Angel of Ashes von Rapsody (Wenn Engel die Welt beherrschen) ================================================================================ Kapitel 2: 5 Engel ------------------ Fast die ganze Gruppe schlief lange. Sie hatten keinen Marsch vor sich und waren nicht in Eile und so konnten sich gerade die Alten endlich wieder ein wenig ausruhen. Nur Sheena war bereits auf. Nach einem ausgedehnten Bad, hatte sie zum ersten Mal seit einer Ewigkeit ihr Spiegelbild betrachtet. Schmerzlich wurde ihr bewusst, dass sie ihrer Mutter immer ähnlicher wurde. Auch Karla hatte diese fast schwarzen Haare gehabt, in denen sich immer ein rötlicher Schimmer verirrt zu haben schien. Im Gegensatz zu ihrer Mutter kurz vor ihrem Tod, waren ihre Haare jedoch noch lang und gesund, während Karlas Haare stoppelig kurz und spröde gewesen waren. Ihre ebenmäßigen Züge mit der geraden Nase und dem vollen Mund hätten früher einmal als hübsch gegolten. In ihrem mageren Gesicht wirkte jedoch alles viel zu groß und forsch, auch ihre grünen Augen wirkten zu intensiv und fast unheimlich. Sheena seufzte und berührte die Wasseroberfläche um ihr Spiegelbild verschwinden zu lassen. Heute galt das Aussehen nichts mehr. Für wen auch?! Sie erkundete ein wenig die Gegend und was sie in der Nacht nicht wirklich hatte sehen können war, dass die Oase im Schutze eines kleinen Gebirges lag. Das Wasserloch wurde scheinbar von einer Quelle gespeist, die aus den Felsen kam. Die Gruppe lief durch die endlosen Weiten der ehemaligen USA, das wussten sie, aber Orte und andere Anhaltspunkte dafür, wo sie sich befanden, gab es nicht. Es war alles dem Erdboden gleich gemacht worden, somit war dieses Gebirge vielleicht erst nach der „Sintflut“ entstanden. Außerdem vermutete sie, dass die Kontinente mit großer Wahrscheinlichkeit gar nicht mehr so existierten, wie sie es einmal gelernt hatte. Vielleicht befanden sie sich ja nicht mehr in Amerika. Wer wusste das schon. Sie folgte der felsigen Wand mit den Augen. Das Gebirge zog sich in die Länge, sodass sie es wahrscheinlich nicht umgehen konnten, sondern passieren mussten. Für einen gesunden Menschen, war dies kein Problem. Für die Alten und Schwachen würde es zu einer Tortur werden. Sheena seufzte leise und machte sich auf den Weg zurück zum Lager. Sie würden länger rasten müssen, als ihr lieb war, doch sie mussten alle bei Kräften sein für den Aufstieg. Sonst würde Ava nicht lange alleine in der trostlosen Dunkelheit des Todes bleiben. Die Kinder spielten ausgelassen unter den Bäumen und die Alten wurden ein wenig nostalgisch, während sie der Jugend zusahen. Sheena fühlte sich ausgeschlossen, daher suchte sie sich einen schattigen Platz in einem Baum um wiederholt durch ihre zerfledderte, uralte Ausgabe von Jane Austen’s Mansfield Park zu blättern. Sie kannte jedes Wort auswendig und doch war dies ihr Weg, sich zurück zu erinnern. Die vielen Bücher die sie besessen hatte, das große Haus, welches ihnen gehört hatte und ihr glückliches, friedvolles Leben, fernab von den politischen Intrigen und Krieg. Mansfield Park war das einzige, was ihr geblieben war. Während sie, mit Blick auf den zerschundenen Seiten, in Erinnerungen schwelgte, sank die Sonne langsam dem Horizont entgegen. Doch diesmal hatte es etwas Beruhigendes, Erfüllendes an sich. Als würde die Welt den Atem anhalten, um zur Ruhe zu finden. Keine Ungeheuer, kein Tod, nur der Schlaf. Sheena ließ ihren Kopf gegen den Stamm sinken und blickte gedankenverloren zum Horizont. Die Sonne näherte sich langsam dem magischen Punkt, bei dem Sonne und Erde wie Liebende miteinander verschmolzen um die Welt mit einer schwarzen Decke zur Ruhe zu betten. Sie ließ nicht oft solch romantische Gedanken zu, da sie in derlei Dingen nicht nur unerfahren war, sondern auch keinerlei Unaufmerksamkeiten wie Gefühle zulassen durfte. Doch hin und wieder wollte sie, dass ihre Wachsamkeit und die Anspannung nachließen damit sie durch atmen konnte. Mit Wehmut dachte sie dann an ihre Mutter. Ihr Ende, der Streit, welcher so sinnlos gewesen war und dann das Rauschen und Summen. Sheena seufzte und beschwor das Bild ihrer Mutter aus besseren Tagen hervor. Sie wollte sie gut in Erinnerung behalten. Doch so sehr sie auch versuchte, sich an die Zeit vor der „Sintflut“ zu erinnern, es gelang ihr nicht, weil sie das Summen nicht aus dem Kopf bekam. Es schien an- und abzuschwellen und fühlte sich an wie ein Tinitus, den sie einfach nicht los werden wollte. Auch nachts hörte sie diese Geräusche oft in ihrem Träumen. Dann verschwammen Realität und Traum miteinander und sie wachte verängstigt auf und suchte den Himmel ab. Auch jetzt wanderte ihr Blick zu dem dunkel werdenden Horizont. Oh Gott! Der Schreck fuhr Sheena durch den Körper und nur mit Mühe konnte sie verhindern, dass sie von ihrem erhöhten Sitz fiel. „Raus! Raus aus den Zelten…. zum Wasser.“ Sie schrie aus vollem Hals und hangelte sich ungeschickt vom Baum, wobei sie sich mehrfach die Haut an der rauen Rinde aufriss. Doch sie spürte nichts davon. Die Panik, die wie Strom durch ihre Adern pulsierte ließ sie taub werden für jegliche weitere Gefühle. Ihre Gedanken drehten sich nur um die Gruppe, die nur eine einzige Chance hatte, das Wasser. Die Kinder weinten und die Erwachsenen jammerten, als sie ebenfalls die Schwingen vernahmen. So sehr sie sich den Tod manchmal herbei gesehnt hatten, nichts war schlimmer als den Gefallenen in die Hände zu fallen. Sie waren das Grauen. „Los an die Felswand.“ Sheena schob die Gruppe an die Felsen. Nun hörte man bereits das Rauschen der Flügel, was die Geräusche des Wassers, welches um ihre schlotternden Beine schwappte, übertönte. Sie suchte den Horizont ab. Sie hatten kaum eine Chance, dass war ihnen allen klar. Sheena spürte, wie sie wütend wurde. Entschlossen reckte sie das Kinn und sehnte die Konfrontationen beinahe herbei. Sie war sauer, weil ihre jahrelange Flucht nun doch sinnlos sein würde, Kira und die anderen keine Zukunft hatten und all die Strapazen umsonst gewesen waren. Ohne Nachzudenken zog sie ihr Messer und stellte sich vor die Gruppe. Niemand wusste, ob man den Gefallenen schaden konnte, doch sie würde nicht sterben, ohne es nicht versucht zu haben! Als die Engel auf dem Boden aufsetzten, bebte es unter den Füßen der wimmernden Gruppe und es hallte zwischen den Felsen. Die Welle der Wucht, die durch die Erde fuhr, schien dagegen jegliche Furcht aus Sheena‘s Knochen zu fegen. Sie befahl den Kindern, ihre Augen zu schließen und breitete die Arme aus, wie um alle hinter sich zu verstecken. Zornig wappnete sie sich und wagte es dann, in die grausamen Antlitze ihrer Feinde zu schauen. Es waren fünf an der Zahl, ihre Schwingen maßen eine Breite von drei Metern und reflektierten die Sonne und das Wassers. Sheena kniff die Augen leicht zusammen, was ihr nicht passte, da sie so wenig Möglichkeiten hatte, den Blicken dieser Mörder stand zu halten. Trotzdem versuchte sie die Gesichter vor ihr zu erkennen. Engel hatten die schreckliche Eigenart grundsätzlich schön zu sein. Als sie über die Welt buchstäblich hereingebrochen waren, hatten viele Menschen die Gefahr zu spät erkannt. Sie waren geblendet gewesen von dem Zauber ihrer Gestalten und hatten ihre Absichten falsch verstanden. Sheena konnte die armen Kerle nicht vergessen, die im Laufe der Zeit der Schönheit der Engel zum Opfer gefallen waren. Ihre Mutter hatte sie gelehrt, weg zu schauen und zu fliehen, wenn die Gefallenen sie heim suchten. Diese Chance hatte sie nun nicht mehr. Gestählt durch die Menschen in ihrem Rücken, die ihre Familie geworden waren und für die sie so etwas wie ein Verantwortungsgefühl besaß, blickte sie den fünf ungleichen, ihrer Meinung nach, Monstern, ins Gesicht. Sie konnte ein Keuchen nicht unterdrücken. Die großen Gestalten strahlten rein und klar, wie Diamanten und einer war schöner als der andere, obwohl sie sich nicht ähnelten. Doch sofort schüttelte sie diese überwältigenden Eindrücke ab und trat vor. Die Klinge in ihrer rechten Hand berührte die Wasseroberfläche und Sheena machte sich ihre Waffe bewusst, die sie einsetzen würde, wenn sie konnte. Das Gewicht der Klinge fühlte sich gut an. Doch es geschah nichts. Erwartungsvoll starrte sie ihren Feinden entgegen, doch diese rührten keine Miene. Stattdessen schauten sie auf Sheena und ihre Freunde hinab, mit verschränkten Armen und schienen auf etwas zu warten. Sheena wagte es nicht, sich nach ihrer Gruppe um zu sehen und ihren Feinden somit wertvolle Sekunden zu schenken, daher stierte sie immer noch gerade aus und ihre Nerven waren dermaßen angespannt, dass sie sich sogar eine Reaktion ihrer Feinde ersehnte. Als hätte er ihre Gedanken erhört, löste einer der Engel seine Starre. Sofort pumpte ihr Herz Adrenalin durch ihren Körper und sie stählte sich, doch sie wich nicht zurück. Er war von dunkler Hautfarbe und hatte fast schwarze Augen und doch wirkte er so erhaben und überirdisch, dass sie sich seinem Bann nicht entziehen konnte. Trotzdem verhärtete sich ihr Griff um ihre Waffe. Er kam auf sie zu, doch blieb er nicht wie erwartet vor dem Wasser stehen, stattdessen lief er einfach weiter, über die Wasseroberfläche hinweg, sodass Sheena auf seine Knie schaute, als er vor ihr stand. Das ist unmöglich, schwirrte es durch ihren Kopf. Die Gefallenen können nicht in die Nähe von Wasser und hier stand einer von ihnen vor ihr. Zwar auf dem Wasser, aber seine baren Sohlen berührten eindeutig die Oberfläche und sandten kleine, kreisförmige Wellen aus. Sie wich unwillkürlich zurück und starrte zu ihm hinauf. Sein Gesichtsausdruck zeigte jedoch keinerlei Reaktion. Er blickte einfach auf sie hinab. Dann sank er plötzlich vor ihr in den Tümpel, sodass sie ihm zumindest in die Augen sehen konnte, auch wenn er gut einen Kopf größer als sie war. Die Kinder hinter ihr hatten aufgehört zu weinen und auch sonst war da auf einmal nichts außer Stille. Auch sie wagte es kaum zu atmen, während ihr das Blut in den Ohren rauschte. „Fürchtet euch nicht. Wir sind gekommen, um euch zu schützen.“ Im ersten Moment starrte Sheena ihn einfach nur an. Ihr Kopf verarbeitete weder das Gesagte, noch irgendeine Emotion oder ähnliches. Als sie nicht reagierte, reichte er ihr seine Hand. Als wäre sie vollkommen begriffsstutzig, sah sie auf die offene Hand vor ihr hinab. Das einzige was ihr durch den Kopf schoss war, wie gepflegt diese Hände waren. Sie hatte schon ewig nicht mehr richtig saubere und gesunde Hände gesehen. Als sie noch immer nicht reagierte, wandte er sich an ihre Freunde. „Wir suchen im Auftrag des Herren nach Überlebenden, vorzugsweise Frauen und Kinder, um sie in Sicherheit zu bringen.“ Er ließ seine Worte kurz wirken und ging dann langsam auf die anderen zu. „Wie ich sehe, haben in eurer Gruppe einige Kinder überlebt. Ich bitte euch, uns zu vertrauen, damit wir euch hier fort bringen können.“ Bei seinen letzten Worten regte sich Sheenas Verstand. Was tat sie nur? Sie hatte sich von seiner Ausstrahlung, seinem unerwarteten Auftreten einlullen lassen und nun näherte er sich ihren Freunden, sprach mit Engelszungen und sie tat nichts dagegen. Mit aufwallendem Zorn fuhr sie herum und drückte ihm ihre Klinge in den Rücken. „Noch ein Schritt und ich bin die Erste, die einen Engel tötet!“ Ihre Stimme bebte, aber war so leise und durchdringend, dass ihr Feind sofort stehen blieb. Hinter ihr hörte sie, wie sich die anderen Engel in Bewegung setzten, doch ihr Gefangener hob beide Arme, sodass sie nicht näher kamen. Langsam wandte er sich um und sah sie so freundlich an, dass sie sich einen Augenblick entwaffnet fühlte. Aber nein, nicht noch einmal! Sofort konzentrierte sie sich wieder, um den Zorn in sich zu behalten. Er nährte sie und gab ihr Kraft, das durfte sie nicht vergessen. „Glaubt ihr, ihr könnt uns täuschen? Verschwindet von hier!“ Ihre Stimme klang so fremd und hart, dass sie sich selbst nicht wiedererkannte. An den erschrockenen Gesichtern ihrer Freunde erkannte sie, dass es ihnen genauso ging. Nun lächelte der Engel auch noch und sie musste sich wirklich zusammen reißen, damit sie nicht den Versuch wagte, ihm die Klinge in die Brust zu stoßen, die so makellos war wie Marmor. Wieso musste dieser Typ auch nur eine weiße Hose tragen? An ihrer zitternden Hand erkannte er mit Sicherheit, dass sie nicht annähernd so stark war, wie sie tat. „Du bist mutig. Das ist eine seltene Gabe in diesen Zeiten.“ Er säuselte fast, doch das regte Sheena nur noch mehr auf. „Ihr habt diese Welt doch zu dem gemacht, was sie ist.“, fauchte sie. „Was wollt ihr wirklich?“ „Gott möchte, dass die Menschen von neuem beginnen zu leben.“ Sheena schüttelte irritiert den Kopf. „Er hat uns fast vollständig vernichtet! Wieso sollte er seine Absichten auf einmal ändern?“ „Dies ist eine lange Geschichte und ich würde mich freuen, wenn ihr uns die Möglichkeit gebt, es euch zu erklären.“ „Niemals!“ Ihre Klinge wanderte zu seiner Kehle. „ Lügen! Das werdet ihr uns erzählen!“ Der Engel hob seine Hand und Sheena verstärkte augenblicklich den Druck an seine Kehle. Ein Tropfen roten Blutes lief an der Klinge entlang und vollkommen paralysiert beobachtete sie, wie er sich löste und ins Wasser fiel. Die Hand berührte sanft ihre Wange. Die Haut war so weich. Sheena konnte sich nicht rühren. „Hör mir zu und du wirst es verstehen.“ Sie schloss die Augen und wusste, sie hatte verloren. Nachdem Sheena widerwillig die Waffe gesenkt hatte, waren sie aus dem Wasser getreten und hatten sich um das Feuer niedergelassen, welches kurz vor dem Angriff geschürt worden war. Sie sorgte dafür, dass die Gruppe sich so weit wie möglich von den Engeln distanzierte, auch wenn es ziemlich schwachsinnig war. Wenn die Engel sie töten wollten, würde kein weiterer Meter sie retten können, doch Sheena fühlte sich trotzdem wohler, wenn das Feuer zwischen ihnen war. Ihre Waffe hatte sie nicht abgelegt, sondern hielt sie nach wie vor in der Hand. Der dunkle Engel hatte sich als „Japhet“ vorgestellt und erklärte sich als Sprecher für seine Kameraden. Zwei weitere Engel glichen sich so sehr, dass Sheena bereit war zu glauben, dass es sich um Brüder handelte, wenn es so etwas überhaupt gab. Marinus und Marlow waren fast zwei Meter groß und blond. Ihre Gesichter waren makellos, doch ihre Augen wiesen jeweils unterschiedliche Farben auf. Während die Augen des einen links blau und rechts braun waren, so war es beim anderen genau umgekehrt. Die Kinder starrten die beiden fast unentwegt an, da sie fasziniert schienen von dieser Farbaufteilung. Direkt neben ihnen saß Ignatios, dessen Haare wie aus Feuer gemacht zu sein schienen. Sie waren fast kinnlang und schienen flammengleich sein blasses Gesicht zu umspielen. Seine grünen Augen wirkten offen und herzlich, aber Sheena wollte sich solche Gedanken bei ihren Feinden nicht erlauben. Auch wenn er wie die Menschen im Staub saß, die Beine überkreuzt, so sah es bei ihm so herrschaftlich aus, dass es irgendwie unpassend schien. Der letzte im Bunde verursachte Sheena aus unerfindlichen Gründen Kopfweh. Jedes Mal wenn sie ihn ansah faszinierte sie seine Gestalt und sein Gesicht, doch die Kälte seiner grauen Augen machte sie Schaudern, daher wich sie seinem Blick weites gehend aus. Seine schwarzen Haare waren etwas länger und fielen ihm ins Gesicht und er schien kleiner zu sein als die anderen. Trotzdem war der Engel, den sie Sem nannten, wahrscheinlich immer noch größer als sie. Aus irgendeinem Grund war sie sich die ganze Zeit seiner Präsenz bewusst, aber nicht auf positive Weise. Er schien sie anzustarren und es fühlte sich an, als würden Eisblitze mit jedem Wimpernschlag zu ihr durchdringen. Außer Japhet sprach keiner der Engel. Er erzählte wie Gott sich gegen die Menschen entschieden hatte, nachdem er so lange mit sich gerungen hatte, mit Hoffnung darauf, dass die Menschheit zur Vernunft kommen würde. Seine Entscheidung und der Angriff wurden so ausführlich beschrieben, dass einige Kinder anfingen zu weinen und wenige Erwachsene augenblicklich erbleichten. Sheena blieb jedoch ruhig. Sie hatte all dies bereits erlebt und nichts konnte sie überraschen. Doch da irrte sich. „Als der Herr sah, wie viele unschuldige Menschen und Tiere ihr Leben ließen, zerriss es ihm das Herz. Er befahl uns, sofort mit der Bestrafung aufzuhören und in sein Himmelreich zurück zu kehren. Doch nicht alle folgten seinem Ruf. Sie waren stets neidisch auf die Menschen gewesen und wollten, dass sie von der Erde getilgt werden. So verweigerten sie seinen Befehl und wurden dafür verstoßen.“ „Die Gefallenen!“, flüsterte eins der kleinen Mädchen und auch Sheena hatte dasselbe gedacht. Ein junger Mann auf dem Sterbebett hatte ihr damals diesen Namen zugeflüstert, bevor er seinen Verletzungen eines Angriffs erlegen war. Sie hatte diese Bezeichnung übernommen, aber nie darüber nachgedacht, woher sie gekommen war. „Das heißt, wir wurden die ganzen letzten Jahre von Abtrünnigen des Herrn gejagt?“, sie hatte Probleme, ihre Denkweise umzustellen. „Genau so ist es.“ „Wieso haben wir euch dann nie zuvor gesehen? Es sind so viele Jahre vergangen und so viele Menschen gestorben, ohne dass uns je jemand zur Hilfe geeilt wäre und nun kommt ihr und sagt uns, ihr wolltet uns retten! Tut mir leid, aber das glaube ich euch nicht.“ Japhet und sie maßen sich mit Blicken. Sheena wusste nicht was er dachte, sie jedoch war durch und durch misstrauisch. Wieso sollten sie jetzt auf einmal gerettet werden, nachdem sie so lange gejagt worden waren? Irgendwie ließ sie das Gefühl nicht los, dass dies nicht alles war, was der Engel ihr zu sagen hatte. Also wartete sie, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Japhet seufzte und dies war bis dahin die menschlichste Regung, die sie bisher an ihm bemerkt hatten. „Es gibt nicht mehr viel menschliches Leben auf der Erde. Wir haben zu spät reagiert.“ Er sah sie fast schon entschuldigend an. „Als wir zurück kehrten, hatten die Abtrünnigen alles in Schutt und Asche gelegt und als sie unsere Absichten erkannten, waren auch wir zu ihren Feinden geworden. Sie griffen uns an und verhinderten jeden Rettungsversuch.“ Er sah sich nach seinen Gefährten um und Ignatios nickte stumm. „Doch wir haben eine Möglichkeit gefunden, die zu verteidigen, die wir bereits gerettet haben. Viele Meilen südlich von hier, haben wir eine Festung in Klippen geschlagen. Sie ist gigantisch, reicht aber auch tief in die Erde. Dort können wir euch verteidigen.“ Lange sah Sheena die Engel einfach nur an. Sie wollten sie alle in eine Festung bringen, wo sie vor den Gefallenen in Sicherheit waren. Wieso fühlte sie dann keine Freude oder Hoffnung. Irgendetwas stimmte doch nicht. „Was geschieht mit uns, wenn wir in dieser Festung sind? Ihr müsst doch irgendeine Absicht damit verfolgen.“ Sie musste die richtige Frage gestellt haben, denn Sem, den sie noch immer nicht richtig anzusehen wagte, verkrampfte sich. Überrascht stellte Sheena fest, dass er sich nicht so zu beherrschen wusste, wie die anderen vier. Japhet ließ sich Zeit zu antworten. Ob er Zeit schinden wollte, oder sich seine Worte genau überlegte, konnte man nicht erkennen. „Wir wollen, dass die Art der Menschen sich wieder verbreitet um eines Tages erneut die Welt bevölkern zu können.“ Irritiert sah Sheena in die Runde ihrer Freunde um dort dieselbe Verwirrung zu sehen. Selbst Frank schien jegliche Angst in diesem Augenblick zu vergessen. „Ihr habt die Menschen vernichtet, weil sie die Welt beinahe zerstört hätten. Wieso solltet ihr wollen, dass sie wieder die Chance dazu bekommen?“ Sheena sah von Frank zu Japhet. Seine Miene war wieder unbeweglich. „Weil ihr unter unserer Kontrolle bleiben werdet.“ Sheenas Gruppe murmelte teils empört, teils verständnislos durcheinander, nur sie selbst ließ Japhet nicht aus den Augen. Die Schlinge zog sich immer schneller zu und sie war noch immer nicht ganz dahinter gekommen, was daran zog. Die Engel würden auf der Erde verweilen. Das war nicht erschreckend. Sie würden dafür sorgen, dass die Art der Menschen die Welt wieder bevölkern konnte. Okay, aber dies war nur möglich, wenn es genug Menschen gab, die für Nachwuchs sorgten und da sah sie ein Problem. Noch dazu widerte sie der Gedanke an, wie Vieh eingepfercht zu werden um dann zuchtgleich Babys zur Welt zu bringen. Da war die Wanderung durch die Wüste wesentlich attraktiver. „Euer Plan würde nur dann Sinn machen, wenn es noch genügend Menschen gäbe, die dazu in der Lage sind, Nachwuchs zu zeugen.“, sprach Frank ihre Gedanken aus und aus seinem Mund hörte sich das noch verrückter an. Ihr Herz schlug nervös in ihrer Brust. „Durch uns wird eine neue Menschenrasse entstehen. Geleitet durch unser Blut und unsere Erziehung, werden sie ihre Welt, ihre Artgenossen und Gott respektieren. Es wird gut werden.“ Sofort verstummten alle Gespräche. Sheena sauste es in den Ohren, als sie versuchte zu verstehen, was Japhet gerade versucht hatte, ihnen allen verständlich zu machen. Das Blut der Engel! Sie würden wie Tiere gehalten werden, die darauf warteten den Engeln zu Diensten sein zu können, damit sie sich vermehrten. Sofort stieg ihr das Blut in den Kopf und unbändiger Zorn raubte ihr fast den Atem. „Das ist doch wohl nicