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Kampf gegen die Ewigkeit

von

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Prolog

Prolog
 

Der dunkle steinerne Raum dämmerte in einem blutigen Rot dahin. Die Lichtquelle bildete eine Feuerstelle, von der aus ein seltsames phosphoreszierendes Licht ausging. Allein dieses Licht durchflutete den Raum und ließ es in einer dämonischen Atmosphäre erstrahlen. Würde ein Mensch jemals diesen Ort betreten, so würde er vor Angst zusammen zittern wie ein kleines Würmchen. Doch kein Mensch wusste, wo sich dieser Raum befand. Dieser Ort war ja auch nicht für Menschen gedacht.

Ruhig saß Graf Breda von Krolock auf einem der steinernen Stühle, die um einen großen schwarzen Tisch aufgestellt waren. Außen mochte er ruhig erscheinen, doch innen war er mehr als nervös. Er hatte wahrlich keine Ahnung, was nun folgen würde. Alles in ihm war angespannt, und auf das schlimmste gefasst.

"Also dann", sagte die ruhige Stimme vor ihm; "Erkläre es mir doch einmal ganz genau, Breda. Wie konnte das passieren?" Normalerweise blieb er kühl, doch diese Atmosphäre konnte selbst jemand wie er nicht überstehen, ohne ein wenig aus der Fassung zu gelangen.

"Wie schon gesagt", sagte er; "Ich weiß es nicht."

"Du weißt es nicht", sagte Graf Dracula; "Ein wenig amüsant ist diese Antwort ja schon. Immer wieder kriege ich sie zu hören. Und immer wieder frage ich mich, warum diese Antwort so berühmt ist. Ich kenne dich inzwischen gut genug, Breda. Und deshalb weißt du doch ganz genau, dass mich so eine Antwort nicht zufrieden stellen wird." Er setzte sich ihm gegenüber, und blickte ihn aus seinen rot glühenden Augen unverwandt an.

"Also, ich frage dich noch einmal, Breda: Wie kann es dazu kommen, dass drei sterbliche, einer davon ein alter Mann, ein anderer ein kleiner Hasenfuß und die andere eine hypnotisierte Jungfrau, es schaffen, sich deiner Gewalt zu entziehen, zurück ins Dorf zu entkommen, und Wind zu verbreiten?" Seine Stimme war ruhig und kalt, und das war sie immer, wenn er sehr, sehr wütend war.

"Vlad, wenn du dabei gewesen wärst-"

"Dann was? Hätte ich etwa mit ansehen können, wie ein VERDAMMTER VAMPIRFÜRST ES SCHAFFT DREI KLEINE WÜRMER ENTKOMMEN ZU LASSEN?" Er hämmerte mit der Faust auf den Tisch, der unter dieser Stärker erzitterte. Er atmete tief durch, und beruhigte sich wieder.

"Sie hatten mehr Wissen über uns, als irgendwer sonst", sagte Breda; "Ich konnte doch nicht ahnen, dass sie genau wissen, wie man uns abwehrt."

"Ach, konntest du nicht? Das ist aber bedauerlich. Aber darf ich dir in Erinnerung rufen, dass genau DAS das Problem ist? Je mehr sie wissen, desto gefährlicher wird es für uns!"

"Was können sie gegen uns ausrichten?"

"Zum Beispiel unsere Verstecke bei Tag ausfindig machen, DAS können sie gegen uns ausrichten!"

"Vlad, beruhige dich", sagte eine Stimme. Die Frau, die bis jetzt die ganze Zeit im Schatten gestanden hatte, trat hervor, und nahm gebieterisch Platz.

"Es tut mir leid, Erzsébet, aber das fällt mir in dieser Situation sehr, sehr schwer", knirschte er.

"Ja, Breda hat einen Fehler gemacht", sagte sie; "Aber passiert das nicht jedem von uns? Hatten wir nicht auch schon mal Situationen, in denen wir einfach einen Fehler gemacht haben? Ich könnte dir so einige aus deiner Vergangenheit auflisten." Dracula blitzte mit den Augen.

"Aber ist dir denn nicht klar, was das bedeutet?" fragte er; "Es bedeutet, dass die Menschen von uns nun mehr denn je wissen werden, mehr denn je! Drei sterbliche auf einmal sind entkommen, verdammt! Sie wissen alles über uns, und DER DA!" Er zeigte anklagend auf Breda; "Hat zugelassen, dass sie entkommen!"

"Dann werden wir uns eben zu schützen wissen", sagte Erzsébet; "Es sind schließlich trotz allem nur Menschen."

"Die im Gegensatz zu uns keine Sonnenempfindlichkeit haben. Ich muss mir darüber zwar keine Sorgen machen, aber ihr?"

"Aber dafür haben wir die Kräfte der Nacht zu unseren Diensten. Und unsere Grüfte liegen gut genug versteckt."

"Wie konnte es dann sein, dass SEINE gefunden wurde?"

"Sie mussten Hilfe gehabt haben", sagte Breda; "Alleine hätten sie dort nie hinkommen können."

"PAH! Das ich nicht lache", entgegnete Dracula; "Du WILLST nicht zugeben, dass das ganze hier alleine deine Schuld ist. Überlege dir einmal, was das für Konsequenzen hat! Die Vampirjäger, allen voran Van Helsing, haben doch geradezu auf so eine Chance gewartet! Sie werden ALLES tun, um uns auszulöschen!" Breda schwieg. Das war wirklich eine schöne Situation, in die er sich da reingebracht hatte. Warum zum Teufel war er nicht vorsichtiger gewesen? Sarah hatte seine ganze Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Er hatte nur noch Augen für sie gehabt. Und ehe er es sich versah, stand da dieses riesige Kreuz. Er hatte es nicht einmal geschafft, dieses Mädchen zu beißen.

"Schön", sagte er; "Ich habe einen Fehler gemacht. Das ist aber Vergangenheit, und kann nicht geändert werden. Aber was machen wir jetzt?"

"Wir werden natürlich alle nötigen Vorbereitungen treffen", sagte Erzsébet; "Ich möchte jedenfalls nicht im Sonnenlicht mit einem Pfahl überrascht werden."

"Wer will das schon?" schnaubte Dracula, wurde aber sofort durch einen stählernen Blick der Gräfin Báthory zum Schweigen gebracht. Auch wenn er viel älter als sie war, so war sie doch genauso bedrohlich, wie er.

