entzieht er sich sachte meinem Griff und streicht sein Hemd wieder gerade. „Und was wollt ihr überhaupt hier?“ „Das hier ist unser Zuhause“, erklärt Julians anderer Bruder. „Wir wollen diesen ganzen Abschaum genauso wie ihr loswerden.“ Bitte? „Mein Dad und meine Tante sind kein Abschaum“, zische ich empört. „Und die anderen auch nicht. Sie sind von Edema manipuliert wurden und tun das gegen ihren Willen.“ „Na wenn du das sagst“, grinst Ian und erhebt sich wieder. „Dennoch sind wir hier um euch zu helfen. Oh nein warte… Wir sind hier um ihr zu helfen“, mit diesen Worten zeigt er in Richtung von Jolina und den anderen. Immer noch sind sie mit ihrem Singsang beschäftigt. Kann die eigentlich irgendetwas aus der Ruhe bringen? Scheinbar ja nicht. „Wen genau meinst du?“ Irritiert blicke ich zu Arashi, der hat sich, wie sollte es anderes sein, wieder an meine Seite begeben. „Selbstverständlich unsere Hohepriesterin, Kindchen.“ Kostjas grauer Haarschopf schiebt sich in mein Blickfeld. Erschrocken weiche ich einen Schritt zurück und pralle gegen einen stählernen Oberkörper. Ich drehe mich um und blicke in das Gesicht eines mir unbekannten Mannes. Eines verdammt aktaktiven jungen Mannes. Ich schätze sein Alter auf Mitte 20 oder so. Ein klein wenig sieht er Ian ähnlich, nur das er ernster als dieser zu sein scheint – wesentlich ernster und größer. Mit seinen eisblauen Augen durchbohrt mich der mir Fremde regelrecht. „Mein Zweitältester, Henry“, stellt Kostja den jungen Mann vor. Deshalb also sieht er Ian so ähnlich. „ich verstehe es nicht“, gebe ich zu. Peinlich ist mir das ja schon irgendwie, aber was soll ich machen. „Dummerchen!“ Meint er etwa mich? „Wir reden natürlich von Kira“, sagt Ian grinsend. Kann der auch was anderes als andauernd zu grinsen? Das nervt echt. Und ja, natürlich meint er mich, dieser… Moment Mal, was sagte er eben? „Ihr gehört dem Wicca-Zirkel an?“ Das ist ja mal eine Überraschung. Und das meine ich wirklich so. Niemals hätte ich gedacht… „Ok. Ähm, dann erklärt mir doch mal bitte, wieso ihr sie jetzt beschützen wollt, wo ihr vor ein paar Monaten noch geplant habt sie zu opfern, als es hieße, sie sei eine Zodiac? Ihr seid ja ganz schön Sprunghaft, hm.“ „Es ist keine gute Idee so mit ihnen zu reden“, rügt mich Arashi. Den hatte ich ja fast schon vergessen. „Wenn sie beschließen dich anzugreifen, dann kann ich dich unmöglich vor ihnen allen schützen. „Das reicht jetzt“, schreie ich ihn an. Perplex starrt Arashi mich an, genauso wie die Kynigós-Hexer. Einzig Julian sehe ich nirgends zwischen ihnen. „Ich bin es leid, dass ich immer beschützt werden muss. Ich bin auch eine Hexe ok, ich sollte mich selber schützen können.“ „Das wirst du schon noch“, mischt sich Ian ein. Doch diesmal ist etwas anders an ihm. Weder grinst, noch er mich mit seinem natürlichen Hohn in den Augen an. Er wirkt fast schon freundlich. „Sobald du eine vollwertige Hexe bist, wirst du dich selber schützen können.“ „Ian hat Recht, Selest“, haucht Arashi und legt mir versöhnlich eine Hand auf die Schulter. „Es tut mir leid“, murmle ich. „Es ist nur, ich… Ich fühle mich einfach so nutzlos, verstehst du. Ich will Kira helfen, immerhin hat sie mein tödliches Schicksal abgewendet und auch so, ist sie eine sehr gute Freundin für mich geworden, die sehr viel auf sich genommen hat. Ich meine, sie hat sogar Eileen, ihre einst beste Freundin für mich getötet. Ich will ihr doch nur was wiedergeben. Ich will meine Fehler, die ich ihr gegenüber begangen habe, einfach wieder gut machen.