Geliebter Blutsbruder von Anmiwin ================================================================================ Kapitel 27: Glück und Unglück ----------------------------- Mein Freund, der diese Gegend ja leidlich kannte, stieg vorneweg, wobei er den vor ihm liegenden Bereich unentwegt im Auge behielt, um ja keinen möglichen weiteren Posten zu übersehen. Ich sicherte nach hinten alles ab und überzeugte mich immer wieder davon, dass uns niemand folgte. Während dieser nicht sehr anstrengenden Kletterei fiel mir Winnetous neuerliche Verletzung ins Auge und ich nahm mir vor, ihn sofort, sobald es zeitlich irgendwie möglich wurde, zu untersuchen. Zumindest schien die Wunde ihn nicht sonderlich zu beeinträchtigen, aber genau konnte man das bei ihm nie wissen, er hatte sich dafür einfach zu sehr unter Kontrolle. Mir selber ging es nach dem Sturz wieder einigermaßen gut, abgesehen von leichten Kopfschmerzen, die ich jetzt aber gar nicht mehr richtig wahrnahm. Trotzdem drehte Winnetou sich des öfteren um, da er sich überzeugen wollte, ob ich mich nicht überschätzt hatte und mich dadurch in Gefahr brachte, denn der Abgrund zu unserer rechten Seite gähnte uns jetzt in einer grausigen Tiefe entgegen. Ich nickte dem Apatschen immer wieder beruhigend zu, dann dauerte es nicht mehr lange und wir hatten unser Ziel erreicht. Wir fanden alles genauso vor, wie Winnetou es mir beschrieben hatte. Allerdings musste er die Eingangsspalte erst kurz suchen, da sie in den letzten Jahren von zwischendurch herabgefallenem Geröll halb verdeckt worden war. Der Spalt war so schmal, dass ihn ein beleibter Mensch wie zum Beispiel unser Dicker Jemmy niemals hätten passieren können. Auch den „Kaminschacht“ hinunter in die kleinere Grotte hätte er wohl schwerlich erklettern können. Wir aber kamen glücklich unten an und fanden auch sofort den angrenzenden, sehr niedrigen Tunnel, obwohl hier unten tiefste Dunkelheit herrschte. Winnetou aber konnte nachts sehen wie eine Katze und auch sein Tastsinn war unbeschreiblich. Er nahm mich bei der Hand und führte mich so sicher bis kurz vor den Tunnelausgang, der in die große Höhle mündete, als hätte er ihn schon tausendmal durchquert und würde ihn im Schlaf kennen, obwohl wir hier nur auf allen Vieren vorwärts kommen konnten. Kurz darauf konnten wir schon die typischen Geräusche vernehmen, die eine große Horde von Banditen, welche dem Alkohol ordentlich zusprach, zu machen pflegte. Ab jetzt ließen wir äußerste Vorsicht walten, da wir ja nicht wussten, wo genau die Banditen in der Höhle lagerten. Der Tunnel war hier nicht nur niedrig, sondern auch sehr eng, so dass wir nur hintereinander kriechen konnten. Winnetou machte auch jetzt wieder den Ersten und duckte sich, als er weiter vorn den schwachen Lichtschein eines Lagerfeuers in den Tunnel dringen sah, fast wie ein Panther ganz nahe an den Boden. Ich tat es ihm gleich und so robbten wir uns so leise wie möglich an den Ausgang heran, bis wir einen Teil der Grotte sahen. Soweit wir die Lage überblicken konnten, durften wir mit Fug und Recht behaupten, äußerst viel Glück gehabt zu haben. Nicht nur, dass offensichtlich die gesamte Bande, abgesehen von den Wachtposten, hier drinnen lagerte, nein, der Boss und seine beiden Unteranführer befanden sich sogar ganz in unserer Nähe! Außerdem herrschte ein ordentlicher Lärmpegel in dem felsigen Bau, der von den steinigen Wänden in fast der gleichen Lautstärke widerhallte, denn die Geier hatten anscheinend einen ordentlichen Vorrat an Whisky mit dabei, mit dem sie im Moment nicht gerade sparsam umgingen. Der Tunnelausgang, in dem wir jetzt saßen, war nicht ebenerdig, sondern befand sich ungefähr eineinhalb Meter über den Boden. Man darf ihn