"Noch hat sich das ganze ja noch nicht weit verbreitet", sagte Breda; "Noch gibt es eine Chance, das ganze einzudämmen."

"Was meinst du?" fragte Dracula.

"Ich meine, wenn wir die Mitwisser so schnell wie möglich aus dem Weg räumen, BEVOR sie etwas an die gesamte Welt verbreiten können, dann gibt es noch eine Chance." Dracula runzelte die Stirn. Erzsébet nickte nur.

"Soweit ich weiß, ist es direkt unter deinem Schloss, Breda, dieses Dorf meine ich."

"So ist es. Eine schnelle Attacke in der Nacht, und wir brauchen uns keine Sorgen mehr zu machen."

"Wenn es dafür nicht schon längst zu spät ist", sagte Dracula.

"Versuchen müssen wir es wenigstens", sagte Breda.

"DU versuchst es, wenigstens, meinst du wohl." Er rollte mit den Augen.

"Ja, ich versuche es. Schon gut. Doch, angenommen, es verbreitet sich doch weiter, was dann?"

"Dann haben wir keine andere Wahl, als ebenfalls einzugreifen", sagte Erzsébet; "Der Plan unseres Meisters ist kristallklar. Wir dürfen nichts, aber auch gar nichts fehlerhaftes zulassen. Dieser Fehler muss so schnell wie möglich aus der Welt geschafft werden."

"Sehe ich auch so", sagte Breda und fühlte sich schon viel ruhiger.

"Also gut", brummte Dracula; "FALLS es sich verbreitet."

"Ja, falls", sagte Breda.

"Ich schlage vor, du gehst jetzt zurück zu deinem Schloss, und klärst das ganze", sagte Erzsébet ruhig. Breda erhob sich langsam.

"Das werde ich", sagte er, und drehte sich um, mit einem entschlossenen Funkeln in seinen Augen.

"Und keine weiteren Fehler", sagte die Gräfin; "Du weißt ja, was der Meister ansonsten machen wird." Breda nickte. Natürlich wusste er das.

"Dann mach dich nun auf", sagte Dracula; "Und benachrichtige uns, wenn es soweit ist. Wenn entweder das, oder das andere der Fall ist." Ohne ein Wort zu sagen, ging Breda schnellen Schrittes aus dem Raum, und war einen Augenblick später verschwunden.
 

Kaum war der Graf verschwunden, blickte Dracula Erzsébet an.

"Er wird es nicht schaffen", sagte er.

"Was macht dich da so sicher?"

"SO ein kleine Fehler hätte nicht passieren dürfen. Es wirft den kompletten Plan über Bord."

"Das kann immer noch nicht recht gesagt werden. Und ich gehe jetzt zu meinem Schloss, und mache dort meine Vorbereitungen."

"Aber du sagtest doch-"

"FALLS er es nicht schafft, will ich so schnell es geht vorbereitet sein. Ich gebe es nur ungern zu, aber Menschen können recht lästig werden."

"Mach was du willst", sagte Dracula.

"Dir würde ich das im übrigen auch empfehlen, Vlad", sagte Bathory; "Du weißt ja, was letztes Mal passiert ist, als du unvorsichtig warst. Ich meine mich an ein ausgelöschtes Dorf nahe München und einen türkischen Räuber zu erinnern." Sie drehte sich um, und schien mit den Schatten zu verschmelzen, bis sie endgültig verschwunden war.

"Oh ja, das weiß ich noch zu gut", sagte Dracula grimmig. Dann erhob auch er sich. Für einen Moment schloss er die Augen und hielt still. Er zweifelte sehr daran, dass Krolock es schaffen würde, die Bedrohung einzudämmen. Wenn ihm das misslingen würde, und das würde es ganz sicher, dann würde er nicht unvorbereitet sein. Doch wenn Krolock Hilfe von ihm erwarten würde, dann konnte er ihm nur ins Gesicht spucken.

Vorbereitungen

Vorbereitungen
 

Universität von Amsterdam, 2.2.1895
 

Die kühle morgendliche Winterluft von Amsterdam rüttelte Katherine vollends wach. Sie gähnte noch ein letztes Mal, und richtete sich von der Sitzbank auf. Die Sonne schien ihr beinahe direkt ins Gesicht, worauf sie sich schnell abwandte. Ihre Wangen wurden schon ziemlich rosig von den Temperaturen her, weshalb sie ihre Winterjacke ein wenig enger um sich zog. Nachdem sie sich ihre schulterlangen, braunen Haare gerichtet hatte machte sie sich auf den Weg.

Eine leichte Morgenbriese wehte durch die Straßen, und es herrschte reges Treiben. Katherine ließ sich gerne mit den Menschenmassen treiben. Es erfüllte sie einfach mit Glück, und gab ihr das Gefühl dazuzugehören. Doch im Inneren wusste sie, dass es niemals wirklich so sein würde.

Die Universität konnte nicht weit entfernt sein. Er hatte sie ihr ausdrücklich beschrieben. Den Brief hatte sie immer noch dabei. Einfach um sich sicherzugehen, ob sie richtig war, kramte sie ihn heraus. In recht eleganter Schrift, stand dort geschrieben:
 

Liebe Katherine,
 

Ich weiß, es ist recht lange her, seit ich dich das letzte Mal kontaktiert habe, doch es gab einfach keine rechten Neuigkeiten. Bis jetzt. Die Vampirfürsten haben endlich Schwäche gezeigt. Sie haben einen Fehler gemacht, den wir uns zunutze machen sollten. Dies ist eine einmalige Gelegenheit, die dir und mir nützen würde. Warum ich ausgerechnet dir schreibe? Nun, deine Familie ist schon recht lange im Orden, und du bist eine der fähigsten die wir haben. Außerdem ist es doch eine Chance für dich, dich zu rächen und Vergeltung zu üben, für das was war. Ich erwarte dich in genau drei Tagen in der Universität von Amsterdam, du kannst sie nicht verfehlen. Sie befindet sich in der Spui 21, glaube mir. Du kannst es nicht verfehlen. Ich werde vor der Tür auf dich warten.
 