“ „Das verstehe ich. Doch darfst du nichts überstürzen. Kira würde nicht wollen das du dich ihretwegen so mies fühlst. Außerdem ist sie kein Mensch, der einem lange was übel nehmen kann. Und jetzt Kopf hoch. Du wirst schon noch Gelegenheit bekommen sie zu retten. Ich werde dich dabei unterstützen, das verspreche ich dir!“, haucht er gegen meine Lippen und küsst mich flüchtig. Mit meinen Zähnen malträtiere ich meine untere Lippe, nachdem er sich wieder von mir gelöst hat. Außerdem spüre ich deutlich, wie ich Rot anlaufe. „Ich bin stets an deiner Seite!“ „Wenn ihr dann endlich mit eurer wirklich hinreißenden Liebesbekundung fertig seid“, unterbricht Kostja uns… „…könnten wir uns überlegen wie wir Kira aus Edemas Fängen befreien können“, beendet Julian dessen Satz. Ich sehe mich nach dem jüngsten von ihnen um. Ich kann ihn nirgends erkennen. „Wo steckst du, Julian?“ „Hier!“, höre ich ihn sagen. Und endlich kann ich ihn auch sehen. Sein schwarzer Haarschopf steckt irgendwo zwischen den noch immer singenden Junghexen. Und neben ihm… „Kira!“, rufe ich panisch heraus und renne auch schon zu ihr. Ich kämpfe mich an Jolina vorbei, die mich mit ihren Augen verfolgt. Aber wahrscheinlich habe ich mir das nur eingebildet, denn das wäre das erste Mal, dass ich ein wirkliches Lebenszeichen von einen von ihnen bekomme – also abgesehen von diesem echt nervigem Singsang. Neben Kira komme ich zum Stehen und überprüfe ob es ihr auch gut geht. Edema, die neben Kira auf dem Altar liegt ignoriere ich, da ich wenn ich sie beachten würde, höchstwahrscheinlich eine Dummheit begehen würde. Und wie ja schon von Arashi gesagt, täte das auch für Kira definitiv nicht gut ausgehen. Und gerade ihr will ich ja am allerwenigstens wehtun. „Ihr Geist hat ihren Körper verlassen“, erklärt mir Julian. In seinen Augen erkenne ich, dass es ihm ebenfalls Überwindung kostet, Edema nicht hier und jetzt zu töten. Seit ich weiß wer er ist, ist das hier das erste Mal, dass sie die tiefe Liebe, die er für Kira wohl empfindet, klar und deutlich vor mir sehe. Bis jetzt war ich eigentlich der Meinung, dass er Kira nur was vorgemacht hat, um seinen Vater stolz zu machen. „Gibt es irgendetwas was wir tun können?“, frage ich. „Irgendwie müssen wir sie doch von Edema trennen können.“ Julian schüttelt seinen Kopf. „Und was ist mit deinem Vater? Kann er nicht…“ „Nein!“ Ich will protestieren. Will ihn anschreien das er gefälligst was unternehmen soll, als ich jemanden meinen Namen rufen höre. Leise – fast wie ein wispern. Ich schaue nach oben, drehe meinen Kopf einmal nach links und dann nach rechts. Doch kann ich niemanden erkennen, zu dem die Stimme passen könnte. Frustriert sacke ich in mich zusammen und lasse mich dann am Altar hinuntergleiten. Wie ein Häufchen Elend sitze ich im Dreck. Dabei spüre ich deutlich Julians und auch Arashis Blick auf mir. Herbst 2015, Ort unbekannt Kira Vaillant Noch immer versuche ich meine Atmung wieder unter Kontrolle zu bekommen. Versuche die drohende Ohnmacht zu verdrängen und lasse mir sogar von Edema dabei helfen. „Geht es wieder“, fragt sie mich und streichelt mit einer ihrer Hände über meinem Rücken. Am liebsten würde ich sie anschreien und ihr mitteilen das es mir alles andere als gut geht, nachdem ich eben den Tod meines Vaters und den vieler