Juliprinzessin von Anemia ================================================================================ Kapitel 1: Part 1 ----------------- Part 1 * Neo Alles um mich herum war nur noch ein konfuses Flirren. Das Flackern der Lichter vermischte sich auf unerträgliche Art und Weise mit den Bildern, die sich auf meine Netzhaut gebrannt zu haben schienen und noch unendlich lange Sekunden später in meinem Gehirn tanzten, als spiele sich die Szene zum zehnten Mal ab. Doch bereits eine einzige war genug. Und ich konnte mein Empfinden nicht mehr differenzieren. Das, was sich in meinem Magen ausbreitete, war ein ekelhafter Brei aus Wut, Hass, gewürzt mit einer Messerspitze Trauer. Mit den ersten beiden Gefühlen konnte ich mich arrangieren, das wusste ich genau, sie gaben mir sogar Kraft, wie an dem Abend, an dem er mir eine geklatscht hatte. Doch Trauer war entmachtend. Hilflosigkeit ist nur ein unterwürfiges Ziehen im Bauch, das sich deinen Hals hinaufschleicht und deine Kehle verengt. Ein Messer. Ein Messer, das dich aufschlitzt. Nicht deine Haut, denn es wäre verräterisch, wenn Blutstropfen deine Wunde anzeigen würden. Es griff deine Seele an. Aber wenn du Glück hattest, verwandelte sich dieses unaufhaltsame innerliche Sterben in Kraft. Macht. Ein harter Druck im Körper. Wurde wieder zu Wut. Wut ist ein besseres Gefühl. Wut ist ein Gefühl, dass ich gegenüber ihm empfinden wollte, wenn ich schon irgendetwas empfand. Sie hatten mich bemerkt, denn ich hatte ihre Augen aufblitzen sehen, bevor sie sich hämisch vor meiner Nase aufstellten und mir demonstrierten, dass ich endgültig verloren hatte. Eine Weile lang hatte ich mir das Ganze angesehen, die flirrende Kälte in mir schwelen gespürt ob dieses Anblicks, hatte versucht ruhig zu bleiben, die Hilflosigkeit mit dem hastigen Inhalieren von Rauch zu ersticken. Es war wie ein Blitz, der in mich fuhr, eine Implosion, als sie ihre Lippen aufeinanderpressten. Und dann fühlte ich nichts mehr. Aber das kannte ich. Wenn der Schmerz ganz, ganz tief in dich eindringt, dann schwimmt er erst später an die Oberfläche. Bis dahin denkst du noch, dass es dir egal ist. Hoffst, dass dir dieses verdammte Bild nichts tut. Doch sobald du zu denken beginnst, merkst du, dass es dich kaputt macht. Ich musste weg. Egal, ob ich somit offensichtlich kapitulierte. Es ging nicht. So ruhig wie möglich drückte ich mich von der Säule ab, an der ich bis eben noch gelehnt hatte, wunderte mich, dass ich es tatsächlich schaffte, wie die Ruhe selbst zu wirken. Meine Bewegungen waren vielleicht etwas fahrig, während ich mich durch die Menschenmassen zwängte, vielleicht auch ein wenig grob, denn durch meinen Nebel aus erdrückenden Gefühlen spürte ich nicht, wie ich dieses Mädchen ziemlich heftig in den Rücken stieß. Es war nebensächlich. Interessierte mich nicht. Im Grunde interessierte es mich nie. Die Menschen interessierten mich nie. Es war lediglich Viv, dem ich so ziemlich alles von mir gegeben hätte. Und wahrscheinlich hatte er bereits zu viel von mir. Denn sonst hätte er es nicht einfach mit einem einzigen Faustschlag zerdonnern können. Wut. Ja, so war es gut. Nichts anderes hatte er sich verdient. Arschloch. Die Bar tauchte schließlich vor mir auf. Das Verlangen nach einem harten Drink wuchs in mir, aber in Deutschland musste man bekanntlich achtzehn sein, um sich mit dem wirkungsvollen Zeug volllaufen lassen zu dürfen. Egal. Ich hatte meine Zigaretten. Nestelte sie noch im Eilen aus meiner Hosentasche. Mit eisigen Händen gestaltete sich dies allerdings schwierig. Als ich nicht mehr schaute, wohin ich ging, traf ich plötzlich auf Widerstand. Etwas Rotes fiel zu Boden und eine Männerstimme verfluchte mich mit Worten, die ich aufgrund der Lautstärke um mich herum nicht verstehen konnte. Dass es ein Fluch sein musste, erkannte man trotzdem an dieser gewissen Tonlage. Alles in mir ballte sich zu einer harten, impulsiven Masse. Ich glühte. Kochte. Bereitete mich bereits auf Kampf vor. Mein Kiefer mahlte. Und dann hob ich den Kopf, um meinen Gegner zu sichten. Als sich unsere Blicke trafen, wich die offensichtliche Verärgerung meines Gegenübers schlagartig einem erstaunten Gesichtsausdruck. Auch mein Druck in der Brust flaute etwas ab, als ich Julian erkannte. Julian, den Drummer von Lovex. Einer der Typen, der nett zu mir gewesen war. Der sich gar für mich interessiert hatte. Nein, dem konnte ich jetzt nicht auf die Fresse hauen. Das brachte ich nicht. Zumal sich dieser Wutnebel ein wenig gelichtet hatte, jetzt, wo ich einem bekannten Gesicht gegenüberstand, welches zudem auch noch leicht zu lächeln begann. Ob es Verunsicherung war, die seine Lippen zucken ließ oder bloße Höflichkeit, die man an den Tag legte, wenn man jemanden antraf, mit dem man schon einmal Kontakt hatte, wusste ich nicht. Und es kümmerte mich auch nicht. Im Grunde war mir im Moment alles egal. Wahrscheinlich hatte sich der Schmerz wieder in meine Tiefen verkrochen, um mich heimlich von Innen aufzufressen. Das war okay. Hauptsache ich bekam nicht mit, wie mich das alles umbrachte. "Hey", entwich es Julian schließlich, aber so zaghaft