Erwartungsvoll auf deine Ankunft hoffend,
 

Gabriel Van Helsing
 

Obwohl sie es für so einfach gehalten hatte, dauerte es noch eine gute halbe Stunde, bis sie das Gebäude fand. Und sie konnte kein niederländisch. Van Helsing hatte recht gehabt. Man konnte das Ding nicht verfehlen. Ein riesiges, graues, gotisches Gebäude zwischen kleineren normalen Häusern. Es sah fast genauso aus wie die alten Universitäten in ihrem Heimatland England. Sie war beeindruckt. Doch sie hatte keine Zeit, das Gebäude lange zu betrachten.

"Katherine!" rief eine Stimme vom großen Tor her. Katherine sah schnell hin, und tatsächlich, da stand er, wie versprochen.

Gabriel Van Helsing trug wie immer seine lange Lederjacke und seinen Hut. Er war einfach das Bild, das man sich unter Vampirjäger vorstellte. Seine langen braunen Haare wehten im Wind. Als Katherine schnell näher kam, lächelte er ihr zu.

"So, wie du aussiehst, könnte man glatt meinen, dir wäre heiß und nicht kalt." Sie errötete noch mehr; "Und? Wie lange hast du hierher gebraucht?"

"Lange genug", sagte sie. Van Helsing lächelte.

"Es ist schön zu sehen, dass es dir den Umständen entsprechend gut geht", sagte er; "Aber was rede ich da? Komm doch herein. Ich habe einiges mit dir zu besprechen." Dankend nickte Katherine. Draußen wurde es allmählich doch etwas zu kalt für ihren Geschmack. Sie folgte Van Helsing hinein in die große Universität.

Offenbar war der Professor hier sehr beliebt, denn immer wieder grüßten ihn einige Studenten, die hastig an ihnen vorbeiliefen. Er war auch einer der eher jüngeren Professoren. Nur hastig nahm sie die Gänge, Flure, Zimmer und Bilder des großen Gebäudes wahr, denn sie war ziemlich tief in Gedanken versunken.

Konnte es wirklich wahr sein, dass die Vampire endlich einen Fehler gemacht hatten? Konnte es sein, dass dieser Fehler entscheidend war, und unbedingt als Chance genutzt werden musste? Sie konnte sich das wirklich nur hoffen. Denn sie wollte Vergeltung, einfach nur Vergeltung.

Schneller als gedacht hatten sie das Büro Van Helsings erreicht. Drinnen sah es überhaupt nicht aus, wie das Zimmer des Anführers des Ordens. Es sah aus wie ein gewöhnliches Büro. Bücher, Schränke, ein Fenster und ein riesiger Tisch mit Stühlen.

"Leg doch deine Jacke dort hinten ab", sagte Van Helsing und deutete auf einen Kleiderhaken, wo er nun auch seinen Hut und seine Lederjacke anhängte. Katherine tat wie geheißen. Es fühlte sich gut an, nicht mehr von dieser dicken Jacke umhüllt zu sein. Sie raufte sich einmal durch das Haar und sah wieder zu Van Helsing.

"Nimm doch bitte Platz, es gibt einiges, was ich mit dir besprechen muss." Er wies auf einen der Stühle vor seinem Schreibtisch, und nahm selber hinter demselben Platz. Katherine folgte ungeduldig der Anweisung. Sie wollte endlich wissen, was er ihr zu sagen hatte. Sie hasste es, im Dunkeln gelassen zu werden.

"Also, erst einmal, ich habe im Brief nicht gelogen", sagte Van Helsing; "Die Vampire haben tatsächlich einen Fehler gemacht."

"Tatsächlich?" fragte Katherine interessiert.

"Ja, und zwar einen recht fatalen. Aber, lies einfach selbst." Er zog einen recht zerknüllten Umschlag aus dem Schreibtisch, und reichte ihn hinüber. Sofort ergriff Katherine diesen und begann zu lesen.
 

Lieber Gabriel,
 

Du wirst es kaum glauben, aber ich habe das Unmögliche vollbracht: Ich habe es geschafft, mit meinem Assistenten in das Schloss des Vampirfürsten Graf von Krolock einzudringen, und es lebend hinauszuschaffen. Wir haben gesehen, was sie dort drinnen alles machen. Ich Wir mussten uns sogar unter sie mischen. Wir haben sie von ganz nah beobachten können. Ich habe mir selbstverständlich alles im Notizbuch aufgeschrieben. Gabriel, alle Theorien, die wir aufgestellt haben, haben sich bewahrheitet! Das ist ein Fortschritt, wie es ihn seit langem nicht mehr gegeben hat. Das ist unsere Chance der Welt endlich die Augen zu öffnen, und sie auf diese Bedrohung aufmerksam zu machen. Es gibt nur ein kleines Problem. Ich kann jetzt leider nicht zu dir stoßen, da wir in diesem Dorf praktisch eingekerkert sind. Es toben Schneestürme, es schleichen Wölfe durch die Straßen, und ich muss mich um ein Beinaheopfer kümmern. Ich hoffe inständig auf deine Hilfe.
 

In aufgeregter Erwartung,
 

Walter Abronsius
 

Je mehr sie las, desto aufgeregter wurde Katherine. Als sie fertig gelesen hatte, hielt sie es kaum mehr auf ihrem Platz aus.

"Wie du jetzt verstehen kannst, ist es wirklich DIE Chance", sagte Van Helsing; "Wir müssen sie ergreifen. Es gibt Überlebende, das ist entscheidend. Wenn Walter wirklich recht hat, dann dürfen wir keine Zeit verlieren." Katherine fiel etwas ein.

"Wenn es Überlebende gibt, dann bedeutet das doch, dass Krolock keine Sekunde Zeit verlieren wird, um sie zu beseitigen."

"Das ist es ja gerade. Und da sie dort eingekerkert sind, bleibt uns nichts anderes übrig, als zu gehen und sie zu holen."

"Ich bin dabei! Sie können auf mich zählen", sagte Katherine entschlossen und richtete sich auf. Van Helsing hob abwehrend die Hände.

"Nicht so stürmisch, junger Wirbelwind. Bevor wir das tun, müssen wir uns vorbereiten, und zwar richtig." Katherine beruhigte sich ein wenig.

"Sie haben recht", sagte sie. Doch ihre rehbraunen Augen zuckten ungeduldig hin und her.

"Zuerst einmal: Ich werde dich nicht begleiten können."

"Was? Aber warum nicht?"