sich auch nicht wie eine runde Röhre vorstellen, sondern er bestand, ähnlich wie der obere Höhleneingang, aus zu einem schmalen Spalt spitz zusammenlaufenden Felsen, hinter denen wir gute Deckung fanden. Da die restlichen Höhlenwände wohl überall solche Spalten, die allerdings meistens nicht sehr tief waren, aufwiesen, konnten die Schurken gar nicht vermuten, dass sich hinter unserer ein Tunnel befand, so dass sie auch keinerlei Aufmerksamkeit darauf verschwendeten. Das größte Problem bestand jetzt darin, die Bosse zu belauschen. Aufgrund des enormen Lärmpegel konnten wir keinen Ton von dem hören, was die Anführer, die abgesondert für sich etwas weiter links von uns nahe der Wand saßen, miteinander besprachen. Wir sahen uns noch einmal ganz genau um, fieberhaft nach einer Möglichkeit suchend, die Bosse ungesehen aushorchen zu können. In der Mitte der Höhle brannte ein großes Lagerfeuer, die Wände und die Ecken dagegen waren in tiefe Dunkelheit oder Halbdunkel getaucht. Die meisten Verbrecher saßen mit einem Becher Whisky in der Hand an dem Feuer, sangen, grölten oder erzählten lautstark von ihren letzten Raubzügen. Die führenden Köpfe der Bande befanden sich, wie schon erwähnt, in unserer Nähe, ungefähr vier bis fünf Schritte von der Wand entfernt, und ihre Gestalten lagen im Halbdunkel, wurden nur manchmal von dem flackernden Feuerschein kurz diffus beleuchtet. Sie hatten ihr Sattelzeug und ihre Packtaschen hinter sich nahe an der Wand gelagert. Wenn es nur möglich wäre, dahinter Deckung zu finden! Es waren nur ein paar Schritte bis dorthin, einzig der Weg vom Tunnelspalt hinunter auf den Boden barg die große Gefahr, entdeckt zu werden, aber die Wand lag hier fast im Dunkeln, und mit ein wenig Glück musste dieses Vorhaben eigentlich machbar sein. Ich sah meinen Blutsbruder an und erkannte, dass auch er im gleichen Moment denselben Gedanken gehabt hatte. Beide zusammen durften wir den Gang nicht wagen, einer musste dem anderen für den Notfall Feuerschutz geben können, und so entbrannte sich ein kleiner Wettstreit zwischen uns, wer jetzt den gefährlichen Part übernehmen sollte. Winnetou war natürlich der Meinung, dass er dieses Kunststück ausführen sollte, da ich ja durch meine Kopfverletzung noch eingeschränkt sei und ihm außerdem mit dem Henrystutzen viel besser Feuerschutz geben könne. Ich hielt ihm entgegen, dass er die Waffe genauso gut bedienen könne und ich keinerlei Nachwirkungen von dem Sturz mehr spüren würde. Zum Schluss hatte ich das bessere Argument, bestehend aus seiner frischen Wunde. Durch die Kletterei hatte diese offenbar wieder angefangen zu bluten, und dadurch konnte er nur schwer vermeiden, Spuren an der Wand zu hinterlassen, die eventuell gesehen werden konnten. Winnetou musste sich fügen. Ich wartete noch einen günstigen Moment ab, in dem die Banditen lauthals über einen groben Witz lachten und nicht auf ihre Umgebung achteten, sprang mit einem Satz lautlos von der Spalte auf den Boden und huschte so schnell wie möglich hinter den Satteltaschen in Deckung, in dem ich mich lang auf den Boden legte. Es war geglückt! In den ersten Minuten war nicht viel Spannendes zu erfahren. Die Bosse unterhielten sich über völlig belanglose Dinge oder schwiegen ganz. Kurze Zeit später aber richtete einer der Unteranführer das Wort an das Oberhaupt der Bande: „Sag einmal, Boss, warum warten wir nicht ab, bis der Treck aufbricht und durch den Llano zieht? Wir könnten sie doch wieder mit den falsch gesteckten Stangen irreführen?“ „Weil wir das bei denen schon mal gemacht haben, Idiot!“ raunzte der Boss zurück. „Meinst du etwa, die fallen darauf noch mal rein? Mit Sicherheit nicht, schon gar nicht in Begleitung von Firehand und den anderen Westmännern – die sind nämlich nicht so blöd wie du!