Mörderische Goldgier von Anmiwin ("Geliebter Blutsbruder"- Teil II) ================================================================================ Kapitel 15: Versteckte Gefahren (Acht Tage zuvor) ------------------------------------------------- Acht Tage zuvor: Der Erste, der uns erreichte, war unser Doktor, und zwar nicht nur aufgrund seines schnellen Pferdes, sondern vor allem wegen seiner mal wieder übergroßen Besorgnis um die Gesundheit aller Beteiligten an diesem doch recht kritischen Zwischenfall. Er brachte seinen Rappen eher zufällig so gerade noch hart vor uns zum Stehen, sprang im gleichen Moment aus dem Sattel, geriet dadurch ins Stolpern und wäre fast der Länge nach hingeschlagen, konnte sich aber im letzten Augenblick noch abfangen. Um ihn erst einmal wieder halbwegs zu beruhigen, rief ich ihm schnell zu: „Walter, sorge dich nicht, es ist ja alles in Ordnung!“ Ich erreichte damit zumindest, dass Hendrick kurz erleichtert durchschnaufte, bevor er uns drei mit kritischen Blicken musterte und dann entschied, dass es offensichtlich doch nur Frederic war, der seiner Hilfe bedurfte. Schnell suchte er sich ein paar Utensilien aus seiner Satteltasche zusammen, bevor er sich neben dem jungen Mann setzte und behutsam begann, diesen aus seiner Schockstarre zu befreien. Winnetou und ich überließen dem Doktor nun alles weitere und zogen uns zurück, wurden dann aber sofort von dem Rest der Gesellschaft umringt. Während die Butterfields sich zum Teil auf ihr immer noch am Boden kauerndes Familienmitglied stürzten und direkt von Hendrick wieder des Feldes verwiesen wurden, überschüttete uns der andere Teil mit Ausrufen der Bewunderung sowie mit wirklich von Herzen kommenden Dankesworten. Einzig Emery behielt seine Gelassenheit bei. Er legte uns seine Hände auf die Schultern, drückte kurz zu und ließ so erkennen, dass er doch sehr erleichtert über den glücklichen Ausgang dieser nicht gerade ungefährlichen Situation war. Wir wehrten all diese gut gemeinten Nettigkeiten ab, so gut wir konnten, und besprachen dann mit Emery und Tsain-tonkee das weitere Vorgehen für die zweite Tageshälfte. Nach einer kurzen Beratung waren wir uns einig, dass an eine Weiterreise für den Rest des Tages nicht mehr zu denken war. Die gesamte Familie Butterfield befand sich immer noch in heller Aufregung, von dem jungen Frederic einmal ganz zu schweigen. Wir würden von Glück reden können, wenn wir ihn überhaupt noch mal auf ein Pferd bekommen würden, aber am heutigen Tage, mit seinen vor Angst immer noch schlotternden Knochen, würde das ein Ding der Unmöglichkeit sein. Kein Pferd, und wenn es das zahmste und friedfertigste auf Erden wäre, würde dem Jüngling heute noch gehorchen; selbst wenn es am Zügel eines anderen Reiters geführt werden würde, konnte man sicher sein, dass die Angst Frederics sich auf das Tier übertragen und es ganz konfus machen würde. Kaum waren wir zu diesem Ergebnis gekommen, schwang Winnetou sich mit einem einzigen eleganten Satz auf seinen Iltschi und ritt davon. Während ihm alle Weißen mit Ausnahme von Emery etwas verwundert hinterher sahen, wusste ich, ohne dass er auch nur ein Wort zu mir gesprochen hatte, sehr genau, was er vorhatte, ebenso wie seine Apatschen. Er suchte jetzt nach einem geeigneten Lagerplatz für den Rest des Tages und die kommende Nacht. Wir hatten uns in den letzten beiden Tagen schon bis auf wenige Meilen an die Grenzgebiete der Kiowas angenähert, und so wurde die richtige Wahl eines Lagerplatzes von Tag zu Tag wichtiger, um vor einer unerwünschten Entdeckung geschützt zu sein. Eine gute Dreiviertelstunde dauerte Winnetous Suche, dann hatte er ungefähr eine Meile entfernt einen geeigneten Ort gefunden. Während