Love Me or Shut Up von Toru-Jung (Chris und Ryan Two) ================================================================================ Prolog: -------- “Glaub mir! Ich wollte dich wirklich beschützen…” Im Krankenhaus ging ich einen langen menschenleeren Flur entlang. Er schien kein Ende zu nehmen und immer schmaler zu werden. Es roch stark nach Desinfektionsmittel. Mit einem beklemmenden Gefühl im Magen, hielt ich mir den schmerzenden Arm. Ich tastete den dicken Verband ab, den die Krankenschwester mir über die Schusswunde gebunden hatte. Schließlich stand ich stumm vor der Tür. Mein Herz schlug schneller vor Aufregung. In meinen Augen brannten Tränen. Krankenhausflure hatten immer etwas unangenehme an sich, etwas gruselige das mir Angst machte. Sie erinnerten mich nun immer an diesen einen schrecklichen Tag. Kurz war mir, als hörte ich wieder die Sirenen schrill aufheulen, Jessys und Biancas Stimmen verzweifelt rufen. Mir schnürte sich die Kehle zu, ich schluckte schwer. Vor meinen Augen flackerte ein Bild auf. Ryan lag kraftlos in meinen Armen. Er war entsetzlich blass, atmete kaum und rührte sich auch nicht. Über meine Hände, die taub vor Kälte waren, lief sein warmes Blut und färbte den Kies rot. Ich wischte mir übers Gesicht, schloss ich die Augen und versuchte mit aller Kraft nicht an das zu denken, was der Doktor erzählt hatte. Zögerlich berührte ich die Türklinke. Trotz des Vorsatzes nicht traurig auszusehen, lies ich den Kopf hängen. Als ich nun endlich zitternd über die Schwelle trat, klopfte mein Herz mir bis zum Hals. Der Raum war düster. Von draußen kam nur ein schwacher grauer Schein. An der Wand stand ein Rollstuhl. Schnurstracks ging ich auf Ryan zu, der auf dem Bett saß und aus dem Fenster blickte. Die Kapuze seiner Jacke halb über sein rabenschwarzes Haar gezogen. Die Bettdecke weggeschlagen. Ich wartete bis er mich ansah oder etwas sagte. Aber es kam keine Reaktion von ihm. Still und leise stand ich da. Ryans Augen waren gerötet, sein Blick leblos wie der einer Puppe. Ich wusste nicht was ich erwartet hatte. Wie er reagieren würde wenn ich kam. Aber dass er ruhig dasitzen würde, hätte ich nicht gedacht. Wenn ich in seiner Situation wäre, wäre ich wahnsinnig geworden. „Ryan, es tut mir alles so leid“, brachte ich mit schwacher Stimme hervor. „Bitte verzeih mir dass ich dich nicht beschützen konnte. Ich wollte dich nicht im Stich lassen. Es ist alles meine Schuld“. Die letzten Worte kamen nur undeutlich über meine Lippen. Tränen liefen mir über die Wangen. “Bitte…, bitte lass es mich wieder gut machen”. Tröstend wollte ich ihm die Hand auf die Schulter legen, doch ich stoppte mitten in der Bewegung. Ich merkte dass er nicht mit mir reden wollte. Doch ganz sachte drehte er sich zu mir. Seine feinen Gesichtszüge rührten sich nicht. Wortlos griff er mich an meiner Jacke und zog mich zu ihm runter. Ich kam mir so nahe, dass ich seine Wärme auf meiner Haut spüren konnte. Ein Funke der Hoffnung, dass er mir doch verzeihen würde, flammte in mir auf. Mein Atem stockte. Sein Gesicht war so nahe an meinem, das es in mir den Drang erweckte ihm über die Wange zu streichen und ihn sofort in meine Arme zu nehmen. Doch ich wiederstand dem. Ganz leise, hörte ich seine Stimme an meinem Ohr flüstern: „Verschwinde!“ Kapitel 1: Eine zweite Chance ----------------------------- Chris Sie lief eilig und mit strahlend grünen Augen auf mich zu. Ihr Gang war leicht und anmutig wie bei einer Tänzerin. Bei jeder Bewegung wehte ihr langes, haselnussbraunes Harr im warmen Wind. Ihr feiner Sommerrock tanzte um ihre langen Beine. Wie einen Schleier zog sie einen blumigen Duft hinter sich her. Dann war sie so nahe vor mir das ich den verführerischen Glanz ihrer zarten Lippen sehen konnte. Unsere Blicke streiften sich für einen winzigen Augenblick. Und dann war sie auch schon wieder weg. Ich sah ihr nach. Bis sie hinter mir einem Jungen in die Arme fiel und ihn küsste. "Hey, du starrst das Mädchen schon die ganze Zeit an. Magst du die etwa?" Ich wand mich ab und schaute zu Lisa hinüber, die sich zu Alex und Michael an einen Tisch auf dem Schulhof setze. "Ich kenn sie doch gar nicht". Ich setzte mich neben Lisa, die penibel ihr T-Shirt glatt strich. Auf meine Antwort schaute sie mich misstrauisch an. "Sprich sie doch mal an, Chris!" sagte Alex, während er Lisa neckisch ansah. "Sie hat einen Freund, sieht man doch", gab Lisa schnippisch zurück. Ich lächelte erleichtert. In solchen Sachen wie Schule, Freunde und alles was damit zu tun hatte, hatte sich mein Leben kaum verändert. Ich ging Tag für Tag zur Schule und hatte Spaß mit den Drei und all meinen andern Freunden. Mein Leben bekam allmählich wieder seinen alten Ablauf. Im Gegensatz zu dieser schrecklichen Zeit, die weit hinter mir lag, war jetzt alles relativ normal. Ich erinnerte mich nicht gerne daran. Ich wollte diese Erinnerungen am liebsten alle miteinander packen und aus meinem Kopf rauswerfen. Der heutige Tag würde genauso verlaufen wie Gestern. Das war zwar manchmal etwas langweilig. Aber ich war froh wie noch nie in meinem Leben. Ich musste mir um kaum etwas Sorgen machen. Jedenfalls musste ich keine Angst mehr haben vor dem was morgen Schreckliches geschehen könnte. Nur ab und zu erinnerte ich mich in Albträumen an die dunklen Zeiten. So wie in der letzten Nacht. Als ich träumte das Ryan mich abwies. “Hey Chris, träumst du?” Lisa gab mir einen kleinen Stoß und sah mich mit großen Augen an. “Hast du mir überhaupt zugehört? Das wird bei dir langsam zur Gewohnheit, oder was?” sagte sie beleidigt. Also sagte ich mal nichts. Das hatte zur Folge, dass außer Lisa, jetzt auch Alex und Michael mich neugierig ansahen und auf eine Antwort warteten. “Über was denkst du denn die ganze Zeit nach?“ fragte Lisa. “Das muss ja was ganz wichtiges sein, wenn du gar nichts mehr mitbekommst und dauernd vor dich hinträumst”. “Ich denke an gar nichts”, sagte ich zu meiner Verteidigung. “Ach, komm schon! Sag es mir!”, drängelte sie und zerrte an meinem Arm. Was ich ganz und gar nicht leiden konnte. “Ist nicht so wichtig. Wirklich nicht”. Und plötzlich schien es Lisa satt zu haben das ich ihr nicht antwortete. Sie drehte ruckartig den Kopf weg und verschränkte die Arme vor der Brust. Alex schüttelte den Kopf und sagte zu Lisa: “Warum ist dir denn so wichtig was er denkt?” Lisa schaute ihn überrascht an. Aber schon in der nächsten Sekunde hatte sie wieder ihr eingeschnapptes Gesicht aufgesetzt. “Ist es gar nicht”, sagte sie und rückte ein Stück weg von mir. Michael steckte sich einen Kaugummi in den Mund und bemerkte kauend: “Das sieht aber gar nicht so aus”. Lisa schnaubte wie ein wirrendes Pferd. “Was geht’s dich an?” “Ich mein ja nur…” sagte Michael etwas eingeschüchtert. “Lass sie! Die ist doch immer so”, sagte Alex. “Ach was“, zischte Lisa. „Du spinnst ja. Ich darf ja wohl Chris fragen was ich will, oder nicht? Und du weißt genau warum ich ihn das frage.” Alex Gesichtsausdruck verfinsterte sich. “Jetzt hör aber auf. Nicht die Leier wieder“. Er stand ruckzuck auf. Als er uns den Rücken zuwandte sagte er noch leise: “Das geht mir echt so was von auf die Nerven”. So seltsam mir es auch vorkam, warum die Drei so einen Aufstand machten, interessierte es mich jetzt doch um was es hier eigentlich ging. “Warum ist er denn so sauer?”, fragte ich vorsichtig. “Na, weil Lisa ihn damit nervt das sie glaubt du hättest…” Blitzschnell verpasste Lisa ihm einen Schlag auf den Hinterkopf. “He, was soll das?” protestierte er und hielt sich die Hand an den Kopf. “Halt die Klappe, Michael!” Nach der Schule ging ich ins Krankenhaus zu Ryan. Den ganzen Tag hatte ich mich darauf gefreut. Als ich begann ihn regelmäßig zu besuchen, dachte ich das wäre eine gute Gelegenheit um ihn besser kennen zu lernen. Wir kannten und zwar fast schon ein halbes Jahr, aber wirklich kennen gelernt hatten wir uns nicht. Und wir stritten uns fast immer wenn wir uns trafen, so kam es mir jedenfalls vor. Ich kam am Ende des langen Ganges im dritten Stock des Krankenhauses an und klopfte. Niemand öffnete. Nach dem zweiten Klopfen machte ich sie auf und spähte hinein. Es war ordentlich. Das Bett war gemacht, auf einem kleinen Tisch daneben stand ein halbvolles Glas Wasser und eine Flasche. Eine schwarze Jacke hing über dem Stuhl und ein Handy lag auf dem Tisch. Ryan war nicht da. Ich setzte mich an den Tisch, schaute zur Tür und erinnerte mich an den einen Tag vor ein paar Wochen. Es war sein Geburtstag. Damals saß ich in diesem Zimmer und wartete auf Ryan. Nach einer viertel Stunde ging die Tür auf und er kam herein. Noch immer saß er in einem Rollstuhl. Er sah müde aus. Seine Wangen waren leicht gerötet, auf seiner Stirn glänzten Schweißtropfen. Er ignorierte mich. Dann traute ich mich endlich etwas zu sagen. “Wie geht es dir?” Er kam an den Tisch gefahren. Hätte ich ihm in sein Bett geholfen, würde er sich wahrscheinlich hinlegen, die Decke über den Kopf ziehen und schweigend warten bis ich genervt ging. Das hatte er das letzte Mal getan. Dass er sich vor mir unter der Decke versteckte und schmollte, fand ich etwas kindisch von ihm. Er wusste, dass wenn er mir einfach sagen würde, dass ich gehen sollte, dann würde ich versuchen ihn umzustimmen. Und dann würde ich bis zum Schluss bleiben und mit ihm reden. Doch mir wurde es auch allmählich zu blöd einfach dazusitzen und los zu plappern, ohne eine Antwort zu bekommen. Es war als würde ich gegen eine Wand reden. So war auch jetzt. Auf dem Tisch lag eine schwarze Armbanduhr, die mir schon das letzte Mal aufgefallen war, weil sie anscheinend immer hier lag, aber ich hatte sie Ryan nie tragen sehen. Ich nahm sie und schaute sie mir genauer an. “Das ist eine schöne Uhr. Woher hast du die?” Keine Reaktion. “Jessy und Bianca waren letztens mit mir in einem Geschäft gewesen, wo es nur bunte Armbanduhren und solche Sachen gab. Du weißt schon, was die beiden eben mögen. Jedenfalls sind sie fast durchgedreht und wie verrückt durch den ganzen Laden gesprungen und haben alles angeschaut und bei jedem Teil davon geschwärmt wie süß es wäre. Und da war ein Regal voll mit bunten Armbanduhren. Die Zwei haben sich gleich ein paar gekauft. Obwohl ich mir nicht vorstellen kann wozu man überhaupt eine brauch, wenn man ein Handy hat. Aber Jessy sagte das käme jetzt wieder in Mode und das man von denen mehr als nur eine am Arm tragen muss. Natürlich haben sie noch mehr Krimskrams mitgehen lassen, als nur die Uhren”. Ich legte die Uhr wieder hin. “Jetzt wo es draußen so schön ist, könnten wir alle malwieder was unternehmen. Die andern vermissen dich. Wenn du hier raus kommst, solltest du mit zu den Mädchen kommen und wir setzen uns zusammen. Bianca plant dass wir alle zusammen mal in einen großen Vergnügungspark gehen. Und dort sogar übers Wochenende bleiben. Sie hat schon ein sehr schönes Hotel gefunden, indem wir bleiben könnten. Sie wollte das Sara und Vincent auch mitkommen, aber die beiden haben zu viel zu tun. Aber wir haben sicher auch ohne die beiden unseren Spaß, nicht wahr? In einen Vergnügungspark zugehen ist doch eine gute Idee von Bianca, nicht wahr?” Ich wartete auf seine Antwort Er sah auf seine Hände, die er auf die Knie gelegt hatte und bewegte sich nicht. Sein Gesicht war ausdruckslos. “Wenn die anderen kommen, freuen sie sich bestimmt dich zu sehen. Freust du dich denn kein bisschen das sie dich Heute besuchen kommen? Kannst du nicht versuchen etwas weniger niedergeschlagen auszusehen? Sonst machen sie sich bestimmt gleich wieder Sorgen. Was ist denn heute mit dir, warum du so ein Gesicht machst?" Plötzlich hob Ryan den Kopf und sah mich mit einem durchdringenden Blick an, dass mir der Atem stockte. Seine Augen waren weit aufgerissen. “Warum…” seine Stimme war leise und bebte leicht. “Warum sagst du so was? Hör auf damit. Ich will es nicht mehr hören”. Für einen kurzen Augenblick spürte ich seine Trauer, die mir wehtat. Dann wand er sich enttäuscht ab und schaute zu Boden. Was sollte das eben? Fragte ich mich. Es klang als würde ich ihn nur nerven. Glaubte er dass ich nur aus Spaß hier war? “Ich will dir doch nur helfen”, sagte ich. “Das sollst du aber nicht. Du kannst mir nicht helfen. Vergiss es und lass mich in Ruhe!” “Ich denk nicht dran. Ich…”, weiter kam ich nicht. Unerwartet stand Ryan aus dem Rollstuhl auf. Er schwankte etwas, aber blieb schließlich ruhig stehen und ging unsicher auf sein Bett zu. Bei jedem Schritt schien er beinahe zusammenzubrechen. Ich stand schnell auf und wollte ihm helfen, aber bevor ich ihn berühren konnte schrie er: “Bleib weg!” Darauf blieb ich starr stehen, ganz nah neben ihm. Bereit ihn aufzufangen wenn er fiel. “Ich will nicht das du mir hilfst“, flüsterte er. „Es hat keinen Sinn. Sieh mich an! Ich kann kaum laufen und das wird sich auch nicht ändern“. Er blieb vor dem Bett stehen, ließ sich einfach drauffallen und setzte sich dann gerade hin. “Ich wünschte du hättest mich nicht gerettet”. Wie ein Schlag traf mich die Erinnerung, daran wie ich Ryan in den Armen hielt und ihn nicht loslassen wollte. Niemand sollte ihm zu nahe kommen. Er war so entsetzlich blass und zerbrechlich gewesen. Über seinem schwachen Körper lief ein Strom aus Blut, das sich langsam um uns herum ausbreitete. Das war damals der schrecklichste Moment in meinem ganzen Leben. Wie erstarrt stand ich da und konnte es nicht fassen. Wie konnte Ryan mir nur vorhalten das ich ihn beschützen wollte? Ich ballte die Hände zu Fäusten. In jedem Gespräch das wir bisher in diesem Krankenhaus geführt hatten, sagte er solche gemeinen Sachen zu mir. Er ließ sich einfach nicht aufmuntern. Ich musste ganz anders mit ihm reden. Jetzt war Schluss mit den Samthandschuhen. “Weißt du was du da sagst? “ Ich machte eine Pause. “Du warst solange ich dich kenne, immer so unglücklich, dass es mir wehtat. Ich wollte dich trösten und dir helfen, weil ich nicht anders konnte. Immerzu habe ich dir gesagt: Ich werde dich beschützen was auch passiert, aber…“. “Red nicht so einen Blödsinn!