24 Farben der Liebe von Evilsmile (Adventskalender 2015) ================================================================================ 10. Türchen: Löwenherz ---------------------- Es ist der vertraute Klang deiner Stimme, die ganz weit weg scheint, wie hinter einer dicken Schallmauer. „Nicht, wahr, Leo?“, sagst du, und verschwommene Lichtflecke zwängen sich zwischen meine Wimpern. Du drückst ganz sachte meine Hand, und obwohl mich Schmerz im Kopf beißt, als ich die Augen öffnen will, reiße ich sie dennoch auf. Muss ein paarmal blinzeln, bis dein Schemen klare Gestalt annimmt. Dann ist auch dein Gesicht deutlich fokussiert. Dein Chorknabengesicht mit den Pausbacken, den vollen roten Lippen und rotblonden Locken, die dir in die Augen ragen. Umgeben von all dem Weiß bist du mein Prinz auf dem Ross, der mich wachgeküsst hat in einem hellen Garten, wo es nach Blumen duftet. „Leo. Bist du wach?“, rufst du und deine Miene erhellt sich. „Samuel“, krächze ich heiser und räuspere mich um meine Kehle freizumachen. Du bist das Erste, das Klarste und Strahlendste nach einem langen verschwommenen Traum, der von Schmerz geprägt war. An die Details erinnere ich mich nicht, aber das ist vielleicht auch besser so. „Schön dich zu sehen. Wo bin ich? Was ist passiert?“ Deine Lippe bebt und du ringst um Fassung. Tränen laufen dir die Wangen hinab, weil du ein wahres Sensibelchen bist. Ich bemerke, dass in meiner Hand ein Schlauch endet, eine Infusion. Und ein Stück von meinem Kopfverband ragt in mein Blickfeld. Ich bin im Krankenhaus. Aber du bist da. Alles wird gut. „Oh Mann! Fünf Tage sind vergangen seit der bösen Nacht… Deine Familie hatte solche Angst um dich! Und wir auch! Wir waren abwechselnd bei dir… Gott, Leo, wenn ich dich verloren hätte, ich will es mir nicht mal vorstellen! Das ist alles so schrecklich…Du bist ja quasi wegen mir hier…“ Du wischst dir mit einem Ärmel die Tränen weg und lässt dafür meine Hand los. „Ich kann es immer noch nicht begreifen, wie jemand so ein Arschloch sein kann und sowas tut!“ „Erzähl mir, was passiert ist, Samuel“, rede ich ruhig auf dich ein. Ich befand mich an der Schwelle des Todes und du bist es, der jetzt beruhigt werden muss. Typisch du. So süß. „Brauchst du was? Soll ich eine Schwester holen?“ „Nur dich“, antworte ich und die Wehmut kann man deutlich aus meiner Stimme heraushören. Wahrscheinlich zögerst du daher einen Augenblick, bevor du sagst: „Wir waren doch weg, am Samstagabend, wollten nach der Disco nach Hause und haben auf die U-Bahn gewartet. Puh... Dann kam dieser besoffene Typ daher, hat uns angepöbelt. Wenn du nicht gewesen wärst, und dich dem Angreifer todesmutig in die Quere gestellt hättest, dann läge vielleicht ich oder Joshua jetzt hier, oder sogar drei Meter tiefer. Ich kann es echt nicht fassen, dass der Typ dir eine Glasflasche übergezogen hat! Und weißt du was? Du stehst sogar in der Zeitung! Sie haben den Überfall als genau das angeprangert, was er war: Hass und Homophobie! Und dich für deine heldenhafte Tat geehrt. Die Leute haben dir Blumen geschickt, ohne dass sie dich kennen, ist das nicht Wahnsinn?!“ Du bleckst dir die Lippen und deine Augen funkeln vor Stolz. Ich schiele zu den bunten Sträußen und Briefkuverts auf dem Tisch und wühle in meinem Gedächtnis, doch das was du erzählst, hört sich absolut nicht nach mir an. Ich kann mich nicht mehr an Samstag erinnern oder an die Disco. Auch nicht an den Angreifer oder den Schlag, den er mir verpasst hatte. Vielleicht war ich zu betrunken gewesen. Ich befühle meinen Kopf, den Verband und das dicke Pflaster an meiner Schläfe und seufze. „Leonie, meine Leo – du machst deinem Namen alle Ehre. Tapfer und mutig wie eine Löwin, sich so einem Kerl, einem halben Tier, entgegenzustellen! Du bist meine Heldin! Ich schulde dir wohl einen Riesengefallen…“, redest du weiter. Ich platze schneller heraus als ich denken kann: „Sei mein Freund, Samuel!“ Du kicherst. „Ich bin dein Freund, seit dem Kindergarten. Und du meine Freundin! Nein, du bist eher wie meine große Schwester, du hast immer schon auf mich aufgepasst.“ Und du küsst mich auf die Wange. Doch mein Gesichtsausdruck bleibt hart. Ich habe es satt, sie verstecken zu müssen, meine Gefühle für dich, ich kann es nicht länger ertragen. Deine Freundschaft genießen und warten und hoffen, ohne jemals die geringste Chance bei dir zu haben. „Nur mein Freund! Aber ich will mehr! Ich liebe dich, Samuel!“ Als du merkst, dass ich die Faust geballt habe und gegen die Tränen ankämpfe, weil mein Herz brennt, weichst du ein Stück vor mir zurück. „Leonie“, sagst du erschrocken, was mich noch wütender macht. Diesen hässlichen Namen zu hören, den ich am liebsten abkürze; ihn gerade jetzt in dieser Situation zu hören, wo ich am Boden zerstört bin und noch dazu aus deinem Mund! „Du machst doch Witze, oder? Na sicher tust du das. Du bist noch nicht wieder auf der Höhe nach der Gehirnerschütterung, das ist ganz normal...“ „Schade, dass ich nicht gestorben bin“, sage ich leise, weil ich befürchte, dass mein Schädel wieder aufplatzt, wenn ich schreie, und Blut herausschießt wie Lava aus einem Vulkan. Wie blind und blöd bist du eigentlich! Du hast nie etwas bemerkt. Schwafelst ständig was von inneren Werten, von Toleranz und Vielfalt, dabei reduzierst du mich doch genauso auf das Äußere, auf meinen Körper, eine Hülle, die nun mal weiblich ist. Wo wir uns im Geiste doch gleichen! Du setzt mich schachmatt, bevor die Schlacht überhaupt begonnen hat. Denn es ist eine Schlacht, für die ich die falsche Rüstung trage. Ganz bedrückt stehst du da und nestelst an deinen zu langen Ärmeln herum. „Es tut mir wirklich Leid, dass du dir da was erhoffst… Jedenfalls habe ich dich sehr gerne, und das beste Weihnachtsgeschenk hast du mir bereits gemacht, indem du lebst und gesund bist, Leo. Du bist die beste Freundin, die man sich wünschen kann, und platonisch liebe ich dich über alles. Aber du verdienst einen Kerl, der kein halbes Mädchen ist.“ Du reichst mir ein Taschentuchpäckchen, auf dessen Verpackung Schneeflocken gedruckt sind und meinst dann, dass du jemanden holst. Dafür bin ich dankbar. Dass du dich jetzt zurückziehst. Der Wutanfall hat mich erschöpft und ich schließe die Augen. Wenn ich wieder erwache, dann hast du hoffentlich alles vergessen und wir können wieder ganz normal miteinander reden. ~*~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)