"Ich habe etwas anderes zu tun", sagte Van Helsing; "Ich muss neues über Dracula erfahren. Wie ich höre, wird er in letzter Zeit etwas aktiver als sonst. Irgendetwas hat er vor. Da bin ich mir sogar sicher."

"Falls ich es schaffe, Abronsius und seinen Assistenten dort hinauszuholen, werden die Vampire noch härter vorgehen", sagte sie. Van Helsing blickte auf.

"Ich weiß, worauf du hinaus willst."

"Das wird die anderen Clans auf den Plan rufen, und möglicherweise auch SIE."

"Katherine, beruhige dich. Ich versichere dir: Du wirst deine Chance bekommen." Sie nickte schnell, und versuchte nicht angespannt zu wirken, was ihr überhaupt nicht gelang.

"Es braucht alles seine Ruhe und Vorbereitung", sagte Van Helsing; "Ach, und in einem Punkt liegst du falsch."

"In welchem?"

"Du wirst nicht alleine gehen."
 

***
 

Burg Cachtice, 3.2.1895
 

Düster und drohend lag die dunkle Burg Cachtice in den nächtlichen Hügeln Ungarns. Die dunklen schwarzen Wolken, die den gesamten Himmel bedeckten verliehen dem ganzen eine noch düstere Atmosphäre. Die vielen Türme ragten drohend und majestätisch in den Himmel empor. Aus den unzähligen Fenstern schien kein einziger Lichtstrahl. Ein Mensch würde diese Burg als verlassen bezeichnen. Seit dem Tod der Gräfin war hier niemand mehr gewesen. Das Schloss wurde einfach seinem Schicksal überlassen.

Die Burg mochte verlassen wirken, sie war aber keineswegs leer. Die Menschen in den umliegenden Dörfern erzählten sich von Schatten in der Nacht, die aus diesen Gemäuern zu kommen schienen. In so mancher Nacht hatte man auch über riesige Scharen von Fledermäusen geredet, die sich alle in einer riesigen Formation über den Zinnen versammelte und wie eine dunkle Wolke des Todes in die umliegenden Täler schwebte, und immer gab es Vorfälle.

Eine einzelne, schwarze Fledermaus glitt elegant durch die Luft und ließ sich vom Wind treiben. Ihre Augen glommen in einem dunklen Rot, und doch würde sie in dieser Nacht kein Unheil mehr anrichten, das hatte sie nämlich schon. Hin und wieder schlug das Tier mit den Flügeln und steuerte immer weiter auf die Burg zu. Wenige Augenblicke später flog das Tier bereits über die Dächer und Zinnen, und steuerte auf einen kleineren Turm zu. Ein kleines Fenster ganz oben stand offen, und genau darauf steuerte das Tier nun zu.

Drinnen angekommen, ohne vom starken Winterwind beeinträchtigt worden zu sein, richtete sich das Tier in der Mitte des kleinen Raumes kerzengerade auf. Ein schriller Schrei ertönte, und plötzlich begann das Tier zu wachsen. Es wuchs immer mehr und mehr, die Körperkonturen veränderten sich. Nach einem Augenblick nahm das Tier menschliche Züge an. Das Fell ging zurück, die Flügel wurden zu Armen, und die Haut wurde viel bleicher. In Sekundenschnelle stand anstatt der Fledermaus ein hochgewachsener Mann im Raum. Er hatte etwas lange rotbraune Haare, braungrüne Augen, die immer wieder durchdringend aufleuchteten, wie bei einem Raubvogel, und seine Haut war die eines Toten.

Pál Báthory leckte sich über die Lippen. Heute Nacht hatte er einen besonders guten Fang gemacht. Dieses wehrlose Mädchen aus dem Dorf hatte ihm doch einfach aus der Hand gefressen. Natürlich, so unwiderstehlich wie er war, war das auch kein Wunder. Welche Frau konnte schon ihm nein sagen? Noch immer spürte er das warme, frische Blut auf seinen Lippen. Immer, wenn er der Gier erlag, versetzte es ihn in eine derartige Ekstase, dass er es mit Freuden geschehen ließ. Wer würde ihn dafür schelten?

Zu seiner vollen Größe aufgerichtet stolzierte er die schwarze, dunkle Treppe hinunter. Dass es hier kein Licht gab, war ihm reichlich egal. Er als Vampir konnte so gut im Dunkeln sehen, wie ein Mensch es bei Tag konnte. Auf dem Weg in die Gänge des Schlosses begegnete ihm kein einziger Vampir. Gut so, diese niederen Wesen interessierten ihn reichlich wenig, außer, wenn einer von ihnen ihn belästigte.

Er verließ das dunkle Stiegenhaus, und betrat den Gang. Jeder Mensch wäre hier schon vor Angst weich geworden, für ihn aber war es ein wundervolles Zuhause. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, im Schloss eines der anderen Vampirfürsten zu quartieren. Diese Burg war einfach nur perfekt. Wenn seine Mutter mal nicht daheim war, hatte er die Kontrolle hier, und er nutzte jede Sekunde davon aus. Vor einer Nacht war es so gewesen. Seine Mutter, die Vampirfürstin Erzsébet Báthory, war auf einem Treffen der großen Drei gewesen.

Wenn es etwas gab, was er hasste, dann war es Geheimnistuerei. Und genau das passierte bei solchen Treffen. Nur die Drei wussten, was dort vor sich ging, und keiner mehr, es sei denn, sie würden freiwillig reden. Doch das machte seine Mutter nie. Was das anging, so bekam er manchmal sehr die Weißglut. Was ging an diesen Treffen nur vor? Jahrelang hatte er schon versucht, es herauszufinden, doch nie gelang es ihm. Entweder seine Methode funktionierte nicht, oder seine Mutter erwischte ihn, und das war die weitaus schlimmere Variante.

Seine Mutter setzte ihn zwar nicht den Bestrafungen aus, mit denen sie die anderen Mitglieder des Clans zurechtstutzte, doch den letzten Strahlen des Dämmerlichtes ausgesetzt zu sein brachte auch den einen oder anderen Schmerz mit sich. Ungern erinnerte er sich an das letzte Mal, als seine Haut eine ziemlich verkrustete Form angenommen hatte.

