Der Fluss von Vidora (Eine Geschichte über den Traum vom Schreiben) ================================================================================ Kapitel 1: Die Schriftstellerin ------------------------------- Eigentlich wollte sie immer schreiben. Geschichten, Bücher, Romane. Eine Welt erschaffen und andere dorthin entführen. Ihre Freunde lächelten verhalten, wenn sie davon sprach. Tagträume, sagten sie, aber die haben wir ja alle. Ihre Eltern lobten ihre Kreativität. Lesen und Schreiben seien gute Hobbies. Ihr Deutschlehrer pries ihren Ausdruck und die makellose Rechtschreibung, womöglich hätte sie Talent fürs Schreiben. Vielleicht würde sie später Germanistik studieren, oder Journalismus. Romane schreiben, sagte sie, das will ich. In den Geschäften strich sie über die Buchrücken ihrer Lieblingsromane. Fantasyabenteuer, Krimis, Liebesgeschichten. Sie blätterte in ihnen, fühlte die rauen Seiten, sog ihren Geruch ein, fühlte sich zu Hause in den fremden Realitäten und Leben. Sie kaufte ein Notizbuch. Daheim lag sie auf dem Bett und kritzelte Gesichter hinein. Die Helden ihrer Geschichte. Sie malte Landkarten und Monster und schrieb Gedichte und Lieder, erdachte eine eigene Sprache, Sitten, Bräuche, Religionen, Götter und Tänze. In ihrem Kopf war es bereits Wirklichkeit. Sie lief über die Straßen und durch die Wälder ihrer Welt, tauchte ihre Füße in deren kühle Bäche und feierte Götterfeste mit den Bewohnern der Dörfer. Sie nahm das Schwert in die Hand und ließ die Klinge durch die Luft gleiten. Der Stahl blitzte im Sonnenlicht. Sie sah ihre Helden reiten, streiten und kämpfen. Sie war dabei, als sie sich verliebten, als sie verzweifelten und als sie sich nach einer Niederlage wieder aufrappelten. Aber die Wochen vergingen, ohne dass sie ein Wort davon aufschrieb. Das Notizbuch füllte sich mit Stichworten und Skizzen, mit all den Ideen und Möglichkeiten. Sie hatte ein Dokument auf dem Computer erstellt, das stolz den Titel ihres Buches trug. Aber darin stand nichts weiter. Es war bald ein Jahr alt, aber sah immer noch aus, wie neu. Manchmal fragte ihre Oma, wie weit sie denn mit dem Buch sei, über das sie früher immer so verzaubert gesprochen hatte. Natürlich sagte sie, dass sie daran arbeite. Das Notizbuch lag neben dem Bett. Am Abend öffnete sie wieder das Dokument und betrachtete die weiße Seite. Sie hörte Musik und sah die Skizzen an und fand keinen Anfang. Sie musste einfach mehr darüber nachdenken. Sie sortierte ihre Gedanken und skizzierte noch mehr in das Notizbuch. Sie schaute sich Filme an. Das würde sie auf jeden Fall inspirieren. Der perfekte Anfang würde zu ihr kommen. Sie setzte sich wieder an den Computer und öffnete das Dokument. Es wartete auf ihre Worte. Sie schrieb einen Satz und die Stimme in ihrem Kopf las ihn ihr tausendfach vor. Je öfter sie ihn hörte, umso dümmer kam er ihr vor. Sie löschte ihn und schrieb einen neuen. Der erschien ihr besser. Sie tippte weiter und summte zur Musik. Ja, der Anfang war gemacht, jetzt ging es besser. Zufrieden ging sie zu Bett. Zwei Tage später kehrte sie zu ihrem Text zurück und las den Absatz. Sie fand bessere Ausdrücke und tauschte die Worte aus. Sie fügte eine halbe Seite hinzu bevor sie zu müde wurde. Ein Jahr verging, in dem sie ab und zu das Dokument mit dem wichtigen Namen öffnete und gegen die weiße Seite kämpfte. Noch immer kamen ihr viele Formulierungen ungelenk und viele Worte unpassend vor. Es gab Tage, an denen sie den Text schloss, ohne etwas getan zu haben. Es gab Tage, an denen sie alles löschen und neu beginnen wollte. Es gab Tage, an denen sie kopfschüttelnd am Schreibtisch saß, sich mit der Hand durchs Haar strich und die Tränen zurückhielt. Weil es so schwer war. So viel schwerer, als sie geglaubt hatte. Ihre Freunde fragten immer seltener nach ihrem Tagtraum. Sie sah die gut gemeinte Lüge in ihren Augen, wenn sie sie trösteten und ihr sagten, dass sie es schon schaffen würde. Sie setzte sich mit ihrem Lieblingsbuch aufs Bett und las. Die Seiten raschelten einladend. Sie wollte auch so ein Buch schreiben. Sie würde ein Buch schreiben. Ihr fehlte nur die Inspiration und die würde schon kommen. Irgendwann. Dann würden ihre Worte fließen, ihre Helden dem Feind entgegenreiten und Pfeile die Luft zerschneiden. Die Bewohner ihrer Welt würden zu den Göttern beten, tanzen und feiern. Und die Leser würden ihr Abenteuer erleben. Ihre Freunde, ihre Familie und alle anderen. Sie würde sie mit ihren Worten verzaubern, zum Nachdenken bringen und Gefühle bewegen. Sie würde auf Messen vorlesen und Autogramme geben. Sie würde ihren Traum verwirklichen. Zwei Jahre später hatte ihr Dokument dreiundsechzig Seiten. Normseiten natürlich, denn sie wusste, wie echte Schriftsteller arbeiteten. Alles war verlagsreif formatiert. Es tat gut, das Dokument anzusehen. Aber es wuchs so langsam, dass es vielleicht niemals fertig werden würde. Sie begann ihr Studium. Ihre Freunde verstreuten sich in alle Himmelsrichtungen und sie orientierte sich neu in dieser schnellen Welt. Sie besuchte Vorlesungen, lernte neue Leute und Verpflichtungen kennen, organisierte ihren Alltag und ihr Konto. Das Notizbuch war mit ihr umgezogen und lag wieder auf dem Nachttisch. Einige Seiten waren zerknickt, manches war radiert worden, die Ideen in ihrem Kopf wirkten verwaschen. Sie konzentrierte sich auf ihr Studium und aufs Erwachsenwerden. Ein Jahr später besuchte sie mit einer Freundin ein Rockkonzert. Sie schmetterten die Lieder mit der Masse durch die Halle und freuten sich, denn sie waren jung und die Welt stand ihnen offen und das Leben war ein Meer aus Lichtern und die Zeit war auf ihrer Seite. Am nächsten Abend lag sie wach in ihrem Bett und erkannte, dass die Welt ihr zwar offen stand, aber auch dass jedes Meer – egal wie tief – einen Grund hatte, und dass die Zeit verging während sie auf die Uhr sah. Am nächsten Abend öffnete sie das Dokument und las alles, was sie bisher hineingeschrieben hatte. Sie nahm sich vor, dass sie es zu Ende schreiben würde. In den nächsten drei Wochen schrieb sie jeden Tag hinein. Bald hatte das Manuskript einhundertelf Normseiten. Sie kaufte einen Schreibratgeber, der fünf Sterne auf Amazon hatte und las ihn in drei Tagen durch. Sie lernte vieles über einen guten Schreibstil, über Plots und Charaktere, über Setting und Spannungsbogen. Dann begann sie, ihr Dokument zu überarbeiten. Sie hatte zu viele Adjektive verwendet und war zu wenig auf die Charaktere eingegangen, also schrieb sie die meisten Szenen um. Drei Tage später entschied sie, dass die Handlung zu flach war und die Helden voller Klischees. Sie änderte alles ab, bis die Geschichte eine völlig andere war. Aber das war okay, denn nun war das Manuskript besser, als vorher. Das Jahr darauf lernte sie einen netten jungen Mann kennen und verliebte sich in ihn. Monatelang war das Buch aus ihrem Denken verbannt, und das war okay, denn wenn man die Liebe trifft, muss man nach ihr greifen. Sie beendete ihr Studium und suchte zwei Monate lang nach einem Job. An einem Abend der Verzweiflung erinnerte sie sich an ihren Traum und öffnete das Dokument. Erneut las sie die Geschichte von vorn bis hinten durch und fand sie ganz okay. Vielleicht konnte sie jetzt, da sie so viel Zeit hatte, ein Buch daraus