“ Na, die beiden schienen sich ja herzlich lieb zu haben, zumindest ließ das der überaus "freundliche" Ton vermuten! „Ja, aber bist du dir denn sicher, dass sie dann auf unsere List mit dem Hinterhalt reinfallen? Solche Leute wie die sichern sich doch erst überall ab, bevor....“ „Natürlich bin ich mir sicher, du Blödmann!“ entgegnete der Boss, diesmal so laut, dass es wahrscheinlich sogar Winnetou in seinem Versteck hören konnte. Jetzt begann sich der andere Unteranführer in das Gespräch einzumischen. „Ich verstehe, ehrlich gesagt, auch noch nicht so ganz, wie du diese Männer mit Feuer in eine Falle locken willst“, begann er vorsichtig. Offensichtlich war der Kopf der Bande hochgradig cholerisch, so dass seine Untergebenen jedes Wort auf die Goldwaage legen mussten, um ihn nicht unnötig zu reizen. Dieser bestätigte meine Vermutung auch gleich darauf. „Sagt einmal, seid ihr so dämlich oder tut ihr nur so? Wie oft soll ich die Sache denn noch erklären?“ „Vielleicht erklärst du sie uns einmal richtig und vollständig, dann brauchen wir auch nicht mehr zu fragen“, wagte der zweite Unteranführer aufzubegehren. Die Gesichtsfarbe des Angesprochenen hatte jetzt was von einer reifen Tomate, er öffnete und schloss seinen Mund wie ein Karpfen, ohne zu sprechen und schien kurz davor zu sein, alles zusammenzubrüllen, entschied sich im letzten Moment aber doch dagegen und begann, seinen Kameraden den gesamten Plan noch einmal so übertrieben langsam und deutlich zu erklären, als würde er zu kleinen Kindern sprechen. Mehr Glück konnte ich nun wirklich nicht haben, denn was ich jetzt erfuhr, war für uns äußerst wichtig und mehr als informativ. Die Banditen hatten also vor, den Treck und die Farm komplett auszurauben und dem Erdboden gleichzumachen. Da der Boss unter den mehr als einhundert Menschen, die sich dort aufhielten, einige Westmänner erkannt hatte, vor denen er auch gehörigen Respekt zu haben schien, hütete er sich davor, einfach blindlings alles zu überrennen, in der Hoffnung, durch den Überraschungsmoment alle Personen erschießen zu können, bevor die überhaupt dazu kamen, zu den Waffen zu greifen. Er wusste, dass gerade die Westmänner doch sehr reaktionsschnell waren, auch den Indianern traute er das durchaus zu, so dass die Geier in Gefahr liefen, nicht nur große Verluste zu erleiden, sondern auch den Kampf eventuell zu verlieren, da sie ja auch zahlenmäßig unterlegen waren. Also hatte der Boss sich ein Ablenkungsmanöver ausgedacht, von dessen Gelingen er völlig überzeugt war. In der Nacht des Angriffs wollte er hinter dem kleinen Fluss, in dem Winnetou bei seinem zweiten Spaziergang sein für mich so überraschendes Bad genommen hatte, im Schutz der Bäume einen alten Planwagen, den die Bande wohl irgendwo versteckt hielt oder noch rauben wollte, in Brand setzen, während ein paar der Halunken ein schmerzerfülltes Wehgeschrei imitieren sollten, so dass die Treckmitglieder und ihre Begleiter denken sollten, im Wald seien Menschen in Gefahr. Wenn die Geier Glück hatten, würde ein Großteil unserer fähigsten Männer diesen vermeintlich in Not Geratenen zu Hilfe eilen, durch das Feuer hell erleuchtet und ein gutes Ziel abgebend bei dem brennenden Wagen stehen bleiben und sofort von dreißig bis vierzig sich dort versteckt haltenden Halunken zusammengeschossen werden können. Der Rest der Bande hätte mit dem Treck und der Farm dann wahrscheinlich leichtes Spiel. Stattfinden sollte der Angriff in drei Tagen, also in der Nacht von dem dritten zum vierten Tag, denn man wollte solange warten, bis die Aufregung und das Misstrauen sich gelegt hatten, welche durch den von Bloody Fox entdeckten und von Winnetou