Ob das letzte Treffen wohl von dem fehlgeschlagenen Mitternachtsball handelte? Er wusste alleine davon, weil Herbert ihm einen Brief geschrieben hatte, in dem er angab, endlich seine große Liebe gefunden zu haben, die jedoch davongelaufen sei, bevor er zuschlagen konnte. Er hatte dabei nur die Augen gedreht. Doch die Tatsache, dass jemand dem Ball entkommen war, also wirklich lebend, war überaus beunruhigend. Er wusste nur zu gut von den Vampirjägern, die mit den richtigen Informationen eine ernste Bedrohung darstellen konnten. Allen voran war dieser Gabriel Van Helsing, der wirklich alles daran setzte, sie aufzuspüren. Das war doch nicht mehr normal.

Pál, komm zu mir. Ich muss mit dir sprechen. Er zuckte zusammen. Und immer noch, nach all diesen Jahrhunderten, konnte er sich immer noch nicht an diese Nachrichten gewöhnen.

"Warum sprichst du nicht mal persönlich zu mir, anstatt mir diese Nachrichten zu zu zwitschern?" knirschte er, machte sich aber sogleich auf den Weg. Sein Weg führte ihn durch unzählige Gänge und Korridore. Hin und wieder kam er an einem Vampir vorbei, der vor ihm eine unterwürfige Verbeugung machte. Er beachtete sie nicht einmal, da er sowieso wusste, dass sie ihn respektierten und fast genauso fürchteten, wie seine Mutter.

Seine Mutter, die große Vampirfürstin Erzsébet Báthory, auch bekannt als die Blutgräfin. Manchmal stieg ihm das ganze zu Kopf. Wie viele Jahrhunderte war das schon her? Auf jeden Fall so einige, aber das war nicht das wesentliche. Er hatte nur für kurze Zeit das Erbe antreten können, und selbst da musste er es mit seinem vermaledeitem Schwager teilen (der dieser Ehre gar nicht würdig war). Doch seine Mutter war nicht tot, wie alle angenommen hatten, nein, sie war verwandelt worden, zu einem Nosferatu. Legenden besagten, dass Luzifer höchstpersönlich dahinter steckte. Er wusste nicht, was er davon halten sollte. Er erinnerte sich noch gut daran, wie er selbst verwandelt wurde.

Er hatte angenommen, seine Mutter läge im Sterben, nachdem sie eingemauert wurde. Natürlich, keiner konnte lange so überleben, aber sie hatte sich erstaunlich lange gehalten. Er wusste nur noch, dass ein unmenschlicher Drang ihn dazu zwang, sich gewaltsam Zutritt zu ihren Gemächern zu verschaffen. Furchtbar hatte sie ausgesehen. Es schien so, als wäre sie um fünf Jahrzehnte gealtert. Er hatte sich neben sie gesetzt, und sie hatte angefangen, vom Erbe zu sprechen. Natürlich war er ganz hellhörig gewesen. Im Dunkeln der Nacht hatte sie immer leiser gesprochen. Sie schien immer schwächer zu werden. Und dann, plötzlich, hatte sie ihm gesagt, er solle näher kommen.

"Jetzt, mein Sohn, ist es an der Zeit, dass ich dir das Erbe anvertraue", sagte sie leise; "Komm näher zu mir. Ich kann nicht mehr laut sprechen." Neugierig war er näher zu ihr gerückt, und hatte sich gefragt, was sie ihm alles sagen würde.

"Was ist es?" hatte er gefragt. Doch als er ganz nah an ihrem Gesicht war, hatte sie ihn plötzlich gepackt, und mit einer Stärke, die ihm noch nie bei seiner Mutter aufgefallen war, zu sich gepresst. Mit großem Schrecken hatte er mit ansehen müssen, wie ihre Augen plötzlich rot glühten, und seine Seele zu durchbohren schienen. Dann öffnete sie ihren Mund, und zwei lange, nadelspitze Zähne waren zum Vorschein gekommen.

"Das wichtigste, das ich dir zu vererben habe", hatte sie gesagt, und im nächsten Moment hatte sie schon zugebissen. Er konnte sich nur vage an den Schmerz erinnern, doch er musste schrecklich gewesen sein. Seine Mutter hatte nicht gelogen. Sie hatte ihm etwas vererbt, und zwar den Vampirismus.

Das war schon so lange her, und immer noch herrschte sie über die Vampire. Er war, genauso wie Herbert, der ewige Zweite. Nie würde er sein Erbe antreten können, denn Vampire starben nicht oft. Er wusste schon längst, tief in seinem Inneren wollte er endlich der erste sein, und nicht immer nur der zweite. Naja, vielleicht eines Tages.

Nun stand er vor der großen, schwarzen Tür, die in die Gemächer seiner Mutter führte. Diese lagen im höchsten und größten Turm von Burg Cachtice. Von dort aus hatte sie einen guten Ausblick, und konnte auch ihre Fähigkeit am besten nutzen. Vampirfürsten und ihre Fähigkeiten, wie sehr Pál sie darum beneidete.

Noch bevor er anklopfen konnte, schwang die Tür von alleine auf. Er rollte mit den Augen. Das war doch pure Angeberei. Doch er verhielt sich, wie es sich gehörte, und trat ein. Die Tür schlug hinter ihm zu. Sofort veränderte sich die Atmosphäre drastisch. War sie in der Burg schon dunkel, so war sie hier einfach nur dämonisch. Ein leichtes Zittern konnte er sich nicht verkneifen, wie sehr er es auch versuchte.

Seine Mutter stand in einigen Metern Entfernung vor ihm, und blickte aus ihrem Fenster in die Täler. Draußen hatte es mittlerweile angefangen zu schneien. Und es würde offenbar ein Schneesturm werden, da war er sich sicher. Er liebte Schneestürme. Sie hatten so etwas wildes, ungestümes an sich, dem man einfach nicht widerstehen konnte, genau wie er.

"Schnell da, wie immer", sagte seine Mutter, ohne ihn anzusehen. Ihre Stimme war eiskalt, wie immer. Kein Hauch von Menschlichkeit war mehr in ihr zu spüren.

"Du wolltest mich sehen?" fragte Pál respektvoll. Sie drehte sich um. Ihr blutrotes Kleid, das sie meistens trug, kombiniert mit schwarzen Verzierungen ließ sie wahrlich wie eine Fürstin der Finsternis aussehen. Auch das schwarze Diadem mit dem roten Rubin trug zu der Erscheinung bei. Ihre rotbraunen, glatten Haare waren gepflegt nach hinten gekämmt. Ihre schwarzen, kalten Augen durchbohrten Pál immer aufs neue.