meiner Zirkel-Brüder und -Schwestern habe zugesehen. Dass es einem da nicht gut geht, dürfte jawohl jedem klar sein. Nur ihr natürlich nicht, aber was soll man von einer Psychopatin auch erwarten. Die hat sich das ganze Schauspiel mit solcher Leidenschaft angesehen, dass mir so schlecht wurde, dass ich sogar jetzt noch damit zu kämpfen habe. „Wie könnt ihr sowas nur genießen“, japse ich, dabei nach Luft schnappend. „Wie könnt ihr hier stehen und euch all das ansehen, als würde es etwas gänzlich alltägliches sein?“ „Alles eine Frage der Übung“, sagt Edema und erhebt sich wieder. Bringt so etwas Abstand zwischen uns – was ich nur gutheißen kann. Sie streicht ihr Kleid glatt und reicht mir dann ihre Hand, mit der sie mir bis eben noch über den Rück strich. Es widerstrebt mir sie zu ergreifen doch weiß ich, dass sie wenn ich es nicht freiwillig tue, mich wieder hinter sich herziehen wird. Und darauf habe ich noch weniger Lust. Ich lasse mich also von ihr hochhelfen. „Gleich wird der Höhepunkt unserer kleinen Reise kommen“, freut sich Edema. „Und was soll das sein?“ Wieso frage ich das eigentlich? Ich meine, will ich überhaupt wissen was als nächstes auf mich drauf zu kommt? Eigentlich ja nicht, doch habe ich eh keine Wahl. Edema lächelt mich wissentlich an und deutet mit ihrem Kopf hinter mich. Ich drehe mich ängstlich um. „Deine Geburt, Liebes!“, haucht Edema mir sogleich ins Ohr und schiebt mich dann näher an das Bett ran, in welchem meine Mutter liegt und laut nach Luft schnappt. „Oh Gott!“, nuschle ich und schließe meine Augen. Also das muss ich mir nun wirklich nicht ansehen. „Es ging damals relativ schnell, weißt du“, erzählt Edema munter drauf los. Ich will das alles gar nicht hören. Und um ihr das zu verdeutlichen, halte ich meine Hände an meine Ohren. Leider hilft das nicht viel. „Dabei dachten wir alle dass es länger dauern würde, da deine Mutter ja so geschwächt war. Ich hätte es wirklich besser wissen müssen. Die Anzeichen waren da – sogar mehr als nur dieser eine hier – und dennoch habe ich es nicht gesehen. Doch jetzt weiß ich es.“ Es ist mir egal was sie weiß. Es ist mir egal was sie als nächstes tun wird. Und es ist mir egal was sie mit mir vorhat. Alles was mir wichtig ist, ist, dass ich von hier weg komme. „Jetzt musst du hinsehen“, sagt Edema und nimmt meine Hände in ihre. „Öffne deine Augen“, wispert sie und sofort tue ich was sie von mir verlangt hat. Ich öffne meine Augen und sehe, wie Tante Fanny mich im Arm hält. „Siehst du ihn… diese kleine schwache Lichtkugel? Genau das ist das Zeichen, auf das ich so lange gewartet habe. Die Bestätigung meiner Ahnung.“ Das Buch der Erinnerungen ist ein Gefängnis. Das Gefängnis für unsere Erinnerungen. Ich höre die Stimme meiner Mutter in meinem Kopf. Ein letztes Mal noch treffen sich unsere Blicke. Sie lächelt mich an, mich direkt – und diesmal ist es nicht nur Einbildung von mir – dann schließt sie ihre Augen. Meine Mom ist tot. „War das nicht großartig?