und leise, dass man es in dem Stimmengewirr um uns herum kaum wahrnehmen konnte. Es war mehr die Bewegung seiner Lippen, die mir verriet, dass er etwas in der Art sagte. Ich bekam keinen Ton heraus, zog lediglich meinen Mund in die Breite und überlegte noch, ob ich meine Flucht fortsetzen oder doch die Bar ansteuern sollte. Gerade tendierte ich mehr zu Ersterem, setzte schon einen Schritt zur Seite, um an Julian vorbeizuziehen, da ich nicht glaubte, irgendeine Form von Gesellschaft ertragen zu können, als ich strauchelte. Im Reflex richtete ich meinen Blick nach unten, um herauszufinden, was mir beinahe einen Sturz beschert hatte und erkannte die rote Coca-Cola-Dose von vorhin, die sich allerdings schon fast zwischen den bestiefelten Füßen eines jungen Mannes verkroch. Damit es mir nicht noch einmal das Leben schwer machen konnte, bückte ich mich kurzerhand und hob das Ding auf. Als ich wieder auf einer Höhe mit Julian war, fiel mir plötzlich sein über und über mit braunen, feuchten Flecken besprenkeltes T-Shirt auf. Ich musste gar nicht erst lange eins und eins zusammenzählen, um zu wissen, dass die Dose wohl für die Schweinerei verantwortlich war. Diese aber nur, weil ich sie dazu verleitet hatte. Anderen Leuten wäre die Sache sicher verdammt peinlich gewesen, sie hätten sich tausendmal dafür entschuldigt, aber ich war nicht die anderen Leute. Und heute, wo meine Laune ohnehin ein paar Etagen tiefer angesiedelt war, scherte ich mich einen Dreck um Julians braunes Batikmuster auf weißem Untergrund. Gleichzeitig sehnte ich mich gar nicht mehr so sehr danach, mich zu verpissen, denn eigentlich lag es mir überhaupt nicht, einfach so den Schwanz einzuziehen. Deshalb schob ich mich kurzerhand auf einen gerade freigewordenen Barhocker, fackelte nicht lange und fingerte noch einmal nach der Zigarettenschachtel, die in meiner engen Lederhose etwas zusammengedrückt worden war. Dieses Mal war ich erfolgreicher und schob schon bald eine glühende Kippe zwischen meinen Lippen hindurch. Die olle Coladose erwies sich ebenfalls ganz nützlich. Um meine Anspannung zusätzlich zu mindern, spielte ich ein wenig mit der freien Hand an ihr herum. Sah auf jeden Fall besser aus als rauchen und gleichzeitig den Nagellack von den Flossen zu knabbern. Und da war ja noch Julian. Er hatte schließlich neben mir Platz genommen und warf immer wieder einen skeptischen Blick auf sein Shirt, zog es in die Länge, als ob die Flecken durch Hypnose verschwinden könnten. Ich sagte nichts, er sagte auch nichts. Und doch begann er irgendwann ein kleines Gespräch. Obwohl er sicher schon wusste, dass ich nicht der redegewandteste Mensch auf dem Planeten Erde war. Ich verstand es, Männer mit der Kraft meiner Worte zu verführen, aber Smalltalk zählte ich nicht gerade zu meinen Professionen. "Wie gehts so?" Schöne Frage. Ich musste unverzüglich grinsen. Ein beißender Zug fuhr um meine Lippen. "Joa. Kacke." Ich hatte gerade beschlossen, Ehrlichkeit walten zu lassen. Manchmal tat diese ganz gut. Aber eben nur manchmal. Wenn man dabei auch noch ein wenig sarkastisch werden konnte, fühlte es sich fast schon himmlisch an. Auch wenn man gerade erklärte, dass man sich fühlte wie ohne Vorwarnung in den Arsch gefickt - nur auf mentaler Ebene. "Mh, verstehe." Zunächst besah ich Julian mit einem verwunderten Blick, aber bald schon wurde mir klar, dass auch er sicher in der Lage war, eins und eins zusammenzuzählen. Ich hatte kein Geheimnis aus dem gemacht, was ich von Vivian wollte. Einfach, weil Geheimnisse alles unnötig verkomplizierten. Schlimm genug, dass Sex zwischen mir und Viv zwangsläufig in Heimlichtuerei geendet hätte, nur weil ich noch nicht achtzehn Jahre lang auf dem Planeten Erde verweilte. Gedanklich verdrehte ich die Augen. Was konnte ich denn dafür, wenn ich auf ältere Männer stand? Schließlich will man im Bett einen Kerl haben, der sein Handwerk versteht und keinen blutigen Anfänger, der noch gar nicht weiß, wie der Hase läuft. Die deutschen Gesetze waren echt für den Arsch, fand ich. Auch ein Sechzehnjähriger besitzt schon gewisse Triebe und so mancher minderjährige Lümmel hat einen größeren Schwanz als ein Fünfzigjähriger. "Scheiß Situation." "Kann man so sagen, ja." Wenigstens einer, der ein wenig Mitleid bekundete. Auch wenn ich das Gefühl hatte, dass es sich nur um leere Floskeln handelte und um nichts weiter. Im Grunde war es ihm bestimmt ziemlich egal, ob ich bereits in der Vorhölle schmorte oder mich noch gegen meine Einweisung in das Fegefeuer wehrte. Ich drehte die Coladose in der Hand herum. Nahm gleichzeitig einen tiefen Zug von meiner Zigarette, genoss das Gefühl des in meine Lunge strömenden Rauchs so intensiv wie möglich. Mein Blick wanderte von der Dose hin zu Julian. Der guckte mich mal wieder an. Irgendwie abwartend. Ah, ich wusste, was er wollte. "Hier", nuschelte ich mit dem Stängel zwischen meinen Lippen und hielt ihm ebenfalls einen hin. Julians Augen wurden erst groß, dann zogen sich seinen Brauen in Falten. Es schien, als ob er keinen Schimmer hatte, was ich ihm angeboten hatte. Hatte ich mich so zweideutig ausgedrückt? Auch wenn dem so war, ich hatte ihm keinesfalls gegen meinen Willen dazu angestachelt, das Teil in seinem Arschloch zu versenken. Unsinn. "Hier, jetzt nimm schon", forderte ich ihn erneut auf und fuchtelte mit der Kippe herum. "Siehs als kleines Sorry an für das da." Dabei deutete ich mit dem Kinn auf sein Shirt. Nach einigem Zieren nahm er mein Geschenk endlich an. Gentleman wie ich war brachte ich seinen Stängel sogar zum Brennen (also, die Zigarette, nicht das Teil zwischen seinen Beinen, nur mal so) und lehnte mich erst dann betont lässig gegen den Tresen. Obwohl ich innerlich noch immer ein zerbombtes Minenfeld war. Aber das musste ja noch längst nicht jeder sehen. Julian hustete komisch nach dem ersten Zug, den er genommen hatte und ich wollte ihn schon fast fragen, ob er denn noch nie gequalmt hatte. Schließlich verkniff ich es mir allerdings, denn wenn ich das darauf folgende Wortballspiel gedanklich weiterführte, kam ich zu dem Schluss, dass ich damit den letzten noch freundlichen Menschen vergraulen würde. "Was machst du eigentlich hier in Deutschland?", ergriff Julian trotz erst wenige Sekunden zurückliegenden Hustenanfall den Gesprächsfaden. Ja, dass er gerne fragte, das war mir schon bei unserem ersten Aftershowtreffen bewusst geworden. "Wohnen", erwiderte ich gelassen; umso länger ich mir die Frage auf der Zunge zergehen ließ, desto niedlicher fand ich sie. Wie die eines unschuldigen Kindes. In diesem Augenblick fragte ich mich ernsthaft, wer von uns beiden sechzehn und wer fünfundzwanzig war. "Wohnen?" Es wurde immer putziger. "Ja, wohnen", antwortete ich, schmunzelte dabei ganz breit, einfach, weil ich nicht anders konnte. "Ich dachte, du bist Finne...?" "Joa, auch." Ich sagte doch, ich war nicht sonderlich wortgewandt im alltäglichen Gespräch. "Wie, auch?" "Meine Mutter ist Deutsche, mein Vater ist Finne, ich bin sozusagen ein Mischgemüse und manchmal wohne ich in Deutschland bei meinen Verwandten." "Ah", machte Julian daraufhin und nickte so tief beeindruckt, als hätte ich ihm gerade den Sinn des Lebens erklärt. Rauchen tat er allerdings schon längst nicht mehr. Und mein Gehirn formte endgültig das Wort, welches bereits vorhin gegen die Decke geklopft hatte: Pussy. Ich hielt nicht sonderlich viel von nichtrauchenden Männern. Viv war zwar auch nicht gerade der Kettenraucher schlechthin, aber bei ihm war das etwas anderes, er war...ach, vergessen wir das. Mit Julians unglaublichem 'Ah' war auch das Gespräch prompt beendet. Vielleicht hatte er es verschlungen, als er den Mund geöffnet hatte. Konnte durchaus sein. So konzentrierte ich mich wieder voll und ganz auf die Coladose, drehte und wendete sie angestrengt, bis ich schließlich den weißen Schriftzug entdeckte, der sie außer dem Markennamen zierte. "Gib endlich her, das ist meine", knurrte Julian ganz plötzlich wie aus dem nichts, und ich war so perplex, dass ich mir die Dose einfach entreißen ließ. Bestimmt stand mein Mund jetzt offen. Ich überprüfte es gar nicht erst, sondern schaute nur noch auf Julian, der sich seinen Schatz angeeignet hatte und ihn nun behütete wie der Gollum seinen Ring. Er streichelte sogar liebevoll mit dem Daumen über ihre nackte Aluminiumhaut. Ein ganz klein wenig zweifelte ich gerade an seinem Geisteszustand. Aber nur ein ganz klein wenig. "Deine?", hakte ich letztlich mit einer ordentlichen Portion Verwunderung in der Stimme nach. "Du sitzt hier an der Alkoholquelle, aber säufst lieber Cola aus Büchsen mit Prinzessin-Aufschrift?" Als er mich daraufhin anblickte, waren seine Augen wieder so kugelrund wie der Vollmond. "Das...heißt Prinzessin?" "Hö, klar", sagte ich, begleitete das mit einem Schulterzucken. "Was sollte es denn sonst heißen?" "Weiß nicht." Nun zuckte er mit den Schultern. Musterte dabei ziemlich belämmert die Dose in seinen Händen. Nein, sie würde dir die letzten Rätsel der Menschheit nicht offenbaren. Er drehte sie in einem Fort hin und her und irgendwie machte mich das nervös. Wenn ich es tat, dann beruhigte es mich. Aber wehe, ich musste zuschauen, wie ein anderer die Finger nicht mehr von einem bestimmen Gegenstand lassen konnte. Dann konnte ich schlimmstenfalls ausrasten. Deswegen setzten meine Finger dem Ganzen nun ein Ende. Ich packte die Dose und platzierte sie entschlossen auf dem Tresen. Julian guckte komisch, brachte aber kein Wort hervor. "Princess und Prinzessin klingt ja wohl ziemlich ähnlich, sag mir nicht, dass du keine Ahnung hattest, was das heißt", sagte ich deswegen, auch wenn ich mich schon im nächsten Augenblick ziemlich fies fühlte. Aber sei es drum. "Ich...das ist ein Geschenk von einem Fan", erklärte mit der andere schließlich mit leiser Stimme; wahrscheinlich berührte es ihn ziemlich peinlich, dass es jemanden auf dieser Welt gab, der in ihm eine Prinzessin sah. Und noch unangenehmer war es ihm sicherlich, dass es jemanden auf dieser Welt gab, der nun darüber Bescheid wusste. Und mal im Ernst: Ich wäre auch nicht gern die Prinzessin der Nation gewesen. Musste ich ganz ehrlich zugeben. "Ist ja süß", meinte ich allerdings entgegen meiner eigentlichen Gedanken, grinste etwas vor mich hin und schnipste mit den Fingern gegen die schreiend rote Büchse. Dann schaute ich wieder Julian an. Er schaute auch. Schwarze Haarsträhnen fielen ihm wirr ins Gesicht. Ich dachte plötzlich daran, dass er damals, als er sich noch geschminkt hat, immer wie ein kleiner Emo aussah. "Weißt du was?", begann ich, nahm den letzten Zug von meiner Kippe und verpasste ihr dann im nächstgelegenen Aschenbecher den Todesstoß. "Die Deutschen würden dich mit ziemlicher Sicherheit Juli nennen. Is' 'ne gängige Abkürzung von Julian." "Aha." "Ja...darf ich Juli zu dir sagen? Irgendwie finde ich, dass dir das steht." Anstatt 'Ja' oder 'Nein' zu sagen, stellte er eine ganz andere Frage, mit der ich nicht gerechnet hatte. "Ist Neo dann auch so eine deutsche Abkürzung?" "Nö", brummte ich, schüttelte den Kopf. "Ich heiße Neo, weil es verdammt cool klingt." Als Juli sich die Haare nach hinten strich, sah er mit einem Mal gar nicht mehr so sehr nach einem Emo aus. Sein jugendliches Gesicht mit der niedlichen Stupsnase wirkte aber tatsächlich wie das eines Julis. "Und wie heißt du wirklich?" "Sag' ich nicht", antwortete ich prompt und hoffte, mein Grinsen wäre eines der geheimnisvollen Sorte, aber man konnte seinen Gesichtsausdruck so schwer kontrollieren, wenn er echt aussehen sollte. "Also ich heiß' eigentlich Juho", warf Julian ein, wahrscheinlich noch immer hoffend, ich würde ihm ein Sterbenswörtchen verraten. Doch nichts da. "Ich weiß", erwiderte ich nur verheißungsvoll und schnippte erneut die Dose an, sodass sie gleich ein wenig in Julis Richtung rutschte. "Hast wohl vergessen, dass man dich sogar in Japan kennt, mh, Prinzessin?" Er bleckte die Zähne. Vielleicht knurrte er sogar leise. Egal. Ich fand es jedenfalls ziemlich niedlich. Wir saßen noch eine ganze Weile zusammen, schwiegen allerdings mehr, als dass wir uns über Gott und die Welt unterhielten. Obwohl es mich immer wieder aufs Neue amüsierte, dass es jemanden gab, der Juli zu seiner persönlichen Prinzessin gekürt hatte, so hatte ich trotzdem bald die Schnauze voll von unserer Schweigerunde, zumal sich aus der Ferne Vivian und Theon ankündigten, und auf noch einen gratis Softporno hatte ich wirklich keinen Bock. "Ich hau ab", meinte ich zu Juli, klopfte ihm kumpelhaft auf die schmale Schulter und hielt mich noch ein wenig länger an ihr fest, damit ich sanfter vom Hocker gleiten konnte. Juli schaute mir gespannt nach und wie er es so tat, wieder ganz der kleine Emo mit den runden Augen und den ins Gesicht fallenden Haaren, konnte ich einfach nicht anders, als mein Handy zu zücken. Außerdem waren Viv und sein Lover nun so nahe gekommen, dass sie ohne Probleme Zeuge von meiner Aktion werden würden. Und so ein bisschen Rache von wegen Du-gehst-mir-am-Arsch-vorbei machte zudem glücklich. "Gibst du mir deine Nummer?", fragte ich mit meinem allerliebsten Neolächeln auf den Lippen, legte sogar bittend den Kopf schief und hoffte, Julian war auch einer von den Typen, bei dem der Niedlichkeitsfaktor zog. Zunächst sah es ziemlich schlecht für mich aus, denn er runzelte ratlos die Stirn, hinter der es wahrscheinlich auf Hochtouren zu arbeiten begonnen hatte. Der Typ ist schwul, der Typ ist aufdringlich, ein Perverser, ein irrer Stalker. Und obwohl all diese Dinge der Realität entsprachen, speicherte ich schon wenige Sekunden später Julians Nummer ab. Erst wollte ich sie mit 'Prinzessin' kenntlich machen, aber das war mir dann doch zu albern. Also tippte ich eifrig 'Juli' in mein Gerät und machte beschlossene Sache mittels Fingerzeig auf 'Speichern'. Und während ich mich in Richtung des Ausgangs schob, sah ich Vivians Blick hinter mir her starren. Vollkommen fassungslos. Die Szene endete damit, dass er sich Julian zuwandte. Oh, wie gerne hätte ich die sicher folgende Gardinenpredigt mitbekommen. Aber ich war längst außer Hör- und Sichtweite. Julian "Du hast dem jetzt nicht ernsthaft deine Nummer gegeben, oder?" Wenn es das wirklich gegeben hätte, dass Blicke töten können, dann wäre ich nun sicherlich gestorben. Vivian schaute mich an mit einer Mischung aus Vorwurf und tiefen Ärger, was seine hellen Augen noch kälter wirken lassen ließ. Vielleicht zuckte ich sogar leicht zusammen, als ich sah, wie er mir den mentalen Todesstoß verpasste, mich für mein Tun bitterlich verurteilte, denn ich zählte eher zu den ängstlicheren Naturen. Es konnte passieren, dass ich selbst vor meinen besten Kumpels Schiss bekam. Ich korrigiere: Eigentlich besten Kumpels. Das, was Viv gerade abzog, war nicht sonderlich freundschaftlich. Er mischte sich in Dinge ein, die ihn nichts angingen und merkte es noch nicht einmal. Als der erste Schreck über seine Reaktion verflogen war, holte ich tief Luft und spürte dabei einen dicken Wulst in meiner Magengegend drücken. "Doch, ich hab ihm meine Nummer gegeben", erklärte ich so ruhig wie möglich, obwohl ich innerlich ziemlich aufgebracht war. "Na und?" Dieses 'Na und?' hätte ich mir genauso gut sparen können. Im Nachhinein erschien es mir tatsächlich ein wenig unbeholfen. Aber wenn man am liebsten geplatzt wäre, dann musste meine seine Konzentration auf die Beherrschung richten und schaffte es nicht mehr, auch noch über eine intelligent klingende Wortwahl nachzudenken. Wider Erwarten stürzte Viv sich nicht gleich erneut auf die Sache mit der Handynummer, sondern ließ seinen Blick von meinem Gesicht langsam abwärts gleiten. Theon hatte sich ebenfalls zu uns gesellt und die beiden kamen mir vor wie die Rächer des Rechts, wie sie da mein dreckiges Shirt musterten. Es hätte nur noch gefehlt, dass sie das Muster auswerteten, darin Schafe oder Schokoladenkekse erkannten. Wahrscheinlich wäre der Wulst in meinem Magen dann explodiert. Aber nicht nur deswegen. Bei Weitem nicht nur deswegen. "Du hast dich schmutzig gemacht", urteilte Viv letztlich ruhig und deutete unnötigerweise mit dem Kinn auf mich. "Ich weiß", erwiderte ich forsch. Ich wollte gerade die Arme vor der Brust verschränken, als mir einfiel, dass ich die Colaflecken nicht unbedingt auch noch zur Zierde auf meinen Armen machen wollte. Also ließ ich es bleiben. "Vielleicht solltest du dich mal waschen", redete Vivian weiter. Das genügte. Ich drehte mich um, beförderte die Coladose in meine Hände und stierte sie an, als könnte sie meine ganze sich plötzlich aufgebaute Wut aufsaugen. Dann wäre sie wieder gefüllt mit irgendeiner gallebitteren Flüssigkeit, die man getrost Gedankenkotze nennen durfte. Aber sie tat es natürlich nicht. Und es half auch nur bedingt, dass ich meine Fingernägel in das kühle Metall presste, bis die Sehnen meiner Hände hervortraten. Gleichzeitig spürte ich, dass das letzte Wort noch nicht gesprochen war. Und dass es mir gehörte. "Du behandelst mich, als wäre ich deine Tochter", beschwerte ich mich und warf einen hoffentlich recht sauren Blick über meine Schulter hinweg nach hinten, wo Theon und Viv noch immer in Unbeweglichkeit verharrten. "Und nur mal zur Info: Ich kann meine Handynummer geben, wem ich will. Es hat dich nicht zu interessieren. Ich bin erwachsen, ich brauche keinen Vormund." "Ach, Juke", seufzte Viv tief. Dabei erhob er seine Hand, wahrscheinlich wollte er sie mir zur Beruhigung auf die Schulter legen oder so. Aber fauchende Katzen streichelte man besser nicht, deswegen ließ er sie im letzten Moment wieder sinken. "Ich meine es doch nur gut und das weißt du auch." Ich schwieg eisern. "Dieser...Typ...der ist-" "Der ist wirklich nett", schnappte ich, beschloss, mir den Moralapostel nicht weiter anzuschauen und lieber wieder die Büchse auf der Theke zu studieren. Rot war zwar nicht die beste Farbe gegen Wut, aber vielleicht wirkte sie sich ja lediglich auf Stiere negativ aus. Allerdings meinte ich mal wo gelesen zu haben, dass Stiere nur durch das Wedeln des Tuches gereizt werden; das Rot interessiert sie gar nicht, denn sie sind farbenblind...aber was machte ich mir über solch einen Unsinn Gedanken? Es lenkte mich zwar tatsächlich etwas ab, doch sobald Vivs Stimme wieder erklang, baute sich der ekelhafte Druck in meinem Magen erneut auf. "Nett?" Er betonte es auf eine Art und Weise, die ich absolut hasste. Abfällig. Ich musste an Neo denken und wie niedergeschlagen er reagiert hatte, als ich wissen wollte, wie es ihm geht. "Ja, nett", gab ich mit einer nicht zu überhörenden Festigkeit in der Stimme zurück. "Und ehrlich gesagt finde ich es ein bisschen Scheiße, was ihr abgezogen habt." Sie wussten natürlich, was ich meinte. Und ich wünschte irgendwie, dass ich meine Klappe gehalten hätte. Diese Sache wollte ich nicht auch noch ausschlachten. Denn das ging mich eigentlich nichts an. "Hör mal, Julian...", setzte Viv wieder an, noch immer die Ruhe selbst. "Es ist ja deine Sache, aber lass dich von dem Kerl nicht zu sehr einlullen. Der Junge ist schlau, der spielt ein ganz geschicktes Spiel." Ich verstand nicht. "Was für ein Spiel?" "Deine Nummer hat er sich nur verlangt, weil ich gerade zugesehen habe. Er wollte mir bloß den Stinkefinger ins Gesicht drücken." Letzten Endes landete seine Hand doch auf meiner Schulter. Ich zuckte nicht zurück. Drehte nur mein Gesicht weg. Starrte vor mich hin. Verursachte mit meinem Blick sicher irgendein Loch in der Luft. "Glaub mir, er ist nicht an dir interessiert. Wahrscheinlich wird er noch ein paar Mal versuchen, Theon und mich auseinanderzubringen. Deswegen...melde dich bitte nicht bei ihm. Es ist besser." Rasend schnell flimmerten die unterschiedlichsten Gedankenfetzen durch meine Hirnwindungen. Der trotzige, aber dennoch irgendwie traurige Blick Neos, der zeigte, wie verletzt ihn das Ganze hatte. Sein Mund, der sich schief zur Seite verzog, als er mich mit 'Prinzessin' betitelte. Die langen Haare, die weit über seinen Rücken flossen. Die Art und Weise, wie er seine Wangen einsog, wenn er einen Zug an seiner Zigarette nahm. Und natürlich auch die Tatsache, dass es nicht so abwegig war, was Viv sagte. Dass er wahrscheinlich wirklich nur ein Spiel spielte. Mich für seine Zwecke nutzte. Weil er gemerkt hatte, dass ich ihn irgendwie ziemlich...mochte. Aber so ganz wollte ich das nicht wahrhaben. Ich wehrte mich dagegen, dies als die Wahrheit zu betrachten. Nein, Neo war nicht so. Vielleicht war er ja pervers, aufdringlich und verhielt sich manchmal wie ein Stalker, aber so ein intrigantes Arschloch, wie Vivian es in ihm sah...nein. Er hatte wirklich gelitten, ganz ernsthaft, und er fand mich doch auch sympathisch...oder nicht? Ja, so war es. Weil ich es so wollte. Weil ich nichts anderes akzeptierte. Und irgendwann, als wir längst wieder in Finnland waren und ich schon gar nicht mehr regelmäßig an ihn dachte, meldete er sich sogar bei mir. War es peinlich zuzugeben, dass nach dem Telefonat das Gehäuse meines Handys ganz verschwitzt war? Und dass ich vor lauter Herzklopfen kaum einen Ton herausbekommen hatte? Ich konnte von Glück reden, dass ich mich noch an die Uhrzeit und den Ort für unser Treffen erinnerte. Jetzt war ich mir ganz sicher, dass Vivian Unrecht hatte. Neo wollte mich sehen. Und ich machte mich am darauffolgenden Tag auf dem Weg zu ihm. Egal, wie hartnäckig die anderen mir dieses Vorhaben auszureden versuchten. Ich war mein eigener Herr und ich wollte um ehrlich zu sein nichts lieber, als Neo wiederzusehen. ***** Ich kam mir vor wie in mein sechzehntes Lebensjahr zurückversetzt. Als ich auf der Fußmatte vor dem kleinen, weißen Häuschen stand, welches allen Anscheins nach Neos Zuhause war und darauf wartete, dass man mich hereinbat, begann ich sogar wieder unnatürlich heftig zu schwitzen. Nervös war ich. Warum, das wusste ich selbst nicht so genau. Neo würde mich mit Sicherheit nicht umbringen wollen, um mich dann aufzuessen; vielleicht hätte ich ihm mitteilen sollen, dass mein Fleisch ganz scheußlich schmeckte. Vielleicht tat es das aber auch gar nicht. Ach, ich war bekloppt. Das Schnarren der Klingel war wohl im gesamten Haus zu hören, denn selbst ich konnte es noch deutlich und penetrant vor der Tür vernehmen. Jetzt dauerte es auch gar nicht mehr lange, bis eine blonde Frau mit freundlichen, aber auch etwas erstaunt dreinblickenden Augen vor mir stand und mich mit einem zögerlich hervorgebrachten 'Hallo' begrüßte, was schon fast wie eine Frage klang. Ich erwiderte brav ihren Gruß, lächelte reflexartig und dichtete dabei der Frau einfach mal die Rolle von Neos Mutter an. Als ich nichts weiter mehr sagte (vor Aufregung musste ich es irgendwie vergessen haben), ergriff sie das Wort. "Du willst bestimmt zu Nina", mutmaßte sie, doch als ich gerade den Kopf schütteln wollte, tauchte ein Mädchen hinter der Frau auf, welches neugierig über ihre Schulter linste, um einen Blick auf mich zu werfen. "Nee, der will nicht zu mir", berichtigte sie lässig, grinste dann ganz breit und verschwand wieder außer Sichtweite. Man hörte sie nur noch "Der will zu Adde" sagen. Ich machte meinen Mund auf, um ein A wie Adde zu formen, aber kein Ton wollte meinen Lungen entweichen. Doch das erwies sich als nicht so dramatisch. Die Frau schien verstanden zu haben und drehte sich um. Ihr 'Aaaaadrian!' erschallte im ganzen Haus und dennoch erhielt sie keine Antwort. Deshalb zuckte sie die Schultern, nachdem sie sich wieder mir zugewandt hatte und deutete mit dem Kinn in das Innere ihres Heimes. "Adrian wird wohl im Garten sein", erklärte sie mir. "Geh einfach mal nachschauen. Einfach geradeaus und durch die große Glastür durch." Ich tat wie mir befohlen wurde. Hätte ich nicht solche fürchterlichen Hummeln im Hintern gehabt, hätte ich mich wahrscheinlich ziemlich über mein geheimes Wissen amüsiert. Adrian hieß er also mit richtigem Namen. Stimmt, das passte nicht so Recht zu ihm. Ein Adrian sah in meiner Vorstellung irgendwie anders aus. Neo war tatsächlich im Garten. Er lag in einem Liegestuhl, hatte sich eine klobige, schwarze Sonnenbrille aufgesetzt und hörte offenbar laute Musik über Kopfhörer, denn er zeigte keine Reaktion, als ich die Glastür mit kalten Fingern hinter mir schloss, auch wenn ich das so leise wie möglich tat. Nicht einmal als ich direkt neben ihm stand, regte er sich. Angestrengt dachte ich darüber nach, wie ich ihn auf meine Anwesenheit aufmerksam machen konnte. Ich scheute mich davor, ihn an der Schulter zu berühren oder irgendwo sonst, auf irgendeine Art und Weise war mir das nicht geheuer. Vielleicht lag es daran, dass er fast nichts anhatte außer ein paar knallengen schwarzen Shorts. Und dass sein Oberkörper wirklich sehr ansehnlich war. Niemand hätte diesen Kerl in diesem Augenblick für sechzehn Jahre gehalten. Das hier war absolut kein Junge mehr, sondern ein Mann. Kein Junge in diesem Alter besaß solche fein definierten Bauchmuskeln, sofern ich mich erinnern konnte und die wenigsten wiesen diesen pikanten Streifen dunkler Härchen auf, welcher sich vom Bauchnabel abwärts zog und unter dem engen Saum der Unterhose verschwand. Am liebsten hätte ich noch viel länger einfach hier gestanden und ihn angeglotzt, aber das wäre unfair gewesen. Deswegen fasste ich mir ein Herz und ließ meine Fingerspitzen eine Spur zu vorsichtig über seinen Oberarm gleiten. Da fuhr endlich Leben in den Körpers Neos und kurz darauf schob er sich seine Sonnenbrille ins Haar. "Hallo...Adrian", grüßte ich ihn mit einem kecken Grinsen. Es war allerdings ein ziemlich zittriges keckes Grinsen. "Ach, sorry, ich hab die Zeit ganz vergessen", brummelte er, kniff die Augen ein paar Mal zusammen und schaltete schließlich seinen MP3-Player aus, aus dem konfuses Gefrickel dröhnte, welches sich ziemlich nach Heavy Metal anhörte. Nebenbei bedeutete er mir, mich doch auf den freien Liegestuhl neben ihm zu setzen, er wolle sich gleich noch anziehen gehen. "Kein Problem...", nuschelte ich jedoch vor mich hin, woraufhin er erst mir einen fragenden Blick zuwarf, dann seinen bloßen Oberkörper musterte. Dass er grinste, das blieb mir nicht verborgen. Und dass mir ein wenig warm wurde, das blieb ihm sicher nicht verborgen. Ich wurde immer rot, wenn ich die Hitze in meinen Wangen stechen spürte. "Also, dann weißt du ja jetzt, wie ich wirklich heiße", setzte Neo an, lehnte sich aber im selben Zug wieder entspannt zurück und versuchte mit der Hand die Sonne davon abzuhalten, in seine Augen zu scheinen. "Aber es wäre mir lieber, wenn du mich weiterhin Neo nennen könntest." "Klar", erwiderte ich kurz. Ich spürte, dass eine Gesprächspause im Anmarsch war und wollte sie schnell verdrängen. Es wäre mir unangenehm gewesen, Schweigen aufkommen zu lassen. "Wie gehts dir?" Standardfrage, aber es interessierte mich ernsthaft. "Joa, gut", nickte er und zog eine Schnute. "Wo sind meine Zigaretten?" Dabei fühlte er den Boden neben dem Stuhl ab, bis ich mit dem Zeigefinger direkt unter ihn deutete. Daraufhin beugte er sich so weit vor, dass sich seine Wirbelsäule ziemlich deutlich unter der leicht gebräunten Haut abzeichnete. Wenn er gewusst hätte, was für ein Käse ich zurzeit war, dann hätte er sicherlich gelacht. "Auch?" Er hielt mir die geöffnete Zigarettenschachtel hin, nachdem er sie sich erfolgreich geangelt hatte. Als ich mit einem Kopfschütteln verneinte, steckte er sich selbst eine Kippe zwischen die Lippen und zündete sie sich an. Ich schaute ihm dabei zu, wie die grauen Kräuseln des Rauchs seinen zu einem O geformten Mund an beinahe einem Stück verließen. Langsam entspannte ich mich ein wenig. "Ich hätt' nicht gedacht, dass es noch so wehtun könnte", meinte er dann beiläufig, die Zigarette ruhte qualmend zwischen seinem Zeige- und Mittelfinger. "Was?" "Na, das mit Viv. Eigentlich hatte ich ja schon beim Videodreh gesehen, dass Theon und er...dass da was läuft zwischen ihnen. Und damals war ich noch gar nicht sauer." Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte. Ich wollte etwas sagen, aber ich wühlte vergeblich in meinem Hirn nach den richtigen Worten. Also entschied ich mich für bloßes Zuhören. Als Neo schnaubte, war mir ohnehin klar, dass er auch ohne eine Erwiderung zu erhalten weiterreden würde. "Vielleicht hätte ich Theon wirklich das Messer durch die Kehle ziehen sollen. Ich meine, wäre doch interessant gewesen, zu sehen, was Viv dann gemacht hätte..." "Sag nicht so was." Ich runzelte leicht geschockt meine Stirn. Aber dann lachte Neo kurz auf und zuckte mit den Schultern. "Stimmt schon, ist ziemlich fies." Lange genug hatte ich nach etwas gesucht, was ich zu diesem Gespräch beitragen könnte. Und endlich hatte ich es gefunden. Es war etwas, das ich im Nachhinein aber doch lieber für mich behalten hätte. Einfach, weil es bis dato niemand wusste und es ohnehin nicht mehr relevant war. Schnee von gestern. Asche. Verbrannte Gefühle. Und trotzdem hörte ich mich wenig später reden. Von dieser Sache, die mir fast schon unverständlich erschien. "Als ich neu in der Band war, da war ich fünfzehn, da war ich auch ein Bisschen in Viv verknallt", erzählte ich. Neo schaute mich zwar an, aber es war kein ungläubiger Blick. Es wirkte fast schon so, als wunderte es ihn überhaupt nicht, was ich gerade gesagt hatte. "Aber das war nur ganz kurz, nur ne Schwärmerei, nichts Ernsthaftes." Neo nahm einen weiteren Zug von seiner Zigarette. Er hatte den Rauch noch nicht einmal ausgeblasen, da redete er auch schon weiter. "Und jetzt?" "Was 'und jetzt'?" "Na...ob du jetzt jemanden hast." Wieder kroch die Hitze in meine Wangen. Ich war sogar so nervös, dass ich mich nach unten beugte und ein Gänseblümchen von der Wiese abzupfte. Dabei ließ ich ein peinlich quietschiges 'Nö' verlauten. Glücklicherweise hakte Neo nicht weiter nach, sondern gab sich mit dieser einsilbigen Antwort zufrieden und ließ mich an meinem Blümchen herumzupfen. Nun sehnte ich mich überhaupt nicht mehr nach einer Fortsetzung des Gesprächs, die angespannte Stille ertrug ich lieber als noch irgendeine Frage bezüglich meines Liebeslebens. Ich wusste selbst nicht so genau, wieso ich mich immer gleich schämte, wenn jemand auf dieses Thema anspielte. Vielleicht, weil ich nicht sonderlich viele Erfahrungen aufzuweisen hatte und mich meist mit einer Lüge retten musste, um nicht wie der letzte Vollidiot dazustehen. Selbst meine Bandkollegen wussten nicht, dass ich erst mit drei Frauen intim geworden war. Und erst recht nicht, dass es mir nicht einmal gefallen hatte. Ohne Blütenblätter sah die Blume total seltsam aus. Eben ein Stil mit einem gelben...Dings. Wie nannte man das eigentlich? Ernsthafte Gedanken machte ich mir allerdings nicht darüber. Mein Blick fiel auf das Gras zu meinen Füßen, wo all die ausgerissenen weißen Fetzen lagen. "Du Blümchenkiller!", neckte