"In der Tat, das wollte ich", sagte sie, und trat einige Schritte auf ihn zu. Die Kälte, die von ihr ausging war fast sogar schon für einen Vampir unerträglich.

"Ich habe mich neulich, wie du sicherlich weißt, mit den anderen zwei ältesten getroffen."

"Das weiß ich sehr wohl, Mutter."

"Und ich nehme an, so neugierig wie du bist, möchtest du sicher wissen, um was es da ging." Er traute seinen Ohren nicht. Meinte sie das wirklich ernst?

"Nun, du hast Glück, denn heute bin ich geneigt, es dir zu sagen. Denn es betrifft uns alle."

"Was ist es?"

"Der letzte Mitternachtsball auf Schloss Krolock ist schrecklich fehlgeschlagen. Und mit schrecklich meine ich das auch." Pál horchte auf. Also doch.

"Stell dir vor, mein Sohn: Es ist nicht nur ein sterblicher, sondern gleich drei entflohen."

"Gleich drei?"

"Ja. Ich muss dir nicht sagen, was das bedeutet, nicht wahr?" Pál schüttelte den Kopf. Er wusste nur zu gut, was das bedeutete. Es bedeutete, dass die Vampirjäger endlich ihre ach so erwünschten und wichtigen Zeugen hatten, die alles über sie wussten und zu berichten vermochten. Da würde Van Helsing sich aber freuen.

"Du kannst es dir also vorstellen", fuhr seine Mutter fort; "Nun, ich habe dich aus einem ganz bestimmten Grund hierher geholt."

"Und der wäre?"

"Du musst etwas vorbereiten."

Angst

Angst
 

Búrkiszá, 3.2.1895
 

Der Schneesturm schlug ihr nur so um die Ohren, als Luna sich durch den Wind kämpfte. Immer wieder peitschte eine eisige Windböe aus dem Gebirge zu ihr heran und brachte sie dazu, abrupt stehen zu bleiben. Doch sofort ging sie weiter, denn in diesem Wetter stehenzubleiben wäre die dümmste Entscheidung aller Zeiten.

Schon seit Tagen stürmte es, es wollte und wollte einfach nicht aufhören. Einen solchen Sturm hatte sie bis jetzt nur ein weiteres Mal erlebt, nämlich kurz nachdem sie und ihre Eltern aus London hierher gezogen waren. Aber dieses Unwetter war sogar noch schlimmer. Es fühlte sich wirklich danach an, als hätten sich alle Geister der Berge gegen dieses Dorf verschworen.

Vor sich sah sie plötzlich durch die weiße peitschende Wand ihr Ziel. Endlich. Mit ihrer letzten Kraft taumelte sie darauf zu und drückte die Türklinke nach unten. Diese ging sofort auf, und sie stürmte hinein, mit einer riesigen Schneewolke in Begleitung. Sofort verschloss sie die Tür wieder, unter größten Anstrengungen, denn der Wind war einfach nur übermächtig. Das konnte doch gar nicht mehr mit rechten Dingen zugehen.

Sie hatte eigentlich erwartet, das Wirtshaus einigermaßen voll zu sehen. Doch zu ihrer maßlosen Überraschung war hier niemand außer den Leuten, die hier Quartier bezogen. Ohne den Lärm, das Lachen und das Klirren des Geschirrs wirkte das Wirtshaus der Chagals merkwürdig leer und trostlos. Alleine das knisternde Feuer im Kamin spendete Licht und Wärme.

"Luna? Bist du das, liebes?" fragte eine sehr bekannte Stimme. Sie sah zur Theke hin, und erblickte Rebecca, die schwach lächelnd auf sie zukam. Doch Luna konnte sie nichts vormachen. Sie wusste genau, was die Wirtin in Wahrheit dachte. Und sie konnte sie gut verstehen. Gleich Mann und Magd auf einmal zu verlieren, an die Schattenwesen im Gebirge. Sarah wäre ihnen beinahe ebenfalls zum Opfer gefallen, aber eben nur beinahe. Doch von dem, was sie über ihre Freundin hörte, war ihr jetziger Zustand äußerst besorgniserregend. Und deshalb war sie hier. Sie wollte sich selbst vergewissern.

"Es tut mir wirklich leid, falls ich stören sollte, Madame Chagal", sagte sie.

"Aber nicht doch, nicht doch! Ehrlich gesagt: Jemanden wie dich könnten wir hier sehr brauchen. Aber erst einmal, zieh dir diese Jacke aus, sonst taust du nie auf. Ich mache dir erst einmal einen Tee."

"Danke, das ist sehr nett, aber ich möchte keinen Tee, danke."

"Bist du sicher? Du kommet gerade aus dem schlimmsten Schneesturm, der hier seit Jahren getobt hat. Niemand verlässt sein Haus mehr, seit Tagen kommt hier fast keiner mehr vorbei. Alle haben zuviel Angst."

"Und dennoch musste ich hierher. Denn die wenigen Leute, die hier waren, erzählen sich höchst Besorgnis erregende Dinge." Rebecca seufzte schwer auf.

"Und mit den meisten haben sie wahrscheinlich auch recht." Sie sah Luna an; "Ich bin wirklich froh, dass du gekommen bist. Vielleicht braucht sie eine Freundin, die mit ihr redet." Luna nickte. Ihre strahlend blauen Augen, die sonst immer so voller Freude waren, hatten jetzt nur Sorge in ihnen, und zwar Sorge um ihre Freundin. Seit die beiden Vampirforscher sie aus dem schwarzen Schloss gerettet hatten, hatte sie nur noch schlechtes gehört. Gleich würde sie ja herausfinden, was es damit auf sich hatte.

"Ich nehme an, du willst sie jetzt sehen?" fragte Rebecca. Luna nickte.

"Sie ist in ihrem Zimmer, und das schon sehr lange. Früher hat sie sich immer dagegen gewehrt, naja, früher."

"Kommen Sie nicht mit?" fragte sie.

"Nein, nein, ich bleibe hier, und warte bis Alfred und der Professor zurückkehren." Luna riss die Augen auf.

"Sie sind außer Haus bei DIESEM Wetter?"