“, seine Stimme klang wütend. “Du hast doch keine Ahnung wie es mir geht. Ich will nicht mehr“. Ohne auf seine Worte zu achten sprach ich weiter: “…aber das war falsch. Ich hab es satt, wie du mich immer anschweigst. Ich kann es langsam nicht mehr mitansehen, wie du dich selbst bemitleidest. Irgendwann erreiche ich auch mal meine Grenze”. Es herrschte Stille. Ich hätte gedacht, es würde mir viel schwer fallen meinen Gefühlen freien Lauf zu lassen. Aber jetzt tobte die Wut die ich solange zurückgehalten, hatte in mir. “Was glaubst du, warum ich Tag für Tag zu dir komme, obwohl ich das überhaupt nicht muss? Glaubst du es würde mir nichts ausmachen was passiert ist?” Ich merkte kaum dass meine Worte immer lauter wurden. Ich schrie ihn beinahe an. Aber das war mir gerade völlig egal. Wütend stand ich auf. “Kapierst du es nicht? Ich hätte es bitter bereut wenn ich dich im Stich gelassen hätte”. Ich tat einige Schritte auf ihn zu. Nun stand ich ganz nahe vor ihm und sah wie angespannt er dasaß. Die Hände in die Bettdecke verkrallt und den Blick nach unten gerichtet. “Du sagst, du kannst nicht mehr. Und erzählst mir wie schlecht es dir geht. Hast aber nie versucht etwas daran zu ändern. Du hast gesagt dass ich dich in Ruhe lassen soll und einfach abhauen soll. Aber du kommst alleine nicht zurecht. So hast du schon immer geredet. Und tust es heute immer noch”. Ryan atmete leise ein. “Es hat doch alles keinen Sinn mehr”. Ich erschreckte selbst vor mir, als ich Ryan fest an den Schultern packte. Ihm schien das egal zu sein. “Sie mich an!”, befahl ich. Aber er zeigte keine Reaktion. Er vermied es mich anzusehen. Für einen Moment hatte ich wieder Mitgefühl mit ihm. Aber dafür war es jetzt zu spät. Jetzt musste alles gesagt werden. “Dir wurde von anderen Leuten sehr wehgetan, aber was hindert dich jetzt noch daran, zutun und zulassen was du willst. Es ist niemand mehr da der dir was tut. Wenn du dich schlecht fühlst liegt das nur noch an dir. Es ist niemand da, dem du die Schuld geben kannst”. Ryan ließ die Decke los und versuchte mich weg zuschubsen. Aber ich ließ ihn nicht los, sondern packte ihn nur noch fester. “Du begreifst das alles nicht. Du bist immer noch damit beschäftigt, dir die Welt als grausamen und trüben Ort vorzustellen. Damit erreichst du aber rein gar nichts. Es ist einfach nur egoistisch von dir”. Unerwartet sah mich Ryan, mit seinen schwarzen Augen an, in denen die Tränen glänzten. Er zog die Schultern zusammen und versuchte sich klein zumachen. Mein Griff wurde lockerer. “Ich habe versucht dich zu verstehen und nachzuvollziehen wie du dich fühlen musst. Aber willst du denn wirklich dein ganzes Leben lang zulassen dass du wegen der Vergangenheit leidest. Soll das dein Leben sein?“ Nach einer kurzen Pause flüstere ich: “Glaubst du Sie hätte das gewollt?” Er sah erschrocken auf. Tränen liefen ihm über die Wangen. Ich hatte damit gerechnet dass er mich jetzt hassen würde. Dass er mich mit aller Kraft weg schubsen würde. Aber er tat nichts. Er blickte mir nur in die Augen. Nach unendlich langer Zeit, nahm ich ihn in die Arme und hielt ihn ganz fest. Ich spürte dass er leicht zitterte und sich los machen wollte. Dann, zögernd und ganz sachte, fing er an leise zu schluchzen. “Es tut mir leid, dass es dir so schlecht geht. Aber mach es bitte nicht noch schlimmer als es ist!” Er vergrub sein Gesicht an meiner Schulter, als ich mich neben ihn setzte. Ich wusste nicht wie lange ich ihn so hielt. Aber ich hätte für eine Ewigkeit so dasitzen können. Dies war der Tag an dem Ryan beschloss sich zu ändern. Damals erkannte ich dass die Ereignisse der Vergangenheit ihn viel schwerer belasteten als ich dachte. Jetzt schämte ich mich dafür, wie optimistisch ich damals war. Als Ryan heute zur Tür herein kam, tat er das ohne Rollstuhl. Auf seinem Gesicht zeigte sich ein leichter Ansatz eines Lächelns. Es war kaum zu erkennen und andere würden es wahrscheinlich nicht bemerken. Aber mit der Zeit kannte ich ihn so gut, dass ich genau wusste, wie er aussah wenn er sich freute. Ryan schloss die Tür hinter sich und setzte sich mir gegenüber auf den zweiten Stuhl. Sein Gang wirkte sicherer und kräftiger. Vor ein paar Tagen hatte ich ihn zwar noch mit Krücken laufen sehen, aber jetzt schien er sich wieder vollkommen erholt zu haben. “Wie geht es dir?”, fragte ich voller Freude. “Gut”. Kapitel 2: Wo ist Ryan? ----------------------- Chris “Hi, Chris. Lange nicht gesehen”. Bianca kam mir in einem weisen Rüschenkleid entgegen und umarmte mich herzlich. “Wieso hast du uns denn nicht schon früher besucht?”, fragte Jessy die hinter Bianca in der Wohnungstür stand. “Ich bin einfach nicht dazu gekommen”. “Auch egal. Hauptsache du bist hier. Lass dich knuddeln”. Jessy nahm mich ebenfalls in die Arme. Sie roch stark nach einem blumigen Parfüm. Wir gingen zusammen ins Wohnzimmer. Ich war tatsächlich schon seit Wochen nicht mehr hier gewesen. Die ganze Sache mit Ryan hatte mir keine Zeit für was anderes gelassen. Ich hatte die beiden nur gesehen, wenn sie auch ins Krankenhaus gekommen waren um Ryan zu besuchen. “Wie geht es dir denn?”, fragte Bianca und stellte mir ein volles Glas Cola auf den Tisch, vor dem Sessel, in dem ich mich gerade hingesetzt hatte. “Ich kann mich nicht beschweren. Und euch?” “Na, wir freuen uns, dass jetzt alles wieder besser wird. Und das wir endlich alle wieder zusammen sein können, wie früher”. Jessy lachte und schaukelte in ihrem Sessel fröhlich hin und her. “Ich hoffe nur, dass es Ryan auch bald gut genug geht damit er zu uns kommen kann”, sagte Bianca besorgt. “Weißt du was Neues von ihm? Es geht ihm doch besser, oder?” “Ja, er wird sicher bald entlassen. Ich gehe ihn morgen besuchen und frage wann er mal zu euch kommen will”. “Das wäre toll”, freute sich Jessy. “Jetzt wo es draußen so schön geworden ist, könnten wir so vieles unternehmen. Wie lang ist es wohl her, seit wir einfach nur so zusammen waren?” “Sagt mal, weiß einer wie es eigentlich weiter geht mit Ryan?”, fragte Bianca und nahm einen Schluck aus ihrem Glas. “Wie meinst du das? Es geht ihm gut, ist das nicht das wichtigste”, sagte Jessy. “Ja, schon. Aber ich fragte mich wo er hin geht, wenn er aus dem Krankenhaus entlassen wird. Ihr wisst doch, wegen der Sache mit seinem Vater und seiner Mutter. Beide können ihn jetzt nicht mehr nehmen”. “Rede nicht so darüber”, sagte ich entsetzt. “Das Ganze ist schlimm genug”. “Entschuldige“, sagte sie überrascht über meinen harschen Ton. „War doch nicht böse gemeint. Ich wollte ja nur wissen wo er jetzt hin soll. Überleg doch mal! Was gibt es für eine Möglichkeit wo er hin kann?” “Hast eigentlich recht”, gab Jessy zu. “Das frage ich mich auch”. Sie setzte eine nachdenkliche Miene auf und hielt den Zeigefinder an ihre Schläfe. “Ich schätze mal, in so einem Fall geht man zu seinen Verwandten die einen aufnehmen. Er ist ja noch nicht achtzehn Jahre alt”. “Ja, so wird es wohl sein”, sagte ich. “Es wird doch alles schon längst geregelt sein“. “Ja. Was haltet ihr davon, wenn wir einen kleinen Ausflug in den Vergnügungspark machen, wenn er wieder fit ist? “Wieso nicht. Das wäre mal was anderes. Ich frag Ryan morgen ob er Lust hat”. Ich freute mich ihn schon bald wiederzusehen. „Und ob er mitkommt. Sonst zwing ich ihn“. “Aber”, sagte Bianca. “Hast du schon mal andere Leute bei Ryan im Krankenhaus gesehen, die ihn besuchen, Chris? Ich meine außer uns drei oder Vinc und Sara“. Ich überlegte kurz. Aber mir fiel niemand ein, außer die Krankenschwestern oder die Ärzte. “Nein. Na und? Ich hab ihn jedenfalls fast jeden Tag besucht. Er fühlt sich sicher nicht einsam”. “Darum gehst mir auch nicht. Hat er denn überhaupt Verwandte? Wenn du sagst du hast noch keinen gesehen, Chris. Wen er Verwandte hat, dann müssen diese doch schon längst wissen, dass er im Krankenhaus ist und ihn besuchen kommen”. “Vielleicht haben sie auch einfach keine Lust”, sagte Jessy. Ich warf ihr einen mahnenden Blick zu. “Was soll das denn heißen?” Sie hob die Hände abwehrend und lächelte unschuldig. “Gar nichts. Ich dachte nur…“. “Gibt euch das nicht auch zu denken?”, sagte Bianca noch immer in diesem nachdenklichen Ton, als wäre sie einem großen Geheimnis auf der Spur. “Stellt euch mal vor er hat keine Verwandte. Wo soll er dann hin?” Kurz herrschte Stille. “Es gibt doch sicher Einrichtungen oder so, wo er hin kann”, sagte Jessy. “Das ist zwar nicht schön, aber was will er machen”. Sie lachte und sagte: “Vielleicht hat er aber doch noch Verwandte in Amerika und geht deshalb zurück dorthin. Wäre doch möglich, er ist doch Amerikaner”. Plötzlich traf mich der Schlag. Nach Amerika? “Ja. Da fällt mir ein hast du in der Hauptstraße diesen neuen amerikanischen Laden gesehen? Der hat ganz tolle Klamotten. Da müssen wir unbedingt mal hingehen. Du wirst ausflippen, wenn du die Sachen siehst, Bianca”. Ich saß an einem Samstagmorgen in meinem Zimmer, draußen schien die Sonne. Und ich machte Hausaufgaben, obwohl ich jetzt überhaupt keine Lust dazu hatte. Wenn ich fertig war, konnte ich Ryan besuchen gehen. Gleich nach dem Frühstück habe ich mich an die verflixten Hausaufgaben gesetzt, und war deshalb auch zum Glück gleich fertig. Ich schlug das Mathebuch zu und packte alles weg. In der Küche fand ich Maria, die am Tisch saß und einen Kakao trank. Meine Mutter war nirgends zu entdecken. Ich nahm mir eine Dose Cola aus dem Kühlschrank und setzte mich zu meiner kleinen Schwester. “Wo ist Mom denn hin?“, fragte ich und nahm einen großen Schluck. “Zu der Nachbarin”. “Und wann kommt sie wieder?” “Keine Ahnung. Bin ich die Auskunft?” “Schon gut. Wenn sie wieder kommt sag ihr, dass ich im Krankenhaus bin”. “Wieder deinen Freund besuchen?” “Ja, wie immer”. Mein Freund? Warum sagte sie mein Freund? Das klang ja als würden wir…. Aber wie sollte sie es auch sonst sagen. War ja klar dass sie sich nichts damit dachte. Jedoch was mich betraf erschrak ich etwas über mich, weil ich für eine Sekunde dachte, sie würde meinen das ich und Ryan… Okay, stopp. Jetzt dachte ich es schon wieder. Ich trank noch einen Schluck Cola. “Ich will mit!” “Was?”, sagte ich erschreckt, so dass ich mich beinahe verschluckt hätte. “Das geht nicht. Auf gar keinen Fall” “Wieso?” “Weil ich nicht will das du mitkommst”. “Wieso?” “Weil du wahrscheinlich nur nerven würdest”. “Ich will deinen Freund aber auch mal kennenlernen”. “Nein, kommt gar nicht in Frage”. “Du bist gemein. Du nervst doch viel mehr als ich”. “Ich hör wohl nicht recht”. “Stimmt doch. Du bist ja jeden Tag bei ihm“, auf einmal grinste Maria frech. “Also wenn das nicht nervt. Ich hätte an seiner Stelle schon längst die Fliege gemacht”. “Jetzt spinn nicht. Ich weiß gar nicht was du meinst. Ich bin gar nicht jeden Tag bei ihm. Und er würde ganz sicher nicht vor mir weglaufen. Was du dir wieder ausdenkst”. “Ich meine ja nur, dass du nachmittags gar nicht mehr so oft da bist wie früher. Und du spielst nicht mehr mit mir”. “Dass ich öfters später nachhause komme, heißt doch nicht, dass ich immer bei ihm bin. Ich hab auch noch andere Freunde. Ist doch wohl klar. Und außerdem, du hast ja wohl auch andere Freundinnen, die mit dir spielen”. “Ich will aber auch mal wieder mit dir zusammen spielen. Außerdem kann meine Freundin heute nicht”. “Schon gut, ich geh jetzt aber. Also sag Mom wo ich hingehe. Und stell nichts an solange sie weg ist”. “Natürlich nicht. Bin doch kein Kleinkind mehr”. Auf dem Weg zum Krankenhau, fiel mir ein, dass ich Ryan gar nicht gesagt hatte, das ich heute komme. Aber das machte keinen Unterschied. Er würde sich bestimmt freuen wenn ich kam. Und ich freute mich wie immer ihn zu sehen. Auch wenn unser letztes Treffen erst Gestern war. Als ich das Krankenhaus betrat ging ich schnurstracks in den dritten Stock und auf sein Zimmer. Ich klopfte einmal und wartete. Aber es tat sich nichts. Ich klopfte noch einmal. Aber wieder tat sich nichts. Also ging ich einfach rein. Erst bemerkte ich es nicht, denn das Zimmer war immer sehr ordentlich gewesen. Ich schaute mich um. Es war nichts mehr von Ryan da. Nicht die Jacke, die sonst auf dem Stuhl hing, nicht die Uhr die sonst auf dem Tisch lag und keine Wasserflasche neben dem Bett. Was hatte das zu bedeuten? Ich machte mich auf den Weg nach unten um am Empfang zu fragen, denn ich hatte das Gefühl das ich mir eine Suchaktion quer durchs Krankenhaus sparen konnte. Und plötzlich kam mir der Gedanke, das Ryan vielleicht abgehauen sein könnte. Nein, Maria hatte das nur als Scherz gesagt. Am Eingang angekommen fiel mir ein, dass ich ihn ja einfach anrufen konnte. Ich ging hinaus vor die Tür, holte mein Handy raus und wählte seine Nummer. Doch sein Handy war ausgeschaltet, was mich dann schon ein wenig ärgerte. Warum hatte er sein Handy ausgeschaltet? Nach einem weiteren vergeblichen Versuch, ging ich wieder hinein und zum Empfang. Die Krankenschwester, die ich immer sah, wenn ich her kam lächelte, als ich zu ihr kam. Noch bevor ich etwas sagen konnte redete sie drauf los. “Hallo. Du suchst sicher deinen Freund, nicht wahr? Da kommst du etwas zu spät. Er ist vor zwei Stunden weg“. “Was? Er ist weg. Wohin denn?” Mir viel plötzlich ein was Bianca gesagt hatte. War er vielleicht schon am Flughafen? “Hat er dir denn nichts gesagt. Ich dachte ihr erzählt euch alles”. Sie kicherte kurz wie ein Schulmädchen. “Habt ihr euch etwa gestritten? Das kommt ja bei den besten Freunden vor. Aber wie heißt es: was sich liebt, das neckt sich”. “Wo ist er denn?” Ich ging gar nicht erst auf ihre Sprüche ein. “Heute Morgen wurde er entlassen und ist abgeholt worden. Ich bin ja froh, dass es ihm wieder besser geht. Aber ich werde ihn vermissen. Das hab ich ihm auch gesagt, er ist ja so ein netter Junge. Auch wenn er ziemlich schweigsam ist Aber das macht ihn zu einen gutem Zuhörer, findest du nicht?” “Er hat mir nicht gesagt wo er hin geht”. Ich war nah dran unhöflich zu werden. Aber diese Frau konnte einem echt auf die Palme bringen mit ihrem unnötigem Geschwätz. “Ich erreiche ihn nicht und weiß auch nicht wo er ist. Also könnten sie…“. “Aber klar. Natürlich. Aber ich weiß leider auch nicht wo er ist”. “Was? Wieso denn nicht? Ich dachte sie wissen alles”. Sie lachte amüsiert, als hätte ich einen Witz gemacht. “Ich spioniere doch nicht die Leute aus, na hör mal. Ich weiß echt nicht wo er hin ist. Nur das er heute entlassen wurde und dann abgeholt wurde”. Mir riss langsam der Geduldsfaden. Eine andere, ältere Frau kam von hinten zu ihr und sagte, sie müsse ihr mal helfen und solle mitkommen. Und ich hatte immer noch keine Antwort. “Einem Moment mal. Von wem wurde Ryan denn abgeholt?” “Das weiß ich leider nicht. Ich hab ihn zuvor nie gesehen”. Das war ja klar, dass sie nicht jeden kannte. Langsam dachte ich sie wollte mich für dumm verkaufen. “Was war es denn für ein Typ?” “Nun ja. Es war ein großer junger Mann. Ach ja, und er hatte Piercings”. Dann ging sie rasch zu einer anderen Krankenschwerster. Ich war heil froh, dass sie mir wenigstens das sagte, ohne lange zu quatschen. Mit fiel auch gleich ein wer es sein könnte. Das war ganz klar Vincent gewesen. Und zum Glück hatte ich seine Nummer. Ich konnte nur hoffen dass er dran ging. Kapitel 3: Die neue Schule -------------------------- Ryan Vincent hielt einige Meter vor dem Eingang des großen Geländes, das von einer Steinmauer umgeben war, an. Ryan sah aus dem Fenster und wirkte nachdenklich. Es war so seltsam das jetzt alles anders war und sich alles