Cold Comfort von Palmira ================================================================================ Kapitel 1: Cold Comfort ----------------------- Die Küstenstraße zog sich in endlosen Kurven dahin, dichter, bergiger Nadelwald auf der einen Seite und raue See auf der anderen. Es hätte durchaus eine entspannte Fahrt sein können, wäre es nicht um den kräftigen Wind von Landeinwärts, der gegen das Auto drückte und Erwin permanent zum Gegenlenken zwang. Bei den steilen Anhöhen stöhnte der Motor. Es war nicht das Schlechteste, dass es ihn beschäftigt hielt. Es bedeutete, dass er nicht an das denken konnte, was vor ihm lag. Sein Handy war ausgeschaltet, aber er glaubte auch nicht, dass Keith Shadis ihn anrufen würde. Der Mann hatte deutlich genug gemacht, wie hoch er Erwins Chancen einschätzte, einen entflohenen Strafgefangenen in dessen verschlafenem Heimatort Solace irgendwo an der Küste von Maine wiederzufinden. Die Wahrscheinlichkeit war generell gering, aber Shadis' Meinung nach war sie bei Erwin noch viel geringer. Sympathisch nah an der Null. Erwin wusste, dass er gut war. Man kam nicht ins FBI, wenn man nicht gut war. Doch seit er dort rekrutiert worden war, hielt Shadis ihn für einen inkompetenten Idioten, und gelegentlich machte er das auch deutlich. Deswegen wunderte es Erwin, warum sein Vorgesetzter sich dagegen gesträubt hatte, ihn zumindest für ein paar Tage loszuwerden. Aber es sprach auch nichts dagegen, und es gab erst recht niemanden, der sich des Falls sonst noch annehmen wollte. Es war eine undankbare Aushilfsaufgabe, und da Shadis ihm noch keinen Partner zugeteilt hatte, nachdem der Letzte eine Kugel mit seinem Hinterkopf gefangen hatte, nahm Erwin sie allein wahr. Das Radio spielte ein unmöglich eingängiges Lied. Erwin nahm die Augen kurz von der Straße, um einen anderen Sender einzustellen – was war es mit diesen Pop-Songs und warum kam keine Frequenz ohne sie aus?! - als der Wagen plötzlich absackte. Nicht in ein Schlagloch, sondern in voller Fahrt und so abrupt, dass nur der Sicherheitsgurt Erwin davor bewahrte, gegen die Scheibe seines Beifahrerfensters geschleudert zu werden. Seine Hände klammerten sich instinktiv am Lenkrad fest, auch wenn ein einziger Blick nach draußen offenbarte, dass ihm dieses Gerät nutzlos sein würde. Vor ihm klaffte der Asphalt mit einem grollenden Knirschen auf, und während ein Rad des Autos in der Spalte feststeckte, begann das Heck bedenklich zur Seite zu rutschen. Erwin hatte die schroffe Steilküste lange genug vor Augen gehabt, um zu wissen, was 'zur Seite' bedeutete. Und je weiter der Riss in der Straße aufklaffte, desto mehr gab er das rotierende Rad frei und ließ den Wagen weiter abrutschen. Während Erwin mit starren Fingern nach dem Verschluss seines Gurts suchte, um aus dem Auto zu klettern, entdeckte er einige hundert Meter eine Gestalt in einem Regenmantel, die einige zögerliche Schritte in seine Richtung machte – doch sobald der Gurt aufschnappte, warf sie sich herum und rannte davon. Erwin knirschte mit den Zähnen und lehnte sich vorsichtig auf den Beifahrersitz, zog seine Beine gezwungen-langsam nach. Der Wagen knarrte: er balancierte jetzt auf dem äußersten Straßenrand, unter sich die Steilküste mit ihren zerklüfteten Felsen und, sehr viel weiter unten, dem Sandstrand. Erwins Bewegungen ließen ihn schwanken, aber nicht stark genug, um ihn zu kippen. Noch nicht. Er hatte ja den verdammten Wind, der gegen das Auto drückte und es spöttisch hin und her wiegte. Das Blech kreischte, als es über die Kante des Asphalts schrammte. Erwin konzentrierte sich völlig darauf, seine Beine vorsichtig aus dem Fußraum zu ziehen und mehr Gewicht auf die Seite des Autos zu verlagern, die nicht über dem Abgrund hing. Deswegen hörte er nicht unmittelbar, wie jemand gegen seine Scheibe klopfte. Allerdings spürte er die Erschütterung bizarr genau. „Hey! Schließen Sie auf, dann öffne ich die Tür.“ Geniale Idee – woran arbeitete er denn gerade?! Der Mietwagen hatte keine Autolock-Taste, und Erwin kam noch nicht nahe genug an den Türgriff heran, um ihn zu bedienen; falls die Kindersicherung das Öffnen bei laufendem Motor überhaupt zuließ. Aber das zu erklären brauchte Zeit, die er nicht hatte. Er erhaschte den dunklen Schemen nur aus den Augenwinkeln, bevor er den Zündschlüssel drehte und der Motor erstarb. Ohne das Rotieren der Räder neigte der Wagen sich jetzt deutlicher mit dem Wind, aber es öffnete die Türen. Erwin stieß sich in dem selben Moment vom Sitz ab, wie jemand die Beifahrertür aufriss und seinen Arm packte. Noch während Erwin auf den rissigen Asphalt aufschlug, spürte er, wie das Auto unter ihm wegglitt – ein Gefühl, das so widerlich bodenlos war, dass er es nie wieder erleben wollte. Mit einem metallischen Kreischen kippte das Gefährt von der Straße und stürzte krachend in die Tiefe. Erwin atmete eine Sekunde lang tief durch. Mehr Zeit erlaubte er sich nicht, bis er seine Dienstwaffe zog und sie auf die andere Person richtete, noch bevor er sich vollständig aufgerappelt hatte. Neben zwei dunkelbraunen Augen starrte ihm auch die Mündung einer Pistole entgegen. „Polizei, lassen Sie die Waffe fallen!“ Erwin erwiderte seinen Blick ohne Wimpernzucken. „FBI. Lassen Sie die Waffe fallen.“ Vor ihm stand ein Mann in Zivilkleidung – wenn er wirklich Polizist war, interessierte man sich in Solace nicht sonderlich für Uniformen. Er hielt seine Waffe wie jemand, der sie nicht oft zu ziehen brauchte, aber tatsächlich abdrücken würde, wenn es nötig war. Das Gesicht des Mannes war noch jung, wirkte aber älter durch die dünnen Ansätze eines Barts an Kinn und Oberlippe. Er war wenig kleiner als Erwin und vermutlich etwas jünger, sein schwarzes Haar zog sich an den Schläfen bereits zurück. „FBI?“ Der Mann senkte seine Waffe leicht, doch als Erwin nicht dasselbe tat, verharrte er so und musterte ihn irritiert. „Was wollen Sie-“ „Ihre Marke.“ „Wenn Sie mir Ihre zeigen.“ Provinzpolizist, aber offenbar nicht völlig ohne Rückgrat. Erwin deutete mit dem Lauf seiner Pistole auf den Regenmantel des Mannes. Der Farbton war dem der Person ähnlich, die vorhin weggerannt war, aber die Statur passte nicht – gut möglich, dass er wirklich den örtlichen Polizisten vor sich hatte. Was ihm fehlte, war der Grund. Der schwarzhaarige Mann zog seinen Reißverschluss ein paar Zentimeter herunter und gab somit den Blick frei auf die Marke des Bundesstaats. Erwin ließ seine Waffe sinken und zog seinen Ausweis aus der Tasche, kam aber nicht näher. „Name?“ „Dazu wär' ich gekommen, wenn Sie nicht sofort Ihre Kanone gezogen hätten.“ „Ich war nicht der Einzige.“ Erwin steckte seine Waffe zurück ins Holster, während der Polizist mit den Augen rollte und die Schultern hob. „PD Nile.“ Erwin warf einen Blick auf die aufgebrochene Straße und das Wrack seines Leihwagens. Das Fahrzeug lag auf dem Dach, die Räder drehten sich noch leicht. Er war noch ein paar Kilometer von Solace entfernt, und vor ihm hatte der Erdboden sich aufgerissen und ihn beinahe an der Steilküste zerschellen lassen. Das war nicht... normal. Besser, er riss sich zusammen. Erwin wandte sich Nile zu und streckte die Hand aus – möglich, dass er die Kooperation des Mannes noch brauchte, auch wenn es ein Routinefall war, der ihn herbrachte. „Erwin Smith.“ Nile runzelte die Stirn, nahm seine Hand aber. „Tut mir leid wegen Ihres Autos. Der Straßenabschnitt war offensichtlich korrodiert, ich nehm' das auf. Sie haben sich nicht angekündigt, oder?“ In Anbetracht dessen, dass er für die höherstehende Behörde arbeitete, hatte Erwin das natürlich nicht getan, aber er behielt es für sich. Dem örtlichen Detective zu vermitteln, dass man ihn für inkompetent und unterqualifiziert hielt und obendrein für befangen, war nicht wirklich... geschickt. „Nein. Ich komme wegen Reeves.