“, fragt mich Edema, nachdem sie mir gerade Mal ein Minute zum Trauern ließ. Sie zieht mich wieder zu sich und sogleich verschwindet das Geschehen vor uns. Das war dann also das Ende… Es folgt nichts weiter und so wird der Raum in dem wir uns befinden, wieder so steril und leblos wie bei unserer Ankunft. Was für eine Erleichterung. Edema umkreist mich, bis sie dicht vor mir steht. Sie legt ihre Hand auf die Stelle, unter der sich mein Herz befindet. Dabei lächelt sie mich diabolisch an. Ich weiche ihrem Blick nicht aus. Zeige ihr keine Angst wegen dem was kommen wird. Im Grunde wird sie mir einen Gefallen tun. Sie wird mich wieder mit meinen Eltern vereinen. „Letzten Endes werde ich mehr gewinnen als ihr“, hauche ich ihr entgegen. „Ihr möget vielleicht ein paar Zodiac-Kräfte in euch haben, aber was bedeutet das schon. Am Ende werdet ihr alleine sein und ich… ich werde nie wieder alleine sein müssen.“ „Ich werde niemals alleine sein, Kira. Ich werde meine Macht haben. Ich werde meine getreuen Anhänger um mich haben. Ja ich werde sogar die ganze Welt unter mir haben. Ich werde einfach alles haben. Alles was ich immer wollte.“ „Das mag vielleicht stimmen. Dennoch werdet ihr eines ihr niemals haben.“ „Und was soll das sein?“ „Familie! Und Freunde! Alles was ihr bekommt, wird die Einsamkeit sein.“ „Sowas wie Freunde brauche ich nicht, genauso wenig wie eine Familie. Und jetzt lass uns wieder zurückkehren. Es gibt drei neue Zodiac-Kräfte, die ich mir noch aneignen muss“, sagt sie grinsend und wie die ganze Zeit schon über, zieht sie mich mit sich. „Ich habe wirklich gehofft, dass du dich mir anschließen wirst, Kira. Und wenn ich dich dazu hätte zwingen müssen. Eileen und du… ihr wart schon immer die, die ich an meiner Seite wissen wollte. Doch leider ist Eileen bereits tot und du… nun, wir werden sehen.“ Rede du nur, denke ich. Es ist mir egal. Ich habe im Moment andere Sorgen und zwar gehen mir die Worte meiner Mutter nicht mehr aus dem Kopf. Die Worte die sie zu meinem noch ungeborenen Ich sagte, als wir sie in dem Verlies, zusammen mit Dad, sitzen sahen. Du wirst sie besiegen, mein kleiner Liebling! Ich weiß dass du es kannst! Was nur meinte meine Mutter damit? Wie soll ich denn jemanden wie Edema besiegen? Eine Hexe die bereits mehr Jahre auf dieser Welt verbracht hat, als irgendjemand sonst. Eine Hexe, die selbst schon dem Tod getrotzt hat. Wie konnte meine Mom nur so viel Vertrauen in mich haben, obwohl ich damals noch nicht einmal geboren war? Am besten ich schiebe dieser Erinnerung von mir. Denn was auch immer meine Mom damals in mir sah, sie irrte sich. Ich werde Edema niemals besiegen können. Aber vielleicht, ja vielleicht kann wenigstens Selest meinem Zirkel beim Wideraufbau helfen. Dann würde wenigstens diese Prophezeiung meiner Mutter, zum Teil, wahr werden. Ich muss irgendwie Kontakt zu Selest aufnehmen. Ich muss… Irgendjemand kommt Edema und mir entgehen. Schemenhaft kann ich eine Gestalt vor uns ausmachen. Der Silhouette nach handelt es sich bei ihr um eine junge Frau. Ich werfe einen flüchtigen Seitenblick auf Edema, doch allen Anschein nach sieht sie die Person nicht. Heißt das, dass ich sie mir vielleicht nur einbilde? Nein! Ganz sicher nicht. Es dauert nicht lange und die Person steht genau vor uns. Als ich sie erkenne schnappe ich nach Luft. Edema dreht ihren Kopf zu mir. „Was ist los?“ Die Gestalt vor uns schüttelt ihren Kopf. „Nichts!“, sage ich automatisch. Edema reicht das als Antwort, denn sie wendet ihren Blick wieder gerade aus. Wieso sieht sie sie nicht? Sie steht doch direkt vor ihr. Sie kann mich nicht wahrnehmen. Klar und deutlich höre ich die Stimme von Ruby in meinem Kopf. Es ist, als würde sie in Fleisch und Blut vor mir stehen. Als würde sie tatsächlich mit mir reden. Das muss Edema doch mitbekommen. Ich bin wirklich hier! … Deine Mutter schickt mich, um dir zu helfen! Was? Meine Mom? Aber wie? Deine Mutter sieht alles, Kira. Ruby streckt ihre Hände nach mir aus. Ich spüre diese Berührung auf meinem Arm. Ein warmes Gefühl breitet sich in meinem Inneren aus. Es fühlt sich an wie… Nutze meine Magie, Kira! … Nutze sie und schicke meiner Tochter eine Nachricht! Ich soll was tun? Sage ihr wie sie Edema unschädlich machen kann! … Du weißt was sie zu tun hat! … Leite sie! Das Buch der Erinnerungen ist ein Gefängnis. Genau das sagte doch meine Mutter zu mir, kurz bevor sie starb. Das Gefängnis für unsere Erinnerungen. Und plötzlich weiß ich was zu tun ist. Ich schließe meine Augen. Konzentriere mich auf die fremde Magie in meinem Inneren und sende meinen Geist auf die Reise. Zu Selest. Herbst 2015, Anderwelt Selest Peterson Es ist Kira! Ich höre ihre Stimme laut. Klar und deutlich in meinem Kopf. Sie ist es wirklich. „Seit sofort ruhig“, herrsche ich die anderen an. Julian und Ian hören auch augenblicklich auf zu erzählen. Auch Arashi, Kostja, Henry und Gabriel stellen ihre Unterhaltungen ein. Und so sind fünf Augenpaare auf mich gerichtet. „Kannst du mich hören?“ „Ja!“, schreie ich. „Ich höre dich klar und deutlich.“ „Was ist lo…“ „Pst!“, unterbreche ich Arashi, indem ich ihm eine Hand auf den Mund drücke. „Vertraust du mir?“ Vertraust du uns? Diese Worte kommen mir so vertraut vor. Das hat mich Kira doch vor wenigen Tagen gefragt, bevor ich zusammen mit meiner Tante in meinem eigenen Traum gereist bin. Schon damals lautete meine Antwort: Ja. Ohne das ohne groß darüber nachzudenken. Ich vertraute ihr schon damals, obwohl ich sie da noch nicht so gut kannte. Also Ja… Ich vertraue ihr. „Das tue ich“, sage ich voller Überzeugung. Mittlerweile sehen mich die Fünf nicht mehr überrascht, sondern verwirrt um. Die müssen wohl denken dass ich langsam den Verstand verliere, weil ich mit mir selbst rede. „Ich glaube jetzt ist es gänzlich um sie geschehen. Das arme Ding!“ Sagte ich es nicht? Und natürlich war es Ian, der den Gedanken den wohl alle haben, ausspricht. „Suche Julian!“ „Er ist hier bei mir“, erkläre ich ihr. „Das ist gut. Ergreife seine Hand, Selest!“ Ich tue wie mir geheißen, auch wenn mich Julian und Arashi daraufhin komisch ansehen. Und um Arashi nicht eifersüchtig zu machen, greife ich mit meiner noch freien Hand nach einem seiner Arme. So wird auch er Kira hören können. „Es gibt einen Weg Edema zu besiegen“, sagt Kira. Kaum das sie ihre Stimme vernommen haben, zucken Arashi und Julian zusammen. „Kira!“ „Ich wusste es“, ist alles was Kira zu Julian sagt, nachdem er ihren Namen rief. Doch was meint sie? Was wusste sie? Ich blicke Julian an, doch der zuckt nur mit den Schultern. Er weiß also auch nicht was sie meint. „Ihr müsst das Buch der Erinnerungen versiegeln! Gemeinsam könnt ihr es schaffen! … Edema wird dann in ihm gefangen sein. Es wird ihr so unmöglich sein aus ihm herauszukommen. Bitte Selest!“, fleht Kira mich regelrecht an. Ich will ihr gerade antworten. Will ihr sagen das ich es tun werde, doch da kommt mir Arashi zuvor. „Das werden wir nicht machen“, sagt er aufbrausend. Jetzt sehe ich ihn an. Auch Arashi blickt zu mir, doch wendet er sich sofort wieder ab, als sich unsere Blicke treffen. Was hat er? „Wie stellen wir das an?“, stelle ich meine Frage an alle, nicht nur an Kira. Ich setze mich so also über Arashi hinweg. Lasse seinen Einwand völlig außen vor. Endlich haben wir eine Idee. Endlich wissen wir was wir tun müssen um Edema unschädlich zu machen und das ohne, dass wir sie körperlich verletzten. Es ist unsere einzige Chance. Wieso nur sieht Arashi das nicht. „Sag mir was wir machen müssen“, sage ich. Ich meine damit Kira. „Es ist ein einfacher Versiegelungszauber. Julian müsste einen kennen, frag ihn.“ „Julian?“ Er sieht abwesend aus. Ich rüttle an seiner Schulter und sofort wacht er aus seiner Lethargie auf. Er sieht mich an, doch seine Augen scheinen mich nicht wirklich zu erfassen. „Was ist los?“ Keiner sagt ein Wort. „Ihr müsst euch beeilen, Selest! Es wird nicht mehr lange dauern, dann hat Edema den Ausgang erreicht. … Bitte Selest!“ Wieder fleht Kira mich an. „Warum sagt keiner von euch was?“ schreie ich in die Runde. „Sie versteht wirklich nicht was es bedeutet, das Relikt zu versiegeln“, sagt Ian. „Erkläre es mir“, verlange ich von ihm. „Irgendwer.“ Eine große warme Hand legt sich mit wenig Druck auf meine Schulter. Ich schaue zu dessen Besitzer hoch. Es ist Henry. „Wenn wir das Buch der Erinnerungen versiegeln“, beginnt er, „dann kann Edema nicht mehr raus. Niemand kann dann mehr raus oder rein.“ „Verstehst du was das bedeutet?“ Niemand kann mehr raus! Niemand kann mehr… Kira! Wenn wir es versiegeln, dann kann auch Kira nicht mehr aus ihm heraus. Dann ist sie für alle Ewigkeit mit Edema dort drin gefangen. Mir endlich bewusst was das auch für Kira bedeutet, sehe ich zu Arashi. Noch immer meidet er meinen Blick. Er will es nicht. Er will Kira nicht dort drin lassen. Und ich weiß auch warum. Nicht weil er weiß das es wohl unsere einzige Chance ist sie zu besiegen, sondern weil… Du wirst schon noch Gelegenheit bekommen sie zu retten. Ich werde dich dabei unterstützen. … er es mir versprochen hat. Das verspreche ich dir! Ruckartig lasse ich von Julian und Arashi ab, trenne so ihre Verbindung zu Kira. Jetzt höre ich sie also nur noch alleine. „Verlange das nicht von mir.“ „Es tut mir leid, Selest!“ Kira klingt mehr als aufrichtig. Es tut ihr leid. Dabei sollte es mir leidtun. Immerhin werde ich… „Ich kann das nicht“, hauche ich. Erste Tränen dringen aus meinen Augen. Sie fallen auf meine Hand, die ich zur Faust geballt habe. Was soll ich nur tun? „Ich werde es tun“, höre ich Ian sagen. Er erhebt sich von seinem Platz und drängt sich durch die, in ihrem Singsang vertieften, Phönix-Hexen. „Nicht!“, schreie ich ihn an. Er dreht sich zu mir. „Ich weiß dass sie deine Freundin war. Und ich weiß auch dass es dir widerstrebt es zu tun. Doch…“ „Sie ist unsere Hohepriesterin“, sagt Kostja. „Wir haben einst geschworen unsere Hohepriesterin zu beschützen. Doch ist niemand… nicht einmal eine Hohepriesterin, wichtiger als alle anderen es sind. Mache Entscheidungen die wir treffen, treffen wir für das übergeordnete Wohl. Ganz gleich, wie schwer es uns auch fallen mag.“ „Habt ihr es euch deswegen zur Aufgabe gemacht die Zodiac-Kräfte zu sammeln“, will Arashi von Kostja wissen. „Weil ihr verhindern wolltet das Edema sie bekommt?“ „Ganz recht.“ „Unser Vater wusste, dass er mit dieser Entscheidung unseren Zirkel verraten würde. Das er aus ihm verband und sogar gejagt werden würde, also machte er sich einen Namen als Hexenjäger. Doch jagte er ausschließlich nur die Hexen, die sich als Edemas treuesten Anhänger entpuppten. Kein unschuldiges Blut wurde je durch unsere Familie vergossen, Selest. Wir…“, Gabriel unterbricht seine Erklärung. Sein Vater fährt für ihn fort. „Wir entschuldigen uns nicht bei dir, wegen dem was wir dir antun wollten, Selest. Auch nicht, das wir Kira, unsere eigene Hohepriesterin, opfern wollten. Denn all das diente einem höheren Wohl. Dem Erhalt unseres Volkes, und der Welt in der wir leben.“ „Bitte Selest! Wir haben fast den Ausgang erreicht. Wer auch immer von euch es tun wird. Er sollte es schnell tun.“ Ich weiß nicht was ich tun soll. Ich weiß nicht wie ich mich entscheiden soll. Ich weiß… So vieles geht mir durch den Kopf. Alles was ich in den letzten Wochen mitgemacht habe, erscheint noch einmal vor meinem geistigen Auge. Dann sehe ich sie, Dad, Tante Fanny, Maik, Thea und Laura – meine Familie. Ich sehe Jolina, Constantin, Arashi, ja selbst Derek – meine Freunde. Dann gehen mir drei letzte Gedanken durch den Kopf: Kostja hat seinen Zirkel verloren! Kira hat ihre beste Freundin verloren! Und ich… ich werde eine gute Freundin verlieren, vielleicht sogar meine beste Freundin. Und doch würde ich das richtige tun. Genauso wie Kostja und Kira schon das richtige getan haben. – Meine Entscheidung steht also. Ich werde nicht zögern. Mit erschlossener Miene stelle ich mich auf und gehe auf die andere Seite des Altars. Ich stelle mich neben Julian, der mit Ian die Plätze getauscht hat. „Sag mir was ich tun soll“, bitte ich ihn. Er nickt mir zu und greift nach meiner linken Hand. Die rechte ergreift Arashi. „Ich sagte doch, ich werde stets an deiner Seite sein“, erklärt er sein handeln. Er schenkt mir ein Lächeln – welches ich erwidere – und nickt dann Julian entschlossen zu. Es ist also soweit. Ich schließe meine Augen und lasse mich von der Magie Julians leiten. Mit der Hilfe der beiden kann ich es schaffen, das weiß ich. „Ich danke euch!“, hören Julian, Arashi und ich, das letzte Mal Kiras Stimme. Dann ist die Verbindung zwischen uns zerbrochen. Es ist getan. Das Relikt, das Buch der Erinnerungen wurde versiegelt. Die Veränderung lässt auch nicht lange auf sich warten. Das einst golden schimmernde Buch schlägt seine Seiten zu und verfärbt sich schwarz. Zeitgleich hört der Singsang von Jolina und den anderen auf und sie fallen alle zu Boden. Das ist dann also das nächste Zeichen, welches uns zeigt, dass wir Erfolg hatten. Edemas Zauber, den sie über die Hexen hier gelegt hatte ist gebrochen. Wir haben es tatsächlich geschafft. Ich bedanke mich bei Julian und Arashi für ihre Hilfe. Nicke Kostja und seinen drei anderen Söhnen zu, ehe ich auch schon schnellen Schrittes zu meinem Dad und meiner Tante renne. Ich lasse mich neben sie fallen. Mein Dad ist der erste der seine Augen aufschlägt. Sofort falle ich ihm um den Hals und drücke ihn weiterhin zu Boden. Erst weine ich stumm – lehne meinen Kopf auf seine Brust – dann fließen die Tränen ununterbrochen. Ich spüre die starken Hände meines Dads auf meinem Rücken. Er drückt mir einen Kuss auf den Haarschopf und hält mich einfach nur fest. „Wir haben es geschafft“, nuschle ich in sein Anzugoberteil. „Wir haben das mir vorbestimmte Schicksal abgewendet. Und wir haben Edema besiegt.“ Und trotz allem, fühlt es sich nicht wie ein Sieg an. Winter 2016, le village de étoiles Selest Peterson Es ist jetzt ein viertel Jahr vergangen, seit wir Edema besiegt und somit unsere Welt vor einer bevorstehenden Tyrannei gerettet haben. Seit dem ist vieles passiert. Meine Tante wurde zur neuen Hohepriesterin unseres Zirkels ernannt und der Zirkel der Wicca-Hexen wurde ganz offiziell rehabilitiert. Jede einzelne Hexe und jeder einzelne Hexenmeister, genauso wie die Loup-Garou und Vampire wissen nun, dass es nicht Ileana und Alex waren, die den Krieg vor nun 18 Jahren begonnen haben, sondern Edema, die den Körper ihrer Tochter, Lady Antoniella, schon vor etlichen Jahren übernommen hatte. Außerdem wurde Kira vom Triumvirat als neue Hohepriesterin der Wiccas anerkannt und das, obwohl sie ihren Zirkel derzeit nicht leiten kann – das tut in ihrer Abwesenheit Kostja, dessen Familie ebenfalls rehabilitiert wurde. Er sagte selber, dass er diesen Posten nur vorübergehend einnehmen wird, da auserfrage steht, dass Arashi, Julian und ich einen Weg finden werden, um Kira aus dem Buch der Erinnerungen zu befreien. Es wäre doch gelacht, wenn wir es nicht schaffen würden. Doch die wichtigste Neuigkeit kommt zum Schluss. Arashi und ich sind seit Weihnachten letzten Jahres, sogar verlobt. Er hat mir einen wunderschönen Antrag gemacht, den ich selbstredend angenommen habe, nur mit der Bitte, dass wir solange mit der Hochzeit warten, bis Kira meine neue Familie, bestehend aus meiner alten, sowie Jolina, Constantin und Julian komplettiert. Apropos Familie… Derek hat eine Beerdigung, eines Königs, würdig erhalten und Paul wurde kurz danach von seinem Onkel adoptiert. Selbstverständlich hat der Kleine noch immer sehr mit dem Verlust seines großen Bruders zu kämpfen, aber wir alle helfen ihm damit umzugehen. Und wenn er nur halb so ist wie Derek, dann wird er das auch schaffen. Er wird eines Tages, einen wunderbaren Alpha abgeben. „Bist du schon sehr aufgeregt“, fragt mich Jolina. Sie sitzt auf Constantins Schoß und blickt von dort aus lächelnd zu mir rüber. „Es ist nur noch eine Minute, dann bist du ganz offiziell eine Phönix-Hexe.“ „Und wieder ein Jahr gealtert“, fügt Arashi dem grinsend hinzu. „Sei du lieber ruhig, Alter Mann.“ „Also wirklich, schämst du dich denn gar nicht, als 105 Jähriger, mit einer gleich 18 Jährigen zusammen zu sein?“ Arashi steckt seinem besten Freund die Zunge raus – wirklich sehr erwachsen – und vergräbt dann seine Nase in meinen Haaren. Ich drücke mich näher an seine Brust ran und nehme seinen süßlichen Duft war. Ein Blick auf meine Armbanduhr verrät mir, dass ich noch für 15 Minuten ein ganz gewöhnlicher Mensch sein werde. Ich bin sicher, ich werde dieses Leben vermissen, dennoch freue ich mich auf das kommende. Auch wenn mir sehr viel Arbeit bevorstehen wird. Das hat Jolina schon prophezeit. „Gleich ist es soweit, Leute“, freut sich Paul, dem erlaubt wurde der Geburt einer neuen Phönix-Hexe, mir, beizuwohnen. Aber auch nur, weil wir Xander versprochen haben ihn danach direkt nach Hause zu bringen. Und keiner hat vor sich daran nicht zu halten. Ein wenig aufgeregt verfolge ich die Ziffern auf meiner Digitaluhr. Gleich ist es soweit. „10… 9…“ „8… 7…“, stimmen die anderen mit ein. „6… 5… 4… 3… 2… 1…“ Meine Digitaluhr konnte noch nicht mal richtig auf den 14. Februar umschalten, da spüre ich auch schon die Flammen der Phönix-Hexen in meinem Inneren. Sie füllen mich gänzlich aus. Ich öffne meine Augen, die ich, schreckhaft wie ich bin, geschlossen hatte und auch in ihnen stehen die Flammen, das Zeichen meines Zirkels. Das Zeichen meiner Zugehörigkeit zu den Phönix-Hexen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)