dieser Zeit gelang es dem Doktor, Frederic Butterfields Zustand wieder soweit zu normalisieren, dass man fast glauben wollte, es hätte nie eine Gefahr für ihn bestanden. Nur die Art und Weise, wie er sein Pferd kritisch beäugte, als wieder aufgesessen werden sollte, um zu unserem Nachtlager zu gelangen, ließ vermuten, dass noch einige Zeit vergehen mochte, bis er wieder ohne Angst ein Pferd würde reiten können. Ich muss sagen, ich war mittlerweile recht froh über Winnetous Zustimmung, Walter Hendrick mitreisen zu lassen; allein seine heutige Mitwirkung war wirklich Gold wert! Nach einer halben Stunde hatten wir unseren Lagerplatz erreicht. Die Butterfields sowie der Doktor sorgten für ein gewisses Maß an Behaglichkeit, während die Apatschen die direkte Umgebung absicherten und auch sofort die Wachen einteilten. Emery hatte zwei der verhinderten Goldsucher rekrutiert, um mit ihnen innerhalb des gesicherten Gebietes genug Holz für die kommenden Stunden zu sammeln. All diese Handhabungen wurden von sämtlichen Beteiligten fast schon routiniert durchgeführt, da wir diese Aufgabenverteilung während der letzten beiden Nächte auch schon so oder so ähnlich beibehalten hatten. Winnetou teilte mir währenddessen seinen Wunsch mit, den Nachmittag auf eine doch noch sinnvolle Art zu nutzen. Er wollte sich mit mir zusammen möglichst nah an die Weidegründe der Kiowas heranwagen, um herauszufinden, inwieweit der Stamm Späher an seinen Grenzen aufgestellt hatte und wo genau diese sich befanden. Auf diese Weise würden wir dann auch einen Weg suchen können, wie wir mit der ganzen Gesellschaft möglichst unbeobachtet an diesem uns feindlich gesinnten Indianervolk vorbeikommen konnten. Es war für mich eine Selbstverständlichkeit, ihn zu begleiten, denn ich war dankbar für die Gelegenheit, mal wieder einige ungestörte Stunden mit meinem geliebten Blutsbruder verbringen zu dürfen. Diese Möglichkeit hatte sich seit unserer wunderbaren Nacht bei den Siedlern leider nicht mehr ergeben, so dass ich mir schon wieder sehnsüchtig wünschte, ihn wenigstens für einige Zeit mal wieder für mich ganz alleine haben zu dürfen. Wir ritten also mehrere Stunden lang, etwas nordöstlich von unserer eigentlich geplanten Route abweichend, in höchster Aufmerksamkeit und schweigend nebeneinander her, ohne jedoch irgendwelche Besonderheiten entdecken zu können. Unser Weg war kein gerader, sondern führte uns teilweise kreuz und quer durch dichtes Gebüsch, dunkle Wälder, kühle Täler sowie luftige Höhen. Direkt am Anfang überquerten wir auch den Rio Grande, der zu dieser Jahreszeit so wenig Wasser führte, dass an bestimmten Stellen ein problemloser Übergang möglich war. Auch hier suchten wir beide Uferbereiche äußerst gründlich ab, denn mein Freund wollte sichergehen, dass wir etwaige feindliche Späher eher entdeckten als sie uns, und er wusste natürlich genau, wie dieses Vorhaben am geschicktesten anzugehen war. Zwischendurch ließ Winnetou seinen Blick immer wieder innig auf mir ruhen; seine fast schon fühlbare Liebe zu mir machte mir das Herz so warm und mein ganzes Innerstes war erfüllt von einem unbeschreiblichen Glück. Ich war dann auch weniger diszipliniert als er, denn irgendwann hielt ich es nicht mehr aus und ergriff seine Hand, um sie liebevoll zu drücken und einfach einen Teil von ihm so nah wie möglich bei mir zu haben. Es war schon später Nachmittag und wir hatten immer noch keine Spur eines feindlichen Wesens bemerken können, als ich in Winnetous Antlitz so etwas wie einen Hauch von Besorgnis zu entdecken glaubte. Natürlich fragte ich sofort nach dem Grund, was ihm ein leises Lächeln auf das schöne Gesicht zauberte. Er sah mich an, seine nachtschwarzen, einzigartigen Augen ließen mich wieder einmal vor Liebe erschauern, und dann meinte er: „Es ist nicht möglich, dass Winnetou etwas vor seinem Bruder Scharlih verbergen könnte! Selbst wenn der Apatsche sich selber noch nicht einmal sicher ist über das, was ihm durch den Kopf geht, bemerkt es sein geliebter Bruder sofort!