machen und Schriftstellerin werden. Vielleicht würde sie Glück haben und erfolgreich sein und ihr Jobproblem würde sich dadurch auflösen. Einige Abende schrieb sie voller Enthusiasmus an dem Buch. Ihr Freund blickte ihr ab und zu über die Schulter und fragte sie, worum es in der Geschichte gehe. Sie erzählte ihm davon und er nickte. Zwei Wochen später fragte er sie, ob sie denn nicht langsam einen Job finden wollte. Sie könne sich schließlich nicht darauf verlassen, dass ihr erstes Buch zu einem Bestseller werden würde – falls sie es überhaupt fertigstellen könnte. Er formulierte es nett und sie wusste, dass es richtig und vernünftig war, was er da sagte. Einen Monat später fand sie eine Stelle. Es war nicht ihr Traumjob, aber immerhin war es Arbeit und bedeutete Geld. Sie nahm sich vor, trotzdem weiter an dem Buch zu schreiben, um irgendwann doch noch eine richtige Schriftstellerin zu werden. Es kam ihr schließlich nicht auf das Geld an sondern auf ihren Traum, auf die Helden, die sie erdacht und die Welt, die sie erschaffen hatte. Sie las weiterhin Schreibratgeber und machte sich in Internetforen schlau. Sie chattete mit anderen Schreibern und überarbeitete ihr Manuskript dutzende Male, immer auf der Suche nach den perfekten Worten. Alles sollte glänzen und strahlen vor Perfektion, denn es war ihr Werk und ihr Traum und das Leben war ein glitzerndes, endloses Meer. Zwei Jahre später wurde sie schwanger und verlobte sich mit ihrem Freund. Die Kollegen auf der Arbeit beglückwünschten sie und das Buch verschwand abermals aus ihren Gedanken, aber das war okay, denn in ihr wuchs ein neues Leben heran. Diese Erfahrung war größer, als alles andere, das sie bisher erlebt hatte und sie war der glücklichste Mensch auf der Welt, als sie ihren Sohn im Arm hielt. Die darauffolgenden Jahre waren gefüllt mit Angst, Stress, Frust, Glück und Gelächter. Ihr Leben hatte sich vollkommen verändert, ihre Verantwortung sich vergrößert und ihre Träume sich entfernt. Als ihr Sohn sechzehn Jahre alt war, begann sie ein neues Buch, denn die alte Idee hatte inzwischen so lange in ihrem Kopf gelebt, dass sie zu Staub zerfallen war. Sie hatte in der Zwischenzeit so viel über das Leben und über das Schreiben gelernt, dass sie nicht mehr da ansetzen konnte, wo sie vor Jahren aufgehört hatte. Und das war okay, denn dieses Mal würde sie schneller vorankommen und es auch zu Ende bringen. Sie setzte sich an den Schreibtisch und öffnete ein neues Dokument und gab ihm einen wichtigen Titel. Dann schrieb sie den Anfang und verbrachte einige Wochen damit, die Worte fließen zu lassen. Nach zweiundneunzig Seiten wusste sie nicht mehr weiter. Sie ließ den Text einige Wochen ruhen und suchte nach Ideen und Inspiration. Eines Tages auf dem Weg von der Arbeit nach Hause nahm ihr jemand die Vorfahrt und sie brach sich zwei Rippen und den Arm. Im Krankenhaus fand sie viel Zeit zum Lesen und versank in Fantasyromanen, Krimis und Liebesgeschichten. Sie legte das Buch beiseite und träumte davon, ihr eigenes Buch zu veröffentlichen. Wie erfüllend würde der Moment sein, in dem sie es in den Händen halten, darin blättern und ihren Namen auf dem Einband lesen können würde. Als sie wieder gesund war und ins Büro zurückkehrte, gab es eine Menge zu tun, denn vieles war liegen geblieben oder schlecht gelaufen. Sie machte Überstunden und dachte nicht mehr an das Buch, und das war okay, denn die Arbeit ernährte sie schließlich und die Kollegen verließen sich auf sie. Als Ihr Enkelkind geboren wurde, saß sie im Krankenhaus und wiegte die kleine Patricia im Arm. Sie war das schönste kleine Mädchen auf Erden, mit großen