Between Our Sins von MissZemy ================================================================================ Kapitel 1: Life --------------- Die Sekunden zogen sich, jede von ihnen fühlte sich an wie Stunden und Minuten schienen länger zu dauern als Jahre. Es war Donnerstag, kurz vor der Mittagspause und die Zeit schien stillzustehen. Die Luft im Vorlesungssaal war trotz der herbstlichen Temperaturen draußen unerträglich warm und verbraucht. Ich musste ein paar Mal tief durchatmen, um nicht endgültig einzuschlafen. Meine Gedanken drifteten langsam in unergründliche Sphären ab. Rechtsgeschichte war wohl das beste Fach um über die Unendlichkeit des Universums nachzudenken oder um sich zu fragen: Wie es wohl wäre ein Hund zu sein? Oder vielleicht ein Fisch? Ich stellte mir selbst das Leben einer Amöbe interessanter vor, als diese Vorlesung. Dem Professor schien rein gar nichts dran zu liegen uns etwas beizubringen, er nuschelte seine Vorlesung vor sich hin mit einer möglichst monotonen Stimme. Könnte ich die Zeit zurückdrehen, ich hätte jedes andere Wahlfach genommen. Jedes! Verdammt ich hätte sogar Kirchenrecht genommen und hätte mir einmal in der Woche einen Vortrag darüber angehört wie Gott den Menschen das Rechtssystem geschenkt hat, was keinesfalls Inhalt des Lehrplans war. Die Dozentin war wohl eine entlaufene Amische oder so was. Ich wäre wohl ihr Lieblingsstudent geworden. Sie würde mich zu ihren Bibelsonntagen und Tee mit ihren bibelfanatischen Freunden einladen. Ich schüttelte mich innerlich vor dieser Vorstellung. Und dass alles nur weil meine Eltern mich mit einem so wundervollen Namen gesegnet haben. Wenigstens haben sie mich nicht Moses genannt... „Abel“, stöhnte Black. „Wie spät ist es?“ Er benutzte sein Rucksack als Kopfkissen und versuchte eigentlich zu schlafen. Warum er ausgerechnet heute nicht fehlte, war mir ein Rätsel. Black durfte man sich als eine Art menschlichen Bären vorstellen, immer in schwarz gekleidet, viel zu massiv, mit langen schwarzen Haaren und einem Vollbart. Kurz gesagt das genaue Gegenteil von mir, blond, relativ klein, mit hellen, brauen Augen. Vielleicht hing er auch nur mit mir ab, weil ich ihn im Vergleich noch bäriger aussehen ließ. Er war auch um einiges älter als ich. Wie alt er genau war wusste ich allerdings genauso wenig wie seinen richtigen Namen. Alle nannten ihn Black, also machte ich mit. Ich sah auf mein Handy. „Noch 15 Minuten.“ Es kam ein tiefes Grummeln zurück. Ich legte meinen Kopf in den Nacken, lies meine Arme schlaff herunterhängen und starrte sie Decke an. Es war nicht das erste Mal, dass ich sie so ausführlich studierte. Langsam kannte ich jeden Riss in jeder Kachel, jede Lampe... Irgendwie hab ich mir, dass Uni-Leben interessanter vorgestellt oder zumindest interessanter als das Gymnasium. Ohne Frage es war etwas komplett anderes und im ersten Semester schien mir alles noch so neu und spannend. Aber jetzt war die dritte Woche des zweiten Semesters und alles schien wieder zum alltäglichen grauen Brei zu verkommen. Und um ehrlich zu sein, außer des Schulwegs hatte sich für mich nicht viel verändert. Ich lebte immer noch bei meinen Eltern, höre mir stundenlang Vorträge über Sachen an die mich nicht im geringsten interessierteren und existierte ansonsten lediglich vor mich hin. Die Leute waren andere. Keiner schien sich für die anderen zu interessieren, die Professoren und Dozenten interessierten sich nicht für ihre Studenten, Hauptsache sie störten ihre Vorlesungen nicht und den Studenten war eh alles egal. Ich war ziemlich zufrieden mit dieser Situation. Ob man nun mit einem BMW oder einem Fahrrad zu Uni fuhr war vollkommen irrelevant, denn die eine Hälfte der Leute hier konnte sich den selben oder sogar einen besseren Wagen leisten und die andere Hälfte war wiederum so arm, dass sie größere Probleme hatten als fremde Autos zu beneiden. Es kam Bewegung in den Saal, der Prof hatte die Vorlesung wohl beendet. Endlich. Ich stand auf, schob mein Notizbuch in die Umhängetasche und stieß Black leicht an die Schulter, es war Zeit aufzuwachen. Es war eigentlich alles so wie immer. Wir liefen zusammen zur Mensa, kauften uns das Horrorgericht des Tages (Heute undefinierbarer Brei mit Schuhsohle) und Black erzählte mir von seinen Abenteuern vom letzten Wochenende, die er mir eigentlich schon lange erzählt haben wollte, denn bald stand ja schon das nächste Wochenende an. Man würde es Black wohl nicht ansehen, aber er war die größte Labertasche die ich kannte. „...und der eine Typ war wirklich schon so zu, dass er seinen Kumpel angepisst hat, weil er dachte es wäre ein Baum. Und wie alt war der? 14 oder so. Diese Jugendlichen heute sind alle zum in die Tonne kloppen.“, beschwerte sich Black. „Die Sechstklässler in meiner Schule haben in den Pausen gekifft, mehr muss man wohl nicht dazu sagen...“, pflichtete ich ihm bei. „Ehrlich, wenn ich nochmal betrunkene Minderjährige sehe, schiebe ich ihnen, ihre beschissenen Bierflaschen in den Arsch!“ Ich lachte und nickte. Wo er Recht hatte, hatte er Recht... Unser Gespräch wurde allerdings unterbrochen, denn ein junger Mann kam an unseren Tisch, stützte sich mit beiden Händen an der Stirnseite ab und grüßte freundlich. „Na Black, morgen einen trinken gehen auf der Karli?“,warf er in den Raum. Ein Donnerstag wie jeder andere. Es war schon sehr selten das Black nicht irgendwohin eingeladen wurde. Soweit ich wusste, hat Black früher als Türsteher von irgendeinem Club gearbeitet und kannte daher den halben Campus, noch bevor er sich überhaupt in der Uni eingeschrieben hat. Was auch bedeutete das er für einige Rabatte und VIP Plätze sorgen konnte. Wenn man sich nun wunderte was die Karli war, so musste ich zugeben, dass ich es selber nicht so genau wusste. Naja ich wusste schon, dass es die Karl-Liebknecht-Straße war und auch, dass es ein Szenenviertel war, ja ich konnte mir sogar vorstellen wie es an einem Samstagabend dort zuging. Was ich, aber damit sagen wollte war, dass ich noch nie dort gewesen bin und meine Vorstellung davon nur auf Blacks Erzählungen aufgebaut habe, weswegen sie mir weniger realer Ort als vielmehr ein eigenartiges Wunderland erschien. Es war nichts was man beschreiben konnte. Es war bloß eine Straße und dann doch wieder nicht. Eigenartig. Keine sehr befriedigende Antwort, ich weiß. Ich wurde aus meine Gedanken gerissen. Ein festen Griff auf meiner Schulter, bevor ich kurz durchgeschüttelt wurde. „Was?“, frage ich leicht erschrocken und sah Black verwirrt an. „Ich sag dir doch, er ist wieder in irgendwelchen astrale Sphären unterwegs gewesen. “, erkläre Black dem anderen Studenten am Tisch. Dieser lächelte und war freundlich genug seinen Frage an mich zu wiederholen: „Bist du ein Erstsemester?“ Jetzt sah ich ihn verwirrt an. „Nein, ich hab letztes Sommersemester angefangen, ist jetzt mein zweites Semester.“ „Oh Sorry, du siehst bloß so...“ Er legte eine kurze Denkpause ein. „.. so Erstsemester aus.“ „Genau so verloren?“ „Das vielleicht nicht unbedingt...ach egal.“ Ich verstand nicht wirklich voraus er hinaus wollte. „Du kannst am Freitag auch gern mitkommen, wenn du nichts anderes vorhast.“ Die Einladung sollte wohl als Entschuldigung dienen. „ Danke, für das Angebot, aber ich muss mal schauen ob was ansteht. Wäre natürlich schön wenn's klappt.“, log ich mit einem Lachen. Ich hatte absolut nichts vor und hatte auch gar keine Lust darauf. „Cool, komm einfach 20 Uhr ins Waldi, wenn du Zeit hast.“ Ich nickte so als würde ich genau wissen was und wo das war. „Klar.“ Er führte mit Black noch ein kurzes Gespräch darüber wer sonst noch kommen soll, wobei mir keiner der Namen irgendwas sagte, verabschiedete sich und ging. „Ich bin schwer beeindruckt, dass müsste das erste Mal gewesen sein, dass ich dich mit jemanden anderen hab reden hören“, sagte Black in einem übermäßig überraschten Tonfall und gab mir einen ermunternden Klaps auf den Rücken. Dafür bekam er einen Schlag gegen die Schulter. Er hatte schon Recht, aber man musste es doch nicht aussprechen oder? Die gesamte nächste Vorlesung, die zum Glück für heute auch die letzte war, verbrachte ich damit mir gute Ausreden zu überlegen um am Freitag nicht rausgehen zu müssen . Sie waren, aber weniger für den Typen der mich eingeladen hat oder für Black gedacht. Ich versuchte eigentlich nur mich selbst zu überzeugen, dass es eine gute Idee war Zuhause zu bleiben. Das Leben war viel komplizierter, wenn die verschiedenen Teile deines Hirn gegeneinander arbeiteten. Einerseits wusste ich, dass ich mich nicht mein ganzes Leben lang in meinem Zimmer verkriechen sollte. Denn irgendwann würde ich,dann komplett allein da stehen, was auch nicht in meinem Interesse war. Anderseits waren Menschen, besonders fremde Menschen, für mich ziemlich anstrengend. Ich konnte nicht einfach auf Leute zugehen und sozial sein, sondern hoffte immer darauf, dass sie mich ansprechen und dann vielleicht noch versuchen ein Gespräch aufzubauen, welches über Smalltalk hinausgeht. Ungefähr so ist es mit Black abgelaufen. Er hat sich in der ersten Vorlesung neben mich gesetzt und hat einfach