erschossenen Verbrecher hervorgerufen worden waren, und die allgemeine Wachsamkeit wieder nachließ. Nachdem der Boss diesen Plan in aller Ausführlichkeit erklärt hatte, schienen seine Unteranführer nun auch vollends von dem Gelingen desselben überzeugt zu sein, denn ihre Laune besserte sich schlagartig und sie verlangten lautstark Nachschub an Whisky. Weiter wurde nichts Wichtiges mehr besprochen, dafür sprachen die drei um so mehr dem Alkohol zu, und so musste ich auf einen geeigneten Zeitpunkt warten, um den Gott sei dank im Schatten liegenden Weg zu Winnetou zurück zu legen. Das größte Problem war die Höhe, immerhin anderthalb Meter, die ich bis zum Tunneleingang überwinden musste, ohne entdeckt zu werden. Aber auch hier kam mir der Zufall zu Hilfe. Einer der Gauner, der sich schon vollends betrunken hatte, wollte von seinem Platz am Lagerfeuer aufstehen, kam dabei ins Straucheln und setzte sich unfreiwillig wieder – mitten in die Flammen! Das grölende Gelächter, welches jetzt losbrach, und die Aufmerksamkeit, die sich nur auf den schnell wieder aufgesprungenen und sich das Hinterteil abklopfenden Ganoven richtete, ermöglichte es mir, in Windeseile zurück zum Tunnel zu huschen. Winnetou streckte mir schon seine Arme entgegen, ich fasste seine Hände und ließ mich von ihm in Sekundenschnelle hochziehen. Geschafft! Niemand hatte uns bemerkt, alles lachte noch über den Geier, der in ein lautes Schmerzensgeheul ausgebrochen war, wobei sich mein Mitleid mit ihm absolut in Grenzen hielt. Wir schlichen uns schnell durch den Tunnel zurück in die kleine Höhle, wo wir innehielten und uns berieten. Ich berichtete Winnetou mit wenigen Worten über das Ergebnis meines Lauschangriffes, worauf hin er in ein kurzes Schweigen verfiel und offenbar über das Gehörte nachdachte. Sehen konnte ich ihn in der hier in der Grotte herrschenden Dunkelheit nicht, also wartete ich ab, ob eine Reaktion von ihm kam. Wenige Augenblicke später legte er seine Hand auf meinem Arm – bei dieser Geste rieselte mir jedes mal ein kleiner Schauer über den Rücken, was mich selbst immer wieder überraschte – und er fragte mich: „Hat mein Bruder einen dritten Unteranführer gesehen?“ „Einen dritten?“ fragte ich, etwas erstaunt. „Ich habe nur die zwei und ihren Boss gesehen, wie kommt Winnetou darauf, dass es einen dritten geben könnte?“ „Weil Old Firehand ihn erwähnte, er sprach von dem Boss der Bande und drei Stellvertretern“, entgegnete Winnetou. Ich dachte einen Augenblick nach, und dann fiel mir dieser Teil von Firehands Erzählung wieder ein. Mein Freund hatte recht, wo war wohl der dritte Anführer gewesen? Im Augenblick aber war keine Zeit, uns darüber großartig Gedanken zu machen, wir wollten so schnell wie möglich zu Tsain-tonkee und den Pferden zurück, um dann sofort nach Helmers Home zurückzukehren. Im Nu waren wir den „Kaminschacht“ hochgeklettert und befanden uns binnen kürzester Zeit wieder im Freien. Es dämmerte schon; nicht mehr lange, und es würde tiefste Dunkelheit herrschen, was es uns zwar leichter machte, nicht von umherstreifenden Wachposten entdeckt zu werden, dafür aber die Strecke den Abgrund entlang äußerst gefährlich machte. Der Apatsche schritt wieder voran und nahm mich bei den schwierigsten Stellen bei der Hand. Das war in meinen Augen zwar nicht notwendig und ich musste doch lächeln über seine Vorsicht und seine Besorgnis um mich, aber insgeheim wurde mir dabei unglaublich warm ums Herz. Kurz darauf waren wir bei der Stelle angelangt, an der wir den Posten mit unseren kleinen Steinen in die Irre geführt hatten. Er war immer noch da, aber seine vorhin schon vorhandene Lustlosigkeit hatte sich jetzt in eine nicht zu überhörende Müdigkeit verwandelt – er