geändert hatte. Er dankte Vincent und stieg aus. Nahm seine Tasche, in der alle Sachen waren die er brauchte und verabschiedete sich von seinem Freund. “Mach´s gut. Und lass dich nicht unterkriegen”, sagte Vincent. Ryan nickte, drehte sich um und lief durch das große Tor. Ein breiter gepflasterter Weg verlief in einem Halbkreis um eine Wiese herum und führte zum fünfstöckigen Hauptgebäude. Hinter dem Gebäude, auf das er zuging, sah man einen Teil eines kleineren Gebäudes, vor dem auf einem weiten Hof ein paar Jungs Skateboard fuhren. Schlagartig fühlte er sich hier überflüssig. Drinnen angekommen lief ihm ein Mädchen entgegen mit kurzen braunen Haaren und einer Taucherbrille auf dem Kopf. Ryan beachtete sie nicht, denn in diesem Moment kam ihm ein gut gelaunter Mann entgegen und reichte ihm sogleich die Hand zur Begrüßung. “Du bist sicher Ryan. Wir haben schon auf dich gewartet. Herzlich Willkommen. Wir haben noch ein paar Kleinigkeiten zu erledigen. Die machen wir jetzt noch schnell und dann kannst du dir das Gelände ansehen. Ich bin sicher dir gefällt es hier und du wirst dich schnell einleben. Aber jetzt komm erst mal mit, mein Büro ist dahinten”. Ryan folge ihm schweigend. Der Mann, den Ryan etwa auf ende Dreißig schätzte, hatte einen schwungvollen Gang, er trug ein weißes Hemd und eine leichte graue Hose. Er machte die Tür seines Büros auf und bat ihn herein. Der Mann setzte sich hinter seinen Schreibtisch, der ordentlich aufgeräumt war und holte eine Akte aus der Schulblade. Er legte sie auf den Tisch, schlug sie auf und sah sie sich einen Moment lang an, ehe er sagte: “Ich stell mich erstmal vor. Ich bin Herr Schreiber und der Lehrer deiner neuen Klasse. Also wenn du Probleme bei irgendetwas hast komm damit ruhig zu mir. Dafür bin ich da”. Ryan saß einfach da und hörte aufmerksam zu. Ab und zu nickte er um zu zeigen dass er verstand. Etwas Fragen oder irgendetwas sagen wollte er nicht. Ihm fiel nichts ein. Herr Schreiber, blätterte in der Akte, die einige Seiten dick war und auf dem Ryans Name stand, lass etwas und sagte: “Du warst ziemlich lange im Krankenhaus. Es wäre also gut für die wenn du eine Klasse wiederholst. Und da du in Zukunft in unserm Wohnheim wohnen wirst, wirst du dich sicher schnell eingewöhnen. Was das betrifft hat das Jugendamt alles unterzeichnet, also gibt es keine Probleme mehr. Einzig ein Zeugnis von deiner alten Schule bräuchten wir noch. Aber darüber reden wir noch”. Er stand auf, ging zur Tür und bedeutete Ryan mit ihm zu gehen. Die beiden gingen durch den langen Flur, auf dem es zu den einzelnen Büros, dem Lehrerbüro und zum Sekretariat ging. Am Ende standen sie wieder in der großen Eingangshalle, mit der großen Glaskuppel. “Wir beide haben für heute alles erledigt. Wir sehen uns am Montag in der Klasse“. In diesem Moment kam ein Junge auf sie zu und blieb vor dem Lehrer stehen. Dieser sagte: “Das ist Daniel. Er wohnt auch in unserem Wohnheim und ist dort der Aufseher. Er wird dir alles andere erklären und dir dein Zimmer zeigen. Und ich verabschiede mich jetzt”. Er legte Ryan ermutigend die Hand auf die Schulter und ging dann. Der Junge, der etwa einen Kopf größer war als Ryan, hatte kurze hellbraune Haare, war sehr schlank, fast schon so zierlich wie Ryan und trug ein blütenweißes T- Shirt und kurze Hosen. Er lächelte Ryan zur Begrüßung an und sagte: “Dann wollen wir mal. Herr Schreiber hat mir schon von dir erzählt. Zum Wohnheim geht es hier entlang”. Er ging voraus und hinaus auf den breiten Weg. Von diesem bog er auf einen schmaleren Weg ab, lief bis beide etwa genau hinter dem Hauptgebäude waren. Auf einer Bank saßen lässig ein paar Mädchen mit sehr knappen Röcken, die alle ähnlich aussahen. Eins der Mädchen, mit schwarzem langem Haar und giftigem Blick, rief Daniel zu: „Hey, Daniel. Was geht? Ist das dein Neuer?“ Daniel reagierte nicht auf sie und sagte zu Ryan: „Beachte sie nicht. Sie hat Probleme. Und…“, fügte er hinzu. „…halte dich besser von ihrer Gruppe fern“. Ryan schaute noch einmal zu ihr. Die Schwarzhaarige streckte ihm frech die Zunge raus, worauf ihre Freundinnen lachten. Am Jungenwohnheim angekommen gingen sie durch eine zweiflügelige Tür in das dreistöckige Gebäude und standen nun mitten auf einem langen Gang. An beiden Enden gingen Treppen nach oben. Daniel stand vor einer Pinnwand und sagte: “Hier hängt die Hausordnung und alles andere was das wohnen hier betrifft. Auch wenn mal eine Schulstunde ausfällt oder eine Veranstaltung stattfindet”. Er lief nach links, den Gang hinunter. Nach ein paar Schritten als sie wieder vor einer Tür standen und er sie so aufmachte das Ryan hinein schauen konnte: “Hier ist der Aufenthaltsraum. Da kann man zur jeder Zeit hinein. Ein Getränkeautomat steht an der hinteren Wand”. In dem Raum standen längliche Tische und viele Stühle. Ein paar Jungs saßen dort und unterhielten sich. Daniel schloss die Tür wieder und ging weiter. “Die Kantine befindet sich im Schulgebäude in dem du eben schon warst. Sie ist gleich den Gang entlang wenn du zur Eingangshalle herein kommst. Kann man gar nicht verfehlen. Jeden Morgen vor dem Unterricht gibt es da Frühstück von sechs bis acht Uhr. Mittagessen ist um zwölf bis zwei Uhr. Abendessen gibt es von sechs bis acht Uhr. Die Uhrzeiten stehen am Infobrett, falls du noch mal nachsehen willst”. Er ging die Treppen hinauf in den ersten Stock und den Gang weiter entlang. “Hier im zweiten und dritten Stock befinden sich alle Wohnräume. Zurzeit sind es nicht viele Schüler die hier wohnen, deshalb sind viele Zimmer frei. Und falls du Abends und am Wochenende mal weg gehst, achte darauf das du um zehn Uhr wieder zurück bist, denn da wird das Schultor geschlossen. Ab da ist es untersagt sich noch lange auf dem Schulgelände aufzuhalten. Das gilt auch für den Hof und dem Mädchenwohnheim”. Er blieb vor einer Tür stehen, die aussah wie jeden andere und öffnete sie. “Hier ist dein Zimmer. Es ist nicht groß, aber bis jetzt hat es allen gereicht”. Ryan ging an Daniel vorbei und in den Raum. Er war wirklich nicht besonders groß. Aber das machte nichts. Ein Bett, ein Tisch mit zwei Stühlen und ein Kleiderschrank waren die einzigen Möbel. Durch das Fenster konnte man über das ganze Gelände sehen. Direkt neben dem Fenster stand ein alter Baum, den Ryan berühren konnte wenn er den Arm ausstreckte. Ein breiter Ast verlief direkt unter dem Fenster vorbei. Eine frische Brise blies durch das geöffnete Fenster und ließ die weisen Vorhänge wehen. Ryan stellte seine Tasche auf den Stuhl. “Wenn du willst kann ich dir gleich den Rest der Schule zeigen. Du kannst aber auch erstmal auspacken”. “Ich schau mich nachher selbst um”, sagte Ryan. “Auch gut. Dann sehen wir uns nach dem Mittagessen wieder. Du weißt ja wo alles ist. Hier ist der Schlüssel”. Daniel gab ihm den Zimmerschlüssel, und als die Tür sich hinter ihm schloss war Ryan erleichtert das er endlich seine Ruhe hatte. Vor der Tür rief jemand: „Hey Daniel. Vorsicht Football“, gefolgt von einem gedämpften Knall. Ryan öffnete seine Tasche und überlegte sich ob er jetzt auspacken sollte oder vielleicht noch mal raus gehen sollte und sich umsah. Aber dafür war noch später genug Zeit. Und in die Stadt könnte er nachher auch noch wenn er wollte. Er nahm ein paar Klamotten aus der Tasche, allesamt schwarz, weit geschnitten und schlicht. Er schaute an sich hinunter. Er trug alles in Schwarz. Manchmal kamen ihm diese Klamotten vor wie eine Hülle, die ihn vor den Blicken der anderen Leute schützen sollte. Er zog an seinem weiten Shirt, es stand weit von seinem flachen Bauch ab. So war es umso besser, fand er. Als er alles ausgepackt hatte setzte er sich aufs Bett. Hier würde er also die nächsten Monate verbringen, dachte er. Er ließ sich seufzend nach hinten fallen und starrte an die kahle Zimmerdecke. Bilder von den Gesichtern seiner ehemaligen Klassenkameraden kamen ihm in den Sinn. Diese, die ihn geärgert und ausgeschlossen hatten, und die teils daran Schuld hatten das er zu niemandem Vertrauen aufbauen konnte. Noch immer hörte er das höhnische Lachen seiner verhassten Mitschüler. Würde es ihm hier genauso ergehen? Es war kurz nach Eins. Jetzt gab es im Hauptgebäude Mittagessen. Aber er hatte keinen Hunger. Er entschied sich noch eine Weile auf seinem Zimmer zu bleiben. Erst jetzt sah er auf seinem Handy, das er wieder anschaltete, zwei Anrufe in Abwesenheit. Beide Male war es Chris gewesen Chris Ich war wieder nach Hause gegangen nachdem ich Ryan im Krankenhaus nicht fand. Danach hatte ich Vincent sofort angerufen. Aber da war Ryan schon nicht mehr bei ihm. Er sagte er habe ihn zu seiner neuen Schule gefahren und Ryan würde da ab heute auch wohnen. Wieso hat er mir nichts davon erzählt, fragte ich mich. In meinem Zimmer ließ ich mich aufs Bett fallen. Wollte Ryan mich loswerden? Nerve ich ihn so sehr? Ich setzte mich mit einem Ruck auf und ging in die Küche. Maria saß dort, oder immer noch, und unterhielt sich mit meiner Mutter. “Du bist aber früh zurück. Sonst bleibst du doch bis abends”, sagte meine Mutter während sie das Mittagessen vorbereitete. Ich überlegte ob ich ihr alles erzählen sollte. Am Ende kam dann noch so eine Spruch von Maria wie: Er mag die wohl nicht mehr und ist abgehauen. Oder was immer ihr sonst eingefallen wäre. “Ryan wurde heute entlassen”, sagte ich. Aber dass er es mir nicht gesagt hatte mussten sie nicht wissen. “Ich treffe mich am Nachmittag noch mal mit ihm”. “Das freut mich aber, dass es ihm wieder besser geht”, sagte sie mit einem liebevollen Lächeln wie es nur eine Mutter hinbekam. “Wo wohnt er denn jetzt?” “In einem Internat”. “Einem Internat? Interessant. Aber da wirst du ihn sicher nicht oft besuchen können”. Ich bekam einen Schreck. “Wie kommst du darauf?” “Wenn er in einem Internat ist, darf er in der Woche sicher nicht raus. So ist das meistens”. “Ach was. Das wird schon gehen”. Hoffte ich zumindest. Daran das ich ihn möglicherweise nur am Wochenende besuchen konnte hatte ich noch gar nicht gedacht. „Trotzdem musst du nicht immer zu ihm. Du hast auch noch anderes zu erledigen. Erlaube dir nicht die Schule zu vernachlässigen. Jetzt setzt dich erstmal hin, es gibt gleich Essen”, sagte sie. Ich sah meiner Mutter jedes Mal an wenn ich über Ryan sprach das ihr das nicht passte. Nachdem sie vor einigen Wochen erfuhr, dass die ganzen Probleme dich ich hatte mit Ryan zu tun hatten, mochte sie ihn nicht mehr. Sie hat mir einmal klar und deutlich gesagt, dass wenn ich wieder in gefährliche Situationen hineingerate, das ich Ryan dann nicht mehr sehen dürfte. Ryan Daniel führte Ryan bis zum Nachmittag übers Gelände der Schule. Als Ryan schon vor dem Wohnheim auf ihn wartete, freute sich Daniel das Ryan sich doch noch dafür entschieden hatte sich herumführen zu lassen. Die beiden gingen kreuz und quer über das große Grundstück, an allen Anlagen und Wiesen, und Daniel erzählte alles was er über die Schule wusste. Ryan stellte dabei fest das Daniel sehr beliebt zu sein schien. Eine Menge Schüler und Schülerinnen grüßten und wechselten ein paar Worte mit ihm. Dabei stellte er ihnen Ryan vor. Ryan war das teils unangenehm, wenn Daniel ihn als den Neuen vorstellte. Später, als die beiden wieder vorm Jungenwohnheim ankamen, traf Daniel sich noch mit einem anderen Jungen. Dieser trug ein, ihm viel zu enges, Fußballtrikot. Die beiden setzten sich im Hof auf eine Bank und Daniel sagte: „Setzt dich doch zu uns“. Ryan zögerte. Darauf sagte Daniel Freund. „Ja, setz dich doch. Hier ist noch genug Platz“, er klopfte mit der flachen Hand neben sich. „Und danach können wir ein wenig Fußball spielen, wenn du willst“. Er seufzte. „Ach, um deine Figur kann man dich nur beneiden“. Ryan trat einen Schritt zurück, während der Fußballfan eine Tüte Chips aus seiner Sporttasche holte. „Willst du nicht auch mitspielen, Daniel?“ Jetzt meldete sich Ryan zu Wort. „Ich muss schnell weg. Hab noch was in der Stadt zu erledigen“. Ohne Verzögerung lief er davon. Daniel rief ihm hinterher: „Denk dran! Um zehn Uhr“. Sein Freund rief: „Und les die Hausordnung, da steht was von Freundlichkeit“. Ryan ging hinaus auf die Straße und fühlte sich mit einem mal freier. Er hatte am Mittag, als er sein Handy einschaltete Chris angerufen. Der wollte wissen wo zum Henker er war und warum er ihm nicht gesagt hatte, das er aus dem Krankenhaus entlassen wurde und obendrein noch sein Handy ausgeschaltet hatte. Dabei klang er so aufgebracht, das Ryan zuerst dachte es wäre etwas passiert. Ryan wollte ihm nicht alles am Telefon erzählen und machte mit Chris aus das sie sich nachher in der Stadt treffen würden. Auf einem leeren Marktplatz in einer belebten Einkaufsstraße, trafen sich die beiden. Ryan sah schon von weitem das Chris wieder diesen besorgten Blick aufgesetzt hatte. Sein goldblondes Haar strahlte in der Sonne. Als er vor ihm stand, lächelte er. Aber Ryan sah in seinen braunen Augen auch eine Spur von Ärger. Ryan hatte diesem Blick schon so oft bei ihm gesehen. Wenn Chris ihn so sorgenvoll und fürsorglich ansah fühlte er sich meist wie ein kleines Kind, das sich verletzt hatte und nun getröstete werden musste. Chris war gut einen halben Kopf größer als Ryan. Das fand er zwar nicht schlecht, aber das und die Tatsache, dass er wieder diesen überfürsorglichen Blick drauf hatte ließ Ryan schon ahnen das er was zu hören bekommen würde. Die beiden Jungs setzten sich auf eine breite Treppe am Rande des großen Platzes. Ryan mochte diesen Ort. Er war in der Vergangenheit öfter dort gewesen und einfach nur ruhig dagesessen. Er beobachtete Chris wie er sich neben ihn setzte. Chris war nicht so schrecklich mager wie er selbst, aber trotzdem schlank. In seinem weisen Shirt sahen seine Schultern breit aus. Schultern an die sich Ryan gerne angelehnt hätte. Chris war nun ganz nahe neben ihm. Es wäre leicht gewesen einfach seinen Kopf an ihn zu lehnen. Doch stattdessen rückte Ryan ein Stück weiter weg von ihm. Chris bemerkte davon nichts. “Also, was ist jetzt? Erzähl!”, drängte Chris. Ryan wusste von Vincent, dass Chris das meiste schon wusste. Was wollte Chris noch von ihm hören? Er wich Chris´ Blick aus und schaute eingeschüchtert zu Boden. Schlicht fragte er: “Vincent hat es dir doch schon gesagt“. “Warum hast du mir nicht gesagt, dass du entlassen wurdest? Ich dachte schon du willst vor mir weglaufen oder würdest sonst etwas tun”. Sonst etwas? Was meinte Chris denn damit? “Ich habe es dir nicht gesagt, weil ich selbst erst heute Morgen erfahren habe, dass ich entlassen werden kann und wo ich hinkomme”. “Und warum hast du dein Handy ausgeschaltet? Oder hast mich nicht gleich am Morgen angerufen”. Langsam ging ihm Chris auf die Nerven mit seinen Fragen. Das alles klang als würde Chris denken er müsse auf ihn aufpassen und jeden Schritt den er tat beaufsichtigen. “Was soll das? Glaubst du ich komm nicht ohne dich zurecht?” Er rückte noch ein Stück weg von Chris. “Das hab ich nicht gesagt. Ich wollte einfach nur wissen warum du mich nicht angerufen hast”. “Ich hab dich doch angerufen”. Damit schien Chris endlich Ruhe zu geben. “Gut, aber ab heute gilt, dass du dein Handy immer eingeschaltet hast. Nicht das etwas passiert”. Ryan konnte es nicht fassen. Chris behandelte ihn wie ein kleines Kind. “Glaubst du ich kann nicht auf mich selbst aufpassen? Und was meinst du mit: etwas passieren? Was ist denn so schreckliches passiert das du dir Sorgen machst? Es war doch nichts. Also hör auf mich wie ein Kind zu behandeln”. Im ersten Moment war Chris erstaunt das Ryan auf einmal so aufbrausend war, das er nicht wusste was er sagen sollte. Er schaute ihn ungläubig an, bis er sich langsam wieder fing und sagte: “Das tue ich doch gar nicht. Ich hab mir einfach Sorgen gemacht. Das ist alles”. “Das brauchst du nicht. Es gibt keinen Grund sich Sorgen zu machen”. Chris wollte etwas erwidern aber dann sagte er doch nichts. Denn eigentlich hatte Ryan damit Recht. Es gab wirklich nichts mehr worum er sich Sorgen machen musste. Nach einer Schweigeminute fragte Chris: „Und wie ist die neue Schule so?