angefangen darüber zu erzählen, dass er ja komplett vergessen hatte, dass heute die Uni anfängt. So einfach konnte kennenlernen sein. Mein Hirn wollte sich einfach nicht auf eine Vorgehensweise einigen und stritt immer noch, während ich bereits zu meinem Auto lief. So langsam hatte ich selbst keine Lust mehr darüber nachzudenken und versprach mir es morgen ,dann endgültig zu entscheiden. Ich schmiss meine Tasche auf den Beifahrersitz und stieg ein. In der Innenstadt Auto zu fahren war wirklich nur etwas für Masochisten oder wirklich verzweifelte Seelen, wie mich. Meine einzige andere Option wäre ein Zug, der einmal in der Stunde fährt, also ziemlich suboptimal. Wobei man sich fragen sollte, ob man eine Fahrzeit von 50 Minuten mit dem Auto im Vergleich dazu als optimal empfand. Außerdem entsprach Zug fahren nicht unserem „sozialen Status“, wie es meine Eltern sagen würden. Denn wenn es zwei Dinge gab die meine Eltern liebten, dann waren es Geld und zeigen das man Geld hat. Wie würde es bloß aussehen, wenn ich mit dem Zug fahren müsste? Sie haben mir den BMW ja nicht umsonst zum Schulabschuss geschenkt. Diese Lebenseinstellung zeigte sich auch an unserem Haus. Ein breites 2-stöckiges Einfamilienhaus mit großem Garten, Terrasse, Garage und einem kleinen Wintergarten. Ein Pool war gerade in Planung. Keiner der an diesem Bau vorbei ging konnte auch nur einen Moment daran zweifeln, dass wir Geld hatten. Zuhause hatte ich nicht besonders viel Lust irgendwas zu tun. Irgendwann musste ich noch meine Notizen von heute abschreiben, die ich lustlos hin gekrakel habe, sonst konnte ich sie spätestens morgen nicht mehr lesen. Aber das hatte noch etwas Zeit und ich wollte gerade keinen weiteren Gedanken an Jura verschwenden. Ich könnte auch den zweiten Band von „Das Lied von Eis und Feuer“ zu Ende lesen, welchen ich vor Tagen begonnen hab. Meine Tante hatte mir zu Weihnachten die gesamte Reihe geschenkt. Doch bisher hab die Bücher lediglich dekorativ in einem meiner viel, zu vollen Regale herum gestanden und Staub gefangen. Nur auch dazu hatte ich nicht besonders viel Lust, obwohl das Buch gar nicht schlecht war. Also gammelte ich auf dem Bett vor mich hin. Es war schon irgendwie traurig wie hobbylos ich war. Früher haben mich meine Eltern bei allen möglichen Vereinen und Musikschulen eingeschrieben. Das meiste davon hab ich, aber relativ schnell wieder aufgegeben. Und mit dem, was übrig geblieben ist, hab ich in der zweiten Sekundarstufe, wegen Zeitmangel aufgehört und nicht wieder die Motivation gefunden damit anzufangen. Klavier konnte ich wenigstens noch Zuhause üben. Fechten hingegen, habe ich wahrscheinlich schon vollkommen verlernt. Pünktlich 19 Uhr gab es Abendessen. Es gab kein Wenn und Aber, um 19 Uhr wurde zusammen gegessen, meine Eltern bestanden darauf. Wenn ich das Abendessen mit etwas vergleichen müsste, dann würde ich wohl Rechtsgeschichte sagen. Ich war mindesten genau so abwesend und wartete drauf gehen zu dürfen. Das ganze Geschehen folgte einer, fast schon rituellen, Abfolge. Begonnen wurde mit der obligatorischen Frage an mich: „Abel, wie war den die Uni heute?“ Worauf ich meist etwas entgegnete wie „So wie immer“ oder „Nichts neues“. Damit war mein Redebeitrag für diesen Abend vorbei und das Schauspiel konnte weitergehen. Als Nächstens beschwerte sich meine Mutter über ihre Arbeit und die unfähigen Angestellten in der Kanzlei. Mein Vater nickte. Jetzt beschwerte er sich und meine Mutter war mit dem Nicken an der Reihe. Nun folgte eine Unterhaltung über das Weltgeschehen und darüber wie es mit dieser Welt langsam zugrunde ging. So klang es langsam aus, bis es durch den symbolischen Akt des Aufstehens meiner Eltern endgültig beendet wurde. Doch heute konnte dieses Vorführung nicht stattfinden, ich hatte meinen Text vergessen. „Wie war dein Tag heute, Abel?“, fragte meinen Mutter. „Ich wurde am Freitag eingeladen mit ein paar Kommilitonen etwas trinken zu gehen.“, antwortete ich aus einem unerklärlichen Drang heraus, heute etwas mehr sagen zu müssen. Hm, das war so nicht ganz richtig. Ich suchte immer noch einen Grund für mich am Freitag Zuhause zubleiben, auch wenn es ein Verbot war. Allerdings wurde mein kleines Szenario zerstört. „Das ist doch mal eine gute Neuigkeit.“, meinte meine Mutter. „Wird auch mal Zeit, dass du etwas rauskommst.“, ergänzte mein Vater und fühlte sich dazu animiert, Geschichten aus seiner Jugend zu erzählen. So viel zu meinem höheren Redeanteil, denn damit war das Thema beendet. Ich weiß nicht, worauf ich gehofft habe. Nach dem Abendessen ging ich zurück in mein Zimmer und musste mich wohl oder übel dem Abschreiben der Notizen widmen. Meine Schätzung, dass ich sie morgen nicht lesen kann war etwas zu optimistisch angelegt. Die Hälfte der Wörter musste ich jetzt schon mit größter Mühe entziffern. Haltungszuschuss? Haftungsausschluss? Handlungsschluss?! Ganz ehrlich, Rechtswissenschaften waren für den Arsch! Langweilig, unübersichtlich und viel zu lernlastig. Nur leider war es nicht meine Entscheidung was ich studierte. Es hat immer vollkommen außer Frage gestanden. Vor 19 Jahren bekam ein Ehepaar einen kleinen Sohn. Noch bevor der kleine Sohn seine ersten Schritte machte, haben seine liebenden Eltern ihm einen Weg in dieser Welt geebnet und alles was der kleine Sohn machen musste war den Wegweisern zu folgen. Und zu ihrem Glück war der kleine Sohn nicht dumm. Er verstand, dass es außerhalb des Weges gefährlich war, schon ein unbedachter Schritt konnte das Verderben bedeuten. Und so tapste der kleine Sohn den Weg entlang, bis er irgendwann kein kleiner Sohn mehr war. Er sah immer öfter in den Wald am Wegesrand und fragte sich was wohl hinter diesen Bäumen liegt, was dort lauert, wohin sein Weg ihn wohl führen würde und ob er dort überhaupt ankommen wollte. Trotz seiner Fragen lief er weiter. Er beschwerte sich nicht, denn sein Schweigen war der leichteste Weg für alle. Es war endlich Freitag. Aber schon als ich aufwachte spürte ich, dass es ein miserabler Tag werden würde. Es war nichts direktes, es war nur ein Gefühl, vielleicht eine Vorahnung. Das Wetter unterstützte meine Theorie. Der Wind peitschte mir den kalten Regen ins Gesicht, als ich vom Auto zur Tür des Universitätsgebäudes sprintete. Ich versuchte mich damit zu trösten, dass ich nach dieser Vorlesung eigentlich auch wieder gehen konnte, denn die Dozentin für Strafrecht saß immer noch mit einer Grippe Zuhause, genauso wie letzte Woche. Black hat sich heute nicht die Mühe gemacht für diese Vorlesung aufzustehen. Es hätte mich sonst wahrscheinlich nicht weiter gestört, nur stand diese Sache mit der Einladung immer noch im Raum. Ich wollte Black wenigstens fragen wo ich überhaupt hin muss, wenn ich mich doch entschloss zu kommen. Mir war nämlich immer noch keine Ausrede eingefallen, die mein Gewissen beruhigen würde. Es war um einiges schwieriger sich selbst davon zu überzeugen, dass man zu erkältet war um rausgehen zu können, als jemand anderen davon zu überzeugen. Und so wie ich mich kannte würde mein Gewissen mir diese Absage für den Rest meines Lebens vorwerfen, in jedem Moment in dem ich mich einsam fühlte. 'Ach wäre ich nur gegangen, dann hätte ich jetzt vielleicht Freunde.' Das so eine Kleinigkeit mir überhaupt so viel Stress bereitete war traurig. Menschen mit soliden sozialen Kontakten würden über mich lachen. Ich war leider nie damit gesegnet gewesen viele Freunde zu haben, aber darüber will ich mich auch nicht beschweren. Es war mir eigentlich immer Recht gewesen, denn Menschen bedeuteten immer Stress. Auf dem Gymnasium hatte ich einen Freund. Wir hatten keine gemeinsamen Hobbys oder Interessen. Unsere Freundschaft beruhte darauf, dass wir beide keine anderen Freunde hatten. Unsere Gespräche bestanden aus belanglosem Smalltalk, wenn wir überhaupt redeten und wir wussten gar nichts von einander. Mit Black war es eine ganz ähnliche Situation, wobei er durchaus Alternativen hatte, mit wem er abhing. Meistens war es, aber dennoch ich, weil ich so umgänglich war, wie er meinte. Solche Freundschaften waren eigentlich perfekt für mich. Jeder profitierte davon und sie bedeuteten kaum Verpflichtungen. Um das lästige Abschreiben heute zu vermeiden, nahm ich mir vor etwas motivierter an die Sache ran zu gehen, so motiviert wie man Freitag in einer 8 Uhr Vorlesung sein konnte. Nach der Vorlesung erfüllte ich mir meinen größten Traum der letzten 90 Minuten und kaufte einen großen, heißen Kaffee um etwas wach zu werden. Bis auf die Pläne heute Abend, konnte ich meinen Tag nach Lust und Laune verschwenden, also blieb ich erstmal im Starbucks sitzen, bis mir etwas Besseres einfiel. Das Handy vibrierte in meiner Hosentasche. Eine Nachricht von Black, der wahrscheinlich ein Foto meiner Aufzeichnungen wollte. Von Black(?): „Ich werde heute Abend wohl nicht mitkommen können, gibt sonst probleme mit meiner freundin.“ Als könnte er meine Gedanken lesen, kam gleich die zweite Nachricht: „Du gehst aber hin. jemand muss mich ja entschuldigen ;) Außerdem komm bissel aus dir raus“ An Black(?): „Kannst du mir wenigstens sagen, wo ich hin muss?