“ Schmunzelnd drückte ich ihm wieder die Hand, sah ihn aber weiterhin fragend an. Er fuhr deshalb auch fort: „Winnetou ist etwas unsicher aufgrund der Tatsache, dass wir so nahe an den Weidegründen der Kiowas immer noch nicht auch nur den geringsten Anhaltspunkt für ihre Anwesenheit gefunden haben. Jeder indianische Stamm hat an den äußersten Punkten seiner Grenzen immer umherziehende Wachposten aufgestellt, und wir hätten schon seit einiger Zeit wenigstens einmal Überbleibsel eines Lagers oder sonstige Spuren von ihnen entdecken müssen, zumal wir uns genau dort bewegten, wo sich solche Späher in der Regel aufhalten.“ Er hatte Recht, und ich war mir sicher, dass mir das kurze Zeit später wahrscheinlich auch aufgefallen wäre. So überlegte ich laut: „Sollte es denn möglich sein, dass man uns schon entdeckt hat?“ „Und dass die Kundschafter sich zurückgezogen haben, um uns in Sicherheit zu wiegen?“ ergänzte Winnetou meine Gedanken. „Möglich wäre es durchaus“, meinte ich. Winnetou sann einen Augenblick über unsere Situation nach, dann sagte er: „Wir haben keine andere Wahl. Einen Umweg zu machen würde bedeuten, die Chuska- und die Zuni-Mountains teilweise überqueren zu müssen, und das ist mit diesen unerfahrenen Bleichgesichtern einfach nicht möglich!“ Ich nickte bestätigend, denn auch ich glaubte, dass ein Ritt durch ein Gebirge mit unseren ausgemachten Greenhorns das reinste Selbstmordkommando wäre. „Allerdings sollten wir uns hier noch einmal genauestens umsehen, vielleicht finden wir doch noch Spuren etwaiger Späher“, begann ich wieder von Neuem, denn ich wollte lieber ganz sicher gehen. Winnetou stimmte mir bei, und daraufhin suchten wir noch einmal in aller Vorsicht und mit größtmöglicher Aufmerksamkeit das Grenzgebiet ab, zumindest den Teil, an dem wir auf unserem Weiterritt vorüber kommen mussten. Erst als das letzte Tageslicht im Scheiden inbegriffen war, gaben wir unsere erfolglose Suche auf; erfolglos deshalb, weil wir auch diesmal nicht den geringsten Beweis einer Anwesenheit feindlicher Krieger bemerkt hatten. Als wir uns wieder in sicherer Entfernung wähnten, besprachen wir uns noch einmal ausführlich, dann atmete Winnetou tief durch und schloss unsere Überlegungen mit den Worten ab: „Wir werden halt mit den Augen eines Luchses dieses gefährliche Gebiet durchqueren und die so unvorsichtigen jungen Butterfields in den nächsten Tagen noch mehr unter unsere Beobachtung stellen müssen!“ Ihm zustimmend ergänzte ich lächelnd: „Auf jeden Fall besser als heute Mittag, richtig?“ Bei diesen Worten schüttelte ich verständnislos den Kopf. „Wie kann man nur blindlings auf eine Schlange zureiten? Bisher ging ich ja davon aus, dass jedermann schon als Kind gelernt haben sollte, wie gefährlich diese Tiere sein können...“ Winnetou sah mich an, einen Hauch der Belustigung in seinem schönen Antlitz aufweisend: „Jedes Kind der roten Rasse wird, sobald es laufen kann, über diese Gefahren belehrt. Versäumt man bei den Bleichgesichtern solche Vorsichtsmaßnahmen oder vergessen die meisten Kinder diese Belehrungen wieder, sobald sie dem Schoß der Mutter entwachsen sind?“ „Weder das eine noch das andere“, entgegnete ich schmunzelnd. „Aber ein Großteil meiner Landsleute glaubt sich erhaben über solche gutgemeinten Ratschläge, sobald sie das Erwachsenenalter erreicht haben. Sie meinen dann, alles besser zu wissen und besser zu können. Nun – Hochmut kommt vor dem Fall, das haben wir heute mal wieder deutlich gesehen!