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Equinox

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Um "Equinox" zu verstehen, ist es zwingend erforderlich zuvor "Rising Sun" und "Blood Moon" gelesen zu haben. Beide Fangeschichten findet ihr unter meinen FFs hier auf Mexx.
Wenn ihr meine Fangeschichten mögt, würde ich mich über Feedback sehr freuen. Auch könnt ihr mir gern auf Facebook folgen, dort informiere ich immer über neue Kapitelstände und poste Bilder zu meinen Fangeschichten. :) Komplett anzeigen

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Prolog

„Hi Dad...
 

in der Schule ist heute nichts besonderes passiert. Wir haben unsere Mathematikklausuren zurückbekommen. Ich habe ein B. Mum wird sich sicher darüber freuen. Obwohl sie bestimmt immer noch etwas unzufrieden mit meiner Entscheidung ist, nicht in die Reservatsschule zu gehen. Sie meint, die Werte, die wir in La Push vermittelt bekommen, seien sehr wichtig und keine reguläre Schule könne das ersetzen. Ich weiß, dass ich manchmal ein bisschen ungezogen und frech bin, aber ich bezweifle, dass das an meiner Schulwahl liegt. Meinst du nicht auch?

Nun, irgendwie verstehe ich Mum auch. Tradition ist ihr sehr wichtig. Aber ich fühle mich so besser und ich denke, das ist das Wichtigste...

Wie auch immer... ich mache mich dann mal auf den Weg nach Hause. Es ist schon spät und das Abendessen ist sicher bald fertig.
 

Auf Wiedersehen... Dad.“
 

Dann legte ich den kleinen, weißen, glatten Stein, den ich zuvor in den Fingern gedreht hatte, zurück zu den Anderen, stand auf, drehte mich um und verließ das Grab, auf dessen Grabstein der Name William Edward Black-Cullen gemeißelt war...

Willkommen in meiner Welt

Der Weg vom Friedhof zu unserem Haus war nicht sonderlich weit. Generell lag in meinem Heimatort, dem Indianerreservat La Push, in der Nähe von Forks, Washington, alles ziemlich nah beieinander. Wir hatten eine Schule, ein kleines Krankenhaus, eine eigene Verwaltung und diverse Läden, in denen man eigentlich alles bekam, was man zum Leben brauchte. Theoretisch könnte man hier sein ganzes Leben verbringen, ohne es jemals zu verlassen. Und es würde mich nicht wundern, wenn einige der älteren Quileute – das war der Name unseres Stammes und so nannte man auch dessen Mitglieder – tatsächlich so zu leben pflegten. Aber für mich war das nichts. Ich war froh, dass ich auch mal etwas anderes sah. Dieses „Andere“ war zwar nur Forks, aber immerhin.
 

Kaum hatte ich unser Haus betreten, hörte ich schon die Stimmen meiner Geschwister aus der Küche. Ich war die Jüngste von Dreien. Meine Schwester Madeleine war gerade im Begriff meiner Mutter nachzueifern. Sie wollte Lehrerin an der Reservatsschule werden und verbrachte daher ziemlich viel Zeit mit ihr. Mein Bruder Harry dagegen hatte erst frisch seinen Abschluss gemacht. Sein Wunsch war es, eines Tages Stammesoberhaupt zu werden, aber es würde sicher noch eine Weile dauern, bis er Embry, der nach Vaters Tod diesen Platz übernommen hatte, würde ersetzen können.
 

„Hey Zwerg“, begrüßte meine Schwester mich, als ich mich ihr gegenüber auf den hölzernen Stuhl an den Esstisch setzte. Ich sah sie etwas missmutig an. Ich hasste diesen Kosenamen.

„Wie wäre es, wenn ich dich in Zukunft 'Made' nennen würde? Würde dir das gefallen?“, konterte ich.

„Unsinn“, warf Mum ein und stellte jedem von uns einen leeren Teller hin. „Schluss mit den albernen Kosenamen. Ich habe euch keine schönen Namen gegeben, damit ihr sie dann nicht benutzt oder abkürzt.“

„Madeleine, du weißt doch, dass unsere kleine Schwester jetzt mit 'Bills' angesprochen werden möchte. Das ist cool und hipp“, neckte mein Bruder und setzte sich ebenfalls hin.

Ich brummte. Mein Name war Billy-Sue. Ursprünglich sollte ich nur Sue heißen, aber mein Vater starb nur einen Tag vor meiner Geburt und so wurde die Kurzform für William Teil meines Namens. Es war die einzige Verbindung, die ich zu ihm hatte, abgesehen von meinen smaragdgrünen Augen. Ich beneidete meine Geschwister darum, dass sie ihn hatten kennenlernen dürfen. Dass sie sogar mehrere Jahre mit ihm verbracht hatten und ich nicht. Trotzdem oder gerade deswegen, versuchte ich ihm so nah wie möglich zu sein. Ich besuchte fast täglich sein Grab und trug ein Foto von ihm in meiner Brieftasche mit mir herum, während ein weiteres unter meinem Kopfkissen lag.
 

„Und wie war dein Tag, mein Schatz?“, fragte Mum, während sie mir eine Portion Nudeln auf den Teller legte.

„Gut. Ich habe ein B in der Mathematikklausur.“

„Sehr schön“, antwortete sie.

„Mum“, sagte Madeleine plötzlich. „Kann ich morgen für ein paar Stunden in deinem Unterricht sitzen?“

„Kannst du schon. Aber etwas Besonderes habe ich morgen mit meiner Klasse eigentlich nicht vor.“

„Das ist egal“, antwortete meine Schwester. „Es geht mehr um allgemeine Notizen.“

„Na dann gerne“, sagte Mum und lächelte.

Harry seufzte und meine Mutter wand sich an ihn. „Was?“

„Ach nichts.“

„Spuck‘s aus.“

„Nein, Mum. Das Thema würde dir nicht gefallen.“

„Warum nicht?“

„Weil... ach... nichts.“

„Harry“, mahnte sie. „Ihr wisst doch, ihr könnt mit mir über alles reden. Es gibt kein Thema, das mir nicht gefällt. Nun sag schon.“

Er seufzte erneut. „Embry ist seit drei Tagen unerträglich.“

Madeleine kicherte.

„Wie meinst du das?“, wollte Mum wissen.

„Er ist geprägt worden.“

Mutter flog sogleich die Nudel von der Gabel. „Was?“

Ich starrte die Nudel an, wie sie da nun im Teller lag. Währenddessen sah ich im Augenwinkel, wie sich Mums Mund zu einem Lächeln formte. „Endlich“, hauchte sie, dann stand sie plötzlich auf und schob dabei den Tisch ein Stück von sich. „Wie alt ist sie? Wo ist es passiert? Du musst mir alles sagen, was du weißt!“

Jetzt sahen wir alle perplex drein. Bisher hatten wir immer gedacht, das Thema Prägung gefiele ihr nicht, weil sie durch diese Verbindung zu unserem Vater sicherlich noch mehr hatte leiden müssen, als es ein normaler, liebender Mensch wahrscheinlich getan hätte. Vielleicht war der Unterschied aber auch gar nicht so groß? Ich wusste nicht sonderlich viel darüber...

„Er war vor drei Tagen auf irgendeinem Ausflug in Seattle. Da hat er sie dann zufällig gesehen. Sie ist dreißig und Single. Na ja, noch Single.“

„Embry ist sicher nervös, weil er nicht weiß, ob sie sich in ihn verlieben wird.“

„Hat sie denn eine Wahl?“, fragte Madeleine.

„Hat sie. Als ich euren Vater kennenlernte, war er noch sehr jung. Er konnte nicht sprechen und ich wusste nicht, dass er sich auch auf mich geprägt hatte. Glücklicherweise hatte er das. Wäre das nicht der Fall gewesen, wäre es mir wie Jacob gegangen. Er hat mir mal erzählt wie es war, als Renesmee sich für einen anderen Jungen interessiert hatte. Die Person auf die man geprägt ist, hat immer die Wahl. In den meisten Fällen ist es nur so, dass man dem Werben eines geprägten Wolfes kaum widerstehen kann.“

„Dann ist er deswegen so durch den Wind?“, fragte Harry.

„Er hat sein ganzes Leben auf sie gewartet. Er hat sich immer verwandelt, aus Angst irgendwann zu alt für sie zu sein.“

„Ich finde diese Prägungssache ziemlich mies“, sagte ich dann.

Mutter sah mich fragend an.

„Na ja“, suchte ich nach Worten. „Du musst dein Leben lang hoffen, dass du diese Person irgendwann triffst. Vielleicht wartest du vergebens oder triffst sie einfach nicht und sie stirbt dir weg, während du ihretwegen nicht alterst. Oder aber du triffst sie und sie mag dich nicht. Oder was ist, wenn man die Person nicht mag oder sie hässlich findet?“

Mum lachte. „Das ist nicht möglich. Die Person, auf die man geprägt ist, kann man nicht hässlich finden. Sie ist der tollste Mensch auf der Welt. Euer Vater war der tollste Mensch auf der Welt.“

Als sie über ihn sprach sah ich, wie ihr ganz warm ums Herz wurde und spürte die Wärme auch in mir. Daddy.

„Wie auch immer“, sammelte sie sich dann wieder. „Esst bevor es kalt wird.“
 

***
 

Am nächsten Tag musste ich selbst auf dem Schulweg noch an das gestrige Gespräch denken. Mums Aussagen nach, war Embry momentan der glücklichste Mensch der Welt, hatte aber gleichzeitig extreme Angst, die Liebe seines Lebens nicht für sich gewinnen zu können. Das war ganz schön kompliziert. Na ja, zum Glück betraf es mich ja nicht. Ich war kein Gestaltwandler.
 

Ich betrat das Klassenzimmer und meine beste Freundin Lizzy winkte mir fröhlich zu. Ich setzte mich neben sie und begann, meine Schreibutensilien aus meiner Tasche zu kramen.

„Hey Liz, hast du die Hausaufgaben?“

- „Nö.“

„Was?“ Ich starrte sie etwas unbeholfen an.

„Wollte sie eigentlich vor dem Unterricht von Phoebe abschreiben. Hab es aber dann vergessen. Das Unterhaltungsprogramm war einfach zu gut.“

„Wie meinst du das?“

- „Jaimie hat den Overhead-Projektor demoliert.“

„Autsch“, kommentierte ich. Seit ein paar Wochen schon, hatten wir keinen Hausmeister mehr, weswegen sich nicht funktionsfähige Lernmittel langsam anhäuften. Unsere Lehrerin schien sich daran aber nicht weiter zu stören. Vor dem letzten Gong erinnerte sie uns an unsere Pflichtreferate. Wir hatten in wenigen Tagen jeweils ein fünfminütiges Referat über ein Thema unserer Wahl zu halten. Ich hatte mir das Thema Wölfe rausgesucht. Ich hatte ja Infos aus erster Hand.