“ Von Black(?): „Follow the white rabbit, Neo.“ An Black(?): „Du bist so nützlich wie Sand in der Wüste“ Von Black(?): „Google ist dein Freund. Wo bleiben eigentlich meine Notizen?“ Statt ein Foto von den Aufzeichnungen zu machen, machte ich ein Selfie mit einem selbstgefälligen Grinsen auf den Lippen und ausgestrecktem Mittelfinger und sendete es ihm. Von Black(?): „fährst vom hbf mit der Straßenbahn Richtung Karli. Ist dann die 3 Haltestelle oder so. Das was du da machst nennt man Erpressung mein Freund!“ An Black(?): „:D Das nennt man Business.“ Jetzt konnte er sein Foto haben. Nach knapp einer Stunde, mein Kaffee war schon lange leer, wurde es langsam Zeit zu gehen. Der Laden hatte sich schnell gefüllt und ich wollte nicht unnötig Platz in Beschlag nehmen. Also trottelte ich noch zum nächsten Buchladen, nur um zu merken, dass ich durchaus schon genug ungelesenen Bücher Zuhause hatte und fuhr anschließend nach hause. Die Putzfrau erschrak kurz als ich die Tür aufmachte, sie wischte gerade den Boden im Flur. Ich grüßte sie und wollte eigentlich schnell in mein Zimmer hoch laufen um sie nicht zu stören. „Oben ist noch nicht geputzt. Ich habe nicht erwartet, dass jemand so früh nach hause kommt.“, sagte die Putzfrau. Sie war eine ründliche, etwas ältere Frau mir einem furchtbaren Haarschnitt, der wohl irgendwann in den 'Goldenen Zwanzigern' modern gewesen ist. Sie arbeitete schon lange für uns, auch schon als wir noch in der Wohnung gelebt haben. Ich hab ihr nie viel Beachtung geschenkt. Die einzige markante Erinnerung die ich hatte ist, dass sie mir mal ein Pflaster aufs Knie geklebt hat nachdem ich hingefallen bin. Da war ich aber erst 7 gewesen oder vielleicht etwas älter. 'Tante Tanja' (wie ich sie früher immer genannt habe) wusste mittlerweile wohl mehr über uns, als wir je über sie wissen würden. Ein eigenartiger Gedanke. „Und das Untergeschoss?“, frage ich. „Ja, hier unten bin ich fertig.“ Ich holte den Laptop aus meiner Umhängetasche, setzte mich in den Wintergarten auf die Couch und ließ die Frau in Ruhe ihrer Arbeit nachgehen. In meinem 'vollen' Terminkalender gab es nicht nur Bücher zu lesen, sondern auch noch genug Serien zu schauen, Netflix sie Dank. Gegen Nachmittag hörte der Regen draußen langsam auf und die Putzfrau war auch schon längst gegangen. Ich sah auf die Uhr in der Ecke meines Desktops. Kurz vor 14 Uhr. Ich hatte also noch mehr als genug Zeit bevor ich los musste. Trotzdem machte ich mich jetzt schon verrückt deswegen. Was wenn gar keiner erwartet das ich komme? Oder er hat schon ganz vergessen, dass er mich eingeladen hat? Was wenn ich den Laden nicht finde? Da fiel mir ein,dass ich gar nicht mit dem Auto fahren konnte. Man erwartete sicher von mir, wenn man mich überhaupt erwartete, dass ich etwas trinken würde. Blieb der Zug, mit dem ich noch nie in meinem Leben gefahren bin. Dann hatte ich gar nicht mehr so viel Zeit, denn ich rechnete für das Kaufen eines Tickets schon mal eine Stunde ein. Mit jeder Minute wurde es schlimmer bis ich irgendwann nicht mal mehr auf der Couch sitzen konnte. Ich lief im Haus herum, goss die Pflanzen, obwohl ich mir sicher war, dass keine von ihnen Durst hatte, sortierte meine Bücherregale alphabetisch, erst nach Titel, dann nach Autor.... Kurz gesagt, ich drehte durch. Als meine Eltern nachhause kamen war ich gerade dabei alle Klamotten in meinem Schrank neu zu falten und nebenbei etwas zum Anziehen für den Abend zu suchen. „Wolltest du heute nicht irgendwo hingehen?“ , fragte meine Mutter, die am Türrahmen lehnend alles beobachtete. „Ja, ich geh gleich los. Ich suche gerade noch nach passenden Klamotten.“ „Es wurden wohl auch Damen eingeladen?“ Es lag ein vieldeutiger Unterton in ihrer Stimme. „Das weiß ich nicht.“ Dieses Thema musste noch im Keim erstickt werden. „Würdest du etwas selbstsicherer auftreten, würden sich die Mädchen um dich reißen.“ War es schon zu spät aus dem Fenster zu springen um diesem Gespräch zu entgehen? „Vielleicht“, meinte ich nur gleichgültig. „Du bist gebildet, hast Geld und zu schrecklich siehst du ja auch nicht aus.“ „Ja, ich weiß.“, antwortete ich mindestens genauso lustlos wie vorher. „Aber du musst sie schon ansprechen und ihnen zeigen das du kein Weichei bist.“ „Ja“ „Ach was soll nur aus dir werden Abel...“ Ich verkniff mir jedes Kommentar dazu und sie war damit zufrieden, denn die Harpyie ging wieder und ließ mich in Ruhe. Ich entschloss mich einfach das zu tragen, was ich normalerweise auch in der Uni trage. Also zog ich ein helles Hemd und einen dunkelblauen Cardigan mit einer Jeans an, das müsste angemessen sein. Die Haare wurden zurechtgegelt und ich war bereit für den großen Auftritt. Meine Mutter fing mich nochmal im Flur ab, als ich mir eine Jacke anzog. „Und wann kommst du wieder nachhause?“ Ich bin noch gar nicht weg. „Mal sehen, kann ich gerade nicht sagen.“ „Bitte sei leise, wenn es spät wird. Ich und dein Vater brauchen auch mal unsere Ruhe.“ Wann hab ich euch jemals gestört? „Mach ich.“ Ich verließ beinah fluchtartig das Haus, bevor sie auf die Idee kam noch irgendwas zu sagen. Der Bezirk, in dem wir lebten, wurde erst vor ein paar Jahren eingemeindet und die Bewohner waren immer noch in ihrer Dörflermentalität stecken geblieben. Jeder versuchte alles über jeden zu wissen um es, in Fall der Fälle, zu seinem Vorteil nutzen zu können. Der einzige Weg sich diesem Zirkus zu entziehen, war so wenig Angriffsfläche wie möglich zu bieten. Das gelang mir bisher ganz gut. Mein Leben war nämlich so ereignislos, dass es sogar die neugierigsten Nachbarn langweilte. Heute bot sich ihnen jedoch eine Chance. „Hab ihr schon gehört der Sohn von den Aderstones ist gestern zur Bahnstation gelaufen.“ „Wirklich? Ich dachte sie sind zu reich dafür!“ „Ich habe gehört die Kanzlei läuft nicht mehr so gut.“ „Ich habe gehört der Vater hat das ganze Geld versoffen und verspielt.“ Ok, vielleicht übertrieb ich ein bisschen. Oder sogar sehr. Allerdings hatte ich tatsächlich das Gefühl, dass mich alle komisch ansahen, besonders als ich den Ticketautomaten mit meiner Unwissenheit folterte. Eine Frau hatte schließlich Erbarmen mit mir oder vielleicht auch nur mit der Maschine und half mir, kurz bevor der Zug einfuhr. Der Rest der Fahrt verlief mehr oder weniger entspannt, mit dem Netzplan der Straßenbahnen in der Innenstadt war ich wenigstens etwas vertraut. Bloß war Blacks Weg Beschreibung ausgesprochen wage. Ich stieg auf gut Glück in die Linie 11, zählte die drei Haltestellen ab und wollte für den weiteren Weg Google Maps bemühen. Das war, aber allem Anschein nach, nicht nötig. Direkt gegenüber der Haltestelle leuchteten mir die Worte „Café Waldi“ entgegen. Vor dem Café standen einige Leute und überlegten wohl noch ob sie rein gehen oder nicht, und je länger ich sie ansah desto sicher war ich mir, dass es hier eindeutig nicht mein Platz war. Jutetaschen und Bärte scheinen zum Dresscode zu gehören, was mir allerdings keiner gesagt hatte. Hipster, soweit das Auge reicht! Ich bin wohl aus Versehen in ihrer Brutstätte gelandet. Es war nicht das surreale Wunderland, welches ich mir vorgestellt habe. Vielleicht sollte ich zurück fahren, bevor es zu spät war. Nein! Einmal in meinem Leben würde ich über meinen Schatten springen. Ich riss mich zusammen, wechselte die Straßenseite, öffnete die Tür und trat in den Vorraum der Hölle. Das Café war weniger ein Café als eine Bar und hatte etwas von einem sehr eigenartigen Themenpark. Alles war in Holz- und Brauntönen gehalten und an den Wänden hingen alte Porträts, zusammen mit verschiedensten Jagdtrophäen, die zwar wahrscheinlich allesamt unecht waren, aber trotzdem nichts von ihrer Gruseligkeit einbüßten. Beleuchtet wurde das Café von elektrischen Wandleuchtern und einem großen Kronleuchter, welcher direkt neben einer Treppe ins Obergeschoss hing. Wer auch immer dieses Einrichtungsexperiment gewagt hatte, war damit durchaus erfolgreich. Fast alle Tische waren voll besetzt und die Kellner rannten hektisch von einem Gast zum anderen. Ich schlängelte mich durch den Raum, hoffte den Typen zu erkennen der mich eingeladen hatte. Wenn ich mir bloß besser gemerkt hätte wie er aussieht... So konnte ich ewig in diesem Café suchen. Ich war schon bereit zu gehe, da hielt mich jemand am Ärmel fest. Wie es aussah, erinnerte mich nicht an den 'Typen', aber er sich noch an mich. Schon mal ein gutes Zeichen. „Suchst du uns?“, fragte er, natürlich eher rhetorisch. Mit „uns“ meinte er die anderen 5 Leute, die auch am Tisch saßen, mich etwas verwirrt ansahen und versuchten sich zu erinnern ob sie mich denn kennen sollten. „Eigentlich schon.“, antwortete ich mit einem Lächeln. „Schön, dass du Zeit gefunden hast, setzt dich einfach dazu.“, sage er, aber es fiel ihm auf das kein Stuhl mehr am Tisch frei war und er sah sich hastig im Raum um. „Vielleicht holst du den Stuhl da noch dazu.“ Er zeigte auf einen leeren Stuhl ein paar Tische weiter. „Kein Problem“ Ich kam mir dumm vor den Leuten am anderen Tisch den Stuhl zu klauen, auch wenn sie mir versicherten, dass sie ihn wirklich nicht bräuchten. Oder besser gesagt ich kam mir in der ganzen Situation unglaublich dumm vor. Trotzdem setze ich mich zu der Gruppe dazu. „Hi, ich bin Abel“, stellte ich mich vor und erlöste sie damit von der Ungewissheit ob sie mich nun kennen mussten oder nicht. Doch sie sahen mich immer noch komisch an. Wahrscheinlich beschäftigte sie jetzt die Frage was ich hier tat. „Ich sollte von Black sagen, dass er heute nicht kommen kann.“,meinte ich um kein peinliches Schweigen aufkommen zulassen. „Ach der Spast ey...“, sagte jemand von der Gruppe. „Dann können wir den Abend heute vergessen.“ „Sorry“ Eigentlich hatte ich nichts damit zu tun, aber die Überbringer schlechter Neuigkeiten waren nie beliebt gewesen. „Jetzt sei doch nicht so dramatisch.“, sagte ein anderer. Ich wünschte wirklich, sie hätten sich auch vorgestellt... „Eben, ging doch bisher auch ohne ihn.“, stimmte 'Typ' ihm zu. „Wo waren wir den vorhin, also bevor Abel kam? “ „Tom hat von der Geburtstagsparty von Julia erzählt und wie dicht die alle waren.“ „Es ist doch erst eine gute Party, wenn das Geburtstagskind sich am nächsten Morgen nicht mehr daran erinnert, oder?“ „Oder sich das Kleid vollkotzt. Widerlich!“ „Das sagt der Richtige. Weißt du noch als wir bei Mark waren und du in den Blumentopf gekotzt hast? “ „So genug vom kotzen. Bitte!“ „Naja, Julia hat dann ja noch ein Taxi gerufen, weil sie vergessen hat, dass wir bei ihr gefeiert haben.“ Hätte ich mich überflüssig fühlen wollen, dann hätte ich auch einfach Zuhause bleiben können, das wäre einfacher gewesen. Ich hatte keine Ahnung von wem sie da redeten oder von welchen Partys und das schien sie auch nicht zu stören. Sie redeten weiter über ihre gemeinsamen Freunde, irgendwelche Geschichten und Insider-Witze. Ich verstand nichts davon. Das ich hier unnötig war, war offensichtlich. Ich blieb dennoch sitzen. Sie redeten und redeten und ich... Ich hatte nichts zu sagen, keine lustige Geschichte zu erzählen und konnte nicht mal über ihre Witze lachen. Alles wurde lauter, immer lauter. Die Musik und die Gespräche. Es wurden immer mehr Menschen. Immer mehr Hektik. Immer schlechtere Luft. Nichts davon wirke sich auch nur annähernd positiv auf meine Gefühlslage aus. Ich weiß nicht wie lange ich dort war, es fühlte sich an wie zwei Ewigkeiten, bis ich irgendwann nicht mehr konnte. Wenn ich eine weitere Sekunde in dieser Hölle verbringen müsste, würde ich verrückt werden oder mich übergeben oder beides. Also schnappte ich mir meine Jacke und stürmte raus, ohne irgendwas zu sagen. Draußen standen immer noch viel zu viele Menschen. Sie wollten gar nicht rein, es schien nur ein beliebter Treffpunkt zu sein. Ich blieb in dieser Menschenmenge stehen, einige Schritte vom Café entfernt, und überlegte was ich jetzt bitte machen sollte. Zurückgehen war absolut keine Option und nachhause wollte ich auch nicht. Da lauerte meine Mutter, mit Fragen darüber warum ich schon so schnell zurück war. Es war nämlich erst kurz vor 21 Uhr, ich hatte es nicht einmal eine Stunde ausgehalten. Ich verschränkte meine Arme und drückte sie so fest wie möglich an mich. Einerseits, weil mir ohne Jacke kühl wurde, andererseits überkam ich auch eine seltsame Wut, die ich irgendwie abreagieren wollte, sei es auch nur indem ich mir die Arme zerquetsche. Am liebsten hätte ich Black angerufen und ihn angeschrien dafür, dass er nicht gekommen ist und ich allein gehen musste. Es war, aber eigentlich nicht seine Schuld. Er konnte nichts dafür das ich so inkompetent war. „Wenn du zu einem Geschäftsessen wolltest, dann bist du hier eindeutig falsch.“, sagte eine unbekannte Stimme. Ich hob meinen Kopf, unsicher ob diese Bemerkung mir galt oder nicht. Galt man hier in Hemd und Cardigan schon als overdressed? Zu meiner großen Überraschung stand vor mir niemand geringerer als Jesus persönlich. Lange, braune Haare, bernsteinfarbene Augen, und hellbraune Haut nur der Bart fehlte, sonst entsprach Jesus vollkommen meinen Vorstellungen. Auch war ich im ersten Moment überrascht , dass er seine Klamotten offensichtlich im Secondhand Laden kaufte, dass machte nach einer kurzen Überlegung jedoch durchaus Sinn. Ist er auf die Erde zurückgekehrt um mir einen spirituellen Rat zu geben? „Danke für Tipp...“, antwortete ich genervt, es war nicht der beste Moment für einen göttliche Fingerzeig. Jesus seufzte ein wenig verunsichert über meine Undankbarkeit. „Ach, komm schon! Guck nicht so böse, ich wollte dich nur aufmuntern.“, rechtfertigte sich Jesus. Ich sah ihn weiterhin skeptisch an. „Schön.“ Gott wird mich sicher für meine Unhöflichkeit strafen.Und wenn nicht deswegen, dann wegen der Blasphemie einen dahergelaufenen Hipster als seinen Sohn zu bezeichnen. Aber 'der Herr' hat mich ja eh nie gut leiden können. Außerdem, jeder der sein Kind „Abel“ nannte, musste es entweder hassen oder hat die Bibel nie gelesen. Ich habe noch nicht ausmachen können, welches Motiv meine Eltern damit verfolgt hatten. „Ist alles ok mit dir?“ Jesus meinte es wohl ernst. „Ja, danke.“ Mit dieser Antwort war er auch nicht glücklich. „Hat dich dein Date versetzt oder so?“ „Nein. Es ist wirklich alles ok.“ So langsam hatte ich keine Lust mehr auf das Spielchen. „Hast du dich verlaufen? Deine Eltern suchen dich bestimmt schon!“ Diese Frage war, im Gegensatz zu denn anderen, wohl nicht ernst gemein. Er riss die Augen übertrieben weit auf und betonte alles so als würde er mit einem kleinen Kind reden. Ich wusste nicht so recht was ich darauf antworten sollte und schüttelte einfach nur lachend den Kopf über diese Dummheit. Damit wiederum war Jesus zufrieden. „Ich sehe schon, ich soll dich in Ruhe lassen.“ Wie kommst du bloß drauf... „Ich habe gerade nicht die beste Laune.“ „Ist schon ok. Ich versteh das.“ Er hatte sich schon halb weggedreht, da fiel ihm scheinbar etwas ein. „Hast du mal einen Kuli?“ „Klar“ Ich kramte einen Stift aus meiner Tasche hervor und reichte ihn Jesus. Er drückte ein paar Mal ratlos auf ihm herum, bis er verstand, dass man ihn zum benutzen drehen musste. „Jetzt brauch ich deine Hand.“ Soll das ein Zaubertrick werden? Ich zögerte etwas bevor ich den Arm, dann doch in seine Richtung ausstreckte. Er griff nach meiner Hand, seine Finger waren so kalt, dass ich kurz zuckte als er mich berührte. Nun kritzelte Jesus vorsichtig etwas auf meinen Handrücken und ließ mich wieder los. Ich betrachtete das Kunstwerk, eine Telefonnummer und ein etwas missratener lachender Smiley. „Wenn du dann irgendwann bessere Laune hast, kannst du mir gerne schreiben. Oder wenn du einfach jemanden zum reden brauchst.“, erklärte er und lächelte mich an „Ähm... Danke.“, sagte ich, unsicher darüber womit ich diese Ehre verdient habe. Sah ich tatsächlich so erbärmlich aus, dass er Mitleid mit mir hatte? „Aber weißt du ich hätte dir auch Papier geben können...“ „Ach, ist doch egal. Geht ja auch so. Naja, meld dich einfach, ok?“, sagte Jesus bevor er kurz winkte und in der Menge verschwand. „Tschüss!“, rief ich noch hinterher, war mir aber sicher, dass er es nicht mehr hörte. Und nun stand ich genau so verloren da wie vorher. Nur wurde es langsam Zeit wieder mit meinem Leben fortzufahren. Ich zog mir meine Jacke an, lief zur Haltestelle und fuhr nachhause. Auf der Rückfahrt wollte ich an nichts mehr denken. Ich umklammerte die Hand mit der Nummer darauf und starrte aus dem Fenster. Es war alles so wie immer und dann doch wieder nicht. Kapitel 2: Pride ---------------- Ich wollte verschwinden. Aus diesem Haus, aus dieser Stadt, diesem Land...Kontinent...Planet... Oder ich bleibe in meinem Zimmer. Für immer. Das ist auch eine Möglichkeit. Ich stand am Fenster und starrte auf das Feld hinter dem Haus. Um meine Fingerspitzen herum beschlug die kalte Scheibe. Vor einer Woche war das Feld noch voller Mais, doch jetzt eröffnete es mir die Aussicht bis zum Horizont. Es gab nichts zu sehen, außer andere Felder und Bäume entlang der Landstraße. Es war bewölkt und die ganze Welt war grau. Es hätte 10 Uhr, aber genau so auch 18 Uhr sein können, an der Helligkeit hätte sich nichts verändert. Black hat mir heute früh geschrieben und gefragt wie es gestern lief. In der Hoffnung, dass keiner ihm etwas von meiner panischen Flucht gestern erzählt hat, schrieb ich nur, dass ich leider ziemlich schnell weg musste. Auf dem Campus werde ich wohl jedem aus der Gruppe gestern ausweichen müssen. Egal ob sie sich an mein Gesicht erinnerten oder nicht. Ich bin einfach sozial vollkommen unangepasst und inkompetent, das ist Fakt. Wie oft hab ich mich hier weg gewünscht, wollte in die Welt eines Buches verschwinden. Nicht nur in sie eintauchen, so illusorisch beim Lesen. Nein, wirklich körperlich dort sein und nie wieder zurückkehren. Lieber würde ich ohne Waffen einem Drachen gegenüber stehen, als mich mit Jura zu befassen. Selbst wenn ich dabei sterben würde, wäre es ein würdigeres Ende im Kampf zu fallen als an Diabetes oder Bluthochdruck in einem Altersheim zu sterben und abgesehen davon, dass sich so ein Ende überhaupt nicht gut in einem Buch machen würde. Dieses Wunschdenken half mir zu vergessen oder besser gesagt zu verdrängen, wie die Realität mich erbarmungslos