“ „Howgh! So ist es!“ bekräftigte Winnetou, trieb seinen Hengst an und dann machten wir uns wieder auf den Weg zurück zu den Unsrigen. Unterwegs warf ich immer wieder einen Blick auf meinen Freund, und wie immer, wenn ich das tat, war ich von seiner stolzen, königlichen Haltung hoch zu Ross sowie seinen schönen, ebenmäßigen Zügen, die man selbst jetzt in der Dämmerung gut erkennen konnte, völlig fasziniert. Ich musste mir eingestehen, dass ich gar keine Eile hatte, zu unseren Gefährten zurückzukehren, viel lieber wäre ich mit meinem Blutsbruder die ganze Nacht alleine geblieben. Es war für mich in den vergangenen Monaten zu einer schönen Gewohnheit geworden, ihn ständig bei mir zu haben, ich hatte ihn sogar meistens für mich ganz allein gehabt. Aber in den letzten paar Tagen war das kaum möglich gewesen, und gerade deshalb sehnte ich mich wieder nach solch einer Situation. Und wie jedes Mal, wenn ich mich in letzter Zeit gedanklich so intensiv wie im Augenblick mit meinem Winnetou beschäftigt hatte, überkam mich nun auch wieder dieses seltsame Kribbeln meiner Kopfhaut; ein völlig diffuses Gefühl der Unruhe, welches ich nicht richtig zu fassen vermochte und schon gar nicht beschreiben konnte. Ob es wohl damit zu tun hatte, dass wir in diesen Tagen zum ersten Mal wieder, seitdem mein Freund von seinen schweren Verletzungen genesen war, in ernste Gefahr geraten waren und wir uns wahrscheinlich auch in der nächsten Zeit nicht in Sicherheit wiegen konnten? War es die Sorge um ihn, dass ihn wieder eine Kugel treffen könnte, und wenn es nur eine verirrte Kugel war? Ich wusste es nicht, aber ich hoffte inständig, dass mein Gefühl mich in dieser Hinsicht täuschte! Wir waren vielleicht noch eine halbe Stunde von unserem Lager entfernt und die Dunkelheit war schon längst hereingebrochen, da hielt ich es nicht mehr aus. Ich griff Iltschi in die Zügel und zwang Winnetous Pferd ebenso wie meines, stehen zu bleiben. Mein Freund warf mir einen verdutzten Blick zu, aber da war ich schon abgestiegen, ergriff seine Hand und nötigte ihn dazu, ebenfalls abzusteigen. Er tat es und fiel mir fast in die Arme, als ich ihn schnell und heftig zu mir hinunterzog, und schon hielt ich ihn in einer sehnsuchtsvollen Umarmung fest umschlossen. Sofort begann er, diese in gleicher Weise zu erwidern. Wir hielten uns fest wie Ertrinkende, als hätten wir uns monatelang nicht gesehen. Warum war das nur so? Was geschah hier mit uns? Schon begann ich mich suchend umzublicken. Sollte es nicht möglich sein, hier irgendwo...? Winnetou war es dann, der mich zur Ordnung rief. Er las meine Gedanken, löste sich sanft von mir, sah mir tief in die Augen, schüttelte leicht den Kopf und sagte leise, während seine Hand langsam an meiner linken Wange entlang bis zu meinem Kinn fuhr: „Wenn wir noch länger ausbleiben, wird man um uns besorgt werden, wenn die Gefährten es nicht jetzt schon sind, da wir erst im Dunkeln heimkehren. Vielleicht hat man schon jemanden ausgesandt, uns zu suchen, und wenn man uns in einer solchen Lage vorfände...“ Ich nickte und zog ihn noch einmal fest in meine Arme. „Du hast ja recht, mein Freund! Aber manchmal ist mir, als ob ich dich niemals wieder loslassen könnte... Versprich mir, dass du in den nächsten Tagen besonders gut auf dich aufpasst, ja? Riskiere nicht zu viel, ich bitte dich!“ Winnetou zog sich ein Stück von mir zurück, so dass er mir in die Augen schauen konnte, und ich sah in den seinigen einen überraschten und fragenden Ausdruck, als er mir antwortete: „Meint mein Bruder, dass Winnetou heute unvorsichtig war?“ „Nein, natürlich nicht!