“ Dimo Reeves war vor kurzem aus dem Gefängnis ausgebrochen: zwei Wochen vor dem regulären Ende seiner Haft. Es wäre schon einem dümmeren Mann aufgefallen, dass es sich dabei um einen idiotischen Entschluss handelte, und Reeves war nicht dumm; er hätte nicht ausbrechen können, wenn er es wäre, und das FBI würde sich auch nicht für zuständig halten. Niles schmaler Bart wurde noch etwas dünner, als er die Lippen zusammenpresste und nickte. „Dachte ich mir fast.“ Es war nicht schwer, die Untertöne herauszuhören. Erwin strich sich eine Strähne blonden Haars zurück, die der pfeifende Wind – der jetzt von seewärts blies – aus ihrer Ordnung gezerrt hatte. „Und Sie fahren Patrouillen deswegen.“ Nile nickte; nicht geschmeichelt, aber Erwin spürte ein Nachlassen seiner Anspannung, als der 'FBI-Schnösel' zur Kenntnis nahm, dass die örtliche Polizei sich mit Reeves befasste. „Ich kann Sie mit nach Solace nehmen, nachdem Ihr Wagen...“ Korrodierte Straße. Erwin hatte Erdbebenschauplätze gesehen, die flacher waren als diese Risse im Erdreich. Insofern konnte er einen skeptischen Blick in Niles Richtung nicht unterdrücken. „Zu freundlich“, erwiderte er trocken. „Gibt es hier irgendwo eine Abstiegsmöglichkeit? Ich würde gern versuchen, ein paar Unterlagen zu bergen.“ „Sie haben Nerven.“ Es klang sowohl spöttisch als auch bewundernd, und das schiefe Lächeln, das Niles Gesicht dabei erhellte, nahm ihm etwas die Schärfe. „Gibt es, aber wir müssen einen Umweg nehmen. Steigen Sie ein.“ Erwin warf einen letzten, langen Blick auf das Autowrack. „Dann haben Sie Zeit, Ihr Revier anzurufen. Da unten liegt ein Körper.“   Es war kalt und windig, Erwins Leihwagen war Schrott, und Dimo Reeves war tot. Zwar war er das schon gewesen, bevor dieses Auto beinahe auf ihm gelandet wäre, aber das machte die Sache nicht besser. Es war alles in allem also ein brillanter Tag. Falls das nicht reichte, so war Nile vielleicht jemand, mit dem man zusammenarbeiten konnte, aber er war nicht der örtliche Polizeipräsident. Falls dieses Kaff diesen Begriff überhaupt verdiente. Darius Zackly starrte ihn über die abgerundeten Gläser seiner Brille an, als könnte sein Blick allein Erwin zentimeterweise im feuchten Sand versinken lassen, bis der Größenunterschied zwischen ihnen zerschmolz. Der Vorsicht nach, mit der seine Untergebenen Zackly behandelten, hatte das schon manches Mal geklappt. Erwin starrte zurück, die Arme vor der Brust verschränkt. Und er wurde nicht kleiner. „Es gibt nichts zu ermitteln“, bemerkte Zackly mit viel Müdigkeit und einem Hauch Gereiztheit, als hätte er es mit einem besonders impertinenten Neunjährigen zu tun, der im Polizeiauto vorne sitzen wollte. „Ein unglücklicher Sturz. Wie Ihnen aufgefallen sein dürfte, als Sie Ihr Fahrzeug fast auf der Leiche geparkt hätten, ist das hier wahrscheinlich.“ Er schaffte es, so nüchtern zu klingen, als hätte Erwin eine Parklücke falsch anvisiert und jeder hätte es gesehen. „Es ist nicht wahrscheinlich, dass jemand wie Reeves aus dem Gefängnis ausbricht und den ganzen Weg bis hierher schafft, um dann eine Steilküste herunterzustürzen.“ Zacklys Miene sagte einiges über seine Meinung zu überbezahlten FBI-Agents, die an diesen Ort kamen und nichts als Arbeit machten. „Weniger wahrscheinlich als ein Staatsagent, der fast dasselbe tut?“ „Überstellen Sie die Leiche an die nächste Gerichtsmedizin.“ „Wozu – Reeves ist verurteilt, jetzt ist er tot. Ein Unfall. Sie können wieder fahren.“ Wieder diese dröge Sachlichkeit. Erwin zog seine Augenbrauen minimal über der Nasenwurzel zusammen. „Es war kein Unfall.“ „Zum Glück haben Staatsagenten das im Gefühl.“ Zacklys Ton änderte sich kaum, dennoch gelang es ihm, das letzte Wort abfällig zu betonen. „Mr. Smith hat die Leiche gefunden. Das beendet also die Fahndung und bringt uns weiter.“ Zu Erwins Überraschung war Nile herangetreten und wurde umgehend Zielscheibe von Zacklys ungnädigem Blick – während der Polizeipräsident Erwin gegenüber noch vorgegeben hatte, unbeteiligt zu sein, musterte er Nile wie einen unerwünschten Einwurf. Es entging dem Jüngeren wohl kaum, doch abgesehen von seiner äußerst aufrechten Haltung reagierte er nicht darauf. „Muss dich freuen, wenn du von der Patrouille abgezogen wirst.“ „Es freut mich, wenn Reeves nicht mehr Solaces Problem ist und den ganzen Ort in Verruf bringt. Und dann ist es mir egal, ob das mir oder dem FBI zu verdanken ist.“ Eine schwache Note von Trotz; offenbar fand dieser Konflikt nicht zum ersten Mal statt. Zackly schnaubte abfällig und zog eine Hand aus der Manteltasche, um sein ergrautes Haar zurückzustreifen. „Wundert mich nicht, dass du das so siehst. Nur zu, wenn du es dir einfach machen willst – dann kümmer' du dich um den Besuch aus der Großstadt.“ Zackly wandte sich ab, noch ehe Nile etwas erwidern konnte; ein Seitenblick auf den Polizisten sagte Erwin, dass Nile das auch nicht vorhatte. Stattdessen wartete er ab, bis sein Vorgesetzter sich auf dem Weg zurück zu seinem Wagen befand, ehe er leise die Luft ausstieß. „Willkommen in Solace.“ Erwins Mundwinkel zuckten kurz. „Danke. Ich sehe mir jetzt 'meine' Leiche an.“ „Was auch immer Sie nicht lassen können.“ Nile folgte ihm zur Fundstelle und saß mäßig interessiert zu, wie Erwin neben dem Toten im feuchten Sand niederkniete und sich Gummihandschuhe überzog. „Reeves hat Solace vor etwa zehn Jahren verlassen – und die Leute werden nicht gern daran erinnert.“ Erwin tastete vorsichtig über Reeves' Nacken und die zerschmetterten Wirbel unter der starren, kautschukartigen Haut. „Es wird sich nicht vermeiden lassen. Gibt es Akten über ihn?“ „Schon. Aber sicher nicht so ausführlich, wie Sie es gewohnt sind.“ „Das wird auch nicht nötig sein. Hier...“ Erwin winkte Nile heran und hob eine bereits starre Hand, die trotz der Leichenstarre noch beweglich war. Warum, offenbarte sich bald, als er leicht daran rüttelte und der Arm mitschwang wie eine steife Wäscheleine. „Das sind unzählige Brüche. Viel zu fein, als dass er sie sich bei einem Sturz zugezogen haben kann.“ Nile verzog das Gesicht, wandte den Blick aber nicht ab. „Reeves war hier nicht beliebt, doch niemand hier würde ihn foltern.“ Erwin hatte eine weniger wohlgesonnene Einstellung zu seinen Mitmenschen, allerdings ahnte er, dass er Nile und dessen Bekanntheit in Solace brauchen würde, es also nicht ratsam war, diesen vor den Kopf zu stoßen. Er ließ die Hand des Toten wieder sinken. „Möglich, dass diese Verletzungen nach dem Genickbruch kamen. Aber er liegt zu weit von der Klippe entfernt, um...“ Erwin unterbrach sich und richtete sich auf, um zu den schroffen Kalksteinklippen aufzublicken, die weiter oberhalb der Straße lagen. Dunkelgrünes Nadelholz bewucherte den Stein – und unter Reeves' Schuhsohlen hafteten Erde und Nadeln. „Was ist da oben?“ Nile folgte seinem Fingerzeig und kratzte sich nachdenklich den Bart. „Nichts Besonderes. Vielleicht ein Picknickplatz.“ Ein ebenfalls nicht uniformierter Mann mit einer vergilbten Marke am Revers – wohl so etwas wie ein Hilfssheriff – trat an Nile heran und räusperte sich mit einem nervösen Seitenblick auf Erwin. „Hat der Chief etwas wegen der... Leiche gesagt, Nile?“ „Sie können Reeves abholen lassen“, erwiderte Erwin, noch bevor Nile antworten konnte, und zog die Handschuhe wieder aus. Er mochte das Gefühl von Gummi nicht, was auf seine Art eine praktische Erklärung für sein kaum vorhandenes Sexleben war. Den Rest der Erklärung lieferte sein Arbeitspensum. Mit einem Hauch von Genugtuung nahm er zur Kenntnis, dass der Mann sich leicht duckte und dann sein Handy zückte, vermutlich um die Polizeiwache anzurufen und sich von dort weiterverbinden zu lassen. Solace hatte vermutlich nicht allzu viele ausgebildete Beamte, die wirklich ihren Dienst versahen. „Wenn Sie den Kommando-Tonfall anschlagen, müssen Sie sich auch mit dem Vornamen ansprechen lassen... Das macht man hier so.“ Schwer zu sagen, ob Nile eher gereizt oder auf seine Art amüsiert war. Erwin schob erneut eine Haarsträhne zurück aus seiner Stirn. „Ich bleibe ja nicht, Mr. Nile.“ „Ist mein Vorname.“ „Und Ihr Nachname?“ „Zackly.“ Erwins Blick schnellte zu Nile zurück, und der Mann grinste süffisant. „Sie wollen auf die Klippe? Da geht's hoch.“   Nile war der einzige Sohn von Darius Zackly, und nach eigener Aussage stand er in der Kompetenz-Hierarchie demnach ganz unten – nachdem Erwin die Begegnung der beiden beobachtet hatte, hielt er das nicht mal für übertrieben. „Ich weiß nicht, ob er mich in irgendeinem anderen Job sehen würde – eher nicht. Er hasst es, dass ich nicht auf ihn höre... Ist Motivation genug.“ Nile hielt an, weil Erwin stehen blieb, um einen Abschnitt des morschen Geländers zu inspizieren. Die Treppen, die zur Klippe hinauf führten, waren verwitterter Beton und vor allem Moos, das sie noch zusammenhielt. „Ist er nicht froh, dass Sie in-“ diesem Misthaufen am Arsch der Welt „- Reichweite geblieben sind?“ „Wohl kaum. Aber wenn er mich nicht die ganze Zeit korrigieren könnte, wäre er auch nicht glücklich. So ist er den Großteil des Tages mein Boss... Der Traum jeden Vaters.“ Erwin zuckte mit den Schultern. „Ja?“ „Vergleichen Sie's mit Ihrem.“ „Geht nicht.“ Auch wenn ihm klar war, dass das keinen Unterschied machte, fügte Erwin hinzu: „Ich bin im Heim aufgewachsen.“ „Oh. Sorry.“ Er mochte es, wie Nile reagierte – unaufgeregt angesichts einer Information, die Erwin ihm freiwillig gegeben hatte. Die meisten Menschen verhielten sich so entsetzt, als hätten sie ihn eine zwanzig Meter lange Treppenflucht hinuntergestoßen. Nile verhielt sich allenfalls, als sei er ihm gerade auf den Fuß getreten. „Kein Problem.“ Er zerbröselte etwas dunkle Erde zwischen seinen Fingern. „Das ist der Boden, den Reeves unter den Schuhen hatte, aber die Nadeln fehlen noch. Er trug teure Lederschuhe mit wenig Profil, am ehesten könnte weiche Erde darin haften.“ Unnötig zu sagen, dass der Boden hier trocken war und der scharfe Wind die Nadeln zusammentrug. Nile kratzte sich nachdenklich das Kinn. „Der Picknickplatz ist windgeschützt, aber manchmal sammelt sich Wasser in der Senke.“ Erwins markante Augenbrauen hoben sich ein wenig, als er aufstand. „Ist das Basiswissen für diese Gegend?“ Es stimmte ihn einen Hauch misstrauisch, dass Nile so genau die Bodenbeschaffenheit bestimmen konnte, doch als der andere grinste, lag keine Nervosität darin. Zufall oder gute Nerven. „Nein. Aber raten Sie mal, wofür dieser Ort sonst noch gerne benutzt wird.“ „Ah.“ „Die Sehenswürdigkeiten von Solace, Station 1.“ „Jetzt kann ich auf den Rest verzichten.“ „Ihr Verlust.“   Der kleine Picknickplatz war zum Glück verlassen, doch der Wind war hier tatsächlich schwächer. Erwin drückte unauffällig seine kalten Finger gegen die Seiten, während er sich umsah. Nile tat dasselbe, auch wenn der Agent in Erwin ihn am liebsten des potenziellen Tatorts verwiesen hätte – aber das wäre dumm. Nile war hoffentlich zu jung, um schon vor der Haft gegen Reeves ermittelt zu haben, folglich war er wenig vorbelastet. Anders als sein Vater. Der Platz bestand aus zwei hölzernen Picknicktischen mit Bänken, die Füße einbetoniert. Eine Schaukel mit einem Autoreifen hatte als Spielzeug für Kinder gedient, bis eine der Ketten aus ihrer Verankerung gerostet und abgerissen war, wahrscheinlich unter tatkräftiger Hilfe übermütiger Jugendlicher. Ein Trampelpfad führte hinauf zu einem Plateau auf der Klippe, welches Erwin vom Strand aus gesehen hatte, doch der kahle Stein dort gab dem bloßen Auge keine Spuren preis, und dieses Nest hatte natürlich keinen Forensiker. Dafür wurde der Weg hinauf auf andere Weise belohnt. Hinter dem Mülleimer am Rand der kleinen Senke fand Erwin einen kleinen Koffer mit einem Zahlenschloss. Nile pfiff leise durch die Zähne, als Erwin seinen Fund aufhob und auf einem der Tische aufklappte. „Ist das Ihr Partytrick?“ „Fast. Das Schloss war nicht eingerastet.“ Was jemandem wie Reeves überhaupt nicht ähnlich sah. Es sei denn, er fühlte sich gleichzeitig sicher und hatte es eilig. Der Koffer enthielt ein paar Gegenstände, die Erwin aus der Liste persönlicher Besitztümer kannte, welche Reeves bei Haftantritt bei sich gehabt hatte. Kleidung. Ein Magazin, aber keine Waffe. Bargeld, jedoch nicht so viel, dass es zum Untertauchen auf längere Zeit reichte. „Er hat den Koffer dort abgestellt und sich mit jemandem getroffen?“, schlug Nile vor. Erwin nickte. „Vermutlich dort oben. Und unter Mitnahme seiner Waffe, die entweder hier verloren gegangen ist, oder... der Mörder hat sie genommen.“ Der Blick scharfer blauer Augen richtete sich auf Nile. „Wie viel Unterstützung hatte er hier? Alte Kontakte?“ Nile verzog das Gesicht, als hätte er sich auf die Zunge gebissen. Ähnlich widerwillig klang seine Antwort. „Er ist nicht gerade im Guten gegangen, aber er hatte sicherlich noch ein paar Leute in der Hand. Sie sollten verdammt vorsichtig mit der Frage sein.“ Diese Warnung wiederholte sich. Erwin stimmte nicht damit überein, doch es gab Wichtigeres, als Nile von der Wichtigkeit seiner Ermittlungen zu überzeugen. Provinzielles Zartgefühl musste zurückstecken, bis Erwin seinen Mörder hatte. Und die Waffe. „Helfen Sie mir suchen?“ Nile zuckte mit den Schultern. „Glauben Sie, dass wir das Ding finden?“ „Nicht hier.“ „Ich auch nicht. Ich nehme die Seite, Sie die?“ „Sicher.“ Noch während er Heidelbeersträucher zur Seite schob, um den Boden abzusuchen, wanderte Erwins Blick zurück zur Küste. Er war sich nahezu sicher, dass Reeves vor seinem Tod hier oben gewesen war, vielleicht war er sogar hier gestorben. Aber wie verdammt war er ohne jegliche andere Spur nach dort unten gekommen?   Die Waffe blieb verschwunden, wie erwartet. Schließlich nahm Nile Erwin mit nach Solace, damit er sein mittlerweile geborgenes Gepäck in ein örtliches Hotel bringen konnte ('rustikaler Charme' war wohl die passende Beschreibung; Erwin war fasziniert, wie Menschen hier freiwillig Urlaub machen konnten), während Nile die Unterlagen zur Person Reeves aus der Wache holte. Es war nicht viel, was die Polizei zusammengetragen hatte – schon in seiner Anfangszeit war Dimo Reeves einfach zu schlau gewesen, um sich bei dem meisten, was er tat, erwischen zu lassen. Verbleibende Spießgesellen waren mittlerweile 'ehrbar' (mit dem Wort konnte Erwin nichts anfangen) und wurden, wie Nile prophezeit hatte, äußerst ungern an diese Zeiten erinnert. Ungeachtet des persönlichen Feingefühls reagierten sie aber nicht mit den Untertönen tiefen Gefühls, die auf die Fähigkeit hindeuteten, einen Mord zu begehen. Diejenigen, die nachhaltig durch frühere Verbrechen Schaden genommen hatten, waren zum Großteil weggezogen oder hatten für die Tatzeit nicht besonders ruhmreiche, aber wasserdichte Alibis – eine Ausnüchterungszelle zum Beispiel. „Es gibt also... Geschäftspartner, die nicht in den Akten erfasst werden.“ Erwin betrachtete stirnrunzelnd seine Notizen. Nile und er hatten sich auf einer Bank mit Ausblick auf den malerischen Hafen von Solace niedergelassen. Weiß und blau gestrichene kleine Häuser säumten diesen Bereich, viele davon Restaurants, Zubehörläden und Souvenirshops. Es roch nach gegrilltem Fisch. Maine war berühmt für Hummer, doch Erwin mochte keine Krustentiere. Oder vielmehr probierte er sie gar nicht erst. „Damit kennt sich der Chief besser aus als ich.“ „Aber...?“ Nile zog eine Grimasse. „Aber es ist eine wandelnde offene Wunde, dass er sie nicht drangekriegt hat. Und immer noch nicht drankriegt. Von denen hat keiner Reeves ermordet.“ „Wieso sind Sie sich so sicher?“ Erwin klappte sein Notizbuch zu und steckte es wieder in seine Manteltasche. Er mochte keine Vorannahmen, schon gar nicht, wenn man sie ihm als Tatsachen vorsetzte. „Das sind nicht die Leute, die jemanden töten. Schon gar nicht so auffällig. Dass er sich mit einem von denen getroffen hat, ist allerdings drin.“ Nile schirmte sein Feuerzeug mit einer Hand ab, um sich eine Zigarette anzuzünden. „Dann brauche ich ihre Namen.“ Nile stieß etwas Rauch aus und blickte hinaus auf dem Hafen. Sein Blick verdüsterte sich dabei, ohne dass Erwin das direkt auf ihr Thema zurückführte. „Dann steht uns ein spannender Nachmittag auf dem Revier bevor.“ Mit dilettantischen Berichten, schlampiger Aktenführung und schlechtem Kaffee. Erwin verbot sich ein Seufzen. „Na dann.“ „Ihr Arbeitseifer ist ja ekelhaft. Essen Sie überhaupt zwischendurch?“ „Ich mag keinen Hummer.“ „Wir haben auch nette Pancakes.“ „Meinetwegen.“   'Wir' stellte sich als ein Café heraus, das noch in Sichtweite des Hafens lag, aber weit genug im Dorf lag, um als 'innen' zu gelten. Es hatte eine rot gestrichene Holzfassade – rustikaler Charme! -, kitschige Markisen und eine ausnehmend hübsche Kellnerin. Rein zufällig handelte es sich um eine Personalunion mit Niles Verlobter. „FBI also. Ich hatte irgendwie gehofft, Reeves wäre nicht so wichtig.“ Marie stellte ein Tablett mit einer Kaffeekanne, einem Stövchen und einer Zuckerdose auf die Seite des Tisches, die nicht mit Akten bedeckt war. Außerdem brachte sie ein Kännchen mit Milch, ihrer Angabe nach direkt vom örtlichen Bauern. Erwin, der Milch vor allem in kleinen, sauber abgepackten Pöttchen mit Nährwertangaben, Haltbarkeitsdatum und Sollbruchstelle kannte, machte einen Bogen um dieses Kännchen. „Du weißt offiziell nichts davon“, wies Nile sie hin, und Marie erwiderte mit sich kräuselnden Lachfalten um die Augen, dass bereits das ganze Dorf davon wusste. Sie war eine patente, gelassene junge Frau, keine überragende Schönheit im klassischem Sinne, aber sehr anziehend. Erwin mochte sie. Marie ließ sie in Ruhe arbeiten und brachte gelegentlich Kaffee und Toasts, doch auch das änderte nichts daran, dass die Unterlagen nicht ergiebig waren. Die meiste Zeit schien die Polizei nicht mal gewusst zu haben, welche Art Geschäfte Reeves überhaupt tätigte. Schmuggel war die naheliegendste Vermutung, angesichts des Hafens. Als der Abend hereinbrach, war Erwin nicht wesentlich besser informiert als vorher. Nile bot ihn an, ihn zum Hotel zu fahren (nicht, dass die Wege in diesem Dorf besonders lang waren), aber Erwin lehnte ab. „Ich hätte gern noch etwas Bewegung“, log er mit völliger Unverfrorenheit. „Würden Sie die Akten zurück auf die Wache bringen?“ Ihr Durchkämmen der Akten fiel in etwa mit Maries Dienstschluss zusammen, sodass Erwin sich nicht besonders anstrengen musste, um Nile mit dieser kurzen Aufgabe zu verabschieden. Er hatte das unbestimmte Gefühl, dass dem Polizisten durchaus klar war, dass er herumkommandiert wurde, doch wie er Zackly gegenüber bereits gesagt hatte – je eher Reeves nicht mehr das Problem dieses Ortes war, desto besser. Es war eine gute Mentalität, dennoch war es besser, wenn Nile ihn für diesen Abend nicht mehr begleitete. Erwin verließ das Café, wandte sich aber nicht in Richtung des Hotels, sondern ging zum Hafen. Diesmal nicht in die touristisch attraktive Gegend mit den idyllischen Fischerbooten und kleinen Freizeitbooten, sondern in den Güterhafen. Der Unterschied war einer von Tag und Nacht, und das nicht nur wegen der heraufziehenden Dunkelheit. Dieser Teil des Hafens roch nach verrottendem Fisch, Salz und dem Rost, der die Container und manche der Tanker befallen hatte. Manche Lagerhäuser waren in guter Verfassung, andere moderten unübersehbar vor sich hin. Die Kühlhäuser, in denen manche der Fischer ihren Fang unterbrachten, bestärkten Erwin in seiner Entschlossenheit, nichts davon zu essen. Wie jeder gute Kleinkriminelle hatte Reeves hier in seinen Anfängen einige Objekte besessen, bevor er zu größeren Bühnen aufstieg. Manche Objekte waren an andere Besitzer übergegangen, andere standen leer. Es gab Gründe, warum Reeves in sein Heimatdorf zurückgekehrt war, obwohl das Ende seiner Haft kurz bevorgestanden hatte. Solace war kein guter Ort zum Untertauchen; wahrscheinlicher war, dass Reeves etwas von hier hatte holen wollen, das er brauchte. Vielleicht hatte er es nicht holen können, da sein Gesicht in Solace bekannt war... Und sein Partner hatte ihn umgebracht. Was die Frage aufwarf, worum es gegangen war. Irgendetwas, das auch für einen erfahrenen Geschäftsmann und Kriminellen so wichtig war, dass er nicht nur einen Ausbruch auf sich nahm, sondern auch das Risiko, an dem Ort gefunden zu werden, an dem man ihn als Erstes vermuten würde. Erwin schaltete seine Taschenlampe ein und ließ den Lichtkegel über die Schlösser der Container streichen. Manche hatten Plaketten und waren versiegelt, andere trugen nur ein schweres Vorhängeschloss. Manche hatten nichts von alledem, trotzdem waren die Container nur mit einem Brecheisen aufzustemmen. Der Wind war immer noch scharf und fand in jede Ritze der Kleidung hinein. Erwin unterdrückte ein Frösteln und holte sein Smartphone aus der Tasche, um die Fotos vom Inneren des Koffers zu überfliegen. Er hatte schon im Café überlegt, was womöglich auf das hinweisen konnte, was Reeves womöglich noch an Solace interessierte. Die Karte des Güterhafens zeigte mehrere Objekte an, die laut Niles Unterlagen mal mit Reeves in Verbindung gewesen waren, und sie alle zu durchsuchen würde nicht nur lange dauern, Erwin fehlten auch die Beweise, um das offiziell zu tun. Von all den Dingen, die Erwin diesem Mann am wenigsten zutraute, handelte es sich jedoch um den Handel mit Seefisch. Und das entsprechende Kühlhaus war noch in Betrieb, wenn auch im Besitz eines bedauerlich außerhalb des Dorfes weilenden Gentleman. Erwin ging weiter, bis er das fragliche Kühlhaus erreichte. Es war erwartungsgemäß nah am Pier, um den Fang sofort in die Kühlkammern zu bringen, aber genau das war eine Weile nicht mehr geschehen – Erwin war auch jetzt schon lange genug hier, um die Flecken von Möwendreck zu kennen, die bei anderen Kühlhäusern den Boden sprenkelten, und auch die Mülltonnen rochen weniger schlimm als die der Umgebung. Aber das Kühlhaus wurde genutzt: die Leuchtstoffröhren waren neu, das Schloss einige Jahre alt, dennoch hochwertig. Ein paar Jugendliche hatten mit Filzstiften an die Wände geschmiert, und Erwin überflog sie. Reeves hatte einen Sohn, aber der war nicht in Solace geboren und hatte das Dorf vermutlich auch nie gesehen; das hier waren eher die Namen der Dorfjugend, plus Touristen. Ich liebe dich, M! An einem Kühlhaus stehend war das ja fast eine Drohung. Erwin umrundete das Gebäude und stellte fest, dass an einer Ecke hohe, schmale Fenster lagen – vermutlich das Büro. Die Fenster waren zu klein, um sich hindurch zu zwängen, doch Erwin war groß genug, um hindurchsehen zu können, wenn er sich auf die Zehenspitzen stellte. Er legte sich eine Hand vor den Mund, damit sein Atem nicht das Glas beschlagen ließ, und richtete die Taschenlampe darauf. Innen befanden sich ein Schreibtisch, Stühle und Spinde, alles aus Blech und Hartplastik. Keine Hochsicherheitsverschlüsse, weshalb Erwin leicht sehen konnte, dass die Schränke mit stumpfer Gewalt aufgebrochen worden waren. Papier lag auf dem dunklen Boden verstreut. Nein... Der Boden war nicht dunkel. Da war Feuchtigkeit. Schweröl, um genau zu sein. In diesem Moment tauchte eine Gestalt im Türrahmen auf, und Erwin war nicht schnell genug, seine Taschenlampe auszuschalten. Vermutlich wäre er auch so gesehen worden... Dennoch kam ihm das wie der Grund vor. Etwas packte ihn und schleuderte ihn quer über die Hafenfront – es fühlte sich an wie eine solide Wand, und Erwin rollte sich instinktiv zusammen, als er sich überschlug. Er schnappte nach Luft; der Wind heulte in seinen Ohren und drückte ihn zu Boden, er musste kämpfen, um sich wieder aufzurappeln. Er befand sich mehrere Meter vom Kühlhaus entfernt, aus dessen Richtung der Wind mit unerklärlicher Kraft blies. Erwin hob eine Hand vor die Augen, um sie offen halten zu können, und machte einen Schritt voran. Im Inneren des Büros flackerte etwas auf. Einen Sekundenbruchteil später detonierte das Kühlhaus mit einem ohrenbetäubenden Krachen und riss Erwin mit seiner Druckwelle über die Hafenkante ins Wasser. Er spürte den Aufprall ins eisige Meer nicht mehr.   Der Untergrund schwankte. Noch bevor Erwin die Augen öffnete, spürte er es. Sein Kopf schmerzte dumpf, auch wenn er ziemlich sicher war, nicht betrunken zu sein, und er lag auf irgendetwas. Abgesehen von dem lästigen Auf und Ab war es sogar einigermaßen bequem. Er öffnete die Augen langsam und blinzelte. Als gewohnheitsmäßiger Bauchschläfer sah er als Erstes einen gestreiften Kissenbezug und einen Ausschnitt eines hölzernen Bettkastens. Weiter entfernt eine niedrige Truhe und ein Regal mit zusammengefalteter Wäsche an einer vom Alter verdunkelten Holzwand. Abgesehen davon war er übrigens nackt. Erwin setzte sich ruckartig auf und sah sich um. Zum Fußende des schmalen Bettes befand sich eine geschlossene Tür, die Einzige in dem kleinen Raum. Linker Hand gab es noch ein Bullauge, das auf die in der Sonne schimmernde See hinausblickte. Es war helllichter Tag. Erwin schwang die Beine über die Bettkante und schaute sich suchend nach seiner Kleidung um, konnte sie jedoch nirgendwo entdecken, und die gefaltete Wäsche im Regal bestand größtenteils aus Handtüchern und Bettlaken. Er schlang die bunte Patchwork-Decke um seine Hüften (wann hatte er das wohl zum letzten Mal getan?) und riss die Tür auf – er hatte halb erwartet, sie würde verschlossen sein, weshalb der Türknauf nun mit einiger Wucht gegen die Wand schlug. „Ich dachte mir, dass Sie der Typ sind, der als Erstes Krach macht.“ Vor ihm lag das Deck eines alten Frachtschiffes, stellenweise rostig und düster, aber relativ ordentlich. Erwin kannte sich mit Schiffen nicht im Mindesten aus, aber er erkannte die Kajüte und diese... Steuerzentrale Richtung Bug, während sich am Heck offenbar der Frachtraum befand, zusammen mit dem Zimmer. Dazwischen befanden sich einige Meter freien Decks, unter anderem eingenommen von einem kleinen Campingtisch mit zwei Stühlen, von denen einer auf die Zimmertür ausgerichtet war und von einem Mann okkupiert wurde, der Erwin ziemlich freimütig mit einem respektlosen Tonfall bedachte. Er war eher schmal gebaut, aber nicht zierlich, und die verbissene Küstensonne hatte gegen seinen hellen Hauttyp offenbar nur eine allenfalls dezente Bräune durchsetzen können. Er hatte schwarzes Haar in einem kurzen, geraden Schnitt, der in den Achtzigern vermutlich modern gewesen war, und seine grauen Augen durchbohrten Erwin mit unhöflicher Direktheit. Der Mann hatte einen Kaffeebecher aus Blech in einer Hand und eine halb gefaltete Tageszeitung in der anderen, und neben der Cafetière, einem zweiten Becher und einer Zuckerdose thronten Erwins Holster samt seiner Dienstwaffe und seine Marke. Erwin atmete leise aus und rückte die Decke um seine Hüfte so würdevoll wie möglich zurecht. „Was haben Sie mit meiner Kleidung gemacht?“ Der andere Mann hob eine seiner dünnen Augenbrauen und schwenkte seine Zeitung zur Seite. „Gewaschen – war voller Salzwasser. Bitte übrigens.“ Auf einer Wäscheleine neben der Tür flatterten die einzelnen Stücke; selbst die Schuhe waren mit Zeitungspapier ausgestopft. Es war trotzdem ein gewöhnungsbedürftiger Anblick, seine eigene Unterwäsche fröhlich in der Brise tanzen zu sehen. Erwin presste die Kiefer zusammen und schnappte besagtes Kleidungsstück von der Leine. Der Mann grinste ihn überlegen an. „Soll ich mich umdrehen, Agent Smith?“ Auch wenn die Vorschriften diktierten, erst wieder seine Dienstwaffe an sich zu bringen, bevor der Zivilist damit Amok lief, entschied Erwin eigenmächtig, dass er die staatliche Sicherheit nicht in einer Decke verteidigen würde. Hätte der Kerl Amok laufen wollen, hätte er reichlich Zeit dazu gehabt, es sei denn, er musste vorher seinen Kaffee austrinken. „Zu freundlich.“ Erwins Stimme war so neutral, dass es eisig war. Der Mann zuckte mit den Schultern und hob seine Zeitung zwischen sie, auch wenn Erwin wusste, dass er zu seiner eigenen Belustigung trotzdem zusah. „Für einen Agent haben Sie keine Narben, Erwin. Ein bisschen langweilig.“ Falls noch irgendein Zweifel bestanden hatte, wer ihm diese textilfreie Nacht beschert hatte. Erwins Leben war zwar momentan... vorbildlich auf seine Arbeit beschränkt, aber 'langweilig' hatte im Zusammenhang mit ihm noch niemand gebraucht, als es noch ein Privatleben gegeben hatte. „Das ist der Trick bei Polizeiarbeit. Was ist letzte Nacht passiert?“ Endlich verschwand das unangenehme Gefühl kühler Seeluft auf seinem nackten Hintern – der Stoff war noch etwas klamm, aber größtenteils trocken, und roch tatsächlich schwach nach Waschmittel. „Eins der Kühlhäuser ist detoniert.“ Sein Gastgeber sagte das so ungerührt, als sei das ein für Kühlhäuser völlig normales Verhalten. Erwin erinnerte sich an die Explosion. Jemand war in das Büro eingebrochen und hatte es mittelmäßig fachkundig präpariert... Aber da war noch etwas. Er runzelte die Stirn, während er seine Hemdknöpfe schloss. Noch vor der Druckwelle hatte ihn irgendetwas getroffen. Irgendetwas vergleichbar Starkes, das, gewollt oder nicht, dafür gesorgt hatte, dass er weit genug vom Kühlhaus entfernt war, als es detonierte. Immer noch nah genug für schwere Verletzungen, aber da war das Hafenbecken gewesen, das ihn vor dem Schlimmsten bewahrt hatte. Um ihn danach trotzdem ertrinken zu lassen, weil er nicht bei Bewusstsein gewesen war. Erwin blickte unvermittelt auf und begegnete dem unverfrorenen Blick grauer Augen. „Haben Sie...?“ „Ja.“ „Danke.“ „Hm.“ Der Mann zuckte mit den Schultern, als sei es keine besondere Leistung, jemanden aus dem Hafenbecken zu ziehen. Was nicht stimmte, wie Erwin auffallen musste. Er war groß und kräftig und absolut totes Gewicht, klatschnass, und die Hafenkante lag hoch. Dieses Schiff sah aus, als würde es sich nur bewegen, wenn es unbedingt musste, und vor den Kühlhäusern hatte kein Frachtkahn gelegen, das wäre Erwin aufgefallen. Keine Seilwinde. Es musste andere Helfer gegeben haben, denn andernfalls war diese Aufgabe nicht zu bewältigen. „Ich bin stärker, als ich aussehe“, bemerkte der Mann trocken, als hätte er Erwins Gedanken erraten. Erwin knotete seine Schuhe zu und legte dann seine Krawatte an. „Sie könnten mir zumindest Ihren Namen verraten.“ „Hat Sie doch gestern auch nicht interessiert.“ „Ihre anzüglichen Witze sind etwas anstrengend.“ Erwin klappte seinen Kragen wieder herunter und ging zum Tisch hinüber, um seinen Holster zu nehmen. Der Mann sah versonnen zu ihm auf; mit der strahlenden Morgensonne von der Seite und den zusammengezogenen Pupillen schienen seine Augen viel eher silbern als grau. Erwin legte den Holster an, ohne hinzusehen, auch wenn er nicht hätte sagen können, warum er den anderen beobachtete. Als ob er ein Risiko einging, sobald er ihn aus den Augen ließ. Der Mann schlug seine Beine übereinander, indem er einen Knöchel auf sein Knie legte. Er trug stahlverstärkte Stiefel und hatte Ölspuren in den Hautrinnen seiner Finger, auch wenn er sie offenbar gewissenhaft gewaschen und geschrubbt hatte. Diese Finger mit ihren kurzen, sauberen Nägeln griffen den Kaffeebecher von oben an der Kante, wie um zu schützen, was sich darin befand. „Mein Name ist Levi.“ Erwin steckte seine Marke ein. „Und weiter?“ Es war eine klare Nachfrage nach dem Nachnamen, doch Levi goss lediglich Kaffee in den zweiten Becher. Er hatte auch ein Milchkännchen. Was stimmte nicht mit diesem Ort?! „Setzen Sie sich gottverdammt noch mal auf Ihren Arsch, mir tut langsam der Hals weh.“ Schon aus Prinzip blieb Erwin stehen, die Arme verschränkt. Levis kurze Brauen wanderten ein paar Millimeter nach oben. Erwin nahm den Kaffeebecher vom Tisch und spähte hinein, dann auf die kleine Auswahl von Zusätzen. Levi lächelte dünn. „Milch, Zucker, Batteriesäure?“ „Schweröl, bitte.“ Levi schnaubte, aber sein Lächeln verlor etwas von seiner ironischen Schärfe. „Sie Arschloch.“ Erwin nahm die Plastikdose und quetschte etwas Süßstoff in seinen Kaffee, bevor er sich mit dem Rücken gegen das Geländer lehnte. „Kannten Sie Dimo Reeves?“ „Ja.“ Levis Blick wanderte wieder zu seiner Zeitung. „Dann sind Sie-“ „Übrigens auch älter, als ich aussehe, ja.“ Der Kaffee war stark und bitter. Aber Erwin würde diese infernalischen Milchkännchen nicht benutzen, bevor er nicht wusste, dass Kondensmilch drinnen war. Und danach wahrscheinlich auch nicht. „Hat er zu Ihnen Kontakt aufgenommen?“ „Lassen Sie das.“ Levi stellte seinen Becher ab, um ein Blatt der Zeitung abzunehmen und unter einem leeren Aschenbecher aus Glas festzuklemmen, bevor der Wind das Papier ergriff. „Sie sind irgendwie amüsant, und ich würde das gern weiter von Ihnen denken.“ Erwin hielt inne, sein Haar behelfsmäßig mit den Fingern wieder in ihre Frisur zu kämmen, und musterte Levi überrascht. Der Mann wirkte nicht alt genug, um ein Partner von Reeves gewesen zu sein, und ehrlich gesagt hatte Erwin nicht in diese Richtung gedacht – nur daran, dass Levi den Hafen vermutlich besser kannte als die meisten. „Das heißt?“ „Ich rede nicht mit Cops. Wenn Sie anfangen, mich zu verhören, schmeiße ich Sie zurück ins Meer.“ „Sie machen sich unnötig verdächtig.“ „Oh?“ Levi nahm seinen Kaffee wieder in die Hand. „Das sieht Nile sicher anders.“ „Mag sein, aber ich leite die Ermittlungen.“ „Ist mir nicht entgangen.“ Levi sah ihn wieder direkt an, seine hellen Augen wie stählerne Oberflächen. „Trotzdem sollten Sie ab und zu auf andere hören. Solace ist ein böser Ort.“ Eine spöttische Drohung klang anders, aber nicht sehr. „Wie meinen Sie das?“ „Wie ich es sage.“ „Und es interessiert Sie nicht, wer Reeves ermordet hat?“ „Nein. Es gibt immer Gründe, jemanden zu ermorden. Gerade einen Hurensohn wie Reeves. Themenwechsel oder Hausverbot, Erwin.“ Erwin trank den Rest seines Kaffees und stellte den Becher zurück auf den Tisch. „Danke.“ „Bitte. Das nächste Mal, wenn ich Sie aus Ihren Klamotten schäle, erwarte ich etwas mehr Initiative.“ Der ironische Unterton machte es unmöglich zu erkennen, ob Levi das ernst meinte, und Erwin entschied sich, es eher nicht so zu verstehen. Und dennoch... „Was soll das heißen, 'ein böser Ort'?“ In diesem Moment hallten schnelle Schritte auf dem Eisen der Gangway wider, und Erwin meinte noch zu sehen, wie Levi die Augen verdrehte, bevor Nile auf das Deck trat. Er schien erleichtert, Erwin zu sehen – vermutlich machte es sich auch nicht gut in einem Bericht, wenn man den angereisten FBI-Agenten gleich in der ersten Nacht irgendwo verlor. „Reeves' Kühlhaus wurde gesprengt.“ Der Polizist atmete leise aus. „Levi.“ Besagter nickte so schwach, dass es auch ein zufälliges Zucken seiner Muskeln hätte sein können. „Nile.“ Erwin sah keinen Grund, Nile von seinem nächtlichen Badeausflug zu erzählen – es klang verdächtig nach Inkompetenz und Halluzinationen, wenn man behauptete, von Sturmböen herumgefegt worden zu sein, und es gab Wichtigeres. Denjenigen zu finden, der wahrscheinlich Spuren vernichtet hatte, zum Beispiel. Allerdings war ihm jetzt auch klar, was Levi mit Niles Ansicht gemeint hatte – der Polizist musterte sein Gegenüber wie etwas, das aus dem Gully hochgespült worden war. Levi gab vor, unbeeindruckt zu sein, doch Erwin sah eine Wachsamkeit in der Schnelligkeit seiner Blicke. „Wieso nur gibt es Ärger, seit du wieder aufgetaucht bist?“ Die Abneigung in Niles Stimme ging über den Unfrieden zwischen Polizist und Verdächtigem hinaus. Also persönliche Vorgeschichte. Levi lächelte, oder vielmehr zog er die Lippen von den Zähnen und schob seinen Fuß wieder vom Knie. Die Stahlsohle traf mit einem Knallen aufs Deck. „Jahrelange polizeiliche Inkompetenz. Wenigstens hast du deinen Agent wiedergefunden – ich hatte dir nicht mal das zugetraut.“ Dein Agent war nicht die Bezeichnung, unter der Erwin sich führen ließ. Er nahm seinen Mantel von der Leine und sah zu Nile. „Ich muss ohnehin mit Ihnen sprechen.“ Er konnte Levi nicht in Schutz nehmen, Rettung hin oder her, aber das würde auch nicht nötig sein; nur für diesen Territorialkonflikt hatten sie keine Zeit. Erwin hatte schon genug Menschen vernommen, um zu wissen, dass Levi ihm wirklich nichts weiter sagen würde, aus Prinzip und Ganovenehre (falls er denn kriminell war), und vor Nile erst recht nicht. „Ich auch mit Ihnen. Ich denke, ich weiß, was Reeves hier wollte.“ Nile deutete auf den Hafen. „In meinem Wagen-“ „Schon kapiert, du hast den Längsten, aber bitte hol' ihn nicht auf meinem Schiff raus.“ Levi wedelte mit seiner Zeitung. „Verpisst euch endlich. Beide. Es sei denn, Sie wollen wiederkommen.“ Letzteres ging offenbar an Erwin, der widerwillig amüsiert schnaubte und sich vom Geländer abstieß. Nile trat jedoch vor und ließ seinen Blick dabei über den Frachtbereich streifen. „Du hast noch nicht verraten, was du diesmal wieder angeschleppt hast...“ Levi ließ ihm erneut sein Lächeln mit viel Zähnen und wenig Heiterkeit zuteil werden, doch er erhob sich gleichzeitig aus seinem Stuhl und trat Nile in den Weg, bevor er weiter Richtung Bug gehen konnte. Zusätzlich zu seiner gedrungenen Statur war er recht klein, wie Erwin erst jetzt wirklich auffiel – und Levi wusste das offenbar, schließlich war er er bisher sitzen geblieben. „Wenn dich das interessiert... Du hast sicher einen Durchsuchungsbeschluss, oder?“ Nile grinste und zuckte mit den Schultern. Er hatte natürlich keinen, aber Levi kurzzeitig in die Defensive fallen zu lassen war offenbar auch ein kleiner Sieg. Erwin setzte sich in Bewegung, um das Schiff zu verlassen, und stellte dabei fest, dass sein Handy das Meerwasser übel vermerkt hatte. Zu dumm, doch die Karte ließ sich retten, und laut Vertrag stand ihm ein Neues zu. Nile folgte ihm nach etwas, das vermutlich ein Blickwechsel mit Levi war. „Hey, Erwin.“ Er blieb nicht stehen, als er die Stimme des Schiffsbesitzers hörte, blickte aber über die Schulter. Levi hatte sich nicht gerührt, die Arme hinter dem Rücken verschränkt wie bei einem Appell. „Ich mein's ernst, seien Sie vorsichtiger. Die Knarre ist entsichert.“ Sprach er von Reeves' fehlender Waffe, oder von etwas ganz Anderem? Erwin ließ sich seine Zweifel nicht anmerken, als er nickte. Dann trat er vom Gangway auf den Beton.   Nile hob sich seinen schrägen Blick auf, bis sie im Auto saßen. „Ich hätte Sie angerufen, aber Ihr Handy ist nicht erreichbar.“ „Es ist kaputt“, erwiderte Erwin wahrheitsgemäß und schnallte sich an. „Ich hatte nicht vor, Sie nach mir suchen zu lassen.“ Es schien Niles Gereiztheit etwas zu besänftigen; er deutete auf den Getränkehalter, in dem ein brauner Styroporbecher stand. „Ich hab' Ihnen Kaffee mitgebracht – wenn ich geahnt hätte, dass Sie schon welchen hatten...“ Erwin verkniff sich ein Schmunzeln und nahm den Becher, während Nile den Motor startete. „Ich glaube nicht, dass ich gerade meine Seele verkauft habe.“ Er öffnete den Deckel. Milchkaffee. Verdammt. Wenn das Niles Art der Rache war, zielte er gut. „Das nicht. Aber Sie können Levi auch nicht glauben.“ „Er war nicht sehr kooperativ.“ „Er hat mit Ihnen geredet, obwohl Sie Polizist sind.“ Der Blick, den Nile ihm zuwarf, war seltsam ingrimmig und erstickte jeden Scherz. „Vertrauen Sie ihm einfach nicht. Nicht mal so weit, wie Sie glauben, ihn einschätzen zu können. Er hintergeht Sie.“ Erwin war niemand, der sich sein Urteil von anderen vorgeben ließ, aber ihm war auch klar, dass es keine Einigung mit Nile über dieses Thema gab. Er schloss den Styroporbecher wieder und nippte daran. „Was haben Sie gefunden?“, fragte er stattdessen. „Etwas Interessantes über den Zeitpunkt, den Reeves abpassen wollte.“ „Und wohin fahren wir?“ Erwin hatte eigentlich vorgehabt, das Kühlhaus zu untersuchen, auch wenn Solace natürlich die Ausstattung fehlte, um diesen Tatort fachgerecht zu behandeln. „Gestern war jemand im Büro des Kühlhauses... Mutmaßlich, um Beweise zu vernichten.