mit schliff. Das Leben macht mir einfach Angst, weil ich keine Ahnung habe was ich machen soll und mit 19 schon die Lebenseinstellung eines 80 Jährigen habe. Wann hört das alles endlich auf? Wann kann ich endlich entspannen? Ein Paradebeispiel meiner Ratlosigkeit, lag neben mir auf dem Tisch. Ich hab die Nummer von meiner Hand abgeschrieben und dann panisch versucht sie von meiner Haut abzuwaschen, bis mein ganzer Handrücken rot war, nur um dumme Kommentare meiner Eltern zu vermeiden. Nun lag die Nummer da und ich stand vor der Wahl, sie einzuspeichern und vielleicht tatsächlich eine Nachricht zu senden oder, aber die Nummer solange liegen zu lassen bis es zu peinlich ist noch eine Nachricht zu senden und sie dann in den Müll zu werfen. Angetrieben von meinen sozialen Schuldgefühlen von gestern Abend, entschied ich mich für die erste Variante. Ich aktualisierte meine Whatsapp-Kontakte und „Jesus“ tauchte zwischen den Namen ehemaliger Freunde und Mitschüler auf. Als ich mir sein Profilbild ansah, war ich mir bei der Namenswahl plötzlich gar nicht mehr so sicher. Es war eindeutig der Kerl von der Karli, allerdings mit einer Augenklappe, einem Piratenhut und gerade dabei eine halbvolle Flasche „Captain Morgan“ in die Kamera zu präsentieren. Vielleicht wäre „Blackbeard“ angebrachter gewesen? So eröffnete ich das Gespräch mit: „Hi. Schickes Profilbild :D“, bevor ich zu lange darüber nachdenken konnte. Dann passierte...nichts. Klar, nicht jeder hatte die Zeit pausenlos am Handy zu hängen und auf eine Nachricht eines Fremden zu warten. Weiß auch nicht, was ich erwartet habe. Da, jetzt hatte ich sie, die Zeit über jedes Wort, jeden Buchstaben meiner Nachricht nachzudenken und zu analysieren wie man sie falsch verstehen könnte oder was man über mich denken könnte. Kann man Nachrichten eigentlich auch noch zurückziehen wenn sie schon gesendet wurden? Mein Handy vibrierte. Eine neue Nachricht von Jesus. Ich zögerte etwas bevor ich sie öffnete. Von Jesus: „Hehe danke... ist von der Verlobungsfeier eines Kumpels“ Ich starrte auf die Nachricht und weiter? Soll ich fragen wie es ihm geht? Er war immer noch online. Wartet er auf eine Antwort oder fühle ich mich zu wichtig? Von Jesus: „Deinem Bild nach zu urteilen, bist du so ein junger Businessman mit einem Startup-Unternehmen? ;)“ Stimmt, ich hatte immer noch eins dieser Bewerbungsbilder als Profilbild, weil es die einzigen Fotos von mir waren auf denen ich älter als 12 Jahre war und nicht vollkommen schrecklich aussah. An Jesus: „Meine Firma und ich werden den Markt revolutionieren. Bei einer Spende über 1. Mio. €, darfst du das Produkt sogar vor allen anderen testen.“ Von Jesus: „Allein der Gedanke daran klingt verlockend. Ich muss nicht mal wissen was du da verkaufst um zu sehen dass es ein Erfolg wird XD“ An Jesus: „Stell dir Toast vor. Nur ist es kein normales Toast, es ist, und jetzt kommt's, bereits vorgetoastetes Toast. Denk an die Zeit-und Energieersparnis!“ Von Jesus: „NEIN! :o Ist die Welt denn überhaupt bereit dafür? Ist das etwa der nächste Schritt der Evolution?“ Von Jesus: „Ich sollte mir bester schon die Rechte an deiner Biografie sichern, bevor sie jeder will.“ An Jesus: „Nur wenn der Preis stimmt ;P“ Von Jesus: „btw ich sehe es geht dir besser. Freut mich :)“ Keine Sorge, ich spare mir an dieser Stelle das gesamte Chatprotokoll. Das Entscheidende war, dass es Tage so weiterging. Ich hatte Angst meine Handy zu lange aus der Hand zu legen um keine Nachricht zu verpassen. Mein Leben drehte sich um dieses kleine schwarze Rechteck. Ich blieb länger auf, als es gut für mich war und nächsten Morgen hatte ich schon wieder Nachrichten. Er verpasste es nie mir pünktlich zu meinem Wecker ein „Guten Morgen“ zu senden. Black entging meine Obsession auch nicht, er fragte kurz nach, mit wem ich da schreibe und das einzige was ich sagen konnte war: „Mit so einem Typen...“. Das war nicht gelogen, denn in den ganzen Nachrichten war kaum sinnvoller Informationsgehalt. Nach 2 Wochen hatte ich zum Beispiel immer noch keinen Namen oder ein Alter. Deshalb erschien mir jedes kleine Detail, welches ich erfuhr als ein entscheidendes Puzzleteil, die zusammen irgendwann einen vollständigen Menschen ergaben. Sie waren sogar so wichtig, dass ich eine Liste mit Dingen führte die ich zwischen den Zeilen raus gelesen habe, denn der ständige Sarkasmus machte es einem nicht leicht. Bisher wusste ich einige seiner Lieblingsfilme, die alle so unterschiedlich waren, dass man eigentlich nicht glauben konnte, dass ein Mensch sie mochte, Disneyfilme gemischt mit Filmen über den Absturz von Drogenabhängigen und Zwangsprostitution. Ich wusste, dass er gerne schrieb, aber nur selten wirklich dazu kam, obwohl er meist die ganze Nacht wach war. Und ich wusste, dass letzten Dienstag sein Fahrrad kaputt gegangen ist. Trotzdem fanden wir immer irgendwas worüber wir schrieben, egal wie belanglos oder sinnfrei es war und es störte mich nicht. Ehrlich gesagt merkte ich nicht mal, dass wir schon über Wochen schrieben, es kam mir vor als wären es höchstens ein paar Tage. Dennoch es waren tatsächlich fast zwei Wochen, dass musste ich spätestens feststellen, als Jesus mich fragte ob ich zu einem Straßenfest auf der Karli gehen würde, von dem Black schon Monate schwärmte. Scheinbar war Zeit vergangen. Die Frage warf mich etwas aus der Bahn, denn die offensichtliche Antwort war natürlich: Nein, da sind Menschen, da geh ich nicht freiwillig hin. Doch dieser Abneigung stand meine Neugier entgegen, endlich wieder die Person zu treffen, die in letzter Zeit mein Leben dominierte ( hoffentlich ohne es zu wissen) und vielleicht mehr über sie zu erfahren. Wenn es außer meiner Angst, noch eine zweite treibende Kraft in meinem Leben gab, dann war es Neugier. Aber Jesus ließ mir nicht viel Zeit zum Überlegen und schickte eine Nachricht die mein Schicksal besiegelte: „Ich würde dich echt gerne wiedersehen :D“ Selbst mir fiel zu diesem Zeitpunkt auf, dass ich für ihn mehr schwärmte, als vorpubertäre Mädchen für Boybands und schlechte Liebesfilme. Allerdings war es unmöglich dagegen anzukämpfen, denn das bloße Wissen darum half leider nicht weiter und verhinderte auch nicht, dass ich bei jeder Nachricht wie ein Idiot grinste. Und so kam es, dass ich am Samstagabend tatsächlich im Auto saß und Richtung sicherer Untergang fuhr. Ironischer weise habe ich die Zeit davor damit verbracht möglichst leger auszusehen, was sicher einfacher klingt als es für mich ist. Keine Hemden, kein Gel in den Haaren, das ist viel zu overdressed wie ich seit meinem letzten Besuch auf der Karli wusste. Am besten hätten zwar die Klamotten aus der Jugend meines Opas gepasst, aber die hab ich leider nicht vererbt bekommen. Deswegen musste ich mich mit einem einfachen grauen Sweatshirt zufrieden geben. Als ich in die Straße einbog, war es kurz vor 18 Uhr. Einige Minuten hatte ich noch bis, wir uns am Waldi treffen wollten. Die letzten Sonnenstrahlen funkelten am Horizont und auch die Temperaturen meinten es gut mit uns. Alles hätte so schön sein können, wäre da nicht die Straßensperre aufgrund des Festes und vollgeparkter Seitenstraßen. Ich musste in einer Parallelstraße, einen gefühlten Kilometer entfernt vom Treffpunkt, parken und hoffte mit einem Sprint noch pünktlich erscheinen zu können, dabei hab ich doch extra das Auto genommen. Auf den letzten Metern bremste ich runter, teils weil ich nicht keuchend ankommen wollte und teils, weil zu viele Menschen im Weg waren um sich schnell fortzubewegen. Mit jeder Minute, die nach 18 Uhr verging wurde ich panischer. Der Platz vor dem Waldi war noch voller als beim letzten Mal und ich konnte Jesus nirgends entdecken. Ich zückte mein Handy. Er war online. An Jesus: „Wo bist du? Ich finde dich nicht“ Meine Finger zitterten. Von Jesus: „Warte kurz“ Ich sah mich nochmal in der Menge um, ob ich jemand entdeckte der tippte. Fehlanzeige...Aber ich sah einen braunhaarigen Mann in einem senfgelben Pullover mit kleinen, grünen Dreiecken darauf, der auf eine niedrige Ziegelwand kletterte und von dort aus, etwa genauso verzweifelt wie ich, auf das Gedränge blickte. Zum Rufen konnte ich mich nicht durchringen, versuchte jedoch erst mal mit hektischen Armbewegungen auf mich aufmerksam zu machen, leider erfolglos. Also drängelte ich mich zur Mauer durch und grüßte mit einem erleichterten „Hey“. Jesus sah zu mir runter und sprang von der Mauer. „Hi, da bist du ja. Ich hab dich auch überhaupt nicht gesehen.“ „Ich hoffe, du musstest nicht zu lange warten. Bin leider etwas später da als geplant“, sagte ich nervös und strich mir durch die Haare. Jesus beobachtete diese Bewegung genau. „Es sieht besser aus, wenn deine Haare so sind...“ „Wie? “ Ich zupfte noch etwas an den blonden Strähnen herum. „Na, so wie sie gerade sind...so offen, ohne das Klebzeug drin.“ „Danke?“, lächelte ich verunsichert. Ich konnte ihm kaum ins Gesicht gucken, weil ich so aufgeregt war. Dabei entdeckte ich, dass die Dreiecke auf seinem Pullover eigentlich kleine Kakteen darstellen sollten und dann sah ich ES. Dieses aus Jute bestehende, blau-lila-pink gestreifte Monster, welches über seiner Schulter hing. Wie hab ich das anfänglich übersehen?! „Schick, oder?