“ Ryan brummte etwas Unverständliches und antwortete: „Keine Ahnung ob´s mir da gefällt“. „Wieso, was ist denn? Kannst du eigentlich raus wann du willst?“ Wieder diese Fragerei. Ryan verabschiedete sich schon bald wieder von Chris. Wenn er so drauf war, hatte er keine Lust bei ihm zu sein. Dabei war er sonst immer gerne mit ihm zusammen. Auch wenn sie nur redeten. Kapitel 4: Selbstvertrauen -------------------------- Chris Nach der Schule war ich mit Lisa unterwegs, die darauf bestand das ich mit ihr shoppen ging. Doch nachdem ich mit ihr einige Geschäfte besucht hatte, sah ich auf der Straße eine vertraute Gestalt. Sofort ließ ich Lisa links liegen und rannte raus. Vor dem Laden sah ich mich hektisch um. Ich war mir ganz sicher, dass das eben Ryan gewesen war. Ich lief in die Richtung in die er gegangen war und sah ihn, als ich in eine andere Straße lief. Als ich ihn einholte sagte ich: “Hi, was machst du denn hier?” Ryan schien mich erst gar nicht zu beachten, aber dann schaute er mich mit einem kurzen Seitenblick an und sah überrascht aus, als er mich erkannte. Aber diese Überraschung wich rasch wieder seinem gewohnt leicht betrübten Gesichtsausdruck und er sagte in einem gleichgültigen Ton: “Hi”. Nachdem ich ihn dies und das noch fragte stellte sich raus das er zu seiner alten Schule ging um ein Zeugnis abzuholen, das sein neuer Klassenlehrer noch brauchte. Er wollte nicht, dass ich mitkam, aber ich konnte ihn doch noch umstimmen. Und irgendwie hatte ich das Gefühl, er war doch froh darüber, dass ich mitkam. Als wir dann vor der Schule standen schaute Ryan ängstlich und verbissen, als müsste er sich durchkämpfen und sich zwingen den Schulhof zu betreten. Wir gingen ins Gebäude und Ryan hatte es eilig zum Sekretariat zu kommen. Mich schien er komplett ausgeblendet zu haben. Als wir vor der richtigen Tür standen klopfte Ryan an und sagte kurz bevor er rein ging: “Ich mach das allein”. Und so stand ich ausgeschlossen vor der Tür. Ich hatte keine Ahnung was ich jetzt machen sollte. Nach zehn Minuten kam er wieder heraus und wir verließen das Schulgelände wieder. Erst als wir auf der Straße vor der Schule waren entspannte sich Ryan wieder. „Wieso warst du denn so angespannt?“ Fix schnappte ich mir das Zeugnis und schaute es genauer an. “Gib das her!”. Er wollte es mir abnehmen, aber ich drehte mich schnell weg. Ich war wirklich überrascht. Auf seinem Zeugnis standen fast nur Fünfer und Sechser. Einzig allein in Mathematik glänzte er mit einer Vier. Und ich dachte er wäre viel intelligenter als ich es war. Kaum hatte ich den Zettel überflogen da entriss Ryan ihn mir auch schon wieder und schaute mich böse an. Eilig lief er weiter. “Was soll das?” fragte ich. “Was meinst du?” “Dein Zeugnis. Und dein Auftreten in der Schule”. Er schwieg er einen Moment und sagte dann: “Das geht dich nichts an”. “Ich dachte du wärst gut in der Schule”. “Wie kommst du darauf?” “Na, weil…”. Wie kam ich eigentlich darauf das Ryan ein Ass in der Schule war? Ich dachte es einfach von Anfang an . “Aber diese Noten sind ja wohl nicht wahr”. Er blieb abrupt stehen und schaute mich verächtlich an. “Kümmerst du dich jetzt auch noch um meine Noten? Dann bin ich halt nicht so klug wie du denkst. Und wenn schon”. Trotzig lief er weiter. “Aber…”, ich suchte nach einem weiteren Grund. Woran konnte es liegen, dass er solche Noten hatte? Es ging mich zwar wirklich nichts an, aber ich wollte dass er mir mehr über sich erzählte. Und ein bisschen war ich auch neugierig wie er früher war. “Warst du vielleicht…” “Lass das”, sagte er plötzlich. “Was soll ich lassen? Ich wollte doch nur fragen ob…” “Du sollst mich nicht behandeln wie ein Kind”. “Das mach ich doch gar nicht. Ich will nur wissen warum du…” “Klappe zu”, er ballte die Fäuste, “ich will nicht darüber reden. Kapiert?” Ich sagte kein Wort mehr zu diesem Thema. Ich hatte es vielleicht wirklich etwas übertrieben. Aber ich behandelte ihn doch nicht wie ein Kind. Oder? Es war ganz deutlich das Ryan sich auf seiner alten Schule nicht sonderlich wohl fühlte. Warum konnte ich mir immer noch nicht vorstellen. Plötzlich dachte ich an seine neue Schule. War er da vielleicht auch so? So still, zurückhaltend und grimmig. “Sag mal, darf ich mir Heute ansehen wo du wohnst?” Blitzschnell kam ein “Nein“, von ihm. Wir hatten uns darauf geeinigt, dass ich erst zu ihm kam wenn er sich eingelebt hatte. Hatte er vielleicht schon neue Freunde gefunden? Das würde mich freuen. Aber wer würde sich länger als ein paar Minuten mit ihm unterhalten wenn Ryan kaum ein Wort sagt und trotzig dreinschaute so wie jetzt. Wie wirkte er überhaupt auf andere? Ich wollte mir anschauen wie die Leute reagierten wenn sie uns beide sahen. Aber niemand beachtete uns groß. Dann kamen uns auf einmal zwei junge Mädchen entgegen. Die eine lächelte süß als sie uns sah. Die andere schaute uns nur ganz flüchtig an. Ein paar Meter weiter kam uns eine Gruppe von Jugendlichen, zwei Jungs und vier Mädchen, entgegen. Diesmal schauten drei Mädchen zu uns herüber. Sie lächelten und kicherten fröhlich. Und Plötzlich setzte Ryan seine Kapuze seiner Jacke auf. Da hatte ich den Beweis dass meine Vermutungen stimmten. Er hatte kein Selbstvertrauen und wollte sich vor andern verstecken. Aber so konnte es nicht weitergehen. Daran musste sich was ändern. Sofort zog ich ihm die Kapuze wieder runter. “Was soll das?”, murrte er. “Du sollst dich nicht verstecken”. Ryan Sein Zeugnis hatte er seinem Lehrer vor dem Unterricht gegeben. Nun saß Ryan in seiner Klasse und schaute zu seinen neuen Klassenkameraden die sich unterhielten und lachten. Er wollte dazu gehören, aber konnte sich nicht vorstellen wie er das machen sollte. Auch wenn er jemanden ansprach war es damit noch nichts getan. Er kam sich dabei immer noch gezwungen vor und konnte nicht lange offen und gesprächig sein. Irgendwann kam ein Punkt an dem er nicht weiter wusste und er sich unwohl fühlte. Die anderen merkten bald, dass er sehr ruhig war und sprachen ihn seltener an. Mit Ausnahme von Daniel. Immer wenn er und Ryan sich begegneten wechselten sie zumindest ein paar Worte miteinander. Manchmal fragte Daniel auch ob Ryan mit ihm und seinen Freunden etwas unternehmen wollte. Nach den ersten vier Unterrichtsstunden gab es in der Mensa Mittagessen. Es war immer sehr voll und laut. Deshalb bevorzugte es Ryan lieber nicht hinzugehen. Und außerdem hatte er überhaupt keinen Appetit auf irgendwas. Also ging er jeden Tag um die Zeit hinaus auf den Schulhof und schnappte frische Luft. Nach der Schule ging er wie jeden Tag ins Wohnheim. Vor dem Wohnheim standen ein paar Bänke. Die Sonne schien und es war angenehm warm. Ryan war es inzwischen etwas zu warm in seinem schwarzen T-Shirt und er setzte sich auf eine Bank die im Schatten lag. Er schaute den andern nach die herumliefen, Spaß hatten und sich freuten. “Hey, hast du Lust ein paar Bälle zu schlagen?” Daniel stand vor ihm. Er trug weiße Sportkleidung. In der einen Hand trug er eine Tasche mit Tennisschlägern. “Kommst du mit?”, fragte er noch mal, als Ryan nicht antwortete. Ryan überlegte kurz, aber sagte: “Ja”. Chris hatte recht gehabt, er sollte sich nicht verstecken und sie zumindest ein wenig bemühen selbstbewusster zu werden. Die beiden unterschiedlichen Jungs liefen bis zum Tennisplatz, wo schon ein paar andere Paare gegeneinander spielten. Daniel betrat einen der drei Tennisplätze, legte seine Tasche auf eine Bank neben dem Platz und holte seinen Schläger heraus und schwang ihn einmal. “Hi, Daniel. Bist du fertig?“ Ein Mädchen mit langem dunkelbraunen Haar, das sie zu einem Zopf gebunden hatte, und auch Tennisklamotten trug kam aus die beiden zu. Sie hielt einen Tennisschläger. “Aber klar”, gab Daniel zur Antwort. “Legen wir los”. Er wollte gerade auf seinen Platz gehen, als er stehen blieb und Ryan anschaute. “Wollen wir beide vielleicht erst eine Runde spielen. Ich habe noch einen zweiten Schläger dabei”. Ryan wusste das es soweit kommt und er spielen musste wenn er mit Daniel mitging. Aber jetzt fühlte er sich überrumpelt. Er wollte Daniels Einladung nicht ausschlagen, musste aber zugeben, dass er sich zu viel zugemutet hatte. “Ich hab noch nie Tennis gespielt”. “Das macht doch nichts. Ich zeige es dir. Ist wirklich ganz einfach und macht Spaß”. Er schaute zu dem Mädchen das aussah, als wüsste sie kein Stück was hier los war. Daniel sagte: “Oh, sorry. Hab ganz vergessen euch vorzustellen. Ryan das ist Tammy, meine Tennispartnerin. Tammy das ist Ryan. Er ist neu im Wohnheim”. Sie lächelte freundlich und sagte: “Hallo. Wie geht’s?” Ryan gab nur ein kurzes “Hi” von sich. Daniel war voll und ganz zufrieden mit sich. “Also dann wollen wir mal. Du hast doch nichts dagegen wenn ich zuerst mit ihm spiele, oder?” “Nein, natürlich nicht. Mach dich schon mal warm. Aber übertreib es nicht und mach langsam, okay”. “Für wen hältst du mich? Ich werd ihm schon nicht den Ball um die Ohren donnern”, lachte Daniel. Ehe er sich auf seine Position stellte klopfte er Ryan kräftig auf den Rücken und sagte: “Du hältst doch sicher was aus”. Tammy holte den zweiten Schläger und einen Ball. Den Schläger gab sie Ryan und den Ball bekam Daniel. “Zeig es ihm”, sagte sie zu Ryan und setzte sich auf eine Bank, legte ihren Schläger neben sich und schaute den beiden erwartungsvoll zu. Ryan hatte ein mulmiges Gefühl. Aber jetzt war es zu spät noch abzulehnen. Also sagte Ryan sich immer wieder: Mach es einfach, ausprobieren schadet nicht. Er ging zu Daniel. Der hielt seine Hand nach vorne und sagte: “So musst du den Schläger halten. Und mach dir keine Gedanken wenn du nicht alle triffst. Schwing ihn immer ganz durch und schlag so fest du kannst”. Kaum stand Ryan in Position machte sich Daniel auf der andern Seite des Netzes für den Aufschlag bereit. Ryan versuchte sich zu konzentrieren. Daniel warf den Ball in die Luft und zwar so schnell das Ryan kaum reagieren konnte. Der Ball schlug einmal auf seiner Seite auf, flog ruckzuck an ihm vorbei und knallte an den Zaun. “Nicht so schlimm. Versuchen wir es gleich nochmal”, rief Daniel. Ehe Ryan den Ball holen konnte stand schon Tammy neben ihm und gab ihm den Ball mit dem Rat: “Bleib in Bewegung. Dann kannst du besser reagieren. Siehst du so”. Sie stellte sich etwas breitbeinig hin und verlagerte das Gewischt abwechselnd von einem Bein auf das andere und wiegte sich dabei hin und her. “Halte den Schläger hoch, und schlag so fest du kannst. Daniel spielt gar nicht so gut wie er immer tut”, lachte sie. “Was soll das denn heißen?”, rief Daniel. “Gar nichts”. Sie setzte sich wieder. Ryan machte es Daniel nach, warf den Ball hoch, holte mit dem Schläger aus und schlug auf. Der Ball traf den Schläger nur knapp und prallte an den Rand. Der Ball landete zwar auf der anderen Seite des Netzes, aber rollte viel mehr, als das er flog. “Für den Anfang nicht schlecht”. Daniel hob den Ball auf der fast vor seinen Füßen lag. “Mach weiter so”. Er schlug auf. Diesmal traf Ryan den Ball. Der Tipp von Tammy half. Er reagierte schneller und konnte den Ball erwischen. Nach ein paar Aufschlägen, die nicht alle glückten, traf Ryan den Ball sehr viel sicherer. Daniel schien erst warm zu werden und erhöhte von Schlag zu Schlag das Tempo. Das hatte zur Folge das Ryan den Ball wieder seltener traf. Er flog so schnell auf ihn zu das er es kaum merkte. Zwar erahnte er wie er flog, aber die Hitze und die Anstrengung machten sich bemerkbar. Nach einem Treffer von Ryan schlug Daniel den Ball motivierter und mit etwas mehr Kraft zurück. Ryan reagierte vor Erschöpfung langsamer. Er hob den Schläger zu spät und der Ball traf ihn mit voller Wucht an der Schulter. Der Schläger fiel im aus der Hand. Tammy kam auf ihn zu gelaufen. „Alles in Ordnung?