“, entgegnete ich schnell. „Winnetou weiß, dass ich nie so über ihn denken würde! Es ist nur.... ich habe vor Monaten lernen müssen, wie schnell ein geliebter Mensch einem anderen genommen werden kann, und – ich mache mir einfach Sorgen um dich!“ Winnetou hielt meine Hände fest und sah mich einfach nur an, mit einem Blick, den ich nicht zu durchschauen vermochte. Als er nichts sagte, kroch in mir das ungute Gefühl hoch, er könnte mich falsch verstanden haben, und darum ergänzte ich hastig: „Natürlich weiß ich um deine Fähigkeiten und spreche dir auf keinen Fall deinen Mut und deine Klugheit ab, aber....“ Weiter kam ich nicht, denn jetzt war er es, der mich mit einem heftigen Ruck an sich zog und meinen Mund mit seinen herrlichen Lippen verschloss. Unendliche Sekunden oder Minuten später entließ er mich aus diesem innigen Kuss, strich mir zärtlich über die Wange und flüsterte: „Winnetou weiß, dass sein Bruder in der letzten Zeit wegen ihm durch die Hölle gegangen ist. Doch trotz allem kann und darf sich der Häuptling der Apatschen nicht wie eine alte Squaw in seinem Wigwam verstecken! Mein Bruder glaube fest an den großen und guten Manitou, von dem Winnetou weiß, dass er ihn und uns leitet und beschützt. Winnetous Leben liegt in seiner Hand!“ Es lag eine solche Sicherheit, ein solches Vertrauen in seinen Worten, dass er mich damit im Augenblick wirklich beruhigen konnte. Ich schloss ihn nochmals gerührt in die Arme, dann endlich saßen wir auf und legten den Rest unseres Weges im schnellen Tempo zurück. Tatsächlich hatten die Gefährten uns schon sehnlichst erwartet und reagierten sehr erleichtert auf unsere Rückkehr. Sie waren sich fast schon sicher gewesen, dass wir eine unangenehme Begegnung gehabt hatten, somit beruhigten wir sie schnell mit der Auskunft, dass nichts Außergewöhnliches geschehen war. Emery und den Apatschen gegenüber waren wir allerdings mitteilsamer und berichteten ihnen über Winnetous Ahnung von einem eventuellen Hinterhalt der Kiowas. Emery horchte auf und warf unseren angehenden Goldsuchern einen bezeichnenden Blick zu. Er hatte da so seine Zweifel, ob man mit diesen unerfahrenen Leuten an einer solchen Gefahrenquelle ohne Verlust von Gesundheit oder sogar Leben vorbeikommen können würde. Er äußerte diese Zweifel auch uns gegenüber und meinte dann: „Auf jeden Fall sollten wir unseren Greenhorns dahinten nichts von solch eventuellen Schwierigkeiten erzählen, die bekommen ja sonst vorher schon Angstzustände, und dann ist an ein Weiterkommen mit den Herrschaften gar nicht mehr zu denken!“ Natürlich hatte er recht, und seit dem Vorfall am Mittag wuchsen auch bei mir die Zweifel über ein gutes Gelingen unseres Unternehmens, aber wir hatten diese Vorbehalte auch schon vorher gehabt und unsere Entscheidung dennoch in dieser Hinsicht gefällt; wir würden sie jetzt nicht ändern, nur weil die ersten Schwierigkeiten aufzutreten drohten. Winnetou war meinem Bericht und Emerys Einwand wie üblich schweigend gefolgt und blickte jetzt auch sehr nachdenklich zu der Familie Butterfield hinüber. Ich sah ihm an, dass er sich mit einem noch unausgereiften Gedanken befasste, wollte ihn aber nicht eher danach fragen, als bis er mit sich selbst einig war. Es war jetzt höchste Zeit, sich zur Ruhe zu begeben, denn wir wollten die heute verlorenen Stunden am morgigen Tage aufholen; außerdem stand die Überquerung des Rio Grande an und deshalb hatten wir beschlossen, morgen noch früher als gewöhnlich aufzubrechen. Winnetou machte wie üblich noch einmal seine Runde um das Lager, denn er verließ sich am allerliebsten auf sich selber, vor allem wenn es um die Sicherheit aller ging. Anschließend suchte er wie an jedem der letzten Abende den Doktor