“, fragte Jesus stolz und das ganz fern jeglicher Ironie. Ich habe wohl zu sehr gestarrt. Er nahm die Tasche von der Schulter, damit ich sie besser betrachten konnte. Sie hatte auf der Vorderseite nämlich einen Aufdruck, in großen Lettern stand da: „Bi yourself“ Clever. Egal wie hässlich diese Tasche war, es war einfach clever. So sparte man sich die peinliche Frage nach Sexualität und wusste sofort woran man war. Nicht, dass ich es nicht bereits vermutet, oder besser gesagt, gehofft habe, aber so machte man es sich doch ziemlich leicht. „Sie ist auf jeden Fall aussagekräftig.“, antwortete ich und sah ihn jetzt doch an, um seine Reaktion zu deuten. Er lächelte. „Gut...“ „Gab es die auch in Regenbogenfarben?“, interessierte ich mich. „Ich glaube, da würde der Spruch nicht so cool klingen. Tut mir leid.“ Jesus zuckte mit den Schultern und versuchte dabei eine gespielt ernste Miene zu wahren. Als ich ihm einen skeptischen Blick zuwarf, musste er, jedoch endgültig lachen. „Aber keine Sorge, die Message ist angekommen.“, sagte er, als er sich wieder etwas beruhigt hatte. „Gut...“ Wir liefen los und folgten dem Strom, der sich weiter in die Straße drängte. Das eigentliche Fest begann erst ein paar Kreuzungen weiter. Es war auch nach Sonnenuntergang überraschend warm, was sicher nicht zuletzt an der großen Menschenansammlung lag. Die Läden entlang der Straße waren alle offen und freuten sich über den Überfluss an Kundschaft an diesem Abend. Irgendjemand hatte sich die Mühe gemacht, an den Laternen zusätzlich Lichtgirlanden anzubringen, die alles verspielter wirken ließen. Straßenmusikanten sorgten für die nötige festliche und entspannte Stimmung. Die Musik änderte sich an jeder Straßenecke, aber gerade lagen die Klänge eines alten Rocksongs in der Luft, dessen Name mir partout nicht einfallen wollte. Wir bahnten uns den Weg in einen großen Laden, der in einer ehemaligen Fabrikhalle entstanden ist. Verkauft wurde allerlei Schnickschnack, Tücher mit eigenartigen Mustern, Klangschalen, Traumfänger, jede Menge Schmuck aus Holz oder Metall, handgemachte Sachen auf Filz... Jesus versuchte sich daran, einer Klangschale einen Ton zu entlocken. Das wollte nicht so recht gelingen, außerdem schlug er etwas zu fest gegen das Metall und ein lautes Klirren ließ die anderen Kunden aufhorchen. Er verzog das Gesicht wegen des Tons, zichte: "Ich wollte dich eh nicht kaufen." und entfernte sich mit großen Schritten von der Schale. Mein Blick fiel auf eine quadratische, organgene Wollmütze mit blauen Bommeln an den Ecken. Beinah aus Mitleid nahm ich dieses entstellte Objekt in die Hand. "Setz mal auf!", forderte meine Begleitung. Ich warf nochmal einen Blick auf die Mütze. "Wirklich?" "Hab dich nicht so. Da sind bestimmt nur halb so viele Flöhne drin wie man vermutet." Ich zögerte, also griff er nach der ebenso hässlichen Schwester der Mütze, welche er gerade in der Hand hielt. "Auf drei. Eins, zwei,...drei!" Nun standen wir beide mit diesen Wollbiestern auf dem Kopf da und konnten nicht aufhören zu lachen. Er sah so bescheuert aus und ich bestimmt noch schlimmer. „Komm...“ Jesus sah mich an und musste wieder lachen. Es war ein wenig hypnotisierend ihn dabei anzusehen, das konnte nicht einmal diese Mütze vermiesen. Er hatte weiche Gesichtszüge, die fast schon feminin wirkten und seine Augen blitzten in diesem Licht goldgelb auf. In ihnen lag ein so offener und klarer Ausdruck, den ich kaum beschreiben konnte. Sie leuchteten voller Lebensfreude und Energie. „Komm wir machen ein Selfie.“, versuchte er es nochmal und kramte in der Tasche nach seinem Handy. „Muss das sein?“ Diese Frage war sinnlos, er war fest entschlossen. „Einmal der Mütze entsprechend gucken, bitte!“, meinte er, nachdem wir endlich eine Position gefunden haben bei der wir beide gut auf dem Display zusehen waren. Lustig, dass wir das gleiche unter dieser Ansage verstanden und eine Grimasse zogen. „Perfekt. Ich schicke dir das Foto später rüber. Dann kannst du dich auch dran erfreuen.“ „Zu gütig...“ Endlich konnten diese Mützen weg. Ein zweite Tür aus dem Laden führte in einen Hof, in dem eine Bühne aufgebaut war. Die Band die spielen sollte, baute gerade erst auf und auf der Bühne tanzten stattdessen Kinder zu der Radiomusik aus den Lautsprechern. Alles in diesem Hof strahlte eine sonderbare, familiäre Atmosphäre aus: die selbst gezimmerten Stände an denen vegane Grillwürstchen verkauft wurden, die Pflanzen die in alten Blecheimern gepflanzt waren, die Wäsche die an Wäscheleinen zwischen den Fenstern hing und die Menschen allgemein schienen sich alle untereinander zu kennen, obwohl sie unmöglich alle hier leben konnten. Die ganze Straße wirkte so, als wäre es eine Art großes Familientreffen, bei dem es keine Fremden gab. Nun ja fast keine, denn ich war ja schließlich auch noch da. Jesus wiederum war völlig integriert und grüßte jeden Zweiten an dem wir vorbeiliefen. Dazwischen fand er unglaublicher Weise noch Zeit mit mir zu reden. Wir griffen wieder sinnfreie Themen auf oder lachten über Sachen, die wir in den Läden fanden. Also eigentlich alles wie in den Nachrichten, nur dass ich ihn jetzt sehen konnte. Wie lang konnte man eigentlich eine Person anstarren ohne gruselig zu wirken? Dieser Frage ging ich ausführlich nach, studierte wie er sich regelmäßig seine Haare aus dem Gesicht strich und sie wieder hinters Ohr steckte, wie er auf seiner Unterlippe kaute und wie er lächelte wenn er bemerkte, dass ich ihn ansah. Flirten war nicht meine Stärke, also versuchte ich es auch nicht. Je später es wurde desto voller und lauter wurde es. „Wenn du nichts dagegen hast, dann gehen wir da mal kurz hin.“ Jesus zeigte auf eine Gruppe, die es sich mit ein paar Kästen Bier auf den Gleisen der Straßenbahn bequem gemacht hat. „Ich hab versprochen ihnen 'Hallo' zu sagen, wenn ich sie sehe.“ „Klar, kein Problem.“ Ich konnte wohl kaum erwarten, dass er seine Freunde wegen mir links liegen lässt, also folgte ich ihm und blieb etwas abseits stehen. „Warum seid ihr eigentlich immer am Saufen, wenn ich euch treffe?“, scherzte Jesus, statt einer Begrüßung. „Die Wahrheit ist doch, dass du nur deswegen mit uns befreundet bist.“, antwortete ihm ein schlaksiger Mann mit kurzen schwarzen Haaren und Dreitagebart. „Tim, erlaube mir eine Berichtigung: Du bist mit mir befreundet, weil irgendjemand für dein Bier zahlen muss.“ „Pfff, das eine Mal...“ „Ja, das eine Mal als ich dir eine Kiste finanziert hab.“ Sie wurden von einer jungen Frau unterbrochen: „Ist dein Date schon abgehauen?“ Die braunhaarige Frau betonte, das Wort besonders melodisch, um ihm eine ominöse Vieldeutigkeit zu verleihen. Ich merkte wie mein Blut in den Kopf schoss. Date ließ alles so ernst wirken. „Eigentlich, nicht... wo...“ Er drehte sich nach mir um. „Du kannst ruhig näher kommen. Sie fallen eigentlich relativ selten Menschen an.“ Ich stolperte unsicher näher und winkte leicht. Es hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit der Situation im Waldi und das machte nichts besser. Die Frau streckte mir ihre Hand entgegen. „Moin, ich bin die Anne.“ Ich musste mich etwas nach vorne beugen um an ihre Hand zukommen. „Hi, ich bin Abel.“ Sie zog ihre Augenbrauen hoch. „Na gut, wenn ihr so wollt, dann bin ich eben Eva.“, meinte sie belustigt und sah zu Jesus. Dieser sah hingegen mich verwirrt an. „Meinst du das Ernst?“ Die ganze Gruppe wirkte ein wenig verstört. Hab ich was verpasst? War irgendwas falsch? Hätte ich ihre Hand nicht schütteln sollen? Oder glaubten sie mir nicht, dass ich wirklich so heiße? Na gut. Ich griff nach meinem Portemonnaie, zog meinen Führerschein raus und reichte ihn Anne. „Ich heiße ganz offiziell so.“, versicherte ich. Anne sah auf den Führerschein, dann zu mir, wieder zurück zu Jesus, schließlich bekam sie einen Lachanfall. „Du wusstest es auch nicht, oder? Oh Gott!“ So langsam wurde ich wütend. Konnte jemand endlich sagen, was hier los war? Ich musste mich von keinem auslachen lassen. Dabei hat alles so gut angefangen. „Und was ist an dem Namen, jetzt so lustig?“, fragte ich genervt. „Weißt du wie ich heiße?“, kam von Jesus zurück. „Woher denn? Du hast dich nie vorgestellt, genauso wie ich.“ Anne lachte sich währenddessen immer noch kaputt. Das war alles so unangenehm, dass mein Körper verkrampfte. Jesus legte sich eine Hand übers Gesicht. „Warte...“ Auch er holte sein Portemonnaie aus der Tasche um mir einen Personalausweis zu zeigen. Plötzlich kam ich mir dumm vor wütend geworden zu sein. „Schön dich kennenzulernen, Cain!“, verkündete ich und hob ratlos die Hände. „Ihr wusstet es nicht...“, presste Anne zwischen den Lachern hervor. Das kurzhaarige Mädchen neben ihr stieß sie leicht an. „Komm, so lustig ist jetzt auch wieder nicht.“ Anne war da ganz anderer Meinung, sie fand es sogar so lustig, dass sie ein Foto von unseren Ausweisen machen musste um im Notfall einen Beweis zu haben. Den genauen Charakter dieses Notfalls erläuterte sie jedoch nicht. Jetzt wurde es auch Jes...Cain langsam zu viel und wir verabschiedeten uns, nachdem alle amtlichen Papiere ihren ursprünglichen Besitzer gefunden hatten. Als Entschädigung klaute Cain ihnen zwei Flaschen Bier und steckte sie in den Jutebeutel. „Tut mir Leid, ist irgendwie doof gelaufen.