schlief und schnarchte dabei sogar leise! Ich sah es zwar nicht, konnte aber deutlich fühlen, wie sehr Winnetou sich über diese Unvorsichtigkeit im Stillen amüsierte, mir erging es ja ebenso. Den Rest des Weges bis zu unseren Pferden hatten wir schnell überwunden, näherten uns dieser Stelle aber trotzdem vorsichtig, da wir erst sichergehen mussten, dass auch hier nichts Unvorhergesehenes geschehen war. Der Mescalero aber empfing uns in gewohnter Ruhe, es war nichts Außergewöhnliches vorgefallen. Schnell stiegen wir auf die Pferde und machten uns so leise und vorsichtig wie möglich auf den Weg hinunter, wobei Winnetou wieder den Anführer machte, da er außer seinen scharfen Augen noch so etwas wie einen sechsten Sinn besaß; er spürte Hindernisse in dieser Dunkelheit mehr, als dass er sie sah. Wir kamen auch glücklich unten an und konnten in der sternenklaren Nacht jetzt die Pferde im Galopp über die Prärie jagen lassen. Ich hielt mich dicht hinter meinem Freund und fand Zeit, nochmal in Ruhe über den vergangenen Tag nachzudenken. Irgendwann fiel mir auf, dass wir die ganze Zeit über kaum etwas getrunken und so gut wie gar nichts gegessen hatten. Dazu die fehlende Nachtruhe, die über Stunden gehende große Anspannung und keine nennenswerten Ruhepausen – unter normalen Umständen hätte ich mir darüber keinerlei Gedanken gemacht, aber Winnetous Gesundheitszustand war noch nicht normal, und ich begann mich zu fragen, wie sein Körper die vergangenen Anstrengungen wohl verkraftet hatte, noch dazu mit einer frischen Wunde. Ich beschloss, meinen Freund dazu zu bringen, eine kleine Rast einzulegen, sobald wir an einem Wasser vorbei kommen würden, damit ich seine Verletzung untersuchen konnte. Ab jetzt aber beobachtete ich ihn genauer. Kam es mir nur so vor, oder war seine Körperhaltung nicht mehr so energiegeladen und voller Spannkraft wie vorher? Ritt er nicht sogar leicht nach vorne gebeugt, als könne er sich nicht mehr richtig gerade halten? Ich trieb meinen Hatatitla etwas mehr an und kam so auf gleiche Höhe mit Winnetou. In der Dunkelheit konnte ich sein Gesicht nicht sehen, er aber sprach mich auch jetzt nicht an, obwohl ich mit ihm gleichauf war, was ich doch schon ungewöhnlich fand. Ich wartete noch einen Moment ab, dann rief ich ihn leise bei Namen. Er antwortete nicht, ich musste noch einmal rufen, bis er langsam, wie aus einer tiefen Versunkenheit heraus, den Kopf hob und zu mir sah. „Geht es dir gut, mein Bruder?“ fragte ich ihn ganz direkt. „Es ist alles gut, Scharlih“, entgegnete er, aber seine Stimme hatte einen erschöpften Klang angenommen, den allerdings nur jemand wahrnehmen konnte, der meinen Freund so gut kannte wie ich. „Wir werden trotzdem da vorne am Waldrand rasten, dort finden wir auch Wasser, wenn ich mich richtig entsinne. Dort werde ich mir deine Wunde ansehen.“ Ich sagte das in einem so bestimmten Ton, dass ihm klar wurde, dass jeder Widerspruch sinnlos war, und so versuchte er es auch gar nicht erst. Vielleicht aber war er sogar insgeheim froh über meinen Vorschlag, denn ich hatte jetzt immer mehr das Gefühl, dass er sich in den letzten vierundzwanzig Stunden viel zu viel zugemutet hatte. Am Waldrand angekommen, suchten wir uns sofort einen versteckten Platz nahe an einem schmalen Bach, an dem wir ein kleines indianisches Feuer entzünden konnten, ohne dass der Schein von der Prärie aus zu sehen war. Tsain-tonkee kümmerte sich erst um das Feuer und begann dann, die Umgebung abzusichern. Der Blick, den er Winnetou zuwarf, verriet mir, dass auch er bemerkt hatte, dass es seinem Häuptling nicht mehr sonderlich gut ging. Ich ließ dem Apatschen auch keine Möglichkeit mehr, sich in irgendeiner Weise nützlich zu machen, sondern zwang