auf, um sich zu überzeugen, dass es diesem an nichts fehlte und er die Reise ohne Beeinträchtigungen fortsetzen konnte. Zu guter Letzt kam er wieder zu mir, und wir legten uns nahe beieinander zu Ruhe, zumindest so nahe, wie es möglich war, ohne die Aufmerksamkeit der restlichen Gesellschaft zu erregen. Wir waren übrigens im Augenblick noch von den Nachtwachen befreit, das würde sich aber ändern, sobald wir das für uns gefährliche Gebiet erreichten. Die Sonne war noch nicht vollständig aufgegangen, da saß unser ganzer Trupp schon reisefertig in den Sätteln. Eine Stunde später hatten wir dann auch den Rio Grande erreicht und zogen uns dort erst einmal mit den Butterfields in dicht belaubtes Unterholz zurück, während Winnetou mit seinen Apatschen nochmals die gesamte Umgebung nach feindlichen Spuren absuchte. Es wäre ja fatal gewesen, wenn wir uns mitten in dem Fluss befänden und währenddessen zur Zielscheibe von mordlustigen Kiowas avancieren würden! Bevor wir die Flussüberquerung angingen, wurden unsere Greenhorns nochmals genauestens instruiert, wie sie sich im Flussbett mit ihren Pferden zu verhalten hatten. Zur Sicherheit hatten wir beschlossen, die Butterfields in Zweierreihen hintereinander reiten zu lassen, wobei sie jeweils rechts und links von einem Apatschen sowie Emery und mir flankiert werden sollten. Wir wollten damit verhindern, dass die jungen Leute aufgrund ihrer jetzt doch spürbaren leichten Nervosität unruhig wurden und diese Unruhe auf ihre Pferde übertrugen. Den verhinderten Schlangenjäger namens Frederic wollten Emery und ich mit einem seiner Brüder zwischen uns nehmen und seinen Rotschimmel dabei von uns am Zügel führen lassen, denn diesem Jungen traute ich noch nicht zu, solch eine Flussüberquerung, zu der es doch einer mutigen und sicheren Geisteshaltung bedurfte, alleine zu bewältigen. Dem Doktor war es zwar, wodurch auch immer, gelungen, Frederic die größte Angst vor weiteren Unfällen zu Pferd zu nehmen, aber sein ganzes Wesen war dennoch von einer gewissen Unsicherheit durchdrungen und uns somit Mahnung genug, ihn vermehrt im Auge zu behalten. Insgesamt war die ganze Sache ein relativ heikles Unternehmen und ich machte mir Sorgen, ob diese Geschichte wirklich ohne Zwischenfälle oder gar Unfälle von statten gehen würde, aber da wurde ich glücklicherweise eines Besseren belehrt. Wider Erwarten ging nämlich hier wirklich alles gut. Die Jünglinge benahmen sich tatsächlich fast schon vorbildlich und ritten in Ruhe und Ordnung zwischen uns durch das Wasser, welches uns meistens bis an die Steigbügel reichte, teilweise auch darüber hinaus. Winnetou machte, wie immer ganz vorne an der Spitze reitend, wieder einmal den Führer und behielt den gesamten Uferbereich scharf im Auge, um gegen unliebsame Überraschungen gewappnet zu sein. Aber nichts geschah, alles blieb ruhig, und wir erreichten das gegenüberliegende Ufer ohne auch nur den kleinsten Zwischenfall. Innerlich atmete ich erleichtert auf, und Emery konnte ich ansehen, dass es ihm nicht anders erging. Er schielte zu mir hinüber, lächelte breit und signalisierte mir durch das Antippen seiner Hutkrempe, dass er sicher war, dass wir das Schlimmste am heutigen Tag überstanden hätten. Woher sollten wir auch wissen, wie sehr er sich da täuschte? Der Rest des Tages verlief ebenso friedlich und ohne besondere Vorkommnisse, wie er begonnen hatte. Wir behielten unsere Vorsichtsmaßnahmen bei, indem wir den ganzen Trupp ständig weitläufig umrundeten und Winnetou teilweise weit voraus ritt, um eventuelle Feinde oder ihre Spuren so früh wie möglich zu entdecken. Er war der absolut geeignete Mann dazu, denn er vermochte sich auf solchen Kundschafterritten förmlich