“, sagte er, nachdem wir uns ein Stück von der Gruppe entfernt haben. „Ist schon ok...“ Was konnte ich jetzt anderes sagen? Es war nicht wirklich seine Schuld. „Normalerweise ist Anne nicht so. Zumindest nicht ganz so...“ „Hatte doch alles, auch was Gutes. Jetzt weiß ich endlich wie du heißt.“ „Stimmt, wie lange es wohl sonst gedauert hätte, bis einer von uns endlich gefragt hätte?“ „Von meiner Seite wäre vermutlich keine Frage gekommen. Ich hab einen Kumpel an der Uni, den kenne ich seit über einem halben Jahr und weiß nicht wie er heißt.“ „Und ich hätte dich einfach die ganze Zeit 'Dude' genannt, es wäre dir gar nicht aufgefallen.“ Er biss sich kurz auf die Lippe. “Oder vielleicht Captain Schmollbacke...“ Ich blieb stehen. Wie er auf die Idee gekommen ist, war nachvollziehbar, aber etwas überraschend war es schon. Ich hätte etwas anderes erwartet, nicht sicher was genau, aber nicht Schmollbacke und besonders nicht Captain. „Dein Ernst?“ Cain zuckte unschuldig mit den Schultern. „Es war eine recht spontane Entscheidung...“ „Trottel...“, flüsterte ich und war erleichtert, dass er mich nicht fragte wie ich ihn genannt habe. Vor uns hatte sich in der Menge eine Kreis gebildet und man hörte begeistertes Klatschen. Aber von unserem Standpunkt konnte man nicht erkennen, was in der Mitte vor sich ging, also drängten wir uns etwas weiter nach vorne. Gerade passierte nicht viel. Eine Frau und zwei Männer, in Gauklerkostümen, standen um einen mit Plastikblumen verzierten Bollerwagen und berieten sich. "Wie es aussieht haben wir's verpasst.", sprach Cain enttäuscht aus, was ich mir gerade dachte. Die Frau sah sich mehrmals im Kreis um und redete auf einen der Männer ein, bis er irgendwann nachgab und mit einem Stab in der Hand, der fast so groß war wie er selbst, in die Mitte des Kreises trat. Er trug ein rot-schwarzes Kostüm und sein Gesicht war so geschminkt, dass es wie ein Totenschädel aussah. Cain stupste mich leicht mit dem Ellbogen an. "Das ist mein Mitbewohner.", sagte er euphorisch und war sichtlich begeistert, dass wir doch noch etwas zu sehen bekamen. "Du wohnst in einer WG?", wollte ich fragen, aber der Mann in der Mitte unterbrach mich. „Weil heute so ein wunderbarer Abend ist, wollen wir mit allen Traditionen brechen und noch eine Zugabe geben.“ Während er das sagte, zündeten die anderen zwei die Enden des Stabs an. „Dafür muss, aber auch das Trinkgeld stimmen“, fügte er mit einem Zwinkern hinzu. Die Feuershow begann mit ein paar kleineren Tricks, die zunehmend immer schwerer und gefährlicher wurden. Ich hatte anfangs Sorge, dass der Mann sich seine ebenfalls feuerroten Dreadlocks anzündet. Ihm jedoch, schien das alles keine besondere Mühe zu machen. Seine Bewegungen waren so leicht und flüssig, dass sie das Feuer jegliche Gefährlichkeit verlieren ließen. Es war so warm und hell, dass man nicht wegsehen konnte. Bei jeder Drehung hinterließ der Stab leuchtende, feurige Streifen in der Luft und ich fühlte mich wieder wie ein Kind im Zirkus, vollkommene Begeisterung. Dem Applaus nach zu urteilen, ging es nicht nur mir so. Die drei Künstler verbeugten sich, erfreut über den erfolgreichen Auftritt. Die Frau von ihnen ergriff das Wort: „So sehr wir uns über den Applaus freuen, wären wir auch über ein paar Euro von Ihnen entzückt, wenn Ihnen der Auftritt gefallen hat.“ Das ließen sich die Meisten hier nicht zweimal sagen und zückten bereits Münzen aus ihren Geldbörsen, während die drei mit Gauklerhüten in der Hand eine Runde durchs Publikum machten. Zu uns kam der Rothaarige, der immer noch etwas aus der Puste war. Ich warf drei Euro in den Hut, Cain hingegen machte keine Bewegung ihm etwas zu geben. „Ich zahle schon Miete, das muss reichen.“, erklärte er sich und lächelte als wäre er sich keiner Schuld bewusst. Der Andere sah ihn entgeistert an. „Das wirst du noch bereuen...“, zischte er mit einem leeren Blick, bevor er weiterging. „Solltest du Angst haben?“, fragte ich. Cain sah dem Mann kurz hinterher und antwortete mit einem einfachen „Ja“. Allmählich bekamen wir beide Hunger und machten uns auf die Suche nach einem Lokal, das nicht gnadenlos überfüllt war. Genauso gut hätten wir hier nach dem Heu im Nadelhaufen suchen können. An einem Restaurant das Pizza verkaufte, gab Cain schließlich auf und meinte, dass er für diese Pizza auch die meterlange Schlange in Kauf nehmen würde. Also beauftragte ich ihn damit, mir eine Salami Pizza zu kaufen, sollte er noch vor Sonnenaufgang am Bestelltresen ankommen. Mir war es im Laden einfach zu voll, deshalb wartete ich lieber draußen. Allgemein wurden mir die Menschen hier langsam zu viel. Am Anfang des Abends mag es noch gegangen sein, aber jetzt war es nur noch anstrengend und nervig. Man wurde ständig angerempelt und mit dem steigenden Alkoholpegel der meisten Besucher, stieg auch die Lautstärke. Das reichte schon um mich zu überfordern. Bisher konnte ich, das ganz gut vor Cain verstecken um ihm die Laune nicht zu verderben. Bisher... Ich wartete bestimmt eine halbe Stunde und steigerte mich in den Gedanken hinein, wie sehr die Menschen hier mich nervten. Offensichtlich keine besonders schlaue Entscheidung. Ich hatte wieder meine schützende Pose, mit den verschränkten, an mich gepressten Armen eingenommen und war bereit dem Nächsten der mich berührt an die Gurgel zu springen. Cain kam mit zwei Pizzaschachteln in den Händen aus dem Laden gestolpert. „Sorry, es hat doch länger gedauert. Ich dachte... “ Er verstummte als ich zu ihm hoch sah, mein Blick sprach wohl Bände. „Alles gut bei dir? Willst du nach Hause? “ „Können wir einfach irgendwohin gehen, wo es ruhiger ist?“ Eine normale Bitte, dennoch fiel es mir schwerer sie auszusprechen, als es eigentlich sollte. Ich wollte weiterhin mit ihm Zeit verbringen, nur eben nicht hier. Doch dieses Straßenfest war ja der eigentliche Grund, warum wir uns getroffen haben. „Ähm, klar.“ Die Erleichterung stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. „Ich hab gerade schon gedacht deine Oma sei gestorben, so wie du geguckt hast.“ Cain orientierte sich einen Moment lang und beschloss, dass wir zu einem zwar unkonventionellen, wie er es ausdrückte, aber wahrscheinlich leereren Ort gehen, der nicht zu weit von hier lag. Ich folgte ihm durch Seitenstraßen, auf denen es zum Glück schon ruhiger zuging, zu einem Viadukt. Dort stiegen wir eine Treppe zu einer S-Bahn Station hoch und liefen bis zum Ende der Plattform, über die Gleise, dann durch ein Loch im Zaun. „Es war früher mal ein Stahlwerk, bis einige Gebäude ausgebrannt sind und sie es geschlossen haben.“ Unkonventionell, war durchaus das richtige Wort. Es war zu dunkel um viel zu erkennen, ich sah nur kaputte Fenster und Graffiti. In der Ferne hörte man die Bässe und das Gelächter des Straßenfestes. Bei jedem Schritt knirschten die Glasscherben unter unseren Füßen. Je weiter wir uns von der Station entfernten desto dunkler wurde es, doch Cain stampfte zielstrebig voran. Zwischen den verlassenen Häusern, die bisher eine durchgehende Front bildeten, öffnete sich eine Lücke und plötzlich realisierte ich, dass wir uns immer noch auf der Höhe des Viadukts befanden. Die Fenster an denen wir die ganze Zeit vorbeiliefen, gehören zu den Obergeschossen der Gebäude und der Boden lag etwa 15 m unter uns. Das Blut wich aus meinen Fingern. Ich hatte nicht unbedingt Höhenangst, aber etwas mulmig wurde mir dennoch. Die Tatsache das Cain neben einer Leiter stehen blieb, die zum Dach eines Gebäude führte, machte alles noch ein Stückchen schlimmer. „Entspann dich, Abel. Das Dach ist stabil, ich hab es oft genug getestet.“, versicherte er, während er mir die Pizzaschachteln in die Hände drückte. Es war ein nicht besonders hohes Flachdach und die Leiter wirkte auch vertrauenswürdig. Trotzdem war ich nicht besonders begeistert von dieser Idee. Nachdem Cain nach oben geklettert war, nahm er mir die Pizzen wieder ab (was mit ein bisschen Strecken problemlos funktionierte) damit ich auch hochklettern konnte. Ich musste mir die Hände an meiner Jeans abwischen, weil ich sonst Angst hatte abzurutschen. Vorsichtig, Stufe für Stufe, kämpfte ich mich langsam hoch. Cain sah amüsiert dabei zu und kicherte wie ein Schulmädchen. Bei der letzten Stufe reichte er mir die Hand und zog mich mit einem Ruck hoch. Da waren wir nun auf dem Dach einer einsturzgefährdeten Fabrik, umgeben von unzähligen, weiteren dunklen Dächern die sich bis zum Horizont zogen und über uns der Sternenhimmel in seiner vollsten Pracht. „Großstadt Romantik pur“, flüsterte Cain. Ich antwortete nicht, egal was ich sagte, es würde diese Atmosphäre ruinieren. Das erste Mal seit langem fühlte ich mich nicht fehl am Platz. Ich wollte gerade, nur hier sein und alles andere vergessen. Dieser Moment durfte nicht Enden, denn er würde nicht wiederkommen. Was bleiben wird, sind nur Erinnerungen die lediglich blasse Schatten von jetzt sein werden. Wie lange werde ich mich an das Gefühl des frischen Windes hier oben, auf meiner Haut erinnern? Wie lange an den Geruch der frischen, klaren Luft? Und wie lange würde es dauern bis ich vergaß wie es war, nicht allein zu sein? Ich merkte wie meine Sicht sich wegen der Tränen trübte die meine Wange runter liefen. Nicht weinen! Nicht jetzt! Ich versuchte möglichst unauffällig mir die Tränen aus dem Gesicht zu wischen und mich so zu drehen, dass man nicht sehen konnte wie überemotional ich war. „Hey...