ihn, sich hinzusetzen und besorgte erst einmal frisches Wasser, welches er zu sich nehmen sollte. Er ließ das Ganze jetzt mehr und mehr widerstandslos über sich ergehen, was meinen Verdacht über eine Verschlechterung seines Zustandes nur noch erhärtete. Kurzerhand sorgte ich dafür, dass er sich hinlegte und entblößte die Stellen an Taille und Hüfte, an der ich das Blut bemerkt hatte. Ich erschrak jetzt doch, denn trotz der geringen Helligkeit erkannte ich, dass er sich dort großflächige, teils tiefe Schürfwunden zugezogen hatte. Eine davon war tief ins Fleisch eingeschnitten und hörte nicht auf, zu bluten, was auch der ständigen körperlichen Bewegung geschuldet war. Verursacht hatten diese Verletzungen wohl die zerberstenden Baumstämme der einstürzenden Brücke sowie das am Boden des Bachbettes liegende Geröll. Es wurde allerhöchste Zeit, dass die Wunden gesäubert und verbunden wurden, bevor sie anfingen zu eitern und dadurch ein gefährliches Wundfieber hervorriefen. Ich sah Winnetou an. Er hielt die Augen geschlossen, entweder vor Erschöpfung oder vor Schmerz, vielleicht auch beides. Seine jetzt deutlich sichtbare Schwäche konnte nicht allein nur durch die Verletzung verursacht worden sein; daher ergriff ich sein Handgelenk und tastete nach seinem Puls. Er war nur schwach zu spüren, langsam, etwas unregelmäßig. Jetzt erfasste mich die Sorge um meinen Freund mit aller Macht. Ich holte unsere Decken, legte eine davon unter seinem Kopf und deckte ihn mit der anderen zu, überprüfte dann wieder seinen Puls, seinen Herzschlag. Er schien noch etwas langsamer geworden zu sein, offenbar bahnte sich hier ein Kreislaufzusammenbruch an, vor dem Dr. Hendrick uns eindringlich gewarnt hatte. Mittlerweile war auch Tsain-tonkee wieder an unserer Seite, erkannte sofort die Situation und holte aus seinen und Winnetous Satteltaschen Verbandsmaterial sowie einige Heilpflanzen. Ich erinnerte mich an die Medikamente, die der Arzt mir vorsorglich mitgegeben hatte. Während der Mescalero sich daran machte, Winnetous Wunde säubern und zu verbinden, verabreichte ich ihm das aus einem Pulver bestehende Medikament zusammen mit viel Wasser. Er war nicht bewusstlos, schien aber auch nicht weit davon entfernt zu sein. Ich legte anschließend seinen Kopf in meinen Schoß und begann, ganz sanft über seine Wangen und seine Stirn zu streichen, massierte seine Schläfen. Ich musste an mich halten, nicht zu viele Zärtlichkeiten anzuwenden, um zu verhindern, dass sein roter Bruder Verdacht schöpfte. Wie lange wir so in dieser Stellung verharrten, weiß ich nicht mehr, aber unsere medizinische Versorgung schien langsam ihre Wirkung zu entfalten. Winnetou schlug irgendwann wieder die Augen auf, sein Blick traf mich und er schenkte mir ein leises Lächeln. „Geht es dir besser?“ fragte ich, immer noch besorgt. Er nickte, aber statt einer Antwort wurde seine Mimik plötzlich sehr ernst und konzentriert. Gerade wollte ich ihn nach dem Grund fragen, da bemerkte ich, dass er anscheinend auf irgendein Geräusch achtete, welches ich aber nicht hören konnte. Auch Tsain-tonkee wirkte jetzt sehr angespannt und stand langsam auf. In diesem Moment konnte ich auch das Rascheln hören, welches untrüglich auf Menschen hinwiesen, die sich uns näherten. Winnetou war sofort auf den Beinen und wollte gerade sein Gewehr an sich nehmen, als eine Stimme laut rief: „Hände weg von den Waffen! Wird’s bald!“ Ich hatte meinen Revolver schon aus dem Gürtel gezogen, ließ ihn aber jetzt langsam zu Boden sinken. Wir hatten uns so sehr auf den Zustand meines Freundes konzentriert, dass wir die nötige Vorsicht in den letzten Minuten völlig außer Acht gelassen hatten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)