unsichtbar zu machen, wobei er selber nicht die geringsten Kleinigkeiten übersah. Hin und wieder, wenn ich meinem Freund während meiner Ritte begegnete, sah ich den Ausdruck des Zweifels und des Misstrauens über sein Gesicht huschen. Ich wusste, gerade die Tatsache, dass wir immer noch nicht auf auch nur die kleinste Spur eines Kiowa gestoßen waren, machte ihn unruhig und erhöhte seine Aufmerksamkeit um so mehr. Am späten Nachmittag dann hatten wir ein riesiges Waldgebiet erreicht. Wir mussten es auf dem Weg zum Ship Rock fast der Länge nach durchreiten und würden dafür wahrscheinlich noch einen Großteil des morgigen Tages benötigen. Heute rasteten wir, nachdem wir noch weitere drei Stunden geritten waren, in einem sehr dicht belaubten Teil des Waldes, am Fuße einiger Ausläufer des Mount Taylor, dessen Felsen uns zu drei Seiten hin einen außerordentlich guten Schutz boten. Auch hier wurden wieder die üblichen Vorsichtsmaßnahmen getroffen, und als Winnetou und ich von seinem allabendlichen Erkundungsgang, zu dem ich ihn diesmal begleitet hatte, wieder zurückgekehrt waren und uns zum Nachtmahl am Feuer niedergelassen hatten, da trat Frederic Butterfield auf uns zu, sichtlich unsicher und mit einer solch betretenen Miene, dass ich Mühe hatte, mir meine Belustigung nicht anmerken zu lassen. Mit ausgesuchter Höflichkeit bat er, sich kurz zu uns setzen zu dürfen, und natürlich wurde ihm das erlaubt. Abwechselnd sah er Winnetou und mir ins Gesicht, und gerade die ausdruckslose Miene des Apatschen sowie dessen dafür um so mehr sprechenden und den Jüngling mit scharfen Blick beobachtenden Augen bewirkten, dass der sich kaum getraute, ihn geradeheraus anzusehen, sondern sich lieber mir zuwandte, als er das Gespräch begann: „Mr. Shatterhand....Ich wollte es Euch schon....also, ich meine, ich wollte es Winnetou und Euch schon gestern Abend sagen....und dann eigentlich den ganzen heutigen Tag über, aber Ihr wart immer so schnell wieder davongeritten.... also, was ich eigentlich sagen wollte, ist....“ Hier stockte er und machte ein solch verlegenes Gesicht, dass ich mir ein Lächeln beim besten Willen nicht mehr verkneifen konnte und ihm mit sanfter Stimme entgegenkam: „So sagt ruhig, was Euch auf dem Herzen liegt, Master Frederic! Wir hören zu!“ Der junge Mann schluckte noch einmal, dann überwand er seine Scheu und begann: „Ich.... ich wollte mich bei Euch für meine Dummheit wegen der Schlange gestern ernsthaft entschuldigen und bitte Euch von ganzem Herzen, mir das zu glauben und sie anzunehmen...? Es tut mir außerordentlich Leid, dass ich Euch dadurch in Lebensgefahr gebracht hatte!“ Fast schon ängstlich hielt er seinen Blick zu Boden gesenkt. Mein Lächeln wurde breiter; ich war gerade im Begriff, ihm zu antworten, da kam Winnetou mir zuvor. Ich sah, dass auch er lächelte, als er sprach: „Mein kleiner weißer Bruder kann sicher sein, dass weder Old Shatterhand noch Winnetou ihm weiter zürnen werden. Wenn das Bleichgesicht verspricht, in Zukunft auf unsere Anweisungen zu hören und sich nicht mehr aus Neugier in solche Gefahren zu begeben, dann wird es so sein, als sei der gestrige Vorfall niemals geschehen!