“, fragte sie und legte besorgt die Hand auf seinen Arm. Ryan hielt sich mit der linken Hand die schmerzente Schulter und sagte: „Ja, geht schon“. Tammy warf einen wütenden Blick zu Daniel, der war inzwischen auf sie zu gekommen und sagte mit einem Hauch von Mitleid in der Stimme: „Tut mir leid. Das war meine Schuld. Hören wir für heute auf“. Er ging zur Bank und packte seinen Schläger ein. Tammy lief neben Ryan her und hielt ihre Hand fürsorglich auf Ryans Rücken. Doch als sie zu Daniel kamen trat er einen Schritt von Tammy weg. Diese schlug Daniel kräftig auf den Rücken und sagte: „Du hast es übertrieben, Daniel“. Es dämmerte und von überall hörte man leise die Grillen zirpten. Der Mond schien hell am wolkenlosen Himmel. Durch das offene Fenster in Ryans Zimmer wehte angenehm kühle Abendluft herein und bewegte sachte die Vorhänge. Nachdem er Daniel und Tammy verlassen hatte, war er zurück auf sein Zimmer gegangen. Dort trank er ein Glas Wasser in einem Zug leer und duschte ausgiebig. Danach hatte er sich mit frischen Klamotten aufs Bett gelegt und war in einen leichten Schlaf versunken. Als er aufwachte sah er immer noch die Traumbilder seiner früheren Klasse. Und plötzlich kamen ihm die Ereignisse von damals wieder in den Sinn. Wie er Tag für Tag in dem stickigen Klassenzimmer an seinem Tisch in der Ecke saß und sich bemühte nicht bemerkt zu werden. Ryan drehte sich im Bett um und legte den Kopf auf den Arm. Den Schmerz in seiner Schulter ignorierte er. Draußen war es bereits dunkel. Aber es konnte noch nicht allzu spät sein. Er schloss die Augen und versuchte wieder einzuschlafen. Doch die Erinnerungen ließen ihn nicht los und hielten ihn wach. Das Bild eines Jungen der verächtlich auf ihn hinab sah blitze in Ryans Gedanken auf. Gefolgt vom Klang eines höhnischen Lachens. Dann sagte eine zarte Stimme zu ihm: “Lass dich nicht unterkriegen!” Er sah das Gesicht einer jungen Frau mit schwarzen Augen und schwarzen Haar vor sich. Rasch setzte er sich auf und schüttelte den Kopf um die Bilder loszuwerden. Doch sobald sie verschwanden kam ein neues, schrecklicheres Bild ihm in den Sinn. Nach einem Moment stand er hastig auf, zog Schuhe an und schaute flüchtig auf das leuchtende Display des Handys, das auf seinem Nachttisch lag. Kurz nach elf. Er lief zum Fenster, öffnete es und schaute hinaus in die scheinbar endlose Dunkelheit. Die kam ihm einladender vor, als die vier kahlen Wände, die ihm das Gefühl gaben erdrückt zu werden. Er streckte den Kopf hinaus und sofort kam in ihm der Drang auf, hinaus zu gehen und vor der Enge und seinen Erinnerungen zu fliehen. Kapitel 5: Sport und Spot ------------------------- Ryan Draußen war es düster, die schweren Regenwolken zogen gemächlich am Himmel entlang und dicke Tropfen prasselten gegen die Fensterscheiben. Seit dem frühen Morgen hatte es nicht aufgehört zu regnen. Ryan wollte wie jeden Tag um die Zeit hinaus, aber er entschloss sich doch das es besser wäre drinnen zubleiben. Dass er nass geworden wäre, störte ihn nicht. Er mochte es im Regen spazieren zu gehen und die angenehme Kühle des Regens auf der Haut zu spüren. Viel mehr hatte er keine Lust nachher pitschnass im Klassenzimmer zu sitzen. Also folgte er seinen Mitschülern vom Klassenraum in die Mensa, in der er bis jetzt noch nicht war. Die meisten Schüler gingen gleich zur Essenausgabe und holten sich ein Tablett, sie setzten sich alle zusammen in Gruppen an die Tische. Ryan setze sich etwas weiter weg in eine Ecke der Mensa. Der Geruch nach allerlei Essen verstärkte seinen Drang hinauszugehen. Aber er blieb sitzen und schaute einfach nur aus dem Fenster und wartete bis der Unterricht wieder weiter ging. Gelegentlich schaute er zu seinen Klassenkameraden die alle zusammen aßen. Die Mädchen unterhielten sich ruhig, ließen sich es aber auch beim Essen nicht nehmen ab und zu einen anzüglichen oder zweideutigen Satz loszuwerden. Ryan beobachtete wie die einzelnen Tropfen an der Scheibe hinunterliefen und dabei andere einsammelten. Am Horizont wurde es langsam wieder hell und allmählich zeigten sich ein paar Sonnenstrahlen. Als Ryan aus seinen Gedanken erwachte um auf die Uhr zu schauen, war die Mensa nicht mehr ganz so voll. Bis der Unterricht wieder anfing hatte Ryan noch gut Zehn Minuten Zeit, also blieb er noch sitzen. Auf einmal tat sich neben ihm etwas. Er schaute nicht hin und tat so, als würde er es nicht bemerken. Jemand rückte den Stuhl neben ihm zurück und setzte sich. Aus dem Augenwinkel sah er, dass es ein Mädchen war. Er fragte sich wieso sie sich neben ihn setzte, es gab doch noch genug andere freie Plätze. Insgeheim hoffte er dass sie gleich wieder verschwinden würde. “Hi, wie geht’s?”, waren ihre ersten Worte. Sie hatte eine angenehm ruhige Stimme. Ryan antwortete nicht und sah sie auch nicht an. Er richtete den Blick ununterbrochen hinaus. “Wieso isst du denn nichts? Hast du keinen Hunger?” Er blieb weiterhin stur und schaute nur hinaus. Aber ihr schien das nichts auszumachen. In ihrer Stimme schwang ein leichter Ton von Besorgnis mit, der ihn an Chris erinnerte. “Geht es dir nicht gut? Du siehst ja aus wie Dracula, so bl…” Doch ehe sie ihren Satz beenden konnte, stand Ryan ruckartig auf. Ohne sie auch nur anzusehen, ging Ryan zum Ausgang der Mensa und zurück in seine Klasse. Nach weiteren zwei Stunden war die Schule für heute aus. Als einer der letzten ging Ryan hinaus. Es war nach dem Regen schön kühl. Die Sonnenstrahlen warfen ihr Licht in die Pfützen auf dem Hof und lies sie scheinen und glänzen. In ihnen spiegelte sich der Himmel ab, an dem langsam das Blau hindurch schien. Ryan lief ziellos über das Gelände. Nur wenige Schüler waren draußen. Auf dem Tennisplatz, wo Ryan Gestern mit Daniel und Tammy gespielt hatte, war niemand. Dann hörte er Schritte auf dem Kiesweg. Ein Mann mittleren Alters in einem cremefarbenen Anzug kam auf ihn zu. Herr Schreiber mustere ihn von oben bis unten mit einem Blick den Ryan nicht recht zu deuten wusste. Als der Lehrer neben ihm stand fragte er: “Wie geht es dir? Hast du dich gut eingelebt?” Er führte Ryan über die verschiedenen Sportfelder und redete auf ihn ein, dass er sich doch für eine Sportart entscheiden solle. Doch Ryan lehnte jeden Vorschlag ab. Sport passte nicht zu ihm. Herr Schreiber war darüber enttäuscht. “Gut. Dann sehen wir uns mal das Nächste an”. Gleich neben dem Baseballplatz war der Fußballplatz auf dem ein paar Jungs Torschüsse übten. Immer wenn einer ins Tor traf jubelten sie laut. Ryan fand das immer schon albern. Sich so zu freuen nur weil man nach ewigen hin und her ein einziges Tor erzielt hatte. “Wie wäre es mit Fußball? Das wählen die meisten Schüler. Und ich darf sagen, dass unsere Mannschaft nicht gerade die Schlechteste ist“. “Ich mag Fußball nicht”, sagte Ryan. Diesmal schien der Lehrer eher überrascht als enttäuscht. Als nächstes kamen sie zum Footballplatz. Die großen Tore waren beeindruckend. Ryan hatte ein Footballfeld schon öfters aus der Nähe gesehen. Damals als er und seine Eltern noch in den USA lebten. Herr Schreiber bemerkte das Ryan sich den Platz genauer anschaute. “Das ist zwar einer der anstrengenden Sportarten, aber hat man erstmal die Kraft und das Durchhaltevermögen kann man es weit bringen. Die besten Spieler der Mannschaft haben das Team mit viel Ehrgeiz an die Spitze der Footballmannschaften in der Gegend gebracht. Sogar an Meisterschafen haben sie teilgenommen und der Schule Preise und Pokale eingebracht” Er machte eine Pause und schaute zu ein paar Jungs hinüber, die in voller Montur das Feld betraten. “Wenn du dich dafür interessierst und dich durchsetzt kannst du sicher bald mit ihnen an entscheidenden Spielen teilnehmen“. Unbeeindruckt von der lobenswerten Rede des Lehrers sagte Ryan: “Ich hab keine Lust in einer Mannschaft zu sein, die wie wildgewordene Bullen einem Ball hinterher rennen und alles nieder rennen was im Weg kommt”. Sein Vater hatte früher Football geliebt und ihn oft zu Spielen mitgenommen. Und das waren keine schönen Erinnerungen. Sein Vater hatte immer wieder versucht Ryan das Spiel beizubringen, doch statt Lob und Spaß am Spiel gab es immer nur Streit und Gebrülle für ihn und seine Mutter. Ryan war als Kind nun mal schmächtig gewesen und hatte nichts getaugt, so wie er für alle Sportarten nichts taugte. Herr Schreiber war in dem Punkt einsichtig “Ja, das ist wohl doch nicht ganz das Richtige für dich”. Als nächstes kamen die Spielfelder für Basketball, Laufen, und schließlich das Schwimmbecken. Ryan hatte aufgehört alles gleich abzulehnen. Weil Herr Schreiber langsam an ihm verzweifelte. Aber Ryan hatte keine Lust mit Jungs Basketball zu spielen die allesamt größer als er waren und ihn locker weg schubsten und Ryan nicht mal den Ball in den Korb bekam. Er hatte keine Lust sinnlos im Kreis herum zu rennen und keine Lust im Schwimmbecken herum zu plantschen. Chris Eine Ewigkeit schien vergangen zu sein seit ich Ryan gesehen hatte. Ich konnte nicht abstreiten das ich mir Sorgen machte. Manchmal rief ich ihn an und fragte wie es ihm ging. Viel erzählt hatte er nicht. Besuchen durfte ich ihn jedoch noch nicht. Das machte mich misstrauisch. Aber ich konnte ihn ja außerhalb der Schule treffen wenn ich wollte. Und das hatte ich heute auch vor. Gerade war die letzte Schulstunde zu Ende und der Lehrer hatte den Raum verlassen. Lisa kam auf mich zu und fragte: “Wieso bist du denn letztens so plötzlich verschwunden?” “Mir fiel ein, dass ich etwas erledigen musste”. “Ich dachte wir wollten zusammen einen Kaffee trinken gehen. Es wäre so schön geworden”. “Sorry“, sagte ich mit gespielten Bedauern. “Was hattest du denn so plötzlich zu erledigen?” “Nichts Besonderes”. “Wollen wir dann nachher zusammen Kaffee trinken gehen?” “Geht das nicht Morgen? Draußen ist nicht gerade schönes Wetter”. Tatsächlich hatte es den ganzen Morgen über geregnet. Aber zu meiner Besorgnis sah man ganz deutlich, dass es sich wieder aufhellte. “Es regnet doch gar nicht mehr. Außerdem soll es heute noch sehr schön werden. Also lass und gehen!” “Tut mir leid, aber ich habe heute schon was vor”. Sie schaute mich mit ihren blauen Augen verwundert an und legte ihren Kopf schief. “So. Was denn?” Ich stand auf und nahm meine Tasche. “Ist nichts Besonderes. Wirklich nicht”. Ich ging um sie herum. “Fragt doch Alex ob er mit will. Wir sehen uns dann morgen. Bye”. Und rasch war ich draußen. Ich lief über den Schulhof und wollte auf der Straße gleich mein Handy herausholen. Doch ehe ich über den Hof gelaufen war, legte mir jemand die Hand auf die Schulter und sagte “Hey Kumpel. Lust einen drauf zu machen?” Ich drehte mich um und sah Steffen. Er war in meiner Klasse. Aber wir hatten nie groß miteinander geredet. Was größtenteils daran lag, das ich immerzu mit Lisa, Alex und Michael zusammen war. Und mit denen hatte Steffen nichts zu tun. Außer das ich manchmal hörte wie er über Lisa sprach. Steffen einer der nichts außer Mädchen, Alkohol und Party im Kopf hatte. Deshalb hatte ich auch selten etwas mit ihm zu tun gehabt und fragte mich dementsprechend was er so plötzlich von mir wollte. Als ich nicht sofort auf seine schön formulierte Einladung reagierte, sagte er: “Ich und die Jungs wollen am Treff was trinken und nen paar Mädels anbaggern. Komm doch mit!” Mit Treff meinte er wohl irgendwo eine Kneipe oder Disco. Und was er unter Trinken verstand konnte ich mir gut vorstellen Ich kannte Steffen nicht so gut, aber in der Klasse war er immer der, der am meisten auffiel und das war nicht positiv gemeint. Außerdem stellte er in der Pause oft den Mädchen hinterher. Ich fragte mich aber immer noch was das mit mir zu tun hatte. “Wieso fragst du mich?” “Wieso nicht?”, war seine aufklärende Antwort. “Die Sache ist die: Ein Kumpel hat gesagt du kannst ganz gut mit Mädels. Und da dacht ich es wäre nicht falsch dich mal dabei zu haben”. Ich wollte gerade etwas sagen, da kam ein Mädchen auf uns zu und stellte sich neben Steffen. Der legte den Arm um sie und sagte: “Hi, Jenny. Kommste auch mit?“ Und ehe ich kapierte was los war, kamen auch schon die anderen Kumpels von Steffens Stammgruppe und führten alle, mich inklusive, vom Schulhof quer durch die Stadt und zum sogenannten Treff. Dieser entpuppte sich als einen freien Platz in der Innenstadt, über den laut Steffens Angaben viele hübsche Mädchen liefen. Und die wurden von ihm und den andern mehr oder weniger erfolgreich mit jedem nur erdenklichen Spruch angemacht. Jenny saß währenddessen neben mir und lachte jedes Mal über die Sprüche, die bei den Mädchen nur den Effekt hatten das sie schneller von ihm wegliefen. Kein Wunder, Steffen war nicht gerade freundlich. Da musste schon ein Mädchen kommen das genauso drauf war wie er. Und so wie es aussah würde hier so eine nicht auftauchen. Denn der Platz befand sich direkt vor einem großen Einkaufsgeschäft. Und dort kamen nur Mädchen heraus die hübsche Klamotten und hübsche Jungs im Kopf hatten. Und dazu passte Steffen kein Stück. Er trug Punkklamotten, eine grüne Haarsträhne und Piercings. Und als gutaussehend konnte man ihn und auch seine Kumpels nicht bezeichnen. Ich fragte mich auch was Jenny mit solchen Jungs am Hut hatte. Sie sah eigentlich ganz normal aus. Sie trug normale Klamotten, sprach normal, benahm sich anständig und wie ich später erfuhr, trank sie auch keinen Alkohol. Nach der zehnten Absage kam Steffen zu mir. “Mach auch mal was! Du bist doch nicht nur zum rumsitzen mitgekommen”. “Was soll ich machen?”, fragte ich erstaunt. “Was glaubst du warum ich dich mitgenommen hab?” Das fragte ich mich allerdings auch. Aber mir hat ja niemand mal was gesagt. “Jetzt reis auch mal eine auf”. Er schaute auf eine Gruppe Mädchen die lachend mit bunten Tüten aus dem Geschäft kamen. “Da die da. Schnapp sie dir und dann her damit”. Was sagte er da? Noch bevor ich auch nur ein Wort erwidern konnte, wurde ich von Steffen von der Mauer geschuppst, auf der ich bis jetzt saß und mit den Worten “Los jetzt“, auf die Mädchen zugeschubst. So wie ich jetzt dastand kam ich mir wirklich bescheuert vor. Sollte ich die Mädchen jetzt einfach ansprechen und sie fragen ob sie nicht was mit Steffen trinken gehen wollten? Das würde nie und nimmer hinhauen. Die Mädchen waren nicht in seiner Liga. “Mach schon”, sagte er und ich bekam noch einen Schubs. „Nein“, protestierte ich. Langsam wurde mir das Ganze zu blöd. „Was heißt hier nein. Und ob du jetzt zu der Tusse hin gehen wirst“, und noch einmal wurde ich in den Rücken geschubst. Diesmal etwas fester. „Oder stehst du etwa nicht auf Weiber?“, lachte er hämisch. Bei mir schellten alle Alarmglocken. Jetzt hatte er zu viel gesagt. Nun war ich bereit ihm eine kräftig zu langen. Doch ehe ich ihm mit geballter Faust eine verpassen konnte sagte Jenny: „Chris ist doch mit Lisa zusammen. Sag bloß du wusstest das nicht?“ Sie legte Steffen beruhigend eine Hand auf den Arm. “Jetzt lass ihn! Das klappt doch nicht. Wieso sollte er für dich Mädchen abbaggern? Er hat doch eine Freundin”. Steffen sah sie genervt an. “Ach, hier haben wir die Expertin. Und wie klappt es sonst?” “Jedenfalls nicht so. Jetzt lass Chris ihn Ruhe und mach es selbst”. Ich atmete auf und huschte aus der Gefahrenzone. Steffen schaute Jenny sauer an und sagte: “Was soll das. Das war doch deine Idee”. “Was? Das ist doch wohl nicht dein ernst. Ich hab doch nicht gedacht, dass du das echt machst und Chris einfach mitschleppst”. “Ach und wie war es sonst gemeint?” “Überleg doch selbst. So blöd bist du jawohl nicht”. Sie zeigte ihm die kalte Schulter. “Ich hab jedenfalls keine Lust mehr. Ich hau ab”. Sie ging an ihm vorbei und griff nach meinem Arm. “Komm mit! Wir lassen den Macho seine Arbeit machen”. „Führ dich nicht so auf Jenny!“, rief Steffen als Jenny mich schon einige Meter mitgezogen hatte. „Chris bleibt hier. Nicht wahr Mann?“ Jenny drehte sich dann doch noch mal um. „Du bist so ein Blödmann“. Unerwartet kam Steffen auf uns beide zu. „Ach, komm schon!