„Unser neuer Hausmeister zieht bereits morgen in die Einliegerwohnung im Erdgeschoss ein. Bis zu euren Vorträgen sollte das Gerät also gerichtet sein. Denkt nicht, ihr könntet euch davor drücken!“

Jaimie kassierte zusätzlich noch eine Woche Nachsitzen – und wenn ich meine Hausaufgaben beim nächsten Mal nicht haben sollte, so wurde mir versichert, könnte ich ihm bald für mindestens zwei Tage Gesellschaft leisten. Ich hatte es nicht so mit Hausaufgaben, obwohl ich an sich keine schlechte Schülerin war.
 

Am darauffolgenden Tag, las ich im Schulbus meine bereits gemachten Notizen für mein Wolfs-Referat durch, als mich, kaum dass der Bus am Schulgelände geparkt hatte, ein komisches Gefühl überkam. Ich wusste nicht, was genau es war. Da es jedoch kurz darauf wieder verschwunden war, vergaß ich es ziemlich schnell wieder.

Ich ging wie jeden Dienstag in die Turnhalle und begab mich zur Mädchenumkleide. Bereits vor der Tür konnte ich das Gekicher meiner Mitschülerinnen hören und öffnete sie neugierig.

„Was gibt’s denn hier zu kichern?“, fragte ich.

„Ach nichts“, winkte Liz rasch ab und band ihr langes rotes Haar zu einem Zopf zusammen.

„Nichts?“, entgegnete Phoebe, die gerade dabei war, ihre Turnschuhe zuzubinden. Mit einem geschlossenen und einem geöffneten Schuh hüpfte sie zu mir herüber und rückte an mich heran. „Liz hat sich nur in den Hausmeisterburschen verguckt“, flüsterte sie mir zu.

Ich sah erstaunt zu meiner besten Freundin. „Stehst du jetzt auf Ältere?“

„Quatsch!“, kam es dann von ihr. „Mein Mann wird mal Milliardär, ich habe meine Prioritäten nicht herunter gesetzt!“

„Prioritäten? Sind das nicht eher Voraussetzungen?“, sagte Phoebe, nun da sie sich den zweiten Schuh gebunden hat.

„Ich nenne das U.W.V. - utopische Wunschvorstellung“, gesellte sich nun die vierte im Bunde, unsere neunmalkluge Ann, hinzu und verstaute ihre Brille sorgsam im Etui.

Ich schüttelte den Kopf und begann endlich damit, meine Sportklamotten auszupacken und mich umzuziehen.

„Sollen wir vielleicht ein paar Kleiderhaken abreißen, damit er sie wieder anbringen muss? Du könntest ja hier nackt auf ihn warten und ihn dann direkt nebenan in der Dusche vernaschen.“

„Ach, hör doch auf“, antwortete Liz. „Ja, er sieht nicht schlecht aus, aber das ist ja nicht alles im Leben.“ Dann stand sie auf, ohne, wie sonst üblich, auf uns zu warten und ließ die Tür hinter sich ziemlich heftig ins Schloss fallen.

„Feuriges Temperament“, sagte Phoebe.

„Rothaarige“, meinte Ann.
 

Zehn Minuten später stand ich mit dem Baseballschläger auf dem Feld hinter dem Schulgebäude und wartete darauf, dass mein Gegenüber den Ball warf. Ich war eher durchschnittlich im Sport und machte mir nicht sonderlich viel daraus. Doch an diesem Tag schien irgendwie alles seltsam zu sein. Ich sah genau, wie der Ball auf mich zu flog, kaum das der Schläger ihn berührt hatte, traf ihn punktgenau und schleuderte ihn deutlich weiter, als ich es jemals geschafft hatte. Er landete prompt auf dem Dach des Gebäudes und mein Team jubelte mir begeistert zu. Auch mit den folgenden Bällen und Runs hatte ich keine Probleme. Ich fühlte mich regelrecht aufgeputscht. Ich konnte mir das Gefühl nicht erklären. Am Ende der Stunde nahm unsere Lehrerin, Frau Aurora, mich zur Seite, um mit mir unter vier Augen zu sprechen.

„Du hast heute eine außerordentlich gute Leistung gezeigt, Billy-Sue“, lobte sie mich.

„Danke“, sagte ich.

„Wenn du so weiter machst, könntest du bald das erste A im Sportunterricht bekommen.“

„Das wäre natürlich klasse“, bekundete ich euphorisch.

Sie nickte. „Dann sehen wir uns nächste Woche.“

„Ja“, sagte ich. „Ich hol‘ nur schnell den verunglückten Ball.“

Normalerweise war ich nicht so. Ihre Worte jedoch, hatten mich derart beflügelt, dass ich nun ohne zu murren alle Etagen des Schulgebäudes empor lief, nur um diesen einen Ball zu holen. Doch oben angekommen, konnte ich das blöde Ding einfach nicht finden.

Nun doch etwas müde, strich ich mir die Haare aus dem Gesicht und ging dann deutlich langsamer wieder hinab. Auf halbem Weg traf ich im Treppenhaus jedoch plötzlich auf jemanden. Es war ein Junge mit dunkelblondem Haar und tiefblauen Augen. Ich schätzte ihn auf 16 oder 18, er konnte aber durchaus auch älter oder jünger sein. Er hatte eines jener Gesichter, bei denen das schwer zu sagen war.

„Suchst du den?“, fragte er lächelnd und hob den kleinen weißen Baseball hoch.

„Ähm ja“, nuschelte ich und nahm den Ball entgegen. Wir berührten einander nur für den Bruchteil einer Sekunde. Seine Haut war weder zu heiß, noch zu kalt, dennoch durchfuhr mich plötzlich erneut das seltsame Gefühl, dass ich auch schon bei meiner Ankunft verspürt hatte. Nur dieses Mal war es deutlich heftiger. Ich konnte es nicht einordnen. War es Schwindel? Oder Übelkeit? Mir war heiß und gleichzeitig kalt. War ich krank? Hatte ich womöglich Fieber?

Der Junge sah mich besorgt an, ich ließ ihm jedoch keine Zeit, sich nach meinem Befinden zu erkundigen, sondern rannte schnurstracks davon.

Den Ball hatte ich wohl auf halbem Weg wieder verloren. Jedenfalls hatte ich ihn nicht mehr in der Hand, als ich in der Umkleidekabine angekommen war. Außer mir war niemand mehr hier. Die Anderen waren wahrscheinlich längst in den Klassenräumen, schließlich hatte es bereits zur nächsten Stunde geläutet. Ich überlegte kurz, ob mir eine kalte Dusche vielleicht helfen würde, entschied mich jedoch stattdessen dazu, mich einfach umzuziehen. Ich war bereits viel zu spät und eine komplette Stunde zu schwänzen würde es nicht besser machen.
 

Ich betrat den Biologieunterricht nur wenige Minuten vor der großen Pause. Als die Lehrerin mich enttäuscht ansah, wäre ich am liebsten im Boden versunken. „Na, wo kommen wir denn her?“, fragte sie.

„Es tut mir leid, Mrs. Fetcher.“

Sie schüttelte den Kopf. „Setz dich. Ich notiere dein Zuspätkommen im Klassenbuch. Lass das bitte nicht zur Gewohnheit werden.“

Ich nickte und ging zu meinem Platz neben Liz.

„Hey Süße, alles okay?“, sagte sie und legte besorgt ihre Hand auf meine, nahm sie dann aber direkt wieder weg. „Wow, du bist ja ganz heiß. Hast du heimlich noch ein paar Runden um den Platz gedreht?“

Ich schüttelte verwundert den Kopf und packte meine Sachen aus. Mir war tatsächlich ziemlich warm, aber das durfte ich mir jetzt nicht anmerken lassen. Ich wollte diesen Tag einfach hinter mich bringen. Warum musste so etwas immer ausgerechnet mir passieren? Es hatte heute so gut angefangen und ich hatte mich so über das Lob gefreut. Daran war doch nur dieser Idiot schuld. Ja, ganz sicher, er hatte mich aus der Fassung gebracht, er war schuld! Plötzlich verspürte ich ausgesprochen große Lust, ihn ordentlich zu verprügeln, dabei kannte ich ihn erst seit wenigen Minuten.

Und dann hörte ich mit einem Mal ein lautes Knacken – es war das Bersten von Holz, aber nicht irgendwelchem Holz. Ich hatte, ohne es zu wollen, meine Tischplatte zerstört. Ich sah nach unten und erblickte das kleine Stück Tisch in meiner Hand und die Splitter auf meiner Hose.

„Bills!“, rief Liz aus und stand erschrocken auf.

Mrs. Fetchter kam mit klackenden Absätzen auf mich zu. „Billy-Sue Black-Cullen!“, schrie sie mich an. Ich stand ruckartig auf. „Du nimmst jetzt deinen Tisch – und zwar alles davon – und bringst es runter in den Keller. Allein! Und wenn du schon mal dort bist, kannst du dir direkt eine Liste mit Strafarbeiten für die nächsten zwei Wochen vom Hausmeister holen, sowie eine Rechnung für das Zerstören von Schuleigentum!“

Ich suchte nach irgendwelchen Worten oder Ausreden, fand jedoch keine. Ich konnte es mir selbst nicht erklären. War der Tisch schon angeknackst gewesen? Oder hatte womöglich ich einen Knacks?

Ich nahm meine Tasche, stopfte das abgebrochene Holzstück hinein und machte mich daran, die Schulbücher und anderen Krimskrams, den sämtliche Schüler seit den letzten Aufräumarbeiten vor den letzten Ferien in der Schublade unter der Tischplatte gebunkert hatten, herauszuräumen, dann nahm ich das klobige Teil und hob es zum Zimmer hinaus. Zum Glück befand sich der Biosaal im Erdgeschoss. Ich musste also nur eine Treppe schaffen, um in den Keller zu kommen.

Fertig mit den Nerven, stellte ich meinen kaputten Tisch vor dem Raum des Hausmeisters ab, da ging plötzlich dessen Tür auf – und heraus trat eben jener dunkelblonde Typ, der mir schon weiß Gott genug Ärger eingebracht hatte.

„Du“, knurrte ich in mich hinein und ballte die Hände derart zu Fäusten, dass sich mir die eigenen Fingernägel in die Haut bohrten.

„Hi“, sagte er freundlich. Er schien meine Anspannung noch nicht so ganz registriert zu haben.