"Sie sagten, es sei wichtig. Sie mussten hinunter in die zivilisiertere Welt um einen Brief abzugeben. Sie sagten, es sei ein Brief nach Amsterdam, der keinerlei Aufschub dulde. Vermutlich werden sie bald zurück sein, auch wenn sie dort übernachten mussten." Luna nickte, drehte sich um, und ging aus der Stube in Richtung der Gemächer.

Ihre Schritte waren die einzigen Geräusche, die im kleinen Treppenhaus widerhallten. Ansonsten herrschte Totenstille. Während sie in Richtung von Sarahs Zimmer ging, dachte sie nach. Was genau war in jenen Tagen auf dem schwarzen Schloss passiert? Sie hatte nur fantastische Fabeln und Märchen von diesem dunklen Ort gehört. Angeblich hausten dort unsterbliche Wesen, die früher einst Menschen waren, und durch dunkle Mächte ihre Unsterblichkeit erlangten. Manche sagten, es wäre ein Segen, andere sagten, es wäre ein grausamer Fluch.

Luna wusste nur, dass es dieses Schloss gab. Und sie glaubte die Märchen, die man sich darum erzählte. Außerdem gab es stichhaltige Beweise. Jeden Monat verschwand ein Mensch aus irgendeinem Dorf spurlos. Das Schloss wurde damit immer in Verbindung gebracht. Als sie als Kind noch in London gelebt hatte, und bevor ihre Eltern sich entschlossen hatten, in die abgelegenen Weiten Transsilvaniens zu ziehen, hatte sie allerhand über die Mythen und Legenden dieses Landes gelesen. Dort hatte sie die dunkle Legende vom Wurdalak zum ersten Mal gelesen. Angeblich gab es in Transsilvanien, in den Bergen, Wäldern und abgelegenen Weiten Wesen, die sich nur des Nachts fortbewegen konnten, und sich vom Blut der Menschen ernährten. Dadurch sollten sie Unsterblichkeit erlangen. Der Legende nach waren diese Wesen wiederauferstandene Leichname von toten Menschen, die von Luzifer wiedererweckt wurden um Schaden zu verbreiten. Die Geschichten dieses Landes waren einfach nur grausam, aber trotzdem glaubte Luna daran. Es sprach einfach zu viel dafür.

Jetzt stand sie vor der kleinen hölzernen Tür, die ins Innere von Sarahs Zimmer führte. Zögernd hob sie die Hand und klopfte. Nichts rührte sich. Neugierig, wie sie war, schob sie ihr Ohr an die Tür, und lauschte. Nichts. Zögernd klopfte sie noch einmal.

"Hallo?" fragte sie leise. Nichts. Langsam machte sie sich Sorgen.

"Sarah? Bist du da?" Was für eine Frage. Sie musste da sein. Wo sollte sie sonst hin? Doch nichts rührte sich.

"Ich bin es, Luna", versuchte sie. Als noch immer keine Antwort kam, fasste sie sich ein Herz.

"Also gut, ich komme jetzt rein, alles klar?" Und sie drückte die Klinke nach unten. Sie war auf alles vorbereitet, aber nicht auf den Anblick, der sich ihr bot.

Das Zimmer war durch die Schneemassen vor dem Fenster recht abgedunkelt, was es aber noch schauriger gestaltete. Die Knoblauchketten hingen immer noch überall. Das Bett sah recht unordentlich aus, als ob es seit Tagen nicht mehr gemacht wurde.

"Da bist du ja", erklang eine Stimme. Luna sah nach vorne. Sarah saß auf dem kleinen hölzernen Stuhl, der normalerweise in der Ecke stand. Wie hatte sie sich so verändern können? Die einst vollen roten Locken waren an einigen Stellen ergraut, die einst so tiefen blauen Augen waren nun matt und farblos. Und in ihnen spiegelte sich eine unkontrollierte Angst wieder.

"Ich kann deinen Ausdruck verstehen", sagte Sarah. Ihre Stimme war von solch einem Krächzen begleitet, dass es einem kalt den Rücken hinunterlief.

"Ich habe wirklich schon mal besser ausgesehen."

"Sarah." Luna machte die Tür zu und kam langsam auf ihre Freundin zu.

"Ich habe irgendwie die ganze Zeit darauf gewartet, dass du kommst. Setz dich doch auf das Bett, und wir können reden." Luna tat wie geheißen. Sarah starrte immer noch nach vorne, ohne sie anzusehen. Was war nur los mit ihr? Was war da oben passiert?

"Was...Wie....Ich meine, wie ist das passiert?" fragte sie besorgt.

"Meine Dummheit ist passiert", antwortete Sarah; "Ja, ja das ist sie."

"Wovon redest du?" Und dann sahen sie sich zum ersten Mal in die Augen. Die Angst, die darin zu sehen war, war einfach unbeschreiblich.

"Erinnerst du dich, Luna, wie wir uns über die alten Geschichten über die Wesen im Gebirge unterhalten haben?"

"Ja, natürlich. Wie könnte ich das vergessen?"

"Nun...wie soll ich es ausdrücken? Sie sind wahr, sie sind alle wahr." Tief in ihrem Inneren hatte Luna es schon längst gewusst, aber es wirklich so gesagt zu bekommen, war etwas anderes.

"Es begann vor ungefähr zwei Wochen. Ich hörte eine Stimme, die mich im Schlaf zu sich rief. Ich wusste nicht, was sie sagte, doch nach ein paar Nächten mehr, wurde es immer klarer. Sie rief mich, rief mich hoch in die Berge, zu dem dunklen, verwunschenen Schloss. Ich versuchte mich, dem zu widersetzen, doch es klappte nicht. Reden konnte ich darüber nicht, da ich Angst hatte, mein Vater würde mir noch mehr Sachen antun, als mich einsperren." Luna nickte. Dass ihr Vater sie immer einsperrte, das konnte sie wirklich nicht gutheißen.

"Die Stimme wurde immer aufdringlicher und ungeduldiger. Doch ich konnte immer noch einigermaßen widerstehen."

"Und dann?"

"Dann", Sarah erzitterte; "Dann ist der Wurdalak selbst ins Dorf gekommen." Luna schlug sich die Hand vor den Mund.