“ Seine Mundwinkel zuckten. Seinen Arm ließ er auffällig über den Platz kreisen. „Jetzt kommt doch erst die beste Zeit um ein paar geile Bräute zu angeln“. Von Nach einen Augenblick in dem sich die beiden herausfordernd anstarrten, griff Steffen nach meinem Arm, zog mich mit einem Ruck von Jenny weg und sagte: „Der bleibt hier! Was du machst ist mir egal“. So langsam fühlte ich mich wie der Teddy um den sich Maria letzten mit ihrer Freundin gestritten hatte. Jenny sah aus als wollte sie Steffen gleich wie ein wütender Tiger anfallen und zerfleischen. Doch sie schien sich der Situation zu fügen und ergab sich. Besiegt ließ sie die Schultern hängen, hockte sich wieder auf die Mauer und beobachte uns Jungs mit geschärftem Blick. Eine halbe Stunde später hatten die Freunde von Steffen einige Flaschen Alkohol und Zigaretten besorgt. Während diese eine Budel nach der andern leerten und die Frauen, die ignorierend an uns vorbei liefen, nachschauten, rauchte Jenny genüsslich ihre Zigaretten und sagte kein einziges Wort. Ich war immer noch bei meinem ersten Bier. Lust mich hier zu besaufen hatte ich nicht. Vielmehr überlegte ich mir wie ich hier am einfachsten weg kommen könnte. Steffen und seine Kumpels hatten sich nun schon an der Mauer auf den Boden niedergelassen und wirkten teilnahmslos. Steffen beobachtete die Leute aufmerksam. „Wird das heute noch was?“, fragte Jenny schließlich. „Bis auf den Drogenhändler mit seinem Hund von vorhin scheinen euch die Leute ja nicht weiter zu beachten. Von den Frauen mal ganz zu schweigen“. Steffen schlug die Hände auf die Knie, stand etwas schwankend auf und sah mich auffordert von oben herab an. „Jetzt machen wir mal Ernst! Wird Zeit etwas mehr Stimmung zu machen. Auf geht’s, Chris“. Nur widerwillig stand ich auf und folgte Steffen. Der ging ein Stück zur Fußgängerzone. Kurz ließ er seinen prüfenden Blick über die Menge schweifen, entdeckte jemanden und zeigte mit dem Finger Richtung Einkaufszentrum. „Schau mal, die da drüben, mit dem blauen Shirt“. Das Mädchen mit dem dunkelblauen Top und den kurzen Jeanshorts kam gerade aus dem Einkaufszentrum. Gleich würde sie an uns vorbei gehen. Sie schien etwas älter zu sein als wir, aber ansonsten nicht so eine zu sein, die sich mit fremden Jungs auf offener Straße trink. Steffen sah das anders und schubste mich dem Mädchen direkt vor die Füße, was mich beinahe zu Boden warf. Toller Anfang um jemanden anzusprechen, dachte ich sarkastisch, und wollte mich gerade abwenden um schnurstracks zu Jenny und den andern zurückzugehen. Da sagte das Mädchen mit zuckersüßer Stimme: „Hallo“. Verwundert sah ich sie an und sagte ebenfalls „Hallo“.. Steffen verpasste mir einen Faustschlaf auf dem Arm. „Und weiter?“ Das Mädchen mit dem fesch geschnittenen kurzen Haar, lächelte amüsiert und hielt sich dabei eine Hand vor die Lippen, in der zwei Piercings stecken. Als ich nichts weiter sagte ergriff Steffen das Wort. „Hör mal, wir feiern grad nen wenig“, erklärte er in einem etwas schüchternen Ton, den ich ihm gar nicht zugetraut hätte. „Wenn du Lust hast kannste mit machen. Wie wär’s? Gibt auch was zu trinken“. Das kecke Mädchen musterte Steffen flüchtig, doch als sie mich von oben bis unten prüfte blieb ihr Blick an mir hängen und sie lächelte wieder. „OK, wieso nicht“, antwortete sie zu mir. Überraschender Weise ging sie wirklich mit und setzte sich neben Steffen auf die Mauer. Der gab ihr eine Flasche Bier, die er für sie geöffnet hatte. Ich hockte mich wieder dorthin wo meine, noch halbvolle, Bierflasche auf der Mauer stand. Ein stückweit weg von Jenny, aber nun nicht so weit weg von Steffens unbekannter Eroberung. „Wie heißte denn?“, fragte Steffen, der sich so locker wie möglich neben ihr drapierte. Für mich sah er dabei eher aus wie ein betrunkener Affe der versucht es sich in einem Dornenbusch bequem zu machen. „Ich heiße Tina“, sagte sie. „Und ich bin Single“, fügte sie in einem verführerischen Ton hinzu. Dummerweise sah sie dabei mich an, statt Steffen. Sie nahm einen Schluck aus ihrer Flasche und leckte sich über die roten Lippen. In dem Moment als sie mir auch noch eine Hand mit rot-lackierten Nägeln auf meinen Oberschenkel legte, hätte ich nichts lieber getan als abzuhauen. Steffen dachte wohl das Selbe. Denn er schaute mich mit mörderischem Blick an. Blöderweise bemerkte er dabei nicht, dass sich seine Bierflasche langsam in Richtung von Tina senkte und ihr der schaumige Inhalt sachte über ihre Shorts floss. Wie eine Sprungfeder hüpfte Tina mit einem Aufschrei von der Mauer und sah entsetzt auf ihre Beine, an denen das Bier hinunter ran. Steffens Freunde lachten schadenfroh. Er selbst blieb stumm. Ich dagegen war erleichtert aus der peinlichen Situation feinheraus zu sein. „Hey du verdammtes Arschloch“, rief Tina wutentbrannt und warf Steffen einen Todesblick zu. Immer noch hatte sie ihre Bierflasche, die noch fast voll war, in der Hand. Dann rächte sie sich an Steffen, indem sie den gesamten Inhalt höhnisch kichernd über Steffens Hose schüttete, die Flasche kirrend weg warf und dann einfach auf ihren hochhakigen Schuhen davon stolzierte. Ich meinerseits rückte lieber ein Stück weg von Steffen und tat einen auf unschuldig. Jenny jedoch lachte. „Das geschieht dir ganz recht, du Trottel“. Steffen erwachte nun endlich aus seiner Schockstarrte, doch statt die schadenfrohe Jenny anzugiften schaute er mich schäumend vor Wut an. „Was klotz du so blöd?“, spie er. Ich rutsche von der Mauer. Bereit einfach abzuhauen, was ich besser schon viel früher hätte tun sollen. „Ich geh…“ Doch ehe ich mich verabschieden konnte, grölte Steffen: „Wie kann man nur denken, dass so einer wie du, gut Mädchen anabaggern könnte. Du bist nichts weiter als ein Weichei. Mach dich weg du Schwuchtel“. Mich durchfuhr ein Blitz der mich stocksteif stehen bleiben lies. „Steffen, halt dein Maul“, schrie Jenny ihn an. Doch er dachte nicht daran still zu sein. „Stimmt doch. Er ist eine Memme. Und so sieht er auch aus. Na, was sagst du dazu, Goldlöckchen? Haust du jetzt zu deinen Weichei-Freunden ab und heulst dich aus?“ Selbstgefällig trat er dicht neben mich. „Hast du überhaupt welche außer deinen Homos?“ „Steffen…“, schrie Jenny und trat näher. „Hör auf, oder ich…“ Weiter kam sie nicht. Blind vor Wut, ballte ich die Fäuste, drehte mich um und schlug Steffen meine Rechte in den Magen. Der ging keuchend in die Knie und hielt sich den Bauch. Jenny zog scharf die Luft ein. Die zwei andern Trottel, standen auf und eilten zu ihrem Kumpel. Gerade wollte ich Steffen noch eine mit der linken verpassen, da ergriff Jenny geistesgegenwärtig meinen Arm und zog mich zu sich. „Lass es!“ Ehe die zwei andern Affen auf die Idee kamen sich auf mich zu stürzen, hatte ich mich wieder einigermaßen im Griff. Ich nahm Jenny bei der Hand, die einen bleichen Gesichtsausdruck hatte, und zog sie mit. Weg von diesen verdammten Idioten. Hinter uns hörten wir Steffen krächzen: „Das zahl ich dir heim, du Arschloch!“ Jenny und ich gingen nebeneinander durch die belebte Innenstadt. Die kühle Nachtluft tat meinen Fingerknöcheln gut, die rot geworden waren. Doch noch immer regte es mich fürchterlich auf was Steffen gesagt hatte. Ich war mir jedoch im Klaren darüber das es nur leere Worte waren. Er kannte mich ja nicht, und auch meine Freunde nicht. „Geht’s wieder“, fragte Jenny. Bei ihrem Anblick hätte ich sie das besser gefragt. Nach meinem Ausbruch wurde sie leichenblass. Nun ging es jedoch wieder und ihre Wangen hatten ein zartes Rosa angenommen. „Ja, alles okay“, antwortete ich. Sie lächelte. „Wusste gar nicht, dass du so schlagfertig sein kannst“, scherzte sie. Wurde dann aber schnell wieder ernst. „Mach das aber bitte nicht wieder“. Wir gingen die Treppe einer U-Bahn Station hinab und suchten nach der nächsten Abfahrt. „Steffen kann ein richtiger Mistkerl sein. Aber das du ihm so eine verpasst hat er nicht verdient“. Ich traute meinen Ohren nicht. „Oh, doch. Und ob er das verdient hat. Hast du nicht gehört was er gesagt hat?“ „Klar war das nicht nett, aber er hat es sicher nicht so gemeint. Ich kenne ihn schon lange, so fies war er noch nie“. Ich schwieg. Begreifen warum sie ihn so verteidigte konnte ich nicht. Und mir war es ehrlich gesagt auch egal. Ich wollte einfach nur nach Hause. Als die Bahn endlich kam und die Türen sich öffneten, hielt Jenny mich fest. So wie sie es vorhin schon einmal getan hatte. Fragend blickte ich sie an. „Bitte geh noch nicht! Ich möchte jetzt nicht alleine sein“. Jäh erinnerte sie mich mit ihrer traurigen Stimme und den Augen in denen Tränen glänzen an Ryan. Meine Wut über sie und Steffen verzog sich mit einem mal und ich blieb bei ihr. „Wollen wir noch einen Kaffee trinken gehen?“, fragte ich schließlich. Dankbar lächelte sie und nickte. An diesem Tag kam ich nicht mehr dazu Ryan anzurufen. Kapitel 6: Hass --------------- Ryan Ryan lag auf den Rücken im Bett, in Jeans und Shirt, so wie er sich am Nachmittag müde auf das weise Lacken fallen gelassen hatte. Unruhig drehte er sich zur Seite und schaute zum Fenster. Draußen war es schon längst dunkel. Seine Augen fielen zu. Und ohne, dass er es wollte dachte er an seine Mutter. Schon immer war sie der einzige Mensch der immer für ihn da gewesen war. „Sie ist nicht mehr da“, wisperte er in die Dunkelheit. Wie gelähmt fühlte er sich. Vor seinem inneren Auge erschienen ihr Bild und ihr sanftes Lächeln. „Verdammt, wieso...?“ Hastig griff er nach der Decke, zog sie über den Kopf und krümmte sich zusammen. Tränen liefen ihm langsam übers Gesicht. Immer und immer mehr versanken im Bettlacken und schlug mit der Faust auf die Matratze. Der Wind wehte durchs offene Fenster, strich über seine feuchten Wangen und riss ihn aus seinen Gedanken. Ryan stand auf und schaute hinaus, er atmete tief die frische Nachtluft ein. Sein Blick fiel auf den Ast unter dem Fenster, dann zurück in den düsteren Raum. „Ich muss hier weg“. Er zog seine schwarze Jacke, die auf dem Stuhl lag an und zog sich die Kapuze tief ins Gesicht. Dann kletterte er aus dem Fenster auf den Ast. Von dort konnte er ohne Mühe nach unten gelangen. Er schlich sich rasch zu dem kleinen Wäldchen, das gegenüber vom Wohnheim lag und durchquerte es bis zur Mauer die das gesamte Gelände umfasste. Als er vor einem Baum stand der sich direkt an der Mauer befand und dessen Äste ideal gewachsen waren um leicht daran hochzuklettern, schaute er noch einmal zurück. Alles war still. Genauso wie die Straßen. Kein einziger Mensch lief ihm über den Weg. Die Fenster der Häuser waren dunkel, nur die Straßenlaternen erleuchteten die Nacht. Ryan konzentrierte sich auf seine Schritte. Alles was er sah waren seine Füße, wie sie einen Schritt nach dem andern taten. Wohin er ging, war ihm egal. Doch plötzlich wurde die Stille der Nacht gestört von dem blechernen Geräusch einer Dose die über den Boden gekickt wurde. Kurz nach einem weiteren Knall landete diese Coladose direkt vor Ryans Füßen, gefolgt von einem jungen Mädchen. Ryan sah sie nicht weiter an und wollte gerade an ihr vorbei gehen, da sagte sie zu ihm: „Hi, wie geht´s? Lust was trinken zu gehen?“ Ryan ging weiter. „He, warte doch einen Moment. Ich tu dir auch nichts“. Sie lief ihm hinterher und stellte sich ihm direkt in den Weg, so das Ryan fast gegen sie gelaufen wäre. „Bitte, bleibt noch eine Weile bei mir. Ja? Ich wohne hier in der Gegend und bin abgehauen. So alleine hab ich Angst. Du siehst nett aus und hier ist niemand weit und breit“. Ryan schwieg. Er wusste nicht was er darauf sagen sollte. Er fragte sich wie dieses Mädchen nur so naiv sein musste um mitten in der Nacht einen fremden Jungen anzusprechen. „Geh wieder nach Hause“, sagte er. „Ich hab mich vorhin übel mit meiner Mutter gestritten, ich kann nicht nach Hause. Kann ich ein bisschen bei dir bleiben?“ Ihre Stimme bebte leicht. Was Ryan dazu brachte das es sich tatsächlich überlegte eine Weile bei ihr zu bleiben. „Meinetwegen“. Das Mädchen schmunzelte. „Danke. Ich bin Lexa“. Sie hielt ihm ihre Hand hin. Da bemerkte er, dass sie eine Flasche Wodka in ihrer linken Hand hielt. „Die hab ich meiner Mutter abgenommen“. Kurze Zeit später saßen die zwei nebeneinander auf einer Bank, die auf einem kleinen begrünten Platz, indessen Mitte ein Brunnen mit einer Statur darauf. Lexa seufzte: „Sie hat mich angeschrien und beschimpft. Sonst ist sie sehr lieb, aber wenn sie trinkt ist sie ein anderer Mensch. Ich weiß nicht was ich tun soll. Ich will nicht, dass sie trinkt. Sie ist so traurig“. Sie ließ den Kopf hängen und verkrampfte die Hände, die auf ihren Knien lagen. Dann sah sie zu Ryan, der neben ihr saß und ließ sich an seine Schulter fallen. Plötzlich sprang er auf. Lexa war so überrascht von seiner Reaktion, dass sie sich beinahe hingelegt hätte, weil auf einmal niemand mehr neben ihr saß. Worauf sie Ryan mit einer Mischung aus Entsetzen und Trauer anschaute. Er war genauso überrascht wie sie, von seiner heftigen Reaktion. Doch als er die Tränen ins Lexas Augen sah flüsterte er: „tut mir leid“, und setzte sich wieder neben sie. Lexa machte keinen Versuch mehr sich an ihn zu lehnen. Sie beruhigte sich bald wieder und wischte sich die Tränen mit ihrem Ärmel weg. „Das hier ist einer meiner Lieblingsplätze“, sagte sie schließlich. In ihrer Stimme war keine Spur mehr von Trauer zu hören. „Früher bin ich oft mit meiner Mutter hier gewesen. Damals hat sie noch nicht jeden Tag getrunken. Sie hasste sogar Leute die sich immerzu betranken. Und jetzt macht sie es selbst. Kannst du verstehen wie ich mich dabei fühle? Ich will schon gar nicht mehr nachhause. Weil ich weiß, dass wenn ich durch die Haustür komme, sie wieder sturzbetrunken auf dem Sofa lieg. Dann muss ich mich wieder um sie kümmern. Ich fühl mich beinahe als wäre sie das Kind. Aber heute reicht´s mir, ich gehe nicht nachhause. Soll sie sehen wie sie zurechtkommt. Die blöde Kuh“. Sie trank einen Schluck aus der Wodkaflasche die sie bereits geöffnet hatte. „Kannst du auch mal die Klappe halten?“, schrie er sie plötzlich an. Ihre feinen Augenbrauen zogen sich zusammen. „Jaja, sorry, dass ich meinen Frust loswerden will“. „Das ist echt widerlich wie du über deine Mutter redest“. „Ach findest du? Sie hat´s aber verdient. Sie ist doch Schuld dran, dass ich nachts nicht mehr zuhause bleiben kann. Was soll denn aus mir werden wenn sie so weiter macht? Sieh nur“. Sie hielt die Flasche demonstrativ hoch. „Ich fang auch schon an zu saufen. Nein, so eine Mutter kann mir gestohlen bleiben. Die blöde Kuh“. Ryan konnte dieses Gejammer nicht mehr hören. „Du sollst die Klappe halten“. Lexa war total perplex. „Was ist denn auf einmal mit dir los?“ Leicht schlug sie ihn mit der Faust auf den Arm. „Es reicht“. Er sah Lexa bedrohlich an. „Du bist hier die blöde Kuh, kapiert?“ Das Mädchen schaute ziemlich unsicher drein und rückte ein Stück weg von Ryan. „Wie bist du denn drauf? Aber sonst geht’s noch, heh?“ Vorsichtshalber stand sie auf, streckte das Kinn leicht hoch und bemühte sich selbstbewusst auszusehen. „Sei lieber still! Du weißt doch gar nichts. Ich sag was ich will und über wenn ich will, klar?