Und dann blitzten mit einem Mal Bilder vor meinem inneren Auge auf. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich gesagt, dass ich mich eben selbst dabei gesehen hatte, wie ich diesem Kerl den Kopf abriss. Oh mein Gott, dachte ich und machte auf dem Absatz kehrt. Ich musste hier weg.

Ich hatte nur einen Fuß ins Erdgeschoss gesetzt, da bimmelte es plötzlich zur Pause. Sämtliche Türen flogen auf und ein Strom aus Schülern kam heraus. Das durfte doch nicht wahr sein.

Ich spürte, wie ein Schwall aus Hitze in mir empor kroch. War ich psychisch gestört? Woher kamen die Bilder in meinem Kopf? Und warum zitterte ich so schrecklich?

Es gab nur zwei Wege, wie das hier Enden konnte: entweder klappte ich gleich zusammen oder aber, und das entsprach eher meinem Tagessoll, ich tat etwas entsetzlich Blödes. Beides keine besonders tollen Aussichten, also trat ich erneut die Flucht an, quetschte mich durch sämtliche Schülerreihen durch, nahm prompt die falsche Richtung, ohne es zu merken und landete schließlich zum zweiten Mal an diesem Tag auf dem Dach.

Bills, du bist aber auch wirklich eine hohle Nuss.

Unter mir sah ich, wie die Schüler sich im Freien verteilten. Ich würde nicht an ihnen vorbei kommen, ohne gesehen oder gar aufgehalten zu werden. Ich wollte auch niemandem an die Gurgel springen. Hier oben zu bleiben, erschien mir aber auch keine Lösung zu sein.

All der Stress nur wegen einem blöden Jungen und einem kleinen Ball!

Was mach ich nur.

Was mach ich nur.

Was mach ich nur, wiederholte ich in Gedanken.

Und dann war da plötzlich dieser Wunsch. Dieser sehnliche Wunsch danach, einfach leicht wie eine Feder davon zu schweben. Fort von allem. Ungesehen.

Ich trat an den Rand des Daches, schloss die Lider, setzte noch einen letzten Fuß nach vorn – und noch ehe ich fallen konnte, brach die Hitze förmlich aus mir heraus. Es fühlte sich wie ein befreiender Sog an.

War ich vom Dach gestürzt und gestorben?

Ich öffnete meine Augen und sah noch immer meine Mitschüler unter mir. Zuerst ziemlich klein, dann kamen sie näher. Aber ich fiel nicht, wie ich sollte. Ich schwebte zu Boden und landete nicht annähernd so unsanft, wie ich befürchtet hatte.

Doch plötzlich waren meine Mitschüler viel zu groß. Ich sah von unten zu ihnen empor. Sie wichen alle etwas zur Seite und sahen mich verstört an.

„Was ist denn mit dem Vogel los?“, fragte ein dicklicher Junge, den ich nicht wirklich kannte, aber schon ein paar Mal in der Pause gesehen hatte.

„Ist er verletzt?“, kam es von einem anderen Jungen.

„Holt doch mal jemand den Hausmeister!“, rief ein Mädchen.

Dass sie von einem Vogel redeten und damit mich meinten, das nahm ich gar nicht war. Bei dem Wort „Hausmeister“ jedoch, läuteten meine Alarmglocken heftiger als die Schulglocke es kurz darauf tat. Eilig trat ich die Flucht an. Meine Füße fühlten sich seltsam an, trugen mich aber dann doch mehr schlecht als recht vom Schulgelände fort, in ein nahes Gebüsch, das glücklicherweise groß genug war, um sich darin vor neugierigen Blicken verstecken zu können. Ein paar Schüler machten noch Anstalten, nach mir zu suchen, gaben aber recht bald auf.

Ich blieb allein zurück. Ich wollte erleichtert seufzen, war ich doch froh, die Situation irgendwie gemeistert zu haben, doch aus meinem Mund kam nur ein komisches Geräusch, dass ich am ehesten einem Raben zugeordnet hätte. Was zum?, dachte ich, kam jedoch nicht weiter, da mich im nächsten Augenblick ein bedrohliches Fauchen erstarren ließ. Reflexartig sprang ich hoch und wedelte mit den Armen, die keine Arme mehr waren. Eine Katze, groß wie ein Bär, schlug nach mir, verfehlte mich jedoch knapp. Ich wusste nicht, wie ich es geschafft hatte, aber ich war nun zum zweiten Mal an diesem Tag in der Luft.

Ich versuchte, nicht weiter darüber nachzudenken, da Nachdenken bisher immer dafür gesorgt hatte, dass ich irgendwo herunterfiel oder anderweitige Probleme bekam. Aber wie es eben meistens der Fall war, dachte man gerade dann, wenn man nicht daran denken wollte, ganz besonders stark daran. Und so kam es, dass ich wieder an Höhe verlor, keinen blassen Schimmer hatte, wie ich das ändern konnte und schließlich in einer Art gigantischen Satellitenschüssel hängen blieb.

Ich sprang vom Empfänger und sah mich um. Offensichtlich war ich nicht allzu weit weg von Zuhause. Ich kannte dieses Haus irgendwie. Ich sah hinab in den Garten und erblickte neben der voll behangenen Wäscheleine einen kleinen Schuppen, einen Grill und eine weiße Tischgarnitur. Aber natürlich! Ich saß auf dem Dach der Lahotes! Rain Lahote, die Tochter meiner Großtante Rachel, lebte hier zusammen mit ihrer älteren Schwester Raniah. Rain war für mich so etwas wie eine ältere Schwester – zusammen mit Madeleine natürlich. Sie hatte sich um meine Geschwister und mich gekümmert, so hatte Mum es mir erzählt, als wir noch ganz klein gewesen waren und unsere Mum nach Dads Tod Hilfe brauchte. Aber auch jetzt, da Mum ihre Hilfe nicht mehr wirklich brauchte, war sie ein häufiger Gast bei uns. Sie war außerdem auch meine Patin.

Ich ließ mich vom Dach herunter segeln und huschte in das Gebüsch hinter dem Geräteschuppen.

Und während ich so an meine Kindheit mit Rain und meinen Geschwistern dachte, an die Wasserbomben-Schlachten, meine ersten zaghaften Surf-Versuche am First Beach, das Sandburgenbauen und die Verstecken-und-Suchen-Spiele, spürte ich, wie sich mein Körper entspannte. Alles fiel von mir ab. Und damit meine ich tatsächlich alles. Jede einzelne Feder. Bis ich schließlich nackt in Rain Lahotes Garten saß. Ich wusste nicht, ob ich nun in Tränen der Erleichterung ausbrechen sollte, weil ich schon befürchtet hatte, dass ich für immer so ein hässlicher, schwarzer Vogel würde bleiben müssen oder aber Tränen des Schams, weil ich splitterfasernackt im Garten meiner Patin saß.

Ich lugte hinter dem Schuppen hervor. Niemand war zu sehen. Mein Blick fiel auf die Wäscheleine. Das meiste war wahrscheinlich etwas zu groß, obwohl Rain ziemlich schlank war. Aber alles war besser als nichts. Ich stürmte nach vorn, schnappte ein paar Sachen und huschte zurück, um mich umzuziehen.

Endlich! Ich hatte wieder Klamotten an! Und Hände! Ich hatte Hände!

Ich war wahrscheinlich nur für ein paar Stunden ein Vogel gewesen, aber als ich meine zehn Finger so ansah, fühlte es sich an, als hätte ich sie seit Ewigkeiten nicht gesehen.

Moment. Warum war ich eigentlich ein Vogel gewesen? Hatte Mum nicht immer davon erzählt, dass sie und Dad sich in Wölfe verwandelt hatten?

Ich legte mir erschrocken die Hand vor den Mund. Was war nur falsch mit mir? War ich etwa von einem anderen Stamm? Einem, der Vögel, anstelle von Wölfen verehrte? War ich nur adoptiert? Waren meine Eltern etwa gar nicht meine Eltern?

Das konnte nicht sein. Mum hatte immer wieder erzählt, dass ich Dads Augen und seine Nase hatte. Sie hatte nicht gelogen, ich kannte doch die Bilder. Ich hatte seine Augen und seine Nase!

Es musste einen anderen Grund geben. Vielleicht war ich nicht würdig, ein Wolf zu sein?

Mum wäre sicher schrecklich enttäuscht, wenn sie davon erfuhr. Nein, sie durfte nichts davon erfahren. Niemals. Ich würde diese Vogel-Sache für mich behalten.
 

Kaum, dass ich Zuhause angekommen war, stopfte ich die Sachen, die ich von Rains Leine geklaut hatte, in die Waschmaschine. Es war das erste Mal, dass ich das Ding überhaupt benutzte. Normalerweise wusch Mum immer die Wäsche. Manchmal übernahm Madeleine das auch. Und genau sie war es auch, die ausgerechnet jetzt, da ich es am wenigsten gebrauchen konnte, hinunter in den Keller kam.

„Hey Zwerg“, begrüßte sie mich, hielt dann jedoch inne und sah mich verwundert an. „Bist du krank?“, fragte sie und war im Begriff mir ihre Hand auf die Stirn zu legen. Ich wich ihr aus, damit sie meine erhöhte Körpertemperatur nicht bemerkte und funkelte sie böse an.

„Lass mich!“

Jetzt sah sie noch verwirrter drein. „Wow, schon gut!“ Sie hob beschwichtigend die Hände. „Ich meine ja nur, du wäschst sonst nie freiwillig die Wäsche. Moment.“

Ich erstarrte. Hatte sie etwa was bemerkt?

„Hast du die Waschmaschine überhaupt schon mal benutzt?“

Ich atmete erleichtert aus. „Nein.“

„Na dann, warte, ich helf' dir kurz.“ Sie griff oben ins Regal und löffelte mit der Plastikkelle ein wenig vom Waschpulver aus der großen Schachtel und schüttete sie in die Trommel. „Das kommt da rein und dann drehst du das hier hin und drückst da drauf, Deckel zu und ab geht die Post.“

Und schon hörte man, wie das Wasser blubberte.

„Danke“, sagte ich.

„Nichts zu danken“, antwortete meine Schwester. „Wäre toll, wenn du das öfter mal machen würdest. Wobei du beim nächsten Mal ruhig auch etwas Wäsche mit rein tun könntest, die nicht von dir ist. Ist sonst nämlich eine ziemliche Wasserverschwendung.“ Sie zwinkerte und ging.

Ich war froh, dass sie nicht weiter nachfragte oder nachgesehen hatte, was für Wäsche ich da wusch.

Nachdem die Wäsche sauber war, stopfte ich sie direkt in den Trockner. Den hatte ich vor ein paar Wochen schon mal benutzt, weil ich es eilig hatte. Und dieses Mal war es nicht anders. Ich wollte die Sachen wieder an die Leine hängen, bevor Rain ihr verschwinden überhaupt bemerkten konnte.

Als ich sie dann aber aus dem Trockner holte, waren sie viel zu zerknautscht. Vorher war das nicht so gewesen. Wahrscheinlich hatte der viele Wind sie geglättet. Wind hatte ich zwar keinen da, aber ein Bügeleisen tat es auch. Ich ging also in Mums Bügelzimmer und tat mein Bestes, die fremde Wäsche möglichst glatt zu kriegen. Als ich halbwegs damit zufrieden war, prüfte ich nach, ob ich alles ausgesteckt hatte. Wenn ich jetzt noch unser Haus abfackelte, wäre das das i-Tüpfelchen.
 

Ich wollte gerade zur Tür hinaus, da hörte ich Mums Rufen. Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass sie nach Hause gekommen war. „Billy, bist du das?“, kam es aus der Küche. Ich überlegte kurz, ob ich so tun sollte, als hätte ich sie nicht gehört, aber Mum war schneller. Sie streckte schon ihren Kopf aus dem Türrahmen und sah mich im Flur stehen. „Wo willst du denn hin?“, wollte sie wissen und ging auf mich zu. „Hast du deine Hausaufgaben schon gemacht?“

„Nein, noch nicht“, gab ich zu. Dass meine Schultasche noch in der Schule auf dem Dach lag, verschwieg ich.

„Was hast du denn damit vor?“, fragte sie dann und deutete auf die Klamotten, die ich auf dem Arm trug.

„Nichts, ich äh...“

Denk nach, denk nach, denk nach...

„Ich wollte nach der Schule bei Rain vorbei schauen. Sie war aber nicht da, stattdessen hab ich eine Katze in ihrem Garten gesehen und wollte sie streicheln. Sie ist aber weggelaufen und als ich hinterher wollte, bin ich gegen ihre Wäscheleine gekommen und die Klamotten fielen runter. Ich hab sie für sie gewaschen und gebügelt und wollte sie jetzt zurückbringen.“

Oh man, ich wusste gar nicht, dass ich so gut lügen konnte...

Mum sah mich misstrauisch an. Ahnte sie vielleicht etwas?

Ich sah wartend zu ihr empor.

„Da stimmt aber etwas nicht“, sagte sie dann.

Mein Herz glitt allmählich von seinem angestammten Platz. „Was meinst du?“

„Na, wenn du das richtig machen möchtest, musst du die Sachen schon schön zusammenlegen.“

Zum gefühlten hundertsten Mal an diesem Tag atmete ich erleichtert auf. Mum nahm die Kleider und zeigte mir, wie man sie richtig zusammenlegte: „So, das hier legst du so hin, den Ärmel schlägst du dann so hier rüber und dann klappst du das hier runter. Fertig ist der Pullover.“

„Danke, Mum“, bedankte ich mich und ging mit den frisch zusammengelegten Klamotten einige Häuser weiter zu Rain. Ich hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen, dass ich alle Personen, die mir am wichtigsten waren, anlog, aber ich hielt es dennoch für das Beste, auch wenn es weh tat. Rain ahnte genauso wenig etwas wie meine Mum und kaufte mir die Geschichte mit der Katze ab.
 

Nachdem ich das also nun erledigt hatte, hätte ich eigentlich heimgehen können, mir war aber so gar nicht danach. Ich entschloss mich, stattdessen ein bisschen in den Wald zu gehen. Das war eigentlich gar nicht meine Art. In meiner Freizeit war ich sonst lieber mit Freunden einkaufen oder zum Filmabend gegangen.

Ich kletterte mehr oder weniger geschickt auf einen Baum, setzte mich auf einen Ast, von dem ich glaubte, dass er mich tragen würde und schlang die Arme um die angewinkelten Knie. Nun da ich meine Ruhe hatte, begann ich mich zu fragen, wie sich wohl Mum bei ihrer ersten Verwandlung angestellt hatte. Ob sie direkt damit klar gekommen war? Na ja, sie hatte ja auch nur mit viel Fell und vier Beinen zu kämpfen gehabt, nicht mit Federn und Flügeln. Ich seufzte. Warum war ich nur so anders? Warum ausgerechnet ich?

Plötzlich begann der Ast unter mir zu knacken und ich machte mich erschrocken daran, von diesem Baum runter zu kommen. Blöderweise war ich etwas zu ungeschickt und schrammte mir beim Abstieg den kompletten Unterarm auf. „Verdammt“, zischte ich. Als ich jedoch die Wunde betrachtete, sah ich bereits, wie die ersten Schrammen verblassten. Fasziniert und ungläubig zugleich starrte ich auf meinen wenige Sekunden später bereits wieder gesunden Arm. „Wow“, hauchte ich. Gehörte das etwa auch dazu?
 

Am nächsten Morgen stand ich sehr früh auf. Ich wollte mit dem ersten Bus zur Schule fahren, um meine Tasche zu holen, noch bevor Mum mich zum Frühstück rufen würde. Ich wusste, dass die Putzfrau um diese Uhrzeit schon unterwegs war. Das Licht, das in diesen frühen Stunden bereits durch die Fenster der Klassenräume schien, bestätigte mir das. Ich betrat das Schulgebäude wie gewohnt durch den Haupteingang, schlich mich dann aber mehr oder weniger weiter.

Auf dem Dach angekommen, suchten meine Augen nervös nach meiner Schultasche. Zu meiner Erleichterung lag sie noch immer hier, zusammen mit einer beachtlichen Menge an Kleidungsfetzen. Ich las alle zusammen und stopfte sie in meine Schultasche, wo auch noch immer das Stückchen Tisch drin lag und trat die Heimreise mit dem nächstmöglichen Bus an.
 

Als Mum mich zum Frühstück wecken wollte, lag ich wie immer in meinem Bett. Alles hatte reibungslos funktioniert. Jetzt musste ich nur noch den Rest des Tages überstehen.

Ich saß gerade in der Küche und verputzte mein letztes Brötchen, da bimmelte das Telefon. Mum ging wie gewohnt an den Apparat.

„Black-Cullen?“, meldete sie sich.

„Ja?“, kam es dann. „Ja... ja, natürlich.“

Ihre Stimmlage wurde langsam weniger freundlich.

„Was? Nein... in Ordnung. Ja, selbstverständlich. Ja, danke. Vielen Dank.“

Dann legte sie auf.

Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch schluckte ich mein letztes Stück. Mum hielt kurz inne, nachdem sie aufgelegt hatte, dann erst drehte sie sich zu mir um.

„Was ist?“, fragte ich nun etwas nervös.

„Du hast einen Tisch kaputt gemacht?! Und was noch viel schlimmer ist, du hast gestern den halben Unterricht geschwänzt?!“

„Ich kann alles erklären“, stammelte ich.

„Nur zu, ich bin ganz Ohr“, antwortete sie und wartete auf meine Erklärung.

Zum zweiten Mal musste ich ihr nun wegen der ganzen Sache eine Lüge auftischen.

„Ich weiß nicht, wie das mit dem Tisch passieren konnte. Er war wohl einfach alt und morsch. Ich meine, die sind teuer, die Schulen haben doch so wenig Geld, du weißt sicher am besten, wie das mit den Geldern ist. Aber die waren dann alle so sauer und dann war ich unten beim Hausmeister und ich war so überfordert, ich meine, ich musste doch noch nie Strafarbeiten machen. Und da bin ich dann einfach ausgebüxt und war den Rest des Tages im Wald spazieren.“

Ihr misstrauischer Blick verflüchtigte sich nach und nach, bis sie letztlich wieder einen freundlichen, jedoch besorgten Gesichtsausdruck hatte. „Aber mein Schatz“, sagte sie. „Du hättest mich doch anrufen können. Ich bin doch immer für dich da. Ich dachte das wüsstest du.“

„Ja, ich weiß, aber...“

„Ach Billy“, sagte sie dann und legte ihre Hand an meine Wange.

Ich reagierte zu langsam, um es zu verhindern. „Du bist ja ganz heiß, hast du Fieber, Schatz?“

Ich nahm ihre Hand von meiner Wange und wich zurück. „Nein, Mum. Ich muss jetzt aber wirklich los!“ Ich drehte mich um und trat vor die Tür. Wie so häufig in dieser Gegend, regnete es nun. Mum folgte mir, griff auf dem Treppenvorsatz nach meiner Tasche und hielt mich fest.

„Du kannst doch in dem Zustand nicht zur Schule gehen!“, rief sie mir nach.

„Mum, bitte lass mich los!“, rief ich zurück.

„Billy-Sue!“, schrie sie mich dann an.

Dann rutschte ich plötzlich auf der ersten Stufe aus und fiel vorn über. Normalerweise wäre ich mit dem Gesicht voraus auf dem Boden aufgeschlagen, stattdessen zitterte wieder jede einzelne meiner Fasern und die Hitze durchströmte mich. Nur einen Wimpernschlag später flatterte ich unbeholfen im matschigen Boden vor unserem Haus herum.

Mum stand, zur Salzsäule erstarrt, so schien es, am oberen Ende der Treppe, doch dann übersprang sie plötzlich alle Stufen und umschloss mich komplett mit ihren Armen. „Billy!“, rief sie verzweifelt. Sie hielt mich fest in dem Versuch, mein Gezappel zu unterbinden. Ich hingegen konnte nicht anders, als immer weiter zu flattern. Trotz allem ließ meine Mutter mich nicht los, wahrscheinlich aus Angst, dass ich davon fliegen würde. Sie hatte ja keine Ahnung, dass ich nicht wusste, wie das ging.

Mum brachte mich zurück ins Haus, ging mit mir in ihr Schlafzimmer im ersten Stock und schloss die Tür hinter sich, dann erst ließ sich mich los. Ziemlich aufgeplustert saß ich nun auf ihrem Teppichboden. Sie sah mich müde an, versuchte dann jedoch zu lächeln und setzte sich aufs Bett.

„Beruhig dich, mein Schatz. Es ist alles in Ordnung, niemand tut dir etwas und ich bin dir auch nicht böse.“

Ihre Worte waren tatsächlich wie Balsam für meine Seele. Ich spürte, wie ich mich nach und nach entspannte und auch Mum wurde ruhiger. Schließlich war da wieder dieser Sog und die Federn verschwanden. Meine Flügel wurden zu Händen, mein Schnabel wieder ein Mund. Beschämt, dass ich nun ohne Kleidung und voller Matsch in Mums Schlafzimmer saß, kauerte ich mich auf dem Fußboden förmlich zusammen und schlang die Arme um mich selbst.

„Billy...“, flüsterte Mum sanft. „Komm her, mein Schatz.“

Ich sah traurig zu ihr hinüber und spürte, wie meine Augen sich allmählich mit Tränen füllten.

„Komm“, wiederholte sie leise und breitete die Arme auf. Ich lief langsam zu ihr hinüber und kuschelte mich hinein. Sie schlang beschützend ihre Arme um mich, drückte mich an sich und wog mich sanft hin und her. Jetzt konnte ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten.

„Es tut mir so leid, Mum“, wimmerte ich.

„Aber nicht doch, mein Schatz“, flüsterte sie. „Du kannst doch nichts dafür.“

Jetzt wimmerte ich leise vor mich hin.

„Seit wann kannst du dich verwandeln?“, fragte sie.

„Seit... seit gestern“, schluchzte ich.

„Hast du deswegen die Schule geschwänzt?“

Ich nickte. „Da war diese Hitze und ich musste so zittern. Ich wusste nicht was es war. Ich war total verwirrt und bin aufs Dach geflüchtet und dann ist es auf einmal passiert, als ich fiel.“

„Und als du dich zurückverwandelt hattest, hast du dir die Kleider von Rains Wäscheleine genommen?“

Wieder nickte ich.

„Ach, Schatz“, sagte Mum und gab mir einen Kuss auf die Stirn.

„Warum bin ich nur so komisch?“, fragte ich weinend.

„Das ist das Gen, mein Schatz. Es schlummert in uns allen und in manchen bricht es unter bestimmten Voraussetzungen aus. Es tut mir Leid, dass dir das passiert ist. Das habe ich für dich nie gewollt, aber ich trug es in mir und dein Vater ebenso.“

„Das meine ich nicht“, jammerte ich. „Ihr wart doch beide Wölfe. Ich bin ein Vogel. Jetzt bist du sicher furchtbar enttäuscht.“

„Enttäuscht?“, fragte sie und lächelte dabei leicht. „Ach, Unsinn.“ Sie nahm ein Tuch und wusch mir etwas Dreck vom Oberarm und aus dem Gesicht. „Stell dir vor, du wärst kein Vogel gewesen, als du vom Dach gefallen bist. Du hättest tot sein können.“

„K-kannst du auch ein Vogel werden?“, fragte ich verwundert.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein.“

„U-und Daddy?“

- „Nein.“ Jetzt sah sie nachdenklich drein, aber auch irgendwie traurig.

„Schatz, wie wäre es, wenn du dich kurz abduschst, während ich in der Reservatsschule Bescheid gebe, dass ich heute nicht kommen kann?“

„O-okay“, antwortete ich. Mum legte mir ihren Morgenmantel um und ließ mich dann ins Bad gehen.
 

Gut eine Viertelstunde später, kam ich frisch geduscht und in sauberen Klamotten wieder hinunter in die Küche, wo Mum mir ein paar Kekse und Milch bereitgestellt hatte.

„Setz dich, mein Schatz“, sagte sie und deutete mir den Platz am Kopfende an. Sie setzte sich auf den Stuhl links von mir.

„Ich kann nicht mal fliegen“, sagte ich dann.

Sie musste kurz lächeln. „Das wirst du bestimmt noch lernen, aber nicht von mir. Ich kann dir da leider nicht helfen.“

„Ich weiß, Mum. Ich übe einfach fleißig, dann klappt das bestimmt.“

„Und in der Zwischenzeit?“, meinte Mum dann. „Verwandelst du dich unkontrolliert und wirst möglicherweise überfahren oder von einem Hund zerrissen? Nein, mein Schatz, das geht so nicht.“

- „Du kannst mir aber doch bestimmt beibringen, wie man die Verwandlungen kontrolliert, oder etwa nicht?“

„Schon, aber das wird Wochen dauern. Es kann so schrecklich viel passieren bis dahin und selbst wenn du gelernt hast, deine Verwandlungen zu kontrollieren, es hat noch so vieles mehr, was du lernen musst. Das Fliegen, das Landen. Wie du dich in der Luft verhalten musst. Der Umgang mit anderen Tieren. Ich war ein pferdegroßer Wolf, ich weiß nichts von diesen Dingen.“

„Aber wer soll mir das denn beibringen können, wenn nicht du? Ihr wart doch alle Wölfe?“

Zu meiner Überraschung schüttelte sie nun den Kopf. „Nicht alle.“

Ich sah sie fragend an.

„Dein Onkel konnte sich in fast jedes Tier verwandeln. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er im Gegensatz zu mir nie damit aufgehört hat, sich zu verwandeln.“

„Du willst mich fortschicken?“, fragte ich empört.

„Ich will, dass du lernst, mit deinen Fähigkeiten umzugehen. Dazu brauchst du einen entsprechenden Lehrer und einen Ort, an dem du in Ruhe üben kannst, ohne Menschen.“

- „Wie lange?“

„Das weiß ich nicht.“

- „Aber meine Freunde. Die Schule. Mein Referat!“

„Du hättest wahrscheinlich nicht im Traum daran gedacht, dass ich das jemals sagen würde, aber die Schule ist jetzt erstmal egal.“

Ich sah sie traurig an.

Sie nahm mein Gesicht in ihre Hände. „Billy, wenn ich könnte, würde ich dir das alles ersparen, aber ich kann es nicht ändern. Das ist unsere Natur. Es tut mir Leid, mein Kind.“

Ihre Augen füllten sich mit Tränen und ich schüttelte den Kopf.
 

Noch am selben Abend weihten wir meine Geschwister ein. Sie nahmen es relativ mit Fassung. Ich sah ihnen jedoch an, dass sie sich Sorgen um mich machten.

„Versprich uns, dass du heil wiederkommst, Zwerg“, bat Madeleine.

„Und halt die Ohren steif – oder die Flügel“, sagte mein Bruder Harry und zwinkerte mir zu.

Während ich meine Sachen packte, organisierte meine Mutter meinen Flug und meldete mich für eine unbestimmte Zeit von der Schule ab. Ich hätte mich gern bei meinen Freundinnen verabschiedet, aber Mum hielt den Kontakt mit Menschen momentan für zu riskant. Ich würde wohl warten müssen, bis ich meine Verwandlungen unter Kontrolle hatte. Wie lange das dauern würde, das konnte mir niemand sagen.
 

„Bist du dir ganz sicher, dass du allein fliegen möchtest, mein Schatz?“, fragte Mum am nächsten Morgen am Flughafen. Sie schien nervöser zu sein als ich es war. Ich nickte. Ich hatte Angst, dass ich nicht bei den Cullens bleiben würde, wenn sie mit mir dort war und wieder Heim flog. Der Abschied dort würde wahrscheinlich noch viel schwerer sein, als es dieser hier nun war. Ein möglichst glatter Schnitt schien mir das Beste zu sein.

„Ich hab dich lieb, Mum“, flüsterte ich ihr zu, als sie mich ein letztes Mal am Terminal umarmte.

„Ich dich auch, mein Schatz. Gib Bescheid wenn du angekommen bist und melde dich ab und an bei mir, ja?“ Ihre Stimme zitterte leicht. Sie würde sicher bald weinen und wenn sie weinte, das wusste ich, würde ich meine Tränen sicher auch nicht mehr zurückhalten können.

„Versprochen“, antwortete ich. „Wiedersehen.“ Dann drehte ich mich um und machte mich auf den Weg zum Flugzeug.

Wenn der Mond nicht für dich scheint

Der Flug nach Alaska dauerte etwa vier Stunden. Zu meiner eigenen Überraschung überstand ich ihn ganz ohne Zwischenfälle. Ich brauchte nicht mal die Baldriantropfen, die Mum mir sicherheitshalber mitgegeben hatte. Ich war die Ruhe selbst, trotz der vielen Menschen auf engem Raum um mich herum.

Am Nachmittag landete ich in Fairbanks, von dort ging es für mich mit dem Taxi weiter. Ich hatte nichts weiter als einen kleinen Notizzettel mit einer Adresse, die ich dem Fahrer nannte. Das Ergebnis war, dass er mich irgendwann an einer Tankstelle mitten im Nirgendwo absetzte.

Ich bezahlte etwas verwundert. „Sind Sie sicher, dass ich hier richtig bin?“

Der ältere Herr zuckte die Achseln. „Ich bin mir sicher, dass das die Adresse ist, die auf deinem Zettel stand. Ob du natürlich hier richtig bist, kann ich dir nicht sagen.“

„Mhm“, murmelte ich. „Na gut, trotzdem vielen Dank.“

„Nichts zu danken, junges Fräulein. Ich wünsche dir alles Gute.“ Dann fuhr er davon und ließ mich stehen.

Ich sah mich um. Hier tankte kein einziges Auto und ringsherum sah ich nichts weiter als Berge mit weißen Spitzen. Ich ging in den Shop und kaufte mir einen Schokoriegel, um mit dem Tankstellenwart ins Gespräch zu kommen.

„Entschuldigen Sie, können Sie mir vielleicht sagen, wo ich hier bin?“

Er sah mich verwundert an und scannte den Riegel ein. „Hat dich der Taxifahrer rausgeschmissen, weil dir das Geld ausgegangen ist?“

„Ich... was? Nein!“, gab ich zurück.

„Entschuldigung?!“, rief plötzlich jemand hinter uns und ich drehte mich zur Tür um. „Braucht hier eine kleine Quileute zufällig eine Mitfahrgelegenheit?“

Mein Herz machte einen Hüpfer. Ich war doch nicht gestrandet!

„ONKEL SETH!“, rief ich freudig und sprang auf ihn zu.

Er fing mich auf. „Hey, nicht so stürmisch! Ich freu mich ja auch, dich mal wieder zu sehen.“

Er setzte mich ab und hielt die Handfläche ein paar Zentimeter über meinen Kopf. „Bist seit dem letzten Mal ja noch mal ein ganzes Stück gewachsen, was?“

Ich nickte und strahlte ihn dabei an. Er sah noch immer genauso aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Die treuen dunklen Augen, das schwarze kurze Haar, das verschmitzte Lächeln. Seit ich zurück denken konnte, war ich von meinem Onkel derart begeistert gewesen, wie von keinem sonst. „Na dann machen wir uns mal auf den Weg“, sagte er dann, schob mich nach draußen und winkte dem Tankstellenwart noch einmal zu.

Vor der Tür stand ein violetter Sportwagen. „Wow“, murmelte ich.

„Gehört Mariella“, sagte er, als er den Knopf an seinem Schlüssel drückte und der Kofferraum daraufhin langsam nach oben fuhr. „Ich brauche ja keines. Du weißt warum.“

Ja, natürlich wusste ich das. Er hatte als Wolf vier Pfoten, die deutlich schneller waren, als jedes Auto. Nachdem er meine Koffer für mich verstaut hatte, fuhren wir los. Die nächste Stunde ging es nur noch stur geradeaus. Ich konnte nicht mal sagen, wie schnell wir eigentlich fuhren, aber es musste ziemlich schnell sein, denn die Vegetation, die an uns vorbei zog, blieb nicht lange sichtbar. Ich starrte fasziniert aus dem Fenster. Für mich war das alles hier neu.

 

„Freust du dich schon?“, fragte Seth nach einer Weile.

„Natürlich“, antwortete ich. „Aber es wird auch ungewohnt sein, schätze ich.“

„Eine Familie bestehend aus Vampiren, Werwölfen und Hybriden? Was du nicht sagst“, scherzte er und lachte dabei. „Nein, mal im Ernst. Du wirst feststellen, dass wir gar nicht so abnormal sind, wie sich das anhört. Trotz allem sind wir eine Großfamilie und die sind ja bekanntlich immer etwas chaotischer, ganz gleich, ob wir nun schlafen oder nicht schlafen, zum Essen in den Wald gehen oder uns in pferdegroße Wölfe verwandeln.“

„Es klingt alles so selbstverständlich aus deinem Mund“, sagte ich. „Für mich ist es das nicht.“

„Weißt du, warum deine Mutter euch nie mitgenommen hat, wenn sie uns besucht hat?“

Ich schüttelte den Kopf. „Sie meinte immer nur, es sei besser so.“

„War es vielleicht auch“, gab er zurück.

Ich sah ihn verwundert an.

„Wenn ein Gestaltwandler zu viel Kontakt mit Vampiren hat, wird das Gen aktiv. Früher dachten wir, dass es nur bei Teenagern passiert. Dein Vater jedoch, hat sich bereits verwandelt, da konnte er noch nicht mal laufen, geschweige denn sprechen. Es ist egal, wie alt man ist, trägt man das Gen in sich, ist der Moment der ersten Verwandlung davon abhängig, wie stark der Kontakt zu Vampiren ist und wie viele andere Gestaltwandler es in der Nähe gibt.“

„Du meinst in meiner Schule ist ein Vampir aufgetaucht?“

„Sehr wahrscheinlich ist das der Grund“, antwortete Seth.

Ich überlegte, wessen Erscheinen meine Verwandlung verursacht haben könnte, aber mir war niemand aufgefallen, der den Beschreibungen von Vampiren, wie meine Mutter sie mir mal genannt hatte, entsprach. Bernsteinfarbene Augen, heller Teint, kalte, steinharte Haut.

 

„Da wären wir“, sagte Seth plötzlich und riss mich damit aus meinen Gedanken. Vor uns tauchte ein ziemlich großes, luxuriöses Haus auf. Die Auffahrt war sehr großzügig, ich sah jedoch nirgendwo Zäune, wahrscheinlich weil hier ohnehin niemand her kam. Dieses Anwesen lag sprichwörtlich mitten im Nirgendwo. In der Ferne sah ich weiterhin nichts als Berge und ein paar hundert Meter hinter dem Haus begann ein üppiger Wald.

Seth parkte den Wagen etwas vom Eingang entfernt. Was mir als erstes auffiel, war die Fensterfront. Das Haus schien größtenteils aus Glas zu bestehen. Alles war hell und offen. Der Rest war mit schwarzem, lackiertem Holz verkleidet. Es hatte kein schräges Dach, so wie unsere Häuser in La Push. Das Dach war flach, oben thronte eine Art Penthouse. Es war etwas schmaler als die anderen zwei Stockwerke, wodurch sich ringsherum ein Balkon bildete.

Seth folgte meinem Blick nach oben und begann ein bisschen zu erklären. „Esme hat das Haus so gestaltet, dass wir alle unter einem Dach leben und uns trotzdem aus dem Weg gehen können. Wir wohnen jeweils getrennt in verschiedenen Suiten. Im Erdgeschoss teile ich mir eine mit Mariella, die Andere haben Edward und Bella. Im zweiten Stock wohnen Renesmee und Jacob. In der anderen Suite wohnen abwechselnd Carlisle und Esme, Rose und Emmett oder Alice und Jasper – je nachdem wer gerade hier ist. Theoretisch hat es dort sogar Platz für alle, schließlich braucht keiner von ihnen wirklich ein Bett, aber sie sind meistens nicht da.“

„Wirklich?“, fragte ich. „Wo sind sie?“

„In Italien. Vampir-Business.“ Weitere Erklärungen blieb er mir schuldig, aber ich nahm mir vor irgendwann noch einmal genauer nachzuhaken. „Momentan ist keiner von ihnen da. Sie gehört also komplett dir.“

Eine ganze Suite nur für mich? Mein Herz machte einen Hüpfer. Das hörte sich großartig an!

„Ach so“, fügte er dann noch hinzu. „Und im Penthouse wohnen Anthony, Sangreal, Nayeli und Luna.“

Ich sah nach oben. So wie er die Namen aneinander reihte, klang es so, als hätte man diesen Vier am meisten Privatsphäre gegönnt. Als hätten sie ihr eigenes Haus, nur dass es eben auf einem anderen drauf stand.

„Na komm, lass uns rein gehen“, sagte Seth dann.

„Aber meine Koffer?“, protestierte ich.

Seth legte seine Hand an meinen Rücken und schob mich sanft nach vorn. „Die laufen schon nicht weg.“

Etwas unsicher betrat ich jenes Haus, das für die nächste Zeit mein Zuhause sein würde. Wie lange ich hier wohnen würde, wusste ich nicht, aber ich ging davon aus, dass es Monate, wenn nicht sogar Jahre sein würden. Letzteres wäre für mich sicher viel schlimmer, als ich es mir momentan ausmalen konnte. Zum jetzigen Zeitpunkt war ich von allem einfach nur überwältigt. All der Luxus um mich herum, ließ mich die bösen Gedanken ganz vergessen. Wo auch immer ich in diesem Haus hinsah, sah ich Perfektionismus vor mir. Nicht ein Staubkörnchen, nicht ein vergessener, herumliegender Gegenstand auf den man hätte treten können. Es sah aus wie aus dem Katalog eines Möbelhauses. Alles war harmonisch aufeinander abgestimmt und in hellen Tönen gehalten. Der Boden war mit hellem Parkett ausgelegt worden, die Wände waren schneeweiß und gelegentlich hingen Bilder an ihnen, deren Künstler ich nicht kannte, aber sie sahen teuer aus. Im Erdgeschoss befand sich ein gemeinschaftlich, von allen genutzter Wohn- und Essbereich, mit einem weißen Ledersofa und einem riesigen Fernseher an der Wand.

Seth wollte gerade mit mir Kehrt machen, um mich ein Stockwerk höher zu führen, da kam plötzlich Opa Jacob auf uns zu. Er hatte nur Shorts an, was mich darauf schließen ließ, dass er bis eben noch ein Wolf gewesen war. Ich kannte es so von Embry. „Hey, Billy!“, rief er mir freudig zu und umarmte mich zur Begrüßung. Hinter ihm sah ich nun auch Renesmee. Sie hatte ihr langes bronzefarbenes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden und trug eine luftige hellblaue Bluse. Wenn ich so an die weißen Bergspitzen um uns herum dachte, war das ziemlich leichte Kleidung, aber als auch sie mich herzlich umarmte, stellte ich fest, dass wir eine ähnlich warme Körpertemperatur hatten und hier draußen in der Wildnis mussten sie sich wohl auch nicht verstecken, indem sie der Außentemperatur angepasste Kleidung trugen.

„Hattest du eine gute Reise?“, fragte sie freundlich.

Ich nickte.

„Au ja!“, rief Seth plötzlich aus. „Ich habe dir ja etwas zum Futtern vorbereitet!“

„Ist schon fertig, Schatz, ist schon fertig“, kam es plötzlich von oben. Mariella stand auf der Treppe und lächelte mich an.

„Super!“, rief Seth aus und schob mich Richtung Esstisch.

Dort stand eine riesige Schüssel Pasta und neben ihr ein etwas kleinerer Topf mit Soße auf einer Art kleinem Bunsenbrenner, der alles warm hielt. „Setz dich ruhig. Ich geh mal eben hoch und hole die Anderen.“

Etwas unsicher näherte ich mich dem Tisch. Ringsherum standen etwa ein Dutzend Stühle, aber ich wusste ja nicht, ob ich irgendjemandem den Platz wegnahm, wenn ich mich einfach irgendwo hinsetzte.

„Setz dich ruhig“, wiederholte Mariella die Worte, die Seth eben zu mir gesagt hatte. Ich sah nur ihr langes, leicht gelocktes braunes Haar, weil sie gerade Getränke aus dem Kühlschrank holte.

Also gut, dachte ich und setzte mich einfach auf den Stuhl ganz links. Mariella lächelte mich an, als sie die Flaschen auf den Tisch stellte, dann gesellten sich Jacob und Renesmee zu mir und setzten sich auf die gegenüberliegende Seite.

 

Plötzlich wurde es deutlich lauter, da mehrere Personen im wilden Stimmgewirr die Treppe herunter kamen. Zuerst betrat Seth wieder die Küche, gab Mariella einen sanften Kuss auf die Wange und setzte sich dann neben Jacob. Mariella folgte ihm und nahm auf dem Stuhl neben Seth platz. Er wollte eben nach der Zange für die Nudeln greifen, da hielt er plötzlich inne. Erst sah er zu mir, dann sah er irgendetwas oder irgendjemanden hinter mir an. „Au ja“, sagte er, als sei ihm eben etwas eingefallen. Ich drehte mich verwundert um. „Billy-Sue, das sind Nayeli und Luna. Nayeli, Luna – Billy-Sue“, stellte er uns einander vor. Die Mädchen musterten mich wortlos. Die Linke sah etwas älter aus, als die Rechte. Sie hatte schwarzes, lockiges Haar und graue Augen. Das Mädchen neben ihr hatte dagegen nur leicht gelockte braune Haare mit einem Pony. Auffällig waren für mich auf jeden Fall ihre unterschiedlichen Hautfarben. Während die Schwarzhaarige einen sehr gesunden und gewöhnlichen Hautton hatte, hatte die Braunhaarige alabasterfarbene Haut. Ihr dunkler Lidstrich unterstützte diesen Effekt auch noch. Und nun, da ich ihre Augen sah, fiel mir eine Gemeinsamkeit mit mir auf, mit der ich nicht wirklich gerechnet hatte: sie hatten genau denselben Grünton, wie meine. Das Grün, das ich laut meiner Mutter, von meinem Vater geerbt hatte.

Ich kannte sie erst seit ein paar Sekunden, aber diese Kleinigkeit führte dazu, dass ich mich ihr irgendwie verbunden fühlte. Doch schien es nicht auf Gegenseitigkeit zu beruhen, denn als mir das andere Mädchen freundlich die Hand reichte und sich mir nochmals persönlich als Nayeli vorstellte, setzte sie sich stumm in Bewegung und nahm zwei Stühle von mir entfernt Platz.

Hatte ich etwa etwas falsch gemacht? Saß ich vielleicht auf ihrem Stuhl?

„Lasst es euch schmecken“, sagte Seth und machte der schrecklichen Stille, die eben noch geherrscht hatte, glücklicherweise ein Ende.
 

In den ersten Minuten waren alle damit beschäftigt sich Essen auf ihren Teller zu legen, doch als alle versorgt waren, begann Jacob mit dem Smalltalk. „Wie geht es denn deiner Mum?“, fragte er mich.

„Gut, denke ich... na ja, abgesehen von der Sache mit mir“, antwortete ich.

„Ach, das kriegen wir sicher in den Griff“, winkte er ab.

„Oh, wenn es sogar Colin geschafft hat, schaffst du es mit links“, warf Seth ein.

Jacob lachte zur Antwort und schob sich dann eine Gabel Nudeln in den Mund.

„Für dich ist das sicher alles sehr aufregend, mh?“, fragte Renesmee.

„Definitiv“, gab ich zurück.

„Wir finden es alle klasse, dass du jetzt eine Weile bei uns bleiben wirst. So bekommen endlich auch mal diejenigen die Chance dich kennenzulernen, die sie bisher nicht hatten“, kam es von Seth. „Und umgekehrt“, sagte ich lächelnd und sah einmal in die Runde. Mein Blick blieb kurz an Lunas Gesicht haften. Im Gegensatz zu Nayeli neben ihr, die mich anlächelte, verzog sie keine Miene. Ich hoffte, dass sie nur einen schlechten Tag hatte. Schnell sah ich wieder zu Jake. „Wie lange wird es denn ungefähr dauern? Ich meine, wie lange ist 'eine Weile'?“

„Och“, sagte Jake und rollte die letzte Gabel Pasta auf. „Das kommt darauf an, wie schnell du lernst, beziehungsweise wie gut sich Anthony als Lehrer macht.“

„Wohl eher Ersteres.“

Mein Blick richtete sich schlagartig wieder auf Luna. Es war das erste Mal, dass ich ihre Stimme gehört hatte. Obwohl sie einen sehr wohltuenden Klang hatte, hörte ich deutlich einen Anflug von Eitelkeit darin.

 

Jacob schob sich die Gabel in den Mund und sprach einfach mit vollem Mund weiter. „Ich weiß, er hat dich auch trainiert, aber dir musste er nicht das Fliegen beibringen.“

Luna stand ruckartig auf. „Nur weil ich von Anfang an Teil des Rudels war und viel zu sehr an die Wolfsform gebunden.“

Jacob legte sein Besteck auf den leeren Teller und lehnte sich im Stuhl zurück, dabei breitete er die Arme aus und legte einen davon um Renesmees Schultern. „Oh gut, jetzt wo du schon mal stehst, Luna, kannst du Billy auch gleich ihr Zimmer zeigen.“

Luna funkelte Großvater finster an.

„Tu doch einfach, was er sagt“, seufzte Nayeli entfernt.

„Meinetwegen“, gab ihre Schwester daraufhin nach, stellte sich hinter ihren Stuhl und schob ihn zurück an den Tisch. „Komm mit“, richtete sie sich dann an mich.

Ich stand mit einem mulmigen Gefühl auf und folgte ihr nach oben. Wie nicht anders zu erwarten war, sah auch hier alles wundervoll aus. Hell, freundlich und sehr modern. Als sie mich durch den Korridor führte, fiel mir jedoch auf, dass ich gar keine Treppe zum Penthouse gesehen hatte. Mir blieb keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, denn schon waren wir angekommen und Luna führte mich in mein neues, vorübergehendes Zuhause. Die Suite war bombastisch. Durch die großen Fenster schien das Mondlicht herein, ich sah wie sich die Bäume vor den Scheiben im Wind wogen. Luna drückte auf den Lichtschalter und nach und nach glimmten die kleinen LED-Leuchten, die überall in die Decke eingelassen waren, auf und tauchten den Raum in ein warmes Licht.

„Deine Koffer sind schon da. Normalerweise gibt es hier kein Bett, aber es wurde nun eines für dich aufgestellt. Wenn dir der Standort nicht passt, musst du einfach nur Seth und Grandpa bescheid sagen.“

„Nicht passen?“, fragte ich. „Machst du Witze? Das ist alles wundervoll!“

Sie sah mich ausdruckslos an und jedes weitere Wort blieb mir förmlich im Hals stecken. Warum hatte ich mich vor ihr zu so einem Gefühlsausbruch hinreißen lassen? Hatte ich wirklich mit einer Reaktion gerechnet? Ich wusste von diesem Mädchen nichts, außer den genauen Farbton ihrer Augen bei sämtlichen Lichtverhältnissen, allerdings nur, weil ich dieselben Augen hatte, aber schon jetzt war mir irgendwie klar, dass ich auf diese Weise keinen Draht zu ihr finden würde. Aus irgendeinem Grund wünschte ich mir aber genau das. Und ich wusste beim besten Willen nicht, wieso. Bisher war es mir auch immer egal gewesen, wenn mich jemand nicht mochte.

„Gute Nacht“, sagte sie nach einer gefühlten Ewigkeit. Ich nickte und sie schloss die Tür hinter sich, als sie den Raum verließ.
 

Ich seufzte. Okay, das war nicht so gut gelaufen, aber fürs erste war es erstmal wichtig für mich, meine Verwandlungen unter Kontrolle zu bringen. Freundschaften schließen musste ich hinten anstellen.

Die nächsten zwei Stunden verbrachte ich damit, mein Hab und Gut aus meinen Koffern zu räumen. Wenn mich schon nicht alle so gut bei sich aufnehmen wollten, wollte ich mich wenigstens in meinem Zimmer einigermaßen heimisch fühlen.
 

Bis in die frühe Nacht hinein blieb ich allein und dachte schon, dass erst im Morgengrauen wieder jemand mit mir reden würde, da öffnete sich die Tür und Renesmee trat ein.

„Hast du alles was du brauchst?“, wollte sie wissen.

 

Ich nickte.

 

„Wenn du je irgendetwas brauchen solltest, kannst du jeden im Haus danach fragen. Scheu dich nur nicht davor.“

„Alles klar“, sagte ich.

Nun nickte sie. „Dann wünsche ich dir eine gute Nacht.“ Sie wollte gerade gehen, da richtete ich noch mal das Wort an sie.

„Moment“, bat ich.

„Ja?“, fragte sie und drehte sich noch einmal um.

„Beginnt mein Training schon morgen?“ Ich hoffte, sie nahm mir diese Frage nicht übel. Ich wollte auf keinen Fall den Eindruck erwecken, nicht gerne hier zu sein. Denn obwohl ich meine Mutter und meine Geschwister schon jetzt vermisste, empfand ich es momentan noch als eher positiv, dass ich nun hier war. Es war alles so neu und aufregend. Nur der Gedanke an das kommende Training machte mir Angst, dennoch wollte ich unbedingt meine Probleme so schnell wie möglich in den Griff kriegen, um nie wieder in so eine brenzlige Lage zu kommen, wie auf dem Schuldach.

Renesmee sah etwas traurig aus, als sie den Mund öffnete, um mir zu antworten. Ich dachte schon, sie nahm es mir wirklich übel, realisierte jedoch dann, dass das nicht der Grund für ihren Blick war, sondern die Tatsache, dass sie mir keine positive Antwort geben konnte.

„Leider nicht. Anthony und Sangreal sind derzeit mit Mum und Dad, also ich meine mit Bella und Edward, in Italien, aber sie müssten in den nächsten Tagen den Rückflug antreten.“
 

***
 

Am nächsten Morgen musste ich mir, da ich in einem mir fremden Zimmer aufwachte, erstmal in Erinnerung rufen wo ich war und warum ich hier war, dann jedoch zog ich mich rasch um und ging hinunter in die Küche. Bereits im Flur roch ich den wohlschmeckenden süßlichen Geruch, der von etwa einem Dutzend übereinander gestapelter Waffeln in der Mitte des Esstisches herrührte.

Als ich den Raum betrat, drehte sich Nayeli, die am Herd stand und die Waffeln offensichtlich zubereitet hatte, mit einem freundlichen Lächeln um. Ihr langes, schwarzes Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden und zusätzlich mit einem Dreieckstuch bedeckt, was mich darauf schließen ließ, dass sie wohl öfter zu kochen schien.

„Guten Morgen, Billy-Sue!“, begrüßte sie mich strahlend. „Hast du Hunger? Nimm dir ruhig so viel du möchtest, ich mache gerade noch mehr, bevor Jake und Seth kommen.“

Ich setzte mich an denselben Stuhl wie am Vorabend und hob mir eine Waffel auf den Teller. Sie hatte eine perfekte goldbraune Farbe.

„Dankeschön“, bedankte ich mich. „Die sehen toll aus.“

„Nichts zu danken, Billy-Sue“, antwortete sie freundlich.

„Du kannst mich gern Billy oder Bills nennen“, bot ich ihr an.

„Oh, wirklich? Okay, dann eben Bills“, antwortete sie und wand sich dann wieder dem Waffeleisen zu.
 

Plötzlich hörte ich schnelle Schritte und Seth und Jake kamen unter lautem Gelächter in die Küche gestürmt. Sie setzten sich links und rechts von mir an den Esstisch und nahmen sich jeweils gleich drei Waffeln auf ihre Teller.

„Morgen, Billy!“, sagte Jake, während er auf seine erste Waffel Ahornsirup kippte.

„Von mir auch einen guten Morgen, Billy“, schloss Seth sich an und aß seine pur.

„Mhmm!“, murmelte er, kaum dass er einen Bissen genommen hatte. „Schmeckt toll. Nayeli hast du den Zuckergehalt geändert?“

Nayeli schüttelte den Kopf und befreite die fertige Waffel aus dem Waffeleisen. „Ist keiner drin. Ich hab dieses Mal Stevia benutzt.“

„Ah“, sagte Seth und zeigte zur Antwort einen Daumen nach oben. „Sie ist bei mir in die Lehre gegangen“, klärte er mich auf meinen fragenden Blick hin auf.

Wenig später aßen auch Renesmee und Mariella mit uns und auch Nayeli gesellte sich an den Tisch, nachdem sie den gesamten Waffelteig zu Waffeln verarbeitet hatte.

„Ach Billy“, sagte Renesmee dann zu mir gewandt. „Wenn du deine Mutter anrufen möchtest, kannst du gern unser Telefon benutzen.“

„Super, danke, werde ich heute Abend machen, wenn sie von der Arbeit heim gekommen ist.“

„Ist sie immer noch Lehrerin an der Reservatsschule?“, fragte Mariella.

Ich nickte. „Ja, aber fragt mich nicht, wie sie sich da schlägt. Ich nehme an, dass sie super ist, aber ich gehe nicht auf die Reservatsschule.“

„Ja, davon haben wir gehört“, meinte Renesmee.

„Ein kleines bisschen Rebellin, was?“, sagte Grandpa Jake und grinste dabei.

„Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm“, antwortete Renesmee.

„Hey, ich bin brav auf die Reservatsschule gegangen!“, protestierte Jake noch immer grinsend.

„Ja, aber man darf nicht vergessen, dass du der erste Alpha warst, der seinen Rang ablehnte, ihn dann später wieder zurückforderte und dabei sogar ein Rudel spaltete. Ach und du warst auch der erste Quileute, der sich auf einen Vampir geprägt hat – einen halben, meine ich“, sagte Seth.

„Ja, ja“, murmelte Jake.

„Und!“, fügte er dann noch hinzu. „Wir kennen ja da noch jemanden, der mit dir eng verwandt ist und meinte, die Regeln einfach ignorieren zu müssen und sich eben nicht in einen Wolf zu verwandeln.“

Jetzt wurde ich erst richtig hellhörig. All das Gerede darüber, dass Grandpa seinen Platz als Stammesoberhaupt nicht annahm und es stattdessen Sam Uley übergeben hatte, hatte Mum uns bereits mehrfach erzählt. Auch, dass es eine Zeit lang zwei Rudel gab, wussten wir. Aber von den Verwandlungen hatte sie kaum etwas erzählt, erst recht nicht, dass die Wolfsgestalt nicht die einzige Form war.

„In was hat er sich denn schon alles verwandelt?“, fragte ich neugierig.

„Och“, begann Grandpa Jake. „Raben, Adler...“

„Panther“, ergänzte Renesmee.

„Ein Kaninchen“, sagte dann Mariella und alle – inklusive mir – starrten sie an.

„Autsch, erinnere uns bitte nicht daran“, sagte Jake.

„Sie hat danach gefragt“, rechtfertigte sie sich.

„Er kann sich das frei aussuchen?“ Ich hoffte durch meine Frage weitere Sticheleien zwischen den Familienmitgliedern zu verhindern. Wahrscheinlich neckten sie sich nur, aber ich kannte es von meinen eigenen Geschwistern so, dass bloße Worte auch ausarten konnten und wollte es lieber nicht darauf ankommen lassen.

„Natürlich.“

Ich drehte mich verwundert um. Hinter uns betrat Luna die Küche, ging geradewegs auf den Tisch zu, hob sich eine Waffel auf den Teller und verließ den Raum wieder.

Ich schluckte und griff nach dem Ahornsirup.

„Mach dir nichts draus“, sagte Nayeli, hob Jake die letzte Waffel auf den Teller und nahm das dreckige Geschirr vom Tisch.

Ich nickte kaum merklich. Natürlich machte ich mir etwas daraus, wenn eine Person, die ich kaum kannte und die mich kaum kannte, so abweisend mir gegenüber war.

„Was hältst du davon, wenn ich dir nachher ein bisschen die Gegend zeige?“, bot Nayeli mir an, als sie auch meinen Teller wegräumte, nun da ich aufgegessen hatte.

„Das wäre toll.“
 

***
 

Etwa eine Stunde später lief ich gemeinsam mit Nayeli durch die üppigen Wälder, die sich hinter dem Haus der Cullens erstreckten. Sie hatte mir bereits die Wiesen vor dem Haus gezeigt und mir erklärt, dass der nächste Ort, eine relativ kleine Ortschaft, ein gutes Stückchen von ihnen entfernt lag. Auch erzählte sie mir, dass in der entgegengesetzten Richtung eine andere Vampirfamilie lebte, die sich ebenfalls dem vegetarischen Leben verpflichtet hatte. Zwar musste sie mir noch einmal erklären, was es genau mit dem Vegetarismus unter Vampiren auf sich hatte, da Mum auch hierüber nicht viel gesprochen hatte, doch nach und nach begann ich langsam mit dieser Hälfte meiner Verwandtschaft warm zu werden.

Sie selbst, so erzählte mir Nayeli weiter, war zwar ein Halbvampir, ernährte sich jedoch ausschließlich von menschlicher Nahrung. Ihre Mutter war in dem Versuch, sie zu beschützen umgekommen, ihren Vater hatte sie nie kennengelernt. Luna war also nicht ihre leibliche Schwester, dennoch standen sie sich einander sehr nahe.

„Das mit deinen Eltern tut mir sehr leid“, sagte ich traurig. „Ich glaube ich weiß, wie du dich fühlst.“

„Ist schon in Ordnung, Billy“, antwortete sie. „Ich bin Sangreal sehr dankbar, dass sie mich bei sich aufnahm und zusammen mit ihrer Tochter aufzog. Sie hat mir nie das Gefühl gegeben, dass sie mich weniger lieben würde als Luna. Und obwohl ich ihn nicht Dad nenne, habe ich in Anthony so etwas wie eine Vaterfigur gefunden. Ich hatte nie das Gefühl, dass mir etwas fehlte. Ich kenne dich kaum, aber ich denke, bei dir ist das anders.“

Ich sah traurig zu ihr auf und blickte in ihre grauen Augen. Sie hatte offensichtlich ein sehr gutes Einfühlungsvermögen. „Das stimmt. Mein Dad fehlt mir jeden Tag, aber...“, ich kramte in meiner Hosentasche, zog mein Portmonee heraus und zeigte ihr das Foto von Daddy. „Ich trage ihn immer bei mir.“

„Das ist toll“, sagte sie lächelnd.
 

Ich packte das Foto wieder weg. „Darf ich dich etwas fragen?“

Sie nickte und sah mich erwartungsvoll an.

„Was hat Luna gegen mich?“

Nayeli öffnete den Mund und schloss ihn wieder, ohne etwas zu sagen. Ein paar Sekunden später schien sie ihre Sprache dann doch wiedergefunden zu haben. „Ich glaube nicht, dass sie tatsächlich etwas gegen dich hat. Sie hat viel eher ein Problem mit sich selbst.“ Nayeli legte mir ihre Hand an den Rücken und gab sanft druck, so dass wir uns wieder gemeinsam in Bewegung setzten, plötzlich jedoch blieben wir beide stehen, als wir ein Rascheln in einer der Baumkronen über uns hörten.

Nayeli seufzte und schloss die Augen. Im nächsten Augenblick sprang Luna zu uns herab.

„Ein Problem mit mir selbst“, wiederholte sie die Worte ihrer Schwester und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ist das so?“, fragte sie dann.

Nayeli funkelte ihre Schwester etwas böse an. „Du bist neidisch – nein halt, du bist eifersüchtig auf sie, weil sie sich in verschiedene Tiere verwandeln kann und du nicht, aber das ist Unsinn, Luna, nur weil er sie unterrichten wird und sie etwas gemeinsam haben, heißt das doch noch lange nicht, dass er dir deswegen weniger nahe stehen wird. Er liebt dich mehr als alles andere auf dieser Welt und nichts wird das jemals ändern.“

Lunas Augen wurden glasig. „Du hast keine Ahnung!“, sagte sie bitter. „Keine!“

„Schön“, antwortete Nayeli und verschränkte nun ebenfalls die Arme. „Dann klär uns doch auf.“

Ich sah unsicher zwischen den Schwestern hin und her. Ich nahm nicht an, dass sie sich häufiger stritten, umso schäbiger kam ich mir vor, weil ich der Grund für einen dieser wenigen Streits war.

Luna trat näher an mich heran. Wir waren fast gleich groß. Ich sah wie ihre feuchten Augen funkelten. Die Augen, die genau denselben Grünton hatten, wie meine Augen. Die Augen, die mir im ersten Moment unserer Begegnung das Gefühl gegeben hatten, dass wir eine Verbindung hatten, obwohl wir uns noch nie zuvor sahen.

„Du weißt es wahrscheinlich gar nicht und du wirst es auch nicht absichtlich tun, aber du wirst Wunden aufreißen, die längst verheilt waren!“, schrie sie mich nun fast an.

Nayeli trat an ihre Seite, legte ihre Hand an die Schulter ihrer Schwester und drehte sie so hin, dass sie sie ansehen musste. „Verheilte Wunden können nicht aufgerissen werden, Luna, nur vernarbte.“

Luna sah betroffen zu Boden, doch ihre Schwester ging leicht in die Knie, sah sie warm an und redete ihr gut zu. „Luna“, sagte sie leise. „Vielleicht ist es gut so. Vielleicht muss es so sein, damit es ein für alle Mal richtig heilen kann.“

Luna wand den Blick nach links ab.

„Verstehst du, was ich dir damit sagen möchte?“, fragte Nayeli.

Luna kniff die Augen zusammen. „Nein“, antwortete sie, doch ihre Körperhaltung verriet das Gegenteil. Luna sah mich nicht noch einmal an, stattdessen machte sie einen Satz nach hinten, verwandelte sich in einen schneeweißen Wolf und rannte davon.

Ich hatte keine Ahnung, von welchen Wunden sie sprachen, aber mir dämmerte langsam, dass Mum mir noch mehr verheimlicht zu haben schien, als mir bisher bewusst gewesen war...



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Kommentare zu dieser Fanfic (2)

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Von:  Ami_Mercury
2015-01-18T20:29:59+00:00 18.01.2015 21:29
Gibt es diesmal kein >>Bis(s) [...]<<-Titel?
Antwort von:  -DesertRose-
19.01.2015 21:15
Nein
Von:  funnymarie
2014-02-22T18:56:31+00:00 22.02.2014 19:56
oh wie spannend^^
toll, dass es noch weiter geht
ich freu mich sehr darüber und kann die nächsten kapitel kaum erwarten
lg funnymarie


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