Augen und unendlich viel Vertrauen in die Welt. Als sie in dieser Nacht im Bett lag, erinnerte sie sich daran, dass das Meer seine Grenzen hatte und dass sie nicht mehr so jung und die Welt nicht mehr so offen war, wie damals. Sie schlief zu den Liedern ihrer Jugend ein. Auf dem Klassentreffen fragte ihre beste Freundin aus Schulzeiten sie nach dem Buch und sie erzählte ihr von all den alltäglichen Dingen, die das Schreiben so schwer machten und von den neuen Ideen, die sie gehabt hatte. Sie versprach, mit ihr in Kontakt zu bleiben, und ihr das Manuskript zuzusenden, sobald es fertig war. In den nächsten Wochen schrieb sie an ihrem Werk, sodass es bald zweihundert Seiten hatte. Die Geschichte geriet ins Stocken und ihre Helden wussten auf einmal nicht mehr, wohin sie gehen sollten. Also las sie einen weiteren Schreibratgeber und fragte ihre schreibenden Freunde um Rat. Schließlich überarbeitete sie erneut die bereits vorhandenen Szenen, und das war okay, denn ihre Fehler waren die Ursache, für ihr Feststecken. An einem Nachmittag im November saß sie in ihrem Wohnzimmer und aß selbstgebackenen Schokoladenkuchen mit ihrer Enkelin. Patricia war inzwischen zwölf Jahre alt. Sie liebte Tiere und schöne Kleider und Rockmusik. Ihre Augen leuchteten noch immer hell, wenn sie von ihren Erlebnissen berichtete und es war das pure Glück, ihr dabei zuzuhören. Wenn sie groß sei, wolle sie Schriftstellerin werden. Geschichten schreiben, Menschen zum Träumen bringen, Worte lebendig werden lassen. Sie bestärkte ihre Enkelin in ihrem Wunsch und als sie wieder allein war, dachte sie lange nach, über ihr Leben und über ihre eigenen Träume. Schließlich schrieb sie einen langen Brief an Patricia, steckte ihn in einen Umschlag und legte ihn in die Schublade ihres Nachttisches zu dem alten Notizbuch. *** Regen prasselte gegen das Fenster, als Patricia auf ihrem Bett saß und mit zitternden Händen den Umschlag öffnete, den ihr ihre Mutter nach der Beerdigung in die Hand gedrückt hatte. Während sie die Zeilen las, rollten neue Tränen über die Spuren der alten ihre Wangen hinab. Wisse, dass das Leben kein Meer ist, sondern ein Fluss mit einer heftigen Strömung und dass deine Träume nicht die Sterne über dem Ozean sind, in den er mündet, sondern seine Quelle. Du musst gegen den Strom schwimmen, wenn du sie erreichen willst. Es gibt Fische, die das können und es gibt viele Fische, die sich treiben lassen. Es reicht nicht, zwei Wochen lang dagegen anzukämpfen und danach loszulassen, denn du wirst zurücktreiben. Es reicht auch nicht, sich vorzunehmen, gegen den Strom zu schwimmen und es zu planen, denn davon wirst du nicht schneller. Es hilft nicht viel, sich von anderen Fischen Ratschläge geben zu lassen, denn sie schwimmen nicht für dich. Warten macht die Strömung nicht schwächer und Selbstzweifel und Angst vor dem Scheitern sind schlimmer als jeder spitze Felsen und jedes Unwetter. Suche nicht nach Ausreden und Entschuldigungen, denn egal wie gut sie sein mögen: Sie sind dem Fluss egal. Das Einzige was du tun kannst, ist zu schwimmen. Du musst es tun, auch wenn dir deine Bewegungen am Anfang ungelenk erscheinen. Dem Fluss ist es egal, wie elegant du dich bewegst. Du musst es tun, auch wenn dir das Ziel weit entfernt vorkommt und wenn du an manchen Tagen stillzustehen scheinst. Dem Fluss ist es egal, ob du erschöpft oder abgelenkt bist. Schwimme mit all deiner Kraft, all deinem Mut und all deiner Entschlossenheit – das ist so viel mehr Wert, als du vielleicht glaubst. Und wenn du es geschafft hast, dann umarme deinen Traum für mich. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)