“ Ryan war so eiskalt, so dass Lexa wieder unsicherer wurde. Dieser Typ konnte einen wirklich so ansehen das man Angst bekam, dachte sie. „Willst du dich mit mir anlegen, oder was?“ Anstatt auf sie einzugehen, stand Ryan ebenfalls auf: „Ich hau ab. Wer will schon mit einer wie dir zusammen sein“. Mit diesen Worten drehte er sich um und ging. „Hey, was soll das? Kannst mich hier doch nicht alleine stehen lassen“. Kurzerhand lief sie ihm nach. „Warte, ich wollte dich nicht ärgern“. Als sie neben ihm lief und sagte: „Jetzt bleib doch mal stehen. Ich will mit dir reden“, und er stur weiter ging, ohne sie zu beachten, hielt sie ihm am Arm fest. Schneller als sie reagieren konnte zog er seinen Arm hastig aus ihrem Griff. Lexa verlor das Gleichgewicht und stolperte nach hinten. Glas zersplitterte. Ryan wollte sie noch fest halten, doch da saß sie schon auf dem kalten Boden und verzog das Gesicht. „DU ARSCHLOCH“, schrie sie. „Du hast sie doch nicht alle“. Schwankend versuchte sie wieder auf die Beine zu kommen und rieb sich mit einer Hand den schmerzenden Po. „Dann hau doch ab. Ich will dich nicht mehr sehen“. Ryan stand wie gelähmt da und beobachtete sie, wie sie sich mit dem Handrücken über die Augen strich und dies einen dunklen Streifen hinterließ. Sie schaute erschrocken aus ihre Hand. Blut lief von ihrer Handfläche. „FUCK“, schrie sie und schaute zu Boden. Die Scherben der Wodkaflasche lagen überall um sie verteilt. Sie atmete stoßweise. Ryan trat zögerlich einen Schritt auf sich zu, zog ein Taschentuch aus der Hosentasche und wollte gerade ihre Hand nehmen. KLATSCH. Ryan strauchelte, als Lexa ihn mit voller Wucht eine scheuerte. „Bleib ja weg von mir. Ich hab dir gar nichts getan. Gehst du so auch mit deinen Freunden um?“ Ihre Stimme zitterte. „Aber wahrscheinlich hast du keine. So wie du drauf bist. Du Freak“. Ryan rührte sich nicht. Er wusste nicht was er sagen oder machen sollte. Lexa holte tief Luft und schrie: „HAU AB“. Dann herrschte bedrückende Stille, in der sich die beiden nur anstarrten. Lexa gab einen fauchenden Laut von sich, als sie sich brodelnd vor Wut umdrehte und mit großen Schritten davon eilte. Ryan blieb zurück und schaute ihr nach, bis sie am Ende der Straße um die Ecke ging und aus seinem Blickfeld verschwand. Ryan fühlte sich mit einem mal schmerzlich einsam. Als er sich über die pochende Wange strich färbte Lexas Blut seine Fingerspitzen rot. Mit dem Ärmel seiner Jacke wischte er sich das Blut von der Wange und setzte seine Kapuze wieder auf, die ihm wegen der Wucht des Schlages runtergerutscht war. Die Nacht kam ihm mit einem mal dunkler und kälter vor. Er war wiedermal alleine und das war seine eigene Schuld. Doch statt es sich einzugestehen wisperte er nur „Blöde Mädchen“. Wie traumatisiert wanderte er durch die Straßen. Schaute zu Boden und versuchte an nichts zu denken. Als er aufblickte kam ihm die Gegend sehr vertraut vor. Er war in einer kleinen Gasse gelandet. An dessen Seiten sich kleine verwinkelte Gärten und Hinterhöfe aneinanderreihten. Aus einem der Gärten kam ein pechschwarzer Kater geschlichen, der gemächlich auf Ryan zu getapst kam und ohne Scheu seinen kleinen Kopf an seinem Bein rieb. Ryan ging in die Hocke und streichelte dem Tier sanft über den Rücken. Dabei gab der Kater ein angenehmes Schnurren von sich. Als Ryan sich wieder erhob und weiter ging, folge ihm der Schwarze. Er kam an ein Gartentor, das schief in den Angeln hing. Beim Öffnen quietschte es schrill. Der Kater machte einen Buckel. Der Garten war verwahrlost, genauso wie das dazugehörige Haus, das langsam in sich zusammen zu brechen schien. Sachte schloss Ryan das Türchen hinter sich, betrachtete die eine Stelle am Zaun direkt daneben, ließ sich auf das Gras fallen und zog die Beine ganz dicht an den Körper. Der Kater verschwand schnell, als er von weitem das Gebell eines Hundes hörte. Geschickt sprang er auf den morschen Holzzaun, balancierte darauf ein Stückweit und sprang dann elegant davon. Ryan war schon einmal an diesem Ort. Genau an der gleichen Stelle hat er damals gehockt und geweint. Er konnte sich noch gut an diesen Tag erinnern. Es war nämlich der Tag an dem Chris ihn das erste Mal umarmt hatte. Damals floh Ryan in dieses Versteck, wann immer er alleine sein wollte. Dann setzte er sich hier in den verlassenen Garten, der ihm schon seit Kindesalter wie ein unauffindbarer Zufluchtsort erschien. Von dem Zeitpunkt an als seine Mutter auszog, weil sie es nicht mehr mit seinem Vater ertragen konnte, flüchtete Ryan fast jeden Tag dorthin. So auch an jenem Nachmittag als sein Freund Vincent zusammen mit Chris, den er erst kennen gelernt hatte, zu ihm in sein Zimmer kamen und mit ihm über die Geburtstagsfeier von Jessy redeten. Er wusste nicht was er von Chris halten sollte und redete nicht viel in seiner Gegenwahrt. Vincent kannte er jedoch schon lange und verstand sich gut mit ihm. Dieser kannte schon die Probleme die Ryan mit seinem Vater hatte. Ryan hörte das wütende Geschrei seines Vaters, der die Tür seines Büros aufriss und mit Sicherheit gleich in Ryans Zimmer reinplatzten würde. Für Chris musste es ziemlich übertrieben gewirkt haben, wenn nicht sogar lächerlich, als Ryan ohne Zögern die Jacken der beiden Jungs aus dem Fenster warf und Vincent hinaus kletterte. Nur Chris schien nicht zu wissen was er machen sollte. Erst nachdem Ryan ihn deutlich dazu aufgefordert hat auch aus dem Fenster zu klettern, verschwand er aus dem Zimmer. Gerade noch rechtzeitig, denn sofort stampfte sein Vater mit hochroten Stierähnlichen Gesicht in sein Zimmer und schrie ihn an. Heute konnte sich Ryan nicht mehr erinnern was er damals gesagt hatte. Sein Vater schimpfte ihn zu oft. Später kletterte Ryan ebenfalls aus dem Fenster. Die beiden Jungs waren jedoch schon längst weg. Ryan lief in sein Versteck und wünschte sich das er alleine auf der Welt sei. Doch nicht lange darauf erschien Chris am Gartentürchen, schaute ihn besorgt an und setzte sich neben ihn. Ryan konnte die Tränen nicht zurück halten. Ihm war egal was dieser blonde Junge von ihm dachte. Zu Ryans großer Überraschung versuchte er ihn zu trösten. Für Ryan war das völlig neu und er hörte nicht auf zu schluchzten. Da nahm Chris ihn in die Arme. Ryan schaute sich im Garten um, der wurde nur schwach von den entfernten Straßenlaternen beleuchtet. Er wollte auf einmal nicht mehr länger hier bleiben und verließ sein altes Versteck und lief weiter die enge Gasse entlang. Bald kam er an ein Haus das in ihm nur schlechte Erinnerung und Angst hervorrief. Es war wie ein wahrgewordener Albtraum hier vor diesen Türen zu stehen. Vor erhoben sich die Mauern des Gebäudes indem er und sein Vater Jahre lang gewohnt hatten. Ryan lief ein Schauer über den Rücken. Alles in ihm schrie danach hier nur schnell wieder zu verschwinden. Aber er hatte hier etwas zu erlegdigen. Er stand am Hintereingang und wusste das abgeschlossen war. Wahrscheinlich hatte seit Monaten niemand mehr einen Fuß über diese Schwelle gesetzt. Doch statt zu versuchen durch die Tür reinzukommen, nahm Ryan gleich den Weg über den Abstellschuppen, auf den er leicht hinaufklettern konnte. Erst befürchtete, dass die alte Regentonne, auf die er sich stellte, nach all der Zeit unter ihm zusammenbrechen konnte, doch sie hielt stand und Ryan hatte keine Probleme auf das Dach zu kommen. Von dort aus ging er zu der Stelle unter dem Fenster seines alten Zimmers. Viele Male stand er in der Vergangenheit hier und überlegte sich ob er überhaupt jemals wieder dieses Haus betreten sollte. Doch jetzt wusste er, dass sich niemand dort drinnen befand. Das machte es für ihn jedoch nicht viel einfach sich zu überwinden hinein zu gehen. Er griff hinauf zum Rahmen des Fensters. Der war schon lange kaputt gewesen. So dass sich das Fenster nie richtig schließen ließ. Er stieß dagegen und tatsächlich öffnete es sich. Nun musste er sich nur noch an der knapp eineinhalb Meter hohen Außenmauer hochziehen. Mit beiden Händen hielt er sich am Simms fest und wollte sich gerade mit Schwung hochziehen, als sich ein starker Schmerz in seiner rechten Schulter meldete. Ryan rutschte mit einer Hand ab und fiel hart auf das Betondach. Keuchend lag er auf der Seite und setzte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf. Gepeinigt hielt er sich die rechte Schulter. „Verdammt“, fluchte er und wartete bis der Schmerz nachließ. Daniels Schmetterball hatte ihn doch schwerer getroffen als er dachte. Das unangenehme Pochen ließ nur langsam nach, beide Hände hatte er sich aufgeschürft. Blutige Kratzer zogen sich über seine Handballen und Fingerspitzen. Ryan stand auf, wischte sich das Blut an seiner Hose ab, ging zum Fenster und versuchte sich noch einmal mit aller Kraft hochzuziehen, was ihm wieder Schmerzen in der Schulter und nun auch an den Handflaschen bescherte. Doch er schaffte es und hockte nun auf den Fenstersims, von wo er sich mehr ungeschickt als elegant ins Zimmer plumpsen ließ. Einen Augenblick blieb er auf dem Boden liegen und atmete tief ein und aus, was ihn wegen des Staubs zum Husten brachte. Er fühlte sich elend und machte sich nicht einmal die Mühe aufzustehen. Auf Knien kroch zur Zimmerecke, dort wo sein Schreibtisch gestanden hatte. Aus seiner Jackentasche kramte er das Handy heraus und leuchtete damit auf die Tapete, die sich in der Ecke von der Wand löste. Vorsichtig entfernte er ein Stück von der Tapete, dabei hinterließen seine Fingerspitzen feine rote Spuren auf dem vergilbten Papier. Dahinter erschien der Zipfel eines Fotos. Er zog es sachte heraus, beleuchtete es mit dem Handy und schaute es lange an. Darauf war eine junge Frau zu sehen. Sie hatte glänzendes schwarzes Haar und dunkle ausdruckstarke Augen. Auf ihren blassen Wangen zeigte sich ein rosiger Schimmer und ihre schmalen Lippen waren zu einen sanftmütigen Lächeln geformt. Ryan kamen bei ihrem Anblick Tränen in die Augen. Er lehnte sich an die Wand ruhte sich aus. Die Zeit verging. Neben sich strich er über den staubigen Holzboden. An einer Stellte war ein kleines Loch und die Diele hob sich ein wenig von den anderen ab. Er setzte sich auf Knie und stich über den schmalen Schlitz der sich zwischen den Brätern aufgetan hatte. Mit den Fingernägeln versuchte er die Diele hochzuziehen. Diese gab ein paar Zentimeter nach. Darunter lag etwas und er zog es heraus. Und hielt eine Lederhülle in der Hand in der ein gut zwanzig Zentimeter langes Messer mit hellbraunem Griff steckte. Seine Hand schloss sich so fest um den Griff das seine Fingerknöchel weis hervortraten. Er schaute zur Zimmertür. War sie verschlossen? Er stütze sich an der Wand ab als er aufstand und ging zur Tür. Er drückte den Türgriff hinunter und überraschenderweise ging sie auf. Dahinter erstreckte sich ein langer Flur, den er früher immer langrennen musste um von der Haustür in sein Zimmer zu kommen. Jetzt ging er ihn mit langsamen Schritten entlang. Am anderen Ende der Eingangshalle, indem er jetzt stand war das Büro seines Vaters. Wieder lief ihm ein Schauer über den Rücken. Seine Schritte schienen durch das ganze leere Gebäude zu schallen. Bis er vor der massiven Bürotür stehen blieb. Mit Abscheu berührte er zögerlich den Türgriff und öffnete die Tür einen Spalt weit. Von Innen kam ihm der bekannte Geruch von Holz und alten Büchern entgegen. Ryan riss sich zusammen und betrat den großen leeren Raum. Er hatte das Gefühl, als würde sein Vater jeden Augenblick hereinkommen um ihn tobend wieder hinauszuwerfen. Doch nichts mehr befand sich in dem Raum. Nur der ekelerregende Geruch seines starken Rasierwassers schien noch immer in der Luft zu hängen. Ryan durchquerte den Raum, der nur durch das Licht des Handys erhellt wurde. Er ging zur Wand, vor der früher ein protziger Schreibtisch stand, zog das Messer aus der Hülle und stach damit so fest auf die Wand ein, dass seine Hand beinahe die Klinge streifte. „Verdammter Mistkerl“, fluchte er. Von oben bis zum Boden zerschnitt er die Tapete. Wieder und wieder stach er auf sie ein. Bis schließlich die Furchen das Wort „HATE“, bildeten. Kapitel 7: Vergessen und vergraben ---------------------------------- Chris Mit einem Schrecken wachte ich auf. Einige Sekunden traute ich mich nicht zu bewegen uns lag steif in meinem Bett. Ich spürte wie der Angstschweiß über meine Stirn lief. Trotz der warmen Decke wurde mir kalt. „Chris, Zeit zum Aufstehen“, rief Maria fröhlich und kam in mein Zimmer. „Bist du krank?“, fragte sie, als ich mich träge aus dem Bett mühte. Auch während des Frühstücks ließen mich die Bilder aus meinem Traum nicht los. Ich sah Ryan immer wieder vor mir, wie er sich immer weiter und weiter von mir entfernte und bald unerreichbar für mich war. Während des Unterrichts ging es mir nicht besser. Ich hatte ein ungutes Gefühl. Genau konnte ich mich an den Albtraum nicht erinnern, aber ich wusste das Ryan darin vorkam. Deswegen kümmerte es mich nicht dass Steffen mir den ganzen Tag über mörderische Blicke zuwarf. Ich könnte schwören, dass er auf eine Gelegenheit wartete mir den Schlag in den Magen heim zu zahlen. Daran hindern tat ihn wohl nur die ständige Anwesenheit von Jenny, die ihn wie ein Aufseher beobachtete. Nach der Schule wollte ich Ryan anrufen. Ich wählte seine Nummer und wartete bis er abnahm. Aber das passierte nicht, was mein ungutes Gefühl nur noch verstärkte. Langsam bekam ich Angst. Obwohl ich dazu eigentlich doch noch keinen Grund hatte. Ich wusste doch gar nicht was genau los war. Vielleicht hatte Ryan sein Handy einfach nur irgendwo liegen gelassen. Es war der reinste Blödsinn, dass ich mir wegen nichts solche Sorgen machte. Mit mir ging mal wieder die Fantasie durch. Beim Mittagessen bekam ich kaum einen Bissen runter. “Was ist denn mit dir los?”, fragte meine Mutter verwundert. “Ich hab keinen Hunger”. Ich stand auf und ging ohne ein weiteres Wort in mein Zimmer. Dann fiel mir etwas ein. Ich nahm mein Handy und rief Jessy an. Sie nahm gleich ab. “Hi, ich bins. Sag mal, hast du Ryan schon angerufen?” Aber leider hatte sie auch nichts Neues von Ryan gehört. Sie bemerkte natürlich das ich mir Sorgen machte und sagte: „Mach dir bloß keinen Kopf! Wenn du ihn später noch einmal anrufst geht er sicher dran. Also mach es gut!” Sie legte auf. Ich setzte mich an den Schreibtisch und versuchte Hausaufgaben zu erledigen. Als ich damit fertig war, wusste ich nicht was ich noch machen sollte. Also lernte ich weiter, was bei mir eher selten vorkam. Als ich auf die Uhr sah waren gerade mal drei Stunden vorbei. Dann kam meine Mutter herein und stellte zufrieden fest, dass ich immer noch lernte. Sie freute sich darüber und sagte dass das Abendessen fertig war. Ich ging in die Küche und setzte mich an den gedeckten Tisch. Zurück in meinem Zimmer griff ich zum Handy. Jetzt war genug Zeit vergangen. Ich wählte die Nummer und hörte es klingeln. Ich merkte wie mein Herz mit jeder Sekunde schneller schlug. Doch ich wurde abermals enttäuscht. Ryan ging nicht dran. “Was soll das?” Ich hatte ihm doch gesagt er soll sein Handy immer dabei und eingeschaltet haben. „Warum zum Teufel geht er nicht dran?