Chronograph von -Zerschmetterling- ================================================================================ Kapitel 3: ----------- -3-   Die hölzernen Planken des Bodens waren komplett versengt. Überall waren dunkle Brandflecken, die die Umgebung zierten wie ein makabres Mosaik und die gelbe Tapete war über und über bedeckt mit Ruß, sodass man ihre Farbe nur noch erahnen konnte. Ein widerlich süßlicher Geruch, den ich nicht wirklich zuordnen konnte, lag in der Luft und verursachte ein beißendes Stechen in meiner Nase. Von meiner Position aus konnte ich nur einen Teil des Raumes einsehen, doch im Nachhinein wäre es mir sogar lieber gewesen, ich hätte gar nichts gesehen.   Die dunkelroten Vorhänge des Himmelbetts konnten nur einen Teil der Grausamkeit verbergen, die sich hinter ihnen versteckte. Schwarze Löcher waren in den Stoff gebrannt worden und gaben der Blick frei auf die Frau, die zwischen den Kissen und Decken lag. Friedlich und mit einem Lächeln auf den Lippen, so als würde sie lediglich schlafen, doch ich wusste, dass dem nicht so war. Sie war tot.   Genau wie die unzähligen anderen Menschen, die überall im Raum verteilt auf dem Boden lagen, erstarrt in ihren Bewegungen und teilweise bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Ihr Geruch drang in meine Nase und kitzelte unangenehm in meiner Kehle. Ich spürte, wie mir schlecht wurde und zwang mich den Blick abzuwenden. Schon viel zu oft hatte ich diese Szene sehen müssen und jedes Mal war es noch schlimmer als beim letzten Mal.   Bald schon tauchte ein Gesicht über mir auf. Es wirkte unnatürlich groß und auch wenn ich die Augen fest zusammenkniff, konnte ich es nur verschwommen wahrnehmen, so als würde mir irgendetwas die Sicht versperren. Große feste Hände griffen nach mir und hoben mich aus dem kleinen Gitterbett. Ich wehrte mich nicht dagegen und ließ mich von der Person aus dem Raum tragen. Weg von all den Leichen. Weg von dieser Grausamkeit. Weg von meiner toten Mutter.   Ein lautes Klopfen ertönte und ich fuhr erschrocken aus dem Schlaf hoch. Es dauerte einen Moment, bis ich die Orientierung wiedergefunden hatte und realisierte, dass ich in meinem Bett lag. Schweiß stand auf meiner Stirn und noch immer spürte ich die unterdrückte Übelkeit, die der Anblick der Leichen bei mir ausgelöst hatte. Wie immer war mein Traum unglaublich real gewesen und egal, was ich tat, die Bilder kamen wieder. Jedes Mal wachte ich mit diesem seltsam beklemmenden Gefühl auf, als wäre das alles mehr als nur die ausgekochte Fantasie meines Unterbewusstseins, und jedes Mal fühlte es sich so an, als ob mein Kopf jeden Moment explodieren würde.   Das Geräusch wiederholte sich. Diesmal deutlich lauter und ungeduldiger.  Vollkommen gerädert schlug ich die Decke zurück und tapste in Boxershorts nach draußen auf den Flur. Ich hatte meine Hand bereits auf dem Türgriff, als ich mich schließlich doch noch mal besann. Sakura hatte mich bereits mehrmals regelrecht zusammengefaltet, weil ich jedem einfach so die Tür öffnete, und gewissermaßen hatte sie Recht, wenn sie mich darum bat, vorsichtiger zu sein.   „Wer ist da?“, fragte ich und legte gleichzeitig mein Ohr gegen das Holz.   Einen Spion hatte ich blöderweise nicht. Der hätte mir die Fragerei ersparen können.   „Ich bin’s, mach auf.“   Ich drehte den Schlüssel im Schloss und öffnete die Tür einen Spalt weit, sodass Sasuke eintreten konnte. Wie eine Katze schlüpfte er hindurch. Vermutlich war er mal wieder ungeduldig geworden und hatte beschlossen mir Dampf zu machen. Geduld gehörte nicht gerade zu seinen Stärken und dementsprechend widerstrebte es ihm morgens vor der Wohnung auf mich zu warten. Dennoch bestand er darauf, mich jeden Tag zur Uni zu begleiten. Er konnte richtig anstrengend sein.   „Hast du verschlafen?“, wollte er wissen, nachdem er mein morgendliches Outfit mit einem abfälligen Blick bedacht hatte. Müde fuhr ich mir durch die Haare und zuckte mit den Schultern.   „Schätze schon.“   Dann ging ich hinüber zur Kaffeemaschine und legte ein neues Pad ein. Die Kopfschmerzen machten mich wahnsinnig und ich brauchte jetzt ganz dringend etwas, um wach zu werden. So wie es aussah, konnte ich mir die Vorlesung sowieso schenken, also hatte ich noch etwas Zeit. Routiniert betätigte ich die Knöpfe und ignorierte dabei die mörderischen Blicke, die Sasuke mir zuwarf.   „Du solltest das nicht trinken“, warf er ein.   Seit die beiden vor einer Woche aufgetaucht waren, schrieben sie mir in einer Tour vor, was ich zu tun oder lassen hatte und auch, wenn es größtenteils zu meiner eigenen Sicherheit war, riss mir allmählich der Geduldsfaden. Ich hatte keine Lust mir ständig Vorschriften machen zu lassen, was meinen Kaffeekonsum betraf. Schon Kakashi hatte bei dem Thema nie locker gelassen und das obwohl ich ihm immer wieder klar gemacht hatte, dass er nichts an meinen Gewohnheiten ändern würde. Sasukes überheblicher Tonfall war nur noch die Kirsche auf der Sahnetorte.   Demonstrativ griff ich nach der Tasse Kaffee, schmiss zwei Würfel Zucker hinein, damit das Zeug überhaupt trinkbar war und wollte mir gerade einen großen Schluck daraus genehmigen, als ich plötzlich wie gegen einen unsichtbaren Widerstand traf. Mitten in der Bewegung hielt ich inne. Meine Hand bewegte sich nicht mehr. Ich starrte Sasuke an.   „Lass das!“, fauchte ich.   Er trat einen Schritt auf mich zu, sodass er nun ganz dicht vor mir stand. Seine Statur war imposant. Obwohl er gerade mal einen Zentimeter größer war als ich und obwohl er nicht sehr breit gebaut war, strahlte er eine unglaubliche Stärke aus. Seelenruhig griff er nach der Tasse und nahm sie mir aus der Hand. Ich konnte es nicht verhindern.   „Hör endlich auf dieses Zeug zu trinken“, befahl er.   In einer schnellen Bewegung kippte er den Rest des Kaffees in die Spüle und ich sah wehmütig dabei zu, wie er in einem kleinen Strudel im Abfluss verschwand.   „Wenn du wach werden willst, mach Sport oder trink Schwarzen Tee.“   Er stellte die Tasse zurück auf die Theke und im selben Moment spürte ich, dass ich meine Hand wieder bewegen konnte. Wütend funkelte ich ihn an.   „Es kann dir doch egal sein, ob ich Kaffee trinke oder nicht. Ich mach das schon mein halbes Leben lang und daran wirst auch du nichts ändern.“   „Das ist mir nicht entgangen“, antwortete er verächtlich. „Aber auch wenn es dir vielleicht nichts ausmacht – mir schon. Von deinem Kaffee wird mir schlecht.“   Verblüfft sah ich ihn an. Das hatte ich nicht gewusst.   „Dir wird schlecht, wenn ich Kaffee trinke?“   Er nickte und verschränkte dann die Arme vor der Brust. Es schien ihm ganz und gar nicht zu gefallen, eine Schwäche zugeben zu müssen. Dass Wächter keinen Kaffee vertrugen, wusste ich bereits von Kakashi, aber dass es auch Auswirkungen auf ihn hatte, wenn ich welchen trank, hatte ich nicht geahnt.   „Wenn ich Kaffee trinke wird dir also sofort schlecht? Oder nur wenn du mir dabei zusehen musst?“, hakte ich neugierig nach.   An seinem verbissenen Gesichtsausdruck konnte ich erkennen, dass es ganz eindeutig nicht sein Thema war, aber ich war viel zu neugierig, um es jetzt einfach fallen zu lassen.   „Nicht sofort“, antwortete er knirschend. „Die Wirkung kommt zeitverzögert, so wie alle Effekte, die vom Menschen auf den Wächter übertragen werden. Das gibt uns die Chance zu reagieren.“   Mein Interesse war sofort geweckt.   „Zeitverzögert?“, wiederholte ich.   Er nickte nur und schwieg dann wieder. Von dieser Übertragung hatte mir Kakashi bereits erzählt, allerdings hatte ich mir darunter bisher nicht wirklich etwas vorstellen können. Soweit ich wusste, war der Zustand eines Wächters stark von dem des Menschen abhängig, mit dem er verbunden war. Bei Sasuke und mir war das Ganze allerdings nochmal ein Sonderfall. Ich war ein Jinchuriki und dementsprechend wusste ich nicht, inwieweit wir eine normale Wächter-Mensch-Beziehung führten.   „Ist das bei allen so?“, fragte ich.   „Bei allen“, bestätigte er. „Aber es ist immer unterschiedlich wie lange es dauert, bis die Wirkung auch beim Wächter angekommen ist und es hängt von der Distanz ab. Wie genau das funktioniert, kann ich dir auch nicht erklären.“   Für ihn war das Thema damit offensichtlich abgehakt und er begann damit ungeniert in meinen Schränken zu wühlen. Obwohl wir uns gerade mal seit einer Woche kannten, bewegte er sich in meiner Wohnung bereits wie ein langjähriger Freund und manchmal verschlug mir seine Dreistigkeit schlicht und ergreifend die Sprache. Ich konnte einfach nicht glauben, dass ausgerechnet er mein Wächter sein sollte. Sakura war im Gegensatz zu ihm viel unkomplizierter und auch weitaus sympathischer, man konnte fast behaupten, dass wir uns eigentlich ganz gut verstanden, aber nein, natürlich hatte ich ausgerechnet das unsympathische Arschloch erwischt.   „Ich nehme an, wir gehen nicht mehr in die Vorlesung?“, fragte Sasuke.   Als er eine Packung Teebeutel mit Apfelgeschmack aus dem Schrank zog, rümpfte er angewidert die Nase. Mittlerweile wusste ich, dass er, was Tee anbelangte, einen sehr erlesenen Geschmack hatte, aber es war mir egal. Immerhin hatte ich ihn nicht eingeladen.   „Nein, gehen wir nicht“, bestätigte ich.   Noch immer müde und wohlgemerkt ohne meine morgendliche Tasse Kaffee schlurfte ich zurück ins Schlafzimmer. Dort würde ich mir zuerst einmal etwas anziehen. Nicht, dass ich mich vor Sasuke schämte, aber allmählich wurde es doch ein wenig frisch und ich konnte ja schlecht den ganzen Tag in Boxershorts herumlaufen. Wahrscheinlich würde ich trotzdem nicht nach draußen gehen, aus dem einfachen Grund, dass mein Kopf noch immer höllisch wehtat.   „Hast du eine Kopfschmerztablette?“, rief ich durch die halb angelehnte Tür.   Sasuke würdigte mich nicht einmal einer Antwort, obwohl ich mir sicher war, dass er mich verstanden hatte. Das bedeutete dann wohl nein.   „Arschloch“, schnaubte ich.   Zurück in der Küche setzte ich mich dann ohne ein weiteres Wort an den Tisch und zog in Ermangelung einer anderen Beschäftigung eines meiner Lehrbücher zu mir her. Vielleicht würde Sasuke ja wieder gehen, wenn er sah, dass ich zu tun hatte. Immerhin wollte er mich ursprünglich nur für die Vorlesung abholen und das hatte sich nun, nachdem ich verschlafen hatte, offensichtlich erledigt. Lustlos blätterte ich die Seiten um und warf immer mal wieder eher alibimäßig einen Blick auf den Text. So richtig blieb von dem, was ich da las, so gut wie gar nichts hängen, aber wenn man es genau nahm, würde ich die Klausuren dieses Semester ja sowieso nicht mitschreiben.   „Sozialpsychologie?“, obwohl er eine Frage gestellt hatte, klang Sasukes Stimme eher desinteressiert. „Wieso nicht irgendetwas Sinnvolles? Physik oder so.“   Meine Abneigung gegen ihn wuchs mit jeder Minute, die wir miteinander verbrachten mehr und mehr. Konnte er nicht einfach mal die Klappe halten? Normalerweise war er doch auch nicht so gesprächig, aber wenn es darum ging an mir herumzukritisieren, fielen ihm auf einmal tausend Sachen ein, die er loswerden wollte. Die Sache mit dem Kaffee hatte schon gereicht, und jetzt provozierte er mich schon wieder. Denn das und nichts anderes waren seine Aussagen. Pure Provokation.   „Was soziales Verhalten betrifft, könntest du auch noch einiges lernen“, zischte ich ungehalten.   „So?“, er zog eine Augenbraue nach oben und griff nach dem Buch.   