“ „Ist ihm gelungen.“ „Schon gut.“ Nile holte eine Papiertüte aus dem Handschuhfach und gab sie ihm. Im Gegensatz zu Erwins Erwartungen befanden sich aber keine Ermittlungsbeweise darin, sondern eingewickelte Waffelherzen. Es war auch noch so eine braune Tüte, in die normale, mittelständische Mütter das Frühstück für ihre Kinder steckten und es mit zur Schule gaben. Was nach Erwins Ermessen ein bisschen geschmacklos war, bis ihm Nile die Erklärung lieferte. „Marie meinte, dass Sie aussehen wie der Typ, der nicht frühstückt.“ Womit sie Recht hatte. Erwin gab sich geschlagen und holte eins der Päckchen heraus, als Nile den Wagen zum Stehen brachte. Vor ihnen erstreckte sich eine Backsteinmauer mit einem weitläufigen Hof und einem altmodischen Haus mit Klinkerfassade. Die örtliche Highschool, das war schon vom Äußeren erkennbar. Erwin brach ein Stück Waffel ab und wartete auf eine Erklärung. Nach einem Seitenblick stellte er die Tüte auf die Mittelkonsole, und Nile kramte zufrieden darin herum. „Vor einigen Jahren zog ein reiches Ehepaar hierher. Sie Model, er Architekt – ihre kleine Tochter hatte als Kleinkind einen schweren Atemwegsinfekt, und die Ärzte hielten es für besser, wenn sie mit ihr an die Küste zogen. Iod in der Luft, was auch immer, es gibt hier eine kleine Kurklinik. Die Ackermans waren im Ort allgemein beliebt und gut integriert, allerdings schätzten sie vor mittlerweile sechs Jahren die Wetterlage falsch ein und gerieten mit ihrer Segelyacht in Seenot – der Sturm zog sehr plötzlich auf. Die Eltern ertranken dabei, ihre Tochter um ein Haar auch, aber ein paar Kinder hatten in der Bucht gespielt und den Untergang der Yacht gesehen. Einer von ihnen war idiotisch genug, mit dem motorisierten Schlauchboot seines Vaters rauszufahren... Monumentale Dummheit, doch andernfalls wäre Mikasa ertrunken. Sie wurde von dem Arzt, der sie wegen ihrer Kur überwachte und deshalb vertraut war, aufgenommen.“ Nile deutete vage in die Richtung, in der sich vermutlich das entsprechende Haus befand. „Es gibt einen Treuhandfond über eine... bemerkenswerte Summe, allerdings erhält Mikasa erst Zugriff auf Geld und Immobilien, sobald sie ihren Schulabschluss geschafft hat.“ Erwin hob fragend die Augenbrauen. „Sicher interessant für Reeves. Aber er war wohl kaum der Verwalter des Fonds.“ „Nein, aber ein Handelspartner von ihm... Und ein Verwandter von Mikasas Mutter. Allerdings ist er seltsam unauffindbar.“ „Und wie weit ist Mikasa von ihrem Abschluss entfernt?“ „Zwei Tage.“ „Reeves wäre zu spät entlassen worden, um Zugriff auf den Fond zu bekommen... Wie auch immer er das angestellt hätte. Die Unterlagen sind vermutlich mit dem Treuhänder verschwunden...?“ Nile nickte stirnrunzelnd. „Keine Ahnung, wie lange schon. Der Notar stellte erst auf Anfrage fest, dass er einen Umschlag leeren Papiers hütete.“ Erwin trank einen Schluck Kaffee und und versuchte, den Beigeschmack von dem zu ignorieren, was offensichtlich naturbelassene Milch war. „Ist es nicht möglich, dass der Treuhänder untergetaucht ist, um Reeves zu entgehen?“ „Nein.“ Die Antwort kam so prompt, dass Erwin skeptisch die Augenbrauen hob. Nile fügte etwas gelassener hinzu: „Dann wäre Levi nicht seit einer Woche hier. Er würde kein Risiko eingehen.“ „Sind die beiden auch... Handelspartner? Sie haben nie erwähnt, was Levi überhaupt an illegalen Aktivitäten betreibt.“ Abgesehen davon, dass Nile und er sich nicht ausstehen konnten. Nile zog ein Waffelherz aus der Tüte und kaute mürrisch darauf herum. „Er schmuggelt. Alles Mögliche, und wie Ihnen aufgefallen sein dürfte, haben wir auch keine Handhabe.“ „Und Ihre ganze Theorie beruht darauf, dass Reeves diesen Treuhandfond wollte und befürchtete, ihn nicht zu bekommen.“ Erwin ließ sich seine Skepsis deutlich anmerken, redete aber weiter, bevor Nile reagieren konnte. „Der Treuhänder hätte ihn nicht umbringen müssen, er sitzt es offensichtlich aus.“ „Wenn ihm Mikasa egal ist, ja. Die Einzelheiten der Vereinbarung sind schließlich verschwunden.“ Diese Theorie hatte Nile Zackly vermutlich nicht vorgelegt... Wenn er es doch getan hatte, konnte Erwin sich die Reaktion denken. Er war selbst nicht besonders überzeugt, aber er hatte auch keine bessere Erklärung, warum Reeves zu diesem Zeitpunkt nach Solace hatte kommen müssen. Außerdem hatte er Shadis bereits einen toten Sträfling vorlegen müssen. Wenn es sich einrichten ließ, wollte Erwin auch die bloße Möglichkeit verhindern, dass ein toter Teenager dazukam. „Gleich ist ohnehin Pause“, bemerkte Nile, als Erwin die Tür öffnete und aus dem Wagen stieg. „Eben. Ich habe nicht vor, sie vor der gesamten Schule auf dem Hof zu vernehmen.“ „Aber es ist weniger peinlich, sie mitten am Tag ins Büro des Direktors zu rufen?“, brummte Nile, während er ebenfalls ausstieg. Erwin zuckte andeutungsweise mit den Achseln. „Es gibt Peinlichkeit, und es gibt Einschüchterung.“ Nile schmunzelte flüchtig. „Ehemaliger Captain des Footballteams?“ „Basketball.“ „Was auch sonst. Aber wenn Sie glauben, Sie bringen die Kleine zum Weinen, muss ich Sie jetzt schon enttäuschen.“   Der Direktor war wenig kooperativ – womit er die zweite Person an diesem Morgen mit diesem Attribut war. Allerdings hatte Erwin diesmal einen unschlagbaren Vorteil auf seiner Seite: er war hier nie zur Schule gegangen, also gab es über ihn keine peinlichen Anekdoten, und der überhebliche Blick prallte somit an ihm ab. Das, und er hatte die höhere Amtsgewalt. Die Schulsekretärin wurde geschickt, um Mikasa unauffällig abzufangen, bevor die Schüler in die Pause verschwanden. Keine fünf Minuten später fand der glamouröse Empfang in einem Raum statt, der Niles Grimasse und der Schmierereien auf den Tischen nach vor allem zum Nachsitzen benutzt wurde. Der Polizist hatte als Erstes die Fenster geöffnet, um den Geruch nach Sporttaschen, altem Kaugummi und Langeweile auszulüften, und da der Raum nur auf ein paar Geräteschuppen ausblickte (die vorbildlich-langweiligste Aussicht des ganzen Geländes), hielt Erwin es auch für unwahrscheinlich, dass hier jemand mithörte. Mikasa Ackerman war der fleischgewordene Traum eines melancholischen Teenie-Films und der Alptraum jedes Pflegeprodukt-Produzenten, der Jugendlichen weismachen wollte, man könne Attraktivität nur durch den Erwerb der richtigen Hilfsmittel erreichen. Sie war groß, sportlich und blendend schön; in fünf Jahren würde sie vermutlich noch schöner sein, wenn das letzte Kindliche von ihr abgefallen war. Äußerlich. Innerlich strahlte Mikasa eine Ernsthaftigkeit aus, die zu erwachsen für eine Sechzehnjährige war. Sie wirkte auf Erwin nicht krankhaft schwermütig oder ängstlich, aber distanziert in jeder Hinsicht. Und sie verfügte über ein äußerst beherrschtes Mienenspiel, aber Erwin fiel vorsichtige Wachsamkeit auf, als das Mädchen Nile bemerkte. Eine häufige Reaktion von Teenagern auf Polizisten, doch Mikasa wirkte nicht wie eine Unruhestifterin. „Wir sind nicht wegen Eren hier. Erwin ist vom... FBI.“ Das war nicht die Einleitung, die Erwin gewählt hätte – ganz davon zu schweigen, dass er sich ihr nicht mit seinem Vornamen vorgestellt hätte. Er reservierte den eisigen Blick für später und trat vor, um Mikasa die Hand zu geben. Sie nahm sie mit der gebührenden Höflichkeit, aber ohne sonderliches Interesse, als sie das FBI letztlich auch nur eine Abteilung der örtlichen Polizei. Schienen hier viele zu denken. „Kann ich dich Mikasa nennen?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ja. Was wollen Sie von mir?