“ Nachdem ich noch ein wenig gelernt hatte, aber mich kaum noch darauf konzentrieren konnte, gab ich es auf. Also ging ich ins Wohnzimmer, wo mein Vater und Maria auf der Couch saßen und sich einen Film ansahen. Ich setzte mich zu ihnen, konnte dem Film aber kaum folgen. “Was ist denn mit dir los?”, fragte mein Vater. “Gar nichts”, antwortete ich schnell. Wahrscheinlich zu schnell denn er schaute misstrauisch. “Und wieso zappelst du so rum?” “Zuviel Zucker, was denn sonst”, kicherte Maria. Als es schon längst dunkel war versuchte ich noch einmal ihn zu erreichen. Doch diesmal klingelte es nicht einmal. Ryan hatte sein Handy ausgeschaltet. „Verdammt, was soll das jetzt?“ Ich lief im Zimmer auf und ab wie ein Irrer. „Okay, beruhig dich. Was wäre eine logische Antwort für das alles? Vielleicht ist sein Akku einfach nur leer und er hat das Handy irgendwo liegen gelassen“. Ich blieb abrupt stehen und hoffte die Antwort gefunden zu haben. „Ja, das muss es sein. Aber wieso zum Henker ist er um die Zeit nicht zu erreichen?“ Entnervt raufte ich mir die Haare. „Wenn er doch nur endlich mal anrufen würde“. Doch plötzlich fiel mir etwas ein. Hatte Vincent Ryan nicht damals zur Schule gefahren? Also musste er die Adresse haben. “Ich Dummkopf”. Wieso bin ich nicht früher darauf gekommen? Ich wählte Vincents Nummer und wartete ab. Es dauerte etwas aber dann nahm, er ab. Er klang verschlafen als er sagte: “Was soll das? Hast du eine Ahnung wie spät es ist?” “Wo ist die Schule?” “Was?” “Die Schule auf die Ryan geht. Du hast ihn doch hingefahren”. Er schwieg einen Moment. “Wieso willst das so plötzlich wissen”. “Einfach so”. „Dann frag mich morgen nochmal! So spät kann ich nicht mehr denken. Gute Nacht“. „Hey, warte! Ich muss es jetzt wissen“. Wieder wurde es still. “Ist was passiert?” “Sag mir einfach die Adresse!” Vincent schwieg wieder. Ich wurde ungeduldig. “Sag sie mir einfach! Ryan geht nicht an sein Handy”. “Ja, und?” es klang als wäre es ihm egal. “Das ist doch nicht das erste Mal”. “Ich habe ihn lange nicht mehr gesehen oder gesprochen und ein ungutes Gefühl deswegen. Jetzt mach ich mir Sorgen. Ist das nicht verständlich?” “Du musst dir doch keine Sorgen machen! Ryan kann auf sich selbst aufpassen”. Ich konnte nicht abstreiten, dass Vincent damit irgendwie Recht hatte. “Das sagst du so einfach. Ich hab aber ein ungutes Gefühl”. “Das bildest du dir ein. Sei vernünftig!” “Was soll das heißen? Ich bin vernünftig”, protestierte ich. “Und was gedenkst du zu tun, wenn ich dir die Adresse gebe? Lass mich raten! Du gehst sofort dorthin. Du suchst die ganze Schule nach ihm ab und machst einen gigantischen Aufstand. Nicht wahr?” “Wieso sagst du das? Das weist du doch gar nicht. Ich will einfach nur wissen wo er ist”. “Ich sage das weil ich dich kenne. Man kann sich denken dass du etwas Voreiliges tust, egal wie dumm das wäre. Beruhig dich und geh ins Bett! Du kannst jetzt nichts tun, geschweige denn aufs Schulgelände kommen“. “Vergiss es”, schrie ich fast so laut das ich Angst hatte meine Eltern geweckt zu haben. “Na gut. Wenn es dich beruhigt, dann fahr ich gleich morgenfrüh zu ihm und schau wie es ihm geht. Zufrieden?” “Nein. Ich…” “Machs gut, Chris. Geh ins Bett!” Er legte auf. Ich schmiss das Handy aufs Bett. “Was soll das? Die halten mich alle für verrückt”. Ich wählte zum wiederholten Mal Ryans Nummer. Es klingelte und klingelte und nichts geschah. Doch plötzlich stoppte das klingeln, ohne das der Anrufbeantworter dran ging. Ich hörte schwache Hintergrundgeräusche und ein leises Rascheln. “Ryan?” Er antwortete nicht. Doch ich war so froh, dass er dran gegangen war. “Wo bist du? Geht es dir gut?” Es blieb still. Ein lautes Rauschen war zu hören. “Wo bist du? Sag es mir bitte!” Erst herrschte Stille. Nur das Rauschen war zu hören. Dann ganz leise, eine schwache Stimme: “Auf dem Friedhof”. Ich rannte so schnell ich konnte. Der Weg kam mir unendlich lang vor. Dann kam ich zum Friedhof. Bei dessen Anblick beschlich mich ein mulmiges Gefühl. Ich wollte durch das Tor, doch ich musste feststellen, dass es fest verschlossen war. Hastig schaute ich mich nach einem anderen Weg um. Durch die Gitterstäbe kam ich nicht durch. Ich würde mit Sicherheit stecken bleiben. Ich lief an der Mauer entlang die mir knapp bis zur Brust ging. Ich hatte den Friedhof schon zur Hälfte umrandet, als ich eine Stelle sah, an der die Mauer halb eingefallen war. Einzelne Steine hatten sich gelöst und ich kam halbwegs gut durch die schmale Kluft hindurch. Es war stockfinster auf dem Friedhof. Alles war nur schemenhaft zu erkennen. Der Mond schien gerade mal hell genug, so dass man noch ein wenig sah wo man hintrat. Trotzdem musste ich aufpassen, dass ich nicht auf ein Grab trat, oder über einen Grabstein stolperte. Ich kam mir vor, als würde ich durch ein Mienenfeld laufen. Mir lief es eiskalt den Rücken hinunter. Ein Ast knackte irgendwo. „Verdammt, ist das unheimlich hier“. Ich sah mich um und versuchte irgendwo auf diesem riesigen Gelände einen noch lebenden Menschen zu finden. Die schwarzen Bäume, die rund um den Friedhof standen und deren Blätter im Wind raschelten, verstärkten die Angst hier auf einen Geistertreffpunkt zu sein nur noch mehr. Ich erschrak sogar vor dem Geräusch meiner eigenen Schritte auf dem Kiesweg. “Ryan!”, rief ich leise in die Nacht. Plötzlich nahm ich eine schwache Bewegung neben mir wahr. Vor Schreck blieb mir fast das Herz stehen. Ich schaute in zwei leuchtend gelbe Augen. Ich wusste im ersten Moment gar nicht was das war. Bis der Schatten mit einem leisen Mauzen davon huschte. “Verdammt, wo bist du?“, rief ich bibbernd. Ich schlich ein Stück weiter. Und dann sah ich etwas. Etwas auf dem Kiesweg das nicht dorthin gehörte. Eine kleine Gestalt die dort hockte wie ein Wasserspeier. So schnell es ging lief ich vorsichtig zu ihm. Jetzt wo er so nahe war erkannte ich ihn ganz deutlich. Er hatte seine schwarze Jacke an und hatte die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, so dass man ihn in der Dunkelheit kaum von den Grabsteinen auseinander halten konnte. “Ryan, was machst du hier?” Ich hockte mich neben ihn. „Ich bin froh, dass ich dich endlich gefunden habe. Nachts ist es verdammt gruselig hier“. Obwohl es nicht zu Situation passte musste ich lächeln, so erleichtert war ich das ich ihn gefunden hatte. Am liebsten hätte ich ihn in die Arme genommen. Ryan sah zum Sternenhimmel hinauf. Dabei fiel die Kapuze ein Stück zurück. Ich folgte seinem Blick. Eigentlich war es eine schöne Nacht. “Was machst du hier?”, fragte ich. Ryan senkte seinen Blick. “Ich wollte mich verabschieden”. Seine Stimme war so leise das sie beinahe vom Wind übertönt wurde. Ich sah ihn verwundert an. “Was meinst du damit?” “Ich habe sie hier nicht ein einziges Mal besucht“. Ich brachte keinen Ton heraus. Ich sah auf das Grab vor uns. Eine Wolke verdeckte gerade den Mond und als das Licht wieder heller wurde, erkannte ich den Grabstein seiner Mutter. Damals war ich mit Ryan zusammen auf ihrer Beerdigung. “Es tut mir so leid”, seine Stimme zitterte. “Ich wollte es nicht wahr haben. Ich dachte wenn ich zu ihr komme und mir eingestehe, dass sie mich verlassen hat, würde ich anfangen sie zu vergessen. Ich vermisse sie”. Er saß stumm dort und schaute das Grab seiner Mutter an und wirkte dabei selbst wie eine tote Person. Ryan schwankte etwas als er aufstand. Reflexartig wollte ich ihn stützen, doch er fing sich schnell wieder. „Lass und von hier weh gehen!“, sagte ich. Ryan folgte mir. „Pass auf wo du hintrittst!“ Es war lange her seit ich ihn so niedergeschlagen gesehen hatte. Ich war mir unsicher ob ich mit ihm über seine Mutter reden sollte. Denn alles was ich dazu sagen könnte kam mir unbedeutend vor. Wir quetschten uns wieder durch den schmalen Spalt in der Mauer, durch den ich reingekommen war und verließen diesen gruseligen Ort. Als wir nebeneinander zu einer S-Bahnstation gingen, kam Ryan mir schockierend kraftlos vor. Er schlenderte und ließ die Schultern hängen. Vorher, als er am Grab aus der Hocke aufstand, wäre er schon beinahe umgekippt. Jetzt sah es so aus als könne er kaum noch einen Schritt weit gehen. Ich blieb dicht neben ihm. Glücklicherweise war die Station nicht allzu weit entfernt. Es war schon sehr spät, kein Mensch war mehr unterwegs in dieser Gegend und leider fuhren auch kaum noch Bahnen. Deshalb mussten wir eine halbe Stunde warten. Ich setzte mich neben Ryan, unwissend was ich sagen sollte. Besorgt musterte ich ihn von der Seite, er sah erschöpft aus, seine Haut wirkte fahl. Die Hände hatte er zu Fäusten geballt auf den Beinen liegen. Leise sagte er: „Danke, dass du gekommen bist“. „Natürlich. Ich konnte gar nicht anders“, gab ich zu. „Aber lass bitte immer dein Handy an! Ich habe mir Sorgen gemacht“. Er reagierte nicht. „Wie lange warst du auf dem Friedhof?“ „Den ganzen Tag“, wisperte er so leise, das ich es kaum verstehen konnte. „Den ganzen Tag?“, fragte ich ungläubig. „Ganz alleine“. Schon bei dem Gedanken lief es mir eiskalt den Rücken runter. Wie hatte er das nur ausgehalten? Doch ich hatte schon an seiner Stimme gemerkt, dass er nicht weiter darüber reden wollte, und ich wechselte das Thema: „Wie gefallt es dir auf der neuen Schule?“ „Gut“ „Darf ich dich bald mal dort besuchen?“ Ich erinnerte mich daran, wie ich mit ihm auf seiner alten Schule war. Er schien sich dort ganz und gar nicht wohl gefühlt zu haben. Ängstlich war er über das Schulgelände geschlichen, ähnlich eines Hassens der direkt vor die Flinte des Jägers hoppelte. Unsicher sagte ich: „Hör mal, wenn du Probleme hast kannst du mir das sagen. Oder wenn du nicht alleine sein willst“. Mit leicht genervtem Gesichtsausdruck sah er mich an. Plötzlich bekam ich einen Schreck. Ohne groß nachzudenken, berührte ich ihn sachte an der der Wange. „Was ist das“, fragte ich besorgt. „Hast du dich verletzt?“ Hash schlug er meine Hand weg. „Das ist Nichts“. „Red doch keinen Unsinn. Erzähl mir nicht das, dass Farbe wäre. Hat dir jemand aus der Schule was getan?“ „Nein“, sagte er eindringlich. “Es ist alles okay“. Er ballte die Fäuste fester. „Bist du sauer auf mich?“ Verzögert antwortete er: „Nein, bin ich nicht“. Ein wenig erleichtert war ich darüber, aber fragte dann, eher als Scherze: „Dann magst du mich nicht mehr? Nerve ich?“ Ich erwartete keine Antwort. Für diesen Scherz erntete ich einen bösen Blick. Gerade wollte ich es anders formulieren, da sagt er: „Ja, du nervst manchmal“. Ich traute meinen Ohren nicht. Hatte Maria recht, als sie sagte das Ryan mich bald nicht mehr leiden konnte, weil ich ihn nur auf die Nerven ging? „Meinst du das ernst?“ „Du bist manchmal übertrieben fürsorglich“, gestand er. „Ich hab dir schon mal gesagt, dass ich es nicht mag, wenn du mich wie ein Kind behandelst“. Übertrieben fürsorglich? Was sollte das bedeuten? „Ich mach mir nun mal Sorgen um dich. Erst recht wenn du nicht ans Handy gehst, wenn ich doch tausendmal versuche dich zu erreichen“. „Musst du nicht. Nicht so oft“. Ich wunderte mich darüber, dass er sowas sagte. Aber ich begann zu verstehen was er meinte. Er war nicht der erste der mir das sagte. Sogleich musste ich daran denken was Steffen gesagt hatte. Ihm war es auch aufgefallen das ich mich nicht benahm wie die meisten anderen Jungs. Dass er mich ein Weichei genannt hatte, darin steckte ein Fünkchen Wahrheit. Aber ich wollte nicht das Ryan das von mir dachte. „Okay, ich werde mich in Zukunft mit meinen Sorgen zurückhalten. Versprochen“. Ryan sah mich ungläubig an. „Hey, ich kann auch ganz anders sein“, um meine Worte zu unterstreichen schlug ich ihm freundschaftlich auf die Schulter. Ryan verzog das Gesicht, als hätte ich ihm den Arm gebrochen, und hielt sich die Hand auf die rechte Schulter. „Was ist los? Hab ich dir wehgetan?“ Nun war meine Sorge begründet. Fürsorglich, wie ich es nun mal war, legte ich ihm die Hand auf die schmerzende Schulter, wobei ich seine Finger berührte. Wie vom Blitz getroffen zog Ryan seine Hand weg. „Alles in Ordnung. Es tut nicht weh“. Ich nahm meine Hand weg. „Wirklich?“ „Du bist schon wieder zu besorgt“, antwortete er. Kurz hatte ich den Eindruck, als wollte er lächeln, doch das gelang ihm nicht. Ich hielt mich zurück, was mir nicht leicht viel. Um mich auf andere Gedanken zu bringen fragte ich ihn: „Hast du Durst?“ Ich stand auf. „Ich werde uns was holen. Warte hier!“ Auf dem Weg vom Friedhof hierher, hatte ich eine Tankstelle gesehen und beschloss dort etwas zu besorgen. Eilig ließ ich davon und ließ Ryan für einen Moment alleine. An der Tankstelle nahm ich zwei Dosen Cola und zwei Schokoriegel. Draußen schaute ich auf mein Handy. Meine Mutter hatte dreimal angerufen. Mit einem riesen Donnerwetter von ihr musste ich wohl rechnen. Mit der weißen Plastiktüte in der Hand machte ich mich auf den Rückweg zur S-Bahnstation. Ryan saß immer noch dort. Ein wenig hatte ich befürchtet er wäre einfach abhauen. Ich setzte mich neben: „hier“, und reichte ihm die Cola, er nahm sie nicht. Verwundert, und auch neugierig, beugte ich mich zu ihm und musste lächeln als ich in sein friedliches Gesicht blickte. Ryan schlief tief und fest. Die Dose packte ich zurück und wollte Ryan gerade einen leichten Schups geben, so dass er sich an meiner Schulter ausruhen konnte, da fiel mir ein, dass ich ihm vorhin auf dieser Seite wehgetan hatte. Hurtig stand ich auf uns setzte mich auf die andere Seite von ihm und ließ ihn sachte auf meine Schulter sinken. Er wachte nicht einmal auf. Lange würde diese Situation leider nicht dauern. Noch einmal beugte ich mich vorsichtig vor, um mir Ryans schlafendes Gesicht anzusehen. Wieder musste ich lächeln. Er sah so friedlich aus, auch wenn das Blut auf seiner Wange, wovon ich nicht wusste woher es war, mir Sorgen bereitete. Genauso wie die Stelle an seiner Schulter. Was war nur passiert? Mein Blick senkte sich. Dabei fielen mir etwas an Ryans Händen auf. Er hatte seine Fäuste ein wenig geöffnet und nun lagen sie locker auf seinem Schoss. Neugierig strich ich mit den Fingerspitzen über seine aufgeschürften Handflächen. „Was hast du gemacht?“, wisperte ich. Die Bahn kam und ich musste ihn aufwecken. Noch schlaftrunken stieg er mit mir ein. Wir setzten uns gleich auf die erstbeste Bank und Ryan ließ wieder müde den Kopf hängen. Nach einigen Minuten sagte er: „Ich will nicht zurück!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)