“ Cain legte mir vorsichtig eine Hand auf die Schulter. „Was ist passiert?“ „Nichts, ich weiß es nicht.“, sagte ich mit zittriger Stimme und musste noch mehr schluchzen. „Sieh mich bitte an.“, bat Cain sanft. Er sah mir mit einem sehr ernsten Gesichtsausdruck direkt in die Augen. „Egal, was es ist, es wird alles gut. Ich verspreche es!“ In seiner Stimme lag kein Anzeichen von Zweifel, sie war genauso ernst wie sein Blick und man konnte nicht anders als ihm zu glauben. Ich wollte ihm glauben. Er presste mich an sich und alles wurde warm. Ich dachte an nichts mehr, außer daran, dass er hier war. Da war niemand mehr, keine Uni, keine Eltern, keine Zukunftsängste. Nur wir. Nichtsdestotrotz brauchte ich meine Zeit um mich wieder zu beruhigen. „Die Pizza ist bestimmt schon kalt.“, flüsterte ich schließlich. Cain ließ mich los um mein Gesicht besser sehen zu können. Ich schenkte ihm ein schwaches Lächeln. „Wir sollten sie wirklich langsam essen.“ „Mir fehlen die Worte.“, sagte er lachend und wuschelte mir durch die Haare. Ich hatte Recht, die Pizza war eisig, doch das war mir jetzt egal. Dafür war ich viel zu fertig. Cain erinnerte sich an das Bier in seiner Tasche und zauberte es hervor. Natürlich bot er mir eins an. „Ich muss später noch nach Hause fahren. Also, nein danke.“ „Du siehst gerade aus, als könntest du echt gut eins vertragen.“ Er rollte die Flasche zu mir rüber. Ich hielt einen Moment inne und spielte das Bier zwischen meinen Händen hin und her. „Es war dumm zu weinen. Sorry.“ Die Flasche rollte wieder zu ihm. „Daran ist nichts dumm. Man weint nicht ohne Grund und das sollte man nicht ignorieren. Also entschuldige dich nicht dafür. Das macht dich auch nicht unmännlich oder sonst was.“ Von dem Klischee das Männer nicht weinen sollten, hielt ich selbst nicht viel. Ich weinte oft, in letzter Zeit sogar zu oft, für meinen Geschmack. Das hab ich auch als Kind schon gemacht. Ich weiß gar nicht wie oft meine Mutter mich deswegen angeschrien hat. Damals hatte ich es wenigstens einen halbwegs vernünftigen Grund. Ich hatte Angst vor einer Impfung oder vor dem Zahnarzt oder ich habe mein Spielzeug verloren. Es war immer etwas greifbares und etwas was man beheben konnte. Nun war es schwieriger. Oft schien alles ok, dann plötzlich traf es mich wie ein Schlag ins Gesicht und ich musste weinen, weil eben doch nicht alles so schön war, wie ich es mir gerne einredete. „Willst du darüber reden?“ „Nein“ Dafür ist dieser Ort zu schön und der Moment zu kostbar. Also aßen wir erst mal schweigend unsere Pizza. Cain griff nach seinem Handy, nachdem es das dritte Mal in Folge vibrierte. Er schüttelte den Kopf. „Ich muss Anne kurz antworten, sonst kommt sie noch auf falsche Ideen.“, sagte er und vertiefte sich ins intensive Tippen. Da ich absolut keine Ahnung hatte, wie spät es war, zückte ich ebenfalls mein Handy. Kurz nach Mitternacht. Ich hatte nur ein paar Benachrichtigungen über Emails, die aber alle Spam waren. Oh, eine neue Nachricht von Jesus. Es waren die Selfies mit den dämlichen Mützen. Und ich sollte unbedingt seinen Namen ändern! Leider war er schneller. „Hast du gesehen, ich hab dir die Fotos gesen... Jesus?!“ Cain zog die Augenbrauen hoch. „Ihr habt eine gewisse Ähnlichkeit, ok?“ Ich änderte den Namen so schnell wie möglich, er war dennoch nicht überzeugt. „Das ich meinen Dornenkranz und das Kreuz leider zu Hause gelassen hab, hat dich bestimmt enttäuscht.“ „Ja, total. Besonders auf das Kreuz hab ich mich gefreut.“ „Jesus...pfff“, murmelte er noch etwas vor sich hin, nahm einen großen Schluck vom Bier und legte sich aufs Dach. Ich saß im Schneidersitz neben ihm und beobachte wie er die Sterne bestaunte. Dann drehte er sich auf einmal zu mir. „Erzähl mir etwas über dich.“ „Was möchtest du denn wissen?“ „Alles, was du verraten willst.“ Mein Hirn hatte plötzlich jede Information, die mich betraf völlig vergessen. „Willst du vielleicht eine präzisere Frage stellen?“ „Nur eine? Na gut. Wie alt bist du?“ Eigentlich konnte er mir so viele Fragen stellen wie ihm einfielen, aber wenn er es so wollte. „Du hast eine Frage und du verschwendest sie, darauf zu fragen wie alt ich bin? Was willst du damit?“ „Antworte einfach!“ „Ich bin 19 und du?“ „Bisschen älter.“ „60?“ „Also erst mal: Fick dich! Und Zweitens ich bin 23.“ Ich hätte ihn nicht viel älter als mich geschätzt, aber in diesem Alter fielen ein paar Jahre mehr oder weniger kaum auf. „Darf ich dich auch was fragen?“ „Klar nur zu. Bevor wir wieder in eine Situation kommen, wie mit unseren Namen und allen auffällt, dass wir uns kaum kennen. Schlimm genug, dass wir es selbst wissen, oder?“ Sein Satz klang leicht kryptisch. „Wie meinst du das?“ „Findest du es nicht komisch, dass wir uns unterhalten als würden wir uns ewig kennen und dabei kannten wir nicht einmal unsere Namen? Aber, dass ist jetzt erst mal egal. Du wolltest was fragen.“ „Was machst du eigentlich wenn du nicht gerade auf Dächern chillst? So beruflich, meine ich.“ Cain grinste. „Gute Frage. Theoretisch studiere ich Germanistik, praktisch hab ich in der Zeit vielleicht 3 Vorlesungen besucht. Ein Hoch auf dieses fantastische Studienfach.“ „Weißt du was genau so spannend ist wie Germanistik? Jura! Und jetzt rate mal was ich studiere!“ „Dein Ernst? Du siehst gar nicht aus wie ein... Obwohl warte, doch!“ „War das eine Beleidigung?“ „Ist reicher Schnösel eine Beleidigung?“ „Hey!“ Ich boxte ihn leicht. Er musste ja nicht wissen, dass er teilweise recht hatte. Bei dieser Unterhaltung erfuhr ich mehr über ihn als in den Wochen vorher. Er erzählte, dass er bei seiner Oma aufgewachsen ist, weil seine Eltern gestorben sind. Es war überraschend, wie frei er darüber reden konnte, als wäre es das Normalste der Welt. Und von seinem Traum ein Schriftsteller zu werden und durch die Welt zu reisen um Abenteuerromane zu schrieben. Er hatte sogar schon Routen erstellt, zu Orten die er unbedingt sehen wollte. Ich merkte langsam wie meine Konzentration allmählich nachließ und die Kontaktlinsen in meinen Augen fühlten sich mittlerweile an wie Glassplitter, weil meine Augen so trocken waren. So sehr ich auch hier bleiben wollte, es war Zeit zu gehen. Cain trank noch die letzten Schlucke aus der zweiten Flasche Bier und wir machten uns auf den Rückweg. Die Treppe runter, wieder durch das Loch im Zaun. Als wir wieder auf der Plattform der S-Bahn Haltestelle liefen, griff Cain nach meiner Hand. So etwas kindisches und ich lief trotzdem rot an. Es gab offiziell keine Hoffnung mehr für mich. Das Fest war vorbei, die Schaufenster waren alle dunkel, nur vereinzelt saßen noch ein paar Menschen auf der Straße und genossen die nun herrschende Ruhe. Ich mochte es, wie unser Schatten auf dem Asphalt aussah. So sehr, dass ich beinah an meinem Auto vorbei lief, weil ich auf den Boden starrte. Nun kamen wir zum unangenehmen Teil. „Da wären wir...“ Der Wagen wurde natürlich erst mal ausgiebig betrachtet. Das Urteil: „Ein BMW...nicht schlecht.“ „Und du hast es nicht weit von hier?“, lenkte ich ab. „Ich muss nur zwei Straßen weiter, keine Sorge.“ Peinliches Schweigen. „Also ich...hm. Es war ein wirklich schöner Abend.“ Die Aufregung war wieder da. „Ja, fand ich auch. Aber ich kann verstehen, dass du jetzt los musst.“ Auch Cain hatte seine Gelassenheit verloren und zupfte am Ärmel seines Pullover herum. „Dann komm gut nach Hause.“ „Du auch. Du hast es ja weiter.“ Keiner bewegte sich, wir starrten nur und warteten auf irgendeine Geste des Anderen. Mein Herz hämmerte so laut, dass ich es in meinem Kopf lauter hörte als meine Gedanken. Eine Umarmung ist doch angebracht oder? Ich machte einen Schritt auf ihn zu, für mehr reichte mein Mut nicht. „Kannst du vielleicht wegsehen?“, fragte Cain nervös. „Wieso?“ Statt einer Antwort, hielt er mir die Augen mit einer Hand zu und presste kurz seine Lippen gegen meine. Dann stolperte er etwas von mir weg und wartete auf irgendeine Reaktion. Ich entschied mich, wie sollte es auch anders sein, für die schlimmst mögliche. Mein Kopf hat vollkommen auf Durchzug geschaltet. Ich stand regungslos da und durchbohrte ihn mit meinem Blick. „Alles gut bei dir?“ „Ich...ich glaube schon. Ich fahre jetzt.“ Mein letzter Satz klang weniger wie eine Aussage, sondern eher wie eine Frage. Cain nickte ermutigend. „Schreib mir wenn du zuhause bist.“ Ich stieg ins Auto und fuhr los. Wenn die Polizei mich angehalten hätte, hätten sie wohl gedacht ich hab irgendwas genommen, denn ich grinste wiedermal wie ein Idiot. Nichts war wie immer und das war auch gut so. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)