"Ich war...wie verzaubert", sagte Sarah; "Ich konnte ihm nicht standhalten. Als ich badete, erschien er einfach, er war einfach da, leibhaftig da. Dem alten Glauben zufolge, kann dieses Wesen das Haus nur per Einladung betreten. Habe ich ihm etwa unwissentlich im Traum das bedeutende "Ja" gegeben? Ich weiß es nicht. Er hat mich auf sein Schloss "eingeladen". Er erzählte mir von einem großen Mitternachtsball, der in ein paar Nächten stattfinden würde. Nur ein glücklicher Zufall konnte verhindern, dass ich schon da von ihm gebissen wurde. Später in der Nacht kam sein Diener, ein furchterregendes buckliges Wesen, und legte mir etwas ab. Eine Art "Kostprobe" auf das, was folgen würde."

"Was war es?"

"Ein Paar roter Stiefel. Ich weiß, es klingt komisch, aber als ich sie erblickte, dann schlug der Bann doppelt so stark zu. An den Rest kann ich mich nur schemenhaft erinnern. Ich erinnere mich an schreckliche Fratzen von Männern und Frauen, die aus Gräbern gestiegen kamen und alle nach mir griffen. Ich erinnere mich an IHN, wie er mich sanft durch den Ballsaal zog. Und ich erinnere mich an einen grellen Lichtblitz, und an einen lauten Donnerschlag. Und dann...dann war ich hier." Luna wollte nicht auf ihr rumhacken. Sie konnte schließlich sehen, was mit ihr passiert war. Aber zum Glück war sie nicht gebissen worden.

"Aber jetzt bist du doch wieder hier", sagte sie aufmunternd; "Du bist in Sicherheit."

"Sicherheit? Ich lebe mit der Gewissheit, dass unweit von uns ein Schloss voller Wurdalaks ist. Die Geschichten sind wahr, alle. Und...er spricht noch zu mir."

"Was?" keuchte sie.

"Ja, ER, der Graf. Der Graf dieses Schlosses, der Fürst dieser ganzen Brut. Er redet immer noch zu mir, in der Nacht, wenn der Wind am Fenster rüttelt, da höre ich seine Stimme, die durch Schnee, Eis und Wind zu mir herüberschallt, und mich ruft, immer noch ruft."

"Was will er?" Sarah zitterte noch stärker. Sofort sprang Luna auf, und strich ihr beruhigend über den Kopf.

"Beruhige dich, alles ist gut."

"Er, er wird immer wütender, mit jeder Nacht. Gestern aber war es soweit."

"Womit?"

"Er hat mich bedroht."

"Doch bedroht? Womit?"

"Er sagte, und ich kann mich an jedes Wort erinnern: "Offensichtlich kannst du meinen Anforderungen widerstehen, beeindruckend. Aber nun ist das Maß voll. Ich wollte nie, dass es dazu kommt, aber mir bleibt keine andere Wahl. Wenn du dich in drei Tagen genau nicht wieder bei meinem Schloss blicken lässt, dann wird ein Unglück geschehen. Und glaube mir: Dieses Unglück ist schlimmer als nur Vater und Freundin zu verlieren."" Sarah hielt es nicht mehr aus. Weinkrämpfe schüttelten sie, aber auch diese unbändige Angst war zu spüren. Luna schloss sie in eine tiefe Umarmung, und redete beruhigend auf sie ein. Was auch immer dort oben geschehen war, es hatte ihre Freundin gänzlich verändert. So hatte sie sie noch nie gesehen. Aber sie konnte auch sehr gut verstehen warum. Sarah beruhigte sich.

"Tut mir leid", schluchzte sie; "Tut mir leid, dass du mich so sehen musst, aber...ich habe einfach Angst! Übermorgen Nacht muss ich dort sein, ansonsten wird er etwas tun! Ich will da aber nicht hin! Doch wenn ich es nicht tue, was dann?" Luna sah ihr in die Augen.

"Sarah, ich weiß nicht, was du da oben gesehen hast. Aber eines ist klar: Du gehst da NICHT hin, hast du verstanden?"

"Aber-"

"Ob du verstanden hast?" Sarah nickte zögernd.

"Aber was sollen wir dann tun? Glaube mir, Luna. ER ist jemand. der Drohungen wahrmacht, dass habe ich dort oben gesehen. Er ist grausam, er ist unheimlich, er ist einfach ein Dämon! Anders kann ich es nicht ausdrücken!" Luna nickte.

"Pass auf", sagte sie; "Dieser Professor, und sein Assistent, die hier ja vor ungefähr einer Woche Quartier bezogen haben."

"Ja? Professor Abronsius und Alfred."

"Die sehen mir aus, wie Leute, die etwas über die Wurdalaks wissen. Sie waren ja selbst dort oben."

"Wären sie nicht gewesen, wäre ich jetzt auch eine von ihnen", sagte Sarah. Luna erschauerte. Das wollte sie sich wirklich nicht ausmalen.

"Wie wäre es, wenn wir mit ihnen reden, wenn sie zurückkommen?" Sarah sah sie an, und die Angst kehrte zurück.

"Was wollen sie gegen IHN ausrichten?"

"Offenbar haben sie etwas gemacht, denn ihr seid ja heil und unversehrt wieder hier." Sofort bereute sie diese Worte, denn Sarah sah alles andere als heil und unversehrt aus. Hatte sie überhaupt was gegessen in den letzten Tagen? Abgemagert sah sie aus.

"Also gut", sagte sie dann; "Wir wollen es versuchen, oder ich zumindest."

"Nein, ich mach es mit dir. Du kannst ja jetzt offenbar kaum noch das Zimmer verlassen."

"Vom Schlafen ganz zu Schweigen", fügte Sarah hinzu.

"Wenn sie wieder da sind, und ich bin einfach optimistisch genug um zu sagen, dass das recht bald sein wird, werden wir mit ihnen reden." Sarah nickte hastig. Doch die Angst wich nicht, was auch verständlich war.

"Luna?" fragte sie leise.

"Ja?"

"Könntest du, naja, bis sie kommen, vielleicht hier bei mir bleiben?" Ihre Stimme hörte sich so an, als würde sie es keine Sekunde länger alleine aushalten. Luna lächelte aufmunternd und nickte.

"Natürlich kann ich das, etwas anderes hatte ich auch gar nicht vor." Sarah schloss die Augen, und setzte ein schwaches Lächeln auf.

"Danke", flüsterte sie.

"Immer doch. Wozu sind Freunde schließlich da?"



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