Dann lehnte er sich mit dem Rücken gegen die Küchentheke und begann zu blättern. Eine Zeit lang schien es nichts zu geben, was seine Aufmerksamkeit erregen könnte, doch schließlich blieb sein Blick doch an einer Seite hängen.   „Tit-for-Tat-Strategie“, las er laut vor. „Man handelt in der ersten Runde kooperativ und dann, je nachdem wie sich der Gegner verhält, ebenfalls kooperativ oder kompetitiv. Ist das deren Ernst?“   Ich zuckte mit den Schultern.   „Klingt doch plausibel.“   Mir war nicht ganz klar, worauf er hinauswollte, und ehrlich gesagt hatte ich auch keine Lust, mich mit ihm über die Sinnhaftigkeit meiner Studieninhalte zu streiten. Meistens konnte man es ihm sowieso nicht Recht machen und er suchte einfach nur nach einem Grund, um sich über irgendetwas zu beschweren. Eine Diskussion war da komplett überflüssig.   „Daran ist absolut nichts plausibel“, widersprach er mir überzeugt, gleichzeitig klang sein Tonfall so, als würde er mit einem kleinen Kind sprechen. „Das funktioniert vielleicht im Spiel, aber in der Realität bist du mit so einer Strategie aufgeschmissen. Wenn du immer das Gleiche machst wie dein Gegner, wirst du absolut durchschaubar. Man kann nur dann gewinnen, wenn der Gegner nicht weiß, was der nächster Schritt sein wird.“   Diesmal zog ich eine Augenbraue nach oben und war gleichzeitig stolz darauf, dass ich es konnte. Meiner Meinung nach nahm Sasuke dieses Thema einfach viel zu ernst.   „Vielleicht kann ich meinen Gegner ja so zur Kooperation bewegen“, warf ich dennoch ein.   Er zischte genervt. Aus irgendeinem Grund wurde er zunehmend aggressiver. Mit viel zu viel Wucht nahm er die Packung Teebeutel aus dem Schrank und ließ die Tür unsanft wieder zufallen. Offensichtlich hatte er sich doch dazu entschieden, mit dem minderwertigen Tee vorlieb zu nehmen.   „Schwachsinn“, schimpfte er dann. „Hast du schon mal was von Proteus gehört? Der Typ hat seine Feldzüge ausgewürfelt und hat sie dadurch komplett dem Zufall überlassen. Seine Feinde hatten keine Ahnung, was er als nächstes machen würde und auf diese Weise hat er sie besiegt. Das nenne ich eine Strategie. Aber sowas bringt man euch in eurem tollen Studium anscheinend nicht bei.“   Ich stand auf und riss ihm unsanft das Buch aus der Hand. Für heute hatte ich definitiv genug blöde Kommentare von seiner Seite gehört. Als sich unsere Hände berührten, spürte ich erneut einen unangenehmen Stromschlag und hätte es beinahe fallen gelassen. Erschrocken sah ich ihn an und zum ersten Mal wich er meinem Blick aus. Er hatte es also auch gespürt.   „Du hältst also Auswürfeln für eine gute Strategie?“, griff ich doch nochmal das Thema auf, um die seltsame Situation zu überspielen.   Ein dunkler Schatten legte sich über sein Gesicht. Langsam kam er einen Schritt näher auf mich zu und blieb dann ganz dicht vor mir stehen. Ich hatte das Gefühl, dass ich seine Präsenz mit jeder Faser meines Körpers spüren konnte und obwohl es ganz eindeutig etwas Bedrohliches hatte, war da gleichzeitig ein seltsames Kribbeln.   „Hast du dir schon mal angeschaut, wie ein Hase vor dem Fuchs davon läuft, Naruto?“, seine Stimme klang dunkel und irgendwie angsteinflößend. „Warum wohl rennt er im Zickzack und nimmt nicht einfach den kürzesten Weg zur Flucht?“   Seine dunklen Augen bohrten sich tief in meine und hielten mich gefangen. Gerade hatte ich das Gefühl, dass ich der Hase war und er der Fuchs, mit dem Unterschied, dass man vor ihm nicht wirklich fliehen konnte. Nicht mit seiner Fähigkeit. Nicht, wenn er wusste, wo man versuchte, sich zu verstecken. Mein Herz schlug schneller und ich schluckte das seltsame Gefühl herunter, dass seine Nähe bei mir auslöste. Die Antwort lag auf der Hand.   „Weil der kürzeste Weg voraussehbar wäre.“   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)