“   Es war kein besonders ergiebiges Gespräch – Mikasa wusste nicht, ob Reeves nach ihr gesucht hatte, und sie hatte auch lange nichts mehr von ihrem Treuhänder gehört. Generell hatte sie in letzter Zeit angeblich nichts Ungewöhnliches bemerkt. Erwin wollte sie nicht unnötig beunruhigen, und er hatte den Eindruck, dass Mikasa in derselben Weise ihre Pflegefamilie nicht beunruhigen wollte, indem sie ihn davon ablenkte, die Jägers anzusprechen. Erwin hakte behutsam nach, als ihm ihre defensive Haltung auffiel. „Kennt deine Familie die Konditionen des Fonds?“ „Ja.“ „Habt ihr mal darüber gesprochen?“ „Nein.“ „Wenn du nicht wusstest, dass Reeves frei war“, das hatte Mikasa zuvor gesagt; da sie keine Verbindung zu Reeves hatte, hatten die Behörden sie nicht benachrichtigt, „wie sieht deine Zukunft aus?“ „Ich bleibe hier.“ Mikasa wirkte nicht geschwächt oder kurzatmig, sondern ausgesprochen vital, aber sie sprach mit großer Überzeugung davon. „Deine Noten sind gut?“ „Ja.“ „Ich verstehe.“ Erwin achtete sorgfältig auf einen beiläufigen Ton. „Hast du nach deinem Abschluss einen Urlaub geplant?“ „Nein. Das Wetter ist zu unberechenbar.“ Es lag nahe, dass jemand mit ihren traumatischen Erfahrungen keine Risiken einging, doch Erwin war nicht so arg verstädtert, um nicht herauszulesen, dass Mikasa offenbar von der unmittelbaren Zukunft sprach. Er neigte den Kopf. „Segeln?“ „Doktor Jäger hatte die Idee.“ Dann waren offenbar nicht alle so ruhig wie Mikasa. Erwin sah aus dem Fenster. „Camping ist nicht dein Ding?“ Mikasa schaute auf ihre Nägel, die sie bisher kein bisschen interessiert hatten. „Nein.“ Nile hustete leise in seine Faust – auf Mikasas Pfirsichwangen breitete sich ein Hauch von Röte aus. „Eren hat sich gestern den Knöchel verstaucht.“ Womit sämtliches Wandern in diesem Gebiet ziemlich unmöglich war, und Mikasa schien es als inakzeptabel zu betrachten, sich von dem Jungen trennen zu lassen. Selbst für ihren Retter und Pflegebruder schien sie eine große Loyalität für ihn aufzubringen. Das erinnerte Erwin an etwas. „Hast du einen Freund?“ Man musste Mikasa lassen, dass sie die Frage völlig nüchtern hinnahm, während die meisten anderen Mädchen ihres Alters in Gekicher ausgebrochen wären, sobald sie das von einem Mann auch nur halbwegs jenseits des Verfallsdatums zu hören bekam. „Nein.“ 'Ich liebe dich, M!' Die Fenster schlugen krachend zu und öffneten sich wieder, sodass die Scheiben klirrten. Der Wind riss so heftig daran, dass ein paar Scharniere brachen und das Knallen der Dichtungen die Luft erfüllte. Papier wirbelte durch die Luft und kippte Stühle um. Mikasa wich zurück und drückte gleichzeitig geistesgegenwärtig den Saum ihres Rocks herunter, doch auch die knielange Schuluniform war nicht für Orkanböen gedacht. Nile öffnete die Zimmertür mit einem Ruck, gegen den Widerstand des Windes, um das Mädchen in den Flur zu lassen. Ungeachtet des warnenden Stöhnens der Tafelaufhängung durchquerte Erwin den Raum und packte eins der Fenster, bevor es gegen ihn schlug; sein Blick strich suchend über die Geräteschuppen, jede potenzielle Deckung. Mikasa ließ ihre Tasche fallen, um ihre zweite Hand zum Bändigen ihres Rocks zu nehmen – und der Wind erstarb jäh. Erwin starrte einige Sekunden länger nach draußen, die Augen verengt. Schließlich wandte er sich ab; was er suchte, würde sich seinen Augen einfach nicht zeigen. „Danke für deine Zeit, Mikasa“, sagte er, als er sich dem Mädchen wieder zuwandte. Sie strich sich ihr rabenschwarzes Haar glatt, ohne Weiteres eine Geste von Ordnung oder Eitelkeit, aber ein paar der natur-seidigen Haare klebten flüchtig an ihren Fingerspitzen fest. Ihre Hände schwitzten also. Sie nickte Nile und ihm zu und ging zügig den Flur hinunter, wo sie von zwei Jungen ihres Alters in Empfang genommen wurde; einer von ihnen mit einer Gehstütze und dem angriffslustigen Gebaren eines notorischen, aber nicht böswilligen Unruhestifters. Ihr Pflegebruder, demnach. Während der andere – klein, blond, sichtlich erschrocken – Mikasa leise und eindringlich ansprach, packte sie Erens Arm und schob ihren Bruder energisch vor sich her. Ein paar andere Schüler beobachteten das Trio unverhohlen neugierig. Erwin spürte einen bohrenden Blick, den er nicht einordnen konnte. „Ich muss mit Ihnen reden.“ Er wandte sich Nile zu; hatte er vorhin noch vorgehabt, diesen eindringlich daran zu erinnern, wer von ihnen die Ermittlung leitete und dass ihm diese... ländliche Vertraulichkeit keinen Spaß machte, hatte das abrupt seine Bedeutung verloren. Ohne auf Niles Antwort zu warten, schob er den Mann zurück in den Raum (dabei erinnerte er sich selbst ein wenig an Mikasa, die Eren vor sich hertrieb) und schloss die Tür hinter ihnen. „Das war nicht normal.“ Nile hob eine Augenbraue. „Sie ist ein anständiges Mädchen – glaube kaum, dass sie gelogen hat.“ Dessen war Erwin sich nicht einmal so sicher, aber er tat die Bemerkung mit einem ungeduldigen Rucken seines Kopfes ab. „Sie waren gerade in einem Raum anwesend, in dem ein spontaner Orkan ausgebrochen ist.“ Er wies auf die demolierten Fenster. „So nah am Meer gibt's seltsame Luftströme.“ Nile klang derart desinteressiert, dass er es tatsächlich schaffte, Erwins Zorn anzustacheln. Es war ein unangenehmes, heißes Prickeln, das seinen Rücken hinaufschoss, wie ein manifester Druck. „Gestern ist vor meinen Augen die Straße aufgerissen-“ „Korrosion.“ „- und letzte Nacht hat einer Ihrer 'seltsamen Luftströme' mich vom Kühlhaus weggeschleudert. Was mir auf lange Sicht vermutlich das Leben gerettet hat, aber wenn Sie behaupten wollen, das wäre normal...!“ „Vielleicht die Druckwelle einer kleineren Explosion vor dem großen Knall. Sie waren also dort?“ Erwin ignorierte den Versuch, das Thema zu wechseln, und fixierte Nile mit einem frostklirrenden Blick. „Sie auch, so genau, wie Sie das zu wissen glauben. Es war Wind. So wie eben. So wie wahrscheinlich auch zu Reeves' Tod – deswegen war seine Leiche nicht an dem Ort, an dem er sich als Letztes aufgehalten hat. Deswegen hatte er diese Frakturen.“ „Hey.“ Nile hob die Hände, wie um ein in Panik geratenes Pferd zu beruhigen. „Sie steigern sich da in etwas rein, Erwin. Solace ist einfach ein-“ „Böser Ort?“ Nile durchbohrte ihn mit einem ungeduldigen Blick. „... Knotenpunkt für Wetterphänomene – ich bin sicher, Mikasa könnte Ihnen das bestätigen, wenn's nicht so makaber wäre.“ „Es geht um sie.“ Erwin ließ sich von dem Spott nicht irritieren, aber seine Stimme gewann eine Note von Gereiztheit, die sich jetzt mit Spannung mischte. „Reeves zu töten und Spuren zu vernichten war eine Sache, doch es endet nicht. Vorhin – jemand wollte sie beschützen. Vor Fragen, vor dem Risiko, in diesen Fall gezogen zu werden.“ „Weil der Direktor sie sehen wollte?“ „Weil jemand wusste, dass eben nicht der Direktor sie sehen wollte, noch bevor sich herumgesprochen hatte, dass ein Polizeiauto vor der Schule steht. Begreifen Sie das nicht?“ „Nicht wirklich, nein.“ Nile musterte ihn nicht einmal unfreundlich. „Das war gestern alles etwas viel, denke ich. Jeder Mensch hat seine Grenzen, und ich glaube, Sie sind einfach müde. Wenn Sie in der Nähe des Kühlhauses waren, sollten Sie sich sicherheitshalber von einem Arzt untersuchen lassen.“ Das sollte er. Möglichst von Doktor Jäger, um ihm unbefangen ein paar Fragen zu seiner Pflegetochter zu stellen, und warum ihm daran gelegen war, sie aus dem Ort zu bringen, anstatt sie auf die gängigen Parties gehen zu lassen, wenn Mikasa anscheinend ein vernünftiges, ernstes Mädchen war. Doch selbst während sein Gehirn diese Planung fasste, mögliche Wege auslotete, um diesen Fall unter neuen Gesichtspunkten zu untersuchen, war sein Unterbewusstsein wie erstarrt von dem, was er soeben geschlossen hatte. Solace war kein normaler Ort. Vielleicht tatsächlich ein böser Ort, aber offensichtlich einer, der menschlichen Gefühlen unterworfen war. Er lächelte Nile zu. Es war ein geistesabwesendes Lächeln, wie eine Regung, die sich auf nichts in diesem Raum bezog. „Ich gehe jetzt.“ Nile zuckte mit den Schultern, seine Mundwinkel bogen sich leicht. „Solace empfängt Sie, Erwin.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)