“ Über das Gesicht des jungen Butterfield glitt ein solch erleichterter Ausdruck, dass es wirklich der Zauberei bedurft hätte, ihm noch weiter böse zu sein. Ich schloss mich natürlich Winnetous Worten an, und Frederic versprach uns hoch und heilig und das gleich mehrfach, in Zukunft keinerlei Unvorsichtigkeiten mehr zu begehen. Die nächsten Tage sollten zeigen, dass er sich auch wirklich daran hielt, aber wer hätte wissen können, dass dafür Andere an seine Stelle traten, sogar noch am heutigen Abend? Wir hatten von den fürsorglichen Siedlern, wie schon erwähnt, so viel Proviant mit auf den Weg bekommen, dass auf unserer Reise keinerlei Notwendigkeiten bestanden, jagen zu gehen. Nun ist aber ja allgemein bekannt, dass frisch zubereitetes Fleisch deutlich besser schmeckt als getrocknetes, welches wir in unseren Taschen hatten. Einige der Jünglinge waren aufgrund der wenigen Widerstände, die sich uns in den letzten Tagen entgegengestellt hatten, und vor allem gerade durch die heutige problemlose Überquerung des Rio Grande sehr selbstsicher, fast schon ein wenig übermütig geworden, hatten sie sich doch „bewiesen“, dass sie einer solch recht gefährlichen Reise durchaus gewachsen waren. Dazu kam, dass bei den jungen Männern der Appetit auf Frischfleisch wuchs, zudem sie es überhaupt nicht gewohnt waren, längere Zeit von trockenem Dörrfleisch zu leben. Das folgende Geschehen erschloss sich uns dann erst spät am Abend, als die zwei Jünglinge, die darin verwickelt waren, sich wieder soweit beruhigt hatten, dass sie uns, immer noch am ganzen Körper zitternd, zumindest einigermaßen zusammenhängend den Hergang berichten konnten. Wir hatten den Herrschaften aufgrund unseres doch recht sicheren Lagers erlaubt, sich innerhalb der bewachten Umgebung etwas die Beine zu vertreten. Sie nutzten das auch redlich aus und waren dabei meist in Zweiergruppen unterwegs. Nun kam es, dass einer der Männer namens George, der zusammen mit seinem Cousin Morton unterwegs war, auf die Spur eines Wildtieres traf, und beide Butterfields waren sofort felsenfest davon überzeugt, dass es sich hierbei nur um ein Wildschwein handeln konnte. Anstatt nun einen von den im Westen erfahrenen Männern um Hilfe zu bitten, kamen sie auf die glorreiche Idee, sich den fetten Braten selber zu schießen, um sich anschließend von der gesamten Gesellschaft als große Jäger feiern zu lassen. Die beiden unverbesserlichen Greenhorns folgten also der Spur, von der jedes in der Wildnis geborene Kind sofort erraten hätte, dass es sich keinesfalls um ein Wildschwein handelte, sondern um etwas viel Gefährlicheres. Selbst diese beiden hätten es eigentlich nach wenigen Metern bemerken müssen, so deutlich waren die Spuren zu erkennen, aber in ihrem Eifer nach Ruhm und in ihrer Geltungssucht waren sie wie im Fieber und sahen nicht nach links oder nach rechts. Natürlich trafen sie dabei, wohl etwas abseits der Fährte, auf einen Apatschen, der mit vier anderen eine Postenkette rund um das Lager bildete. Sie tischten ihm schnell eine handfeste Lüge auf, indem sie behaupteten, dass sie von Emery und mir zum Beeren-Sammeln geschickt worden wären und sich dabei auch etwas weiter entfernen dürften. Der Apatsche glaubte den Männern leider, denn er konnte sich nicht vorstellen, dass die Jünglinge eine solch dreiste Lüge erfinden würden. Da die beiden einige Meter von ihrer „Wildschwein-Spur“ entfernt auf den Krieger getroffen waren, hatte dieser die Fährte nicht gesehen, sonst hätte er sofort Alarm geschlagen. Die beiden Unvernünftigen drangen also weiter in das mittlerweile sehr undurchdringliche Dickicht vor und gelangten schließlich an eine mehrere dutzend Meter hohe Felsengruppe, in welcher sie, etwas getarnt durch einen Vorhang aus herabhängendem Efeu, eine Höhle auszumachen glaubten. Genau konnten sie es nicht erkennen, da die Dämmerung mittlerweile eingesetzt hatte. Aber spätestens jetzt hätten ihre sämtlichen Sinne sie vor der drohenden Gefahr warnen müssen, doch beide Butterfields hatten diese in ihrem Jagdfieber wohl komplett ausgeschaltet. Ja, sie befanden sich auf einer Jagd, auch auf einer Sammlung nach „Beeren“, nur dass diese „Beeren“ leider anders geschrieben wurden! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)