mich Neo, sein rechter Mundwinkel zog sich amüsiert in die Höhe. Plötzlich aber schob er sich von seinem Stuhl, bückte sich über eine Ansammlung von Gänseblümchen und pflückte ebenfalls ein paar ab. "Und was wird das?", hakte ich nach. "Wirst du gleich sehen", erhielt ich nur als Antwort. Auch ein schöner Rücken konnte entzücken, das wusste ich spätestens dann, als Neo mir eine halbe Ewigkeit nur seine Rückseite präsentierte. Ich versuchte, meine Blicke nicht ständig auf seinem Hintern münden zu lassen, aber das war schwer. Deshalb freute ich mich schon beinahe, als er sein Werk endlich vollbracht hatte und breit grinsend auf mich zusteuerte. In der Hand hielt er einen kleinen Kranz aus Gänseblümchen. "So, Prinzessin", sagte er, platzierte das Ding schließlich auf meinem Kopf, woraufhin ich ganz verdattert nach oben linste, aber nicht mehr erblickte als ein paar vereinzelte weiße Blütenblätter. Neo trat einen Schritt zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und legte den Kopf schief. Er bewunderte sein Werk, ohne Zweifel. "Jetzt bist du eine richtige Prinzessin", meinte er. "Eine Juliprinzessin." "Ich seh bestimmt total bescheuert aus", murrte ich nur, fühlte mich tatsächlich nicht ganz wohl in meiner Haut. "Ach, Quatsch, das ist total niedlich", widersprach Neo mir. Er lächelte. Okay, wenn er meinte... Er ließ sich wieder in den Liegestuhl gleiten. Rauchte selbstverständlich noch eine. Schaute dabei in den Himmel. Ich wollte auch nicht ständig zu ihm rübergucken, doch der Typ zog meinen Blick an wie ein Magnet. Irgendetwas war es, das mich an ihm faszinierte. Nur wusste ich nicht, was. "Mal ganz ehrlich, Juli", sagte er plötzlich, noch immer ohne mich anzusehen. "Findest du, dass Theon besser aussieht als ich? Ich meine...guck, ich hab auch Nippelpiercings. Also...irgendwie kann ich Viv nicht wirklich verstehen." Auf keinen Fall wollte ich auf diese Frage antworten. Denn die Antwort wäre mir viel zu...enthüllend gewesen. Direkt und unangenehm. Obwohl es ohnehin nur eine richtige Antwort gab, die Neo genauso gut kannte wie ich. "Vielleicht spielen da einfach noch ein paar andere Sachen rein, dass Viv sich in Theon...na ja...verguckt hat", mutmaßte ich anstelle. "Wie Charakter oder so. Keine Ahnung." "Aber Theon sieht nicht besser aus als ich, findest du doch auch." Es war klar, dass er weiterhin darauf beharrte. Ich sah förmlich, wie sich die Sackgasse vor mir aufbaute. Entweder ich lenkte ein oder fuhr geradewegs auf die Mauer zu. Ich entschied mich schließlich für Ersteres. Zweiteres kam mir dann doch ein wenig zu schmerzhaft vor. "Ja", murmelte ich betreten, schaute nicht mehr in Neos Richtung, da ich seinen Gesichtsausdruck fürchtete. Es war einer dieser Momente, in denen ich meine Schüchternheit am liebsten zum Teufel geschickt hätte. Aber das funktionierte nicht. "Du, sag mal", setzte er erneut an und ich wäre schon vorher am liebsten im Erdboden versunken, weil ich ahnte, dass er mir eine erneute Peinlichkeit bescheren würde. "Wie siehts denn aus, hast du eigentlich Erfahrungen mit Männern?" Wenn es sich so anfühlte, wenn man starb, dann wollte ich für immer leben. Ich schwamm sicherlich beinahe weg in meinem Schweißausbruch und mein Kopf würde das Ganze auch nicht mehr lange mitmachen, so heiß wie er sich anfühlte. Und dann auch noch das Donnern meines Herzens, welches bis hinauf unter meine Schädeldecke dröhnte. "Nein", piepste ich, schimpfte mich gedanklich einen Vollidioten, ein feiges Schwein, eine Lusche. Aber das Merkwürdige war: Neo schien sich darüber nicht einmal zu amüsieren. Jedenfalls zeigte er es nicht. Wahrscheinlich, weil er mich nicht noch weiter in Verlegenheit bringen wollte; schließlich bestand die Gefahr, dass ich jeden Moment kollabierte. "Alles okay?", fragte er nach, ich nickte hastig. Scheiße, man sah mir das Chaos in meinem Körper auch noch an. Noch Jahre später würde ich mich in Grund und Boden schämen, wenn ich an diesen Tag zurückdachte, das wusste ich ganz genau. "Aber...du würdest ganz gerne mal Erfahrungen mit Männern machen, hab ich Recht?" Ich hoffte, hinter der Hecke würde jemand stehen und mir mit der Flinte den Gnadenschuss verpassen. Ich war hinüber. Konnte weder 'Ja' noch 'Nein' sagen. Doch das war auch gar nicht vonnöten. Neo war intelligent genug, um mein furchtbares Verhalten richtig zu deuten. "Also...wenn du kein Problem damit hast, dass ich erst sechzehn bin, dann würde ich jetzt ganz einfach mal sagen, dass wir...na ja, dass wir es einfach mal miteinander probieren. Ich find dich nämlich ganz süß, Juli. Auch wenn ich sonst eher auf anderes stehe..." Ich wagte es, aufzusehen. Trotz glühender Wangen. Trotz mich fast zermalmenden Herzschlages. Unsere Blicke trafen sich. Ich suchte in Neos Augen nach etwas, das mir sagte, dass er sein Angebot nicht ernst meinte. Irgendetwas, was mir verriet, dass er mich nur veräppelte. Aber da war nichts. Sein kaum merkliches Lächeln, das Funkeln in seinen Augen - es war ehrlich. Spätestens jetzt war ich mir ganz sicher, dass Vivs Worte Lügen gestraft worden waren. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)