Ironie von Kerstin-san ================================================================================ Kapitel 1: Ironie ----------------- „Sieh sie dir nur an. Es geht ihnen allen so unglaublich nahe.” Mycroft folgt Sherlocks Blick zu einer trauernden Familie, die sich in der Pathologie versammelt hat. „Fragst du dich je, ob irgendwas mit uns nicht stimmt?“ Sherlock gelingt das Kunststück zuerst verächtlich und mit dem nächsten Atemzug aufrichtig neugierig zu klingen. Aber Mycroft wäre nicht Mycroft, wenn er nicht in der Lage wäre, die unterschwellige Besorgnis in seiner Stimme zu erkennen. Es scheint, als würde sein Bruder wirklich eine ernsthafte Antwort von ihm erwarten. Das kommt nur äußerst selten vor. Mycroft weiß, dass sie beide sich vom Großteil der Menschheit unterscheiden. Ihm ist auch bewusst, dass Sherlock das weiß und nicht wirklich eine Bestätigung dafür braucht. Trotzdem scheint der Gedanke seinen kleinen Bruder in gewisser Weise zu beunruhigen. Mycroft ist sich auch darüber im Klaren, dass zwischen Sherlock und Irene Adler eine gewisse Verbindung bestanden haben muss. Welcher Art auch immer diese gewesen sein mag. Er weiß auch, dass sein kleiner Bruder, entgegen seiner abschätzigen Worte, sehr wohl betroffen ist. Nicht in dem Ausmaß wie die trauernde Familie selbstverständlich, aber doch so bewegt, dass er diese Schwäche seinem Bruder gegenüber durchscheinen lässt. Etwas, was er sonst, soweit es irgendwie möglich ist, vermeidet. Emotional verstrickt, schießt es Mycroft durch den Kopf. Seine Antwort kommt ganz automatisch und er kann nicht verhindern, dass sie wie eine Belehrung klingt. Obwohl er das eigentlich gar nicht will. „Alles Leben endet. Alle Herzen werden gebrochen. Sich zu kümmern bringt keinen Vorteil, Sherlock.“ Noch während er diese Worte ausspricht, wird ihm die Ironie darin bewusst. Sherlock bemerkt es nicht. Natürlich tut er das nicht. Sein kleiner Bruder schweigt und nimmt stattdessen einen weiteren Zug von seiner Zigarette. Der Light-Zigarette, wie er daraufhin so treffend bemerkt. Wie üblich hat Sherlock die Worte seines Bruders nur als Kritik an ihm verstanden und sofort das Thema gewechselt. Wie eine Auster, die wieder zuklappt. Kleiner Bruder, denkt Mycroft, wenn du nur wüsstest. Aber Sherlock weiß es nicht. So genial sein Verstand auch sonst ist, Dinge, die ihre seltsame geschwisterliche Beziehung betreffen, scheint er nicht wahrnehmen zu können. Aber vielleicht hat Mycroft es auf diesem Gebiet auch einfach nur zur Perfektion gebracht. Ist perfekt darin geworden, jedweden Anflug von Sorge zu kaschieren. Sie vollkommen zu verbergen. Sie in Spott, Zurechtweisung oder Tadel einzubetten. So perfekt, dass nicht einmal Sherlock Holmes in der Lage ist, den Ursprung zu ergründen. Also zieht er sich wieder vollkommen in die Rolle des überlegenen, überheblichen, älteren Bruders zurück. „Na ja, du hast sie doch kaum gekannt.“ Und das ist etwas, was ihn wirklich verwundert hat. Es ist nicht typisch für Sherlock, innerhalb einer so kurzen Zeitspanne, eine Beziehung zu jemandem aufzubauen. Nicht das Sherlock insgesamt gesehen überhaupt viele Beziehungen hätte. Die kann man an einer Hand abzählen. Und doch... Was ihn hingegen überhaupt nicht verwundert, ist, dass Sherlock nach dieser Aussage abrupt ihr Gespräch beendet und verschwindet. Er hat nichts anderes erwartet. Ohne wirklich darüber nachzudenken, hat Mycroft bereits sein Handy in der Hand, um John Watson anzurufen und ihn zu instruieren. Noch so jemand, der sich um seinen kleinen Bruder sorgt. Denn Mycroft würde es gerne abstreiten, aber welchen Zweck hätte es schon, sich selbst etwas vorzumachen, wenn man es doch besser weiß? Fakt ist nun einmal, dass er sich um niemanden mehr sorgt, als um Sherlock. Auch wenn das ganz sicher nicht von Vorteil ist. Wie gesagt, ironisch. Ironisch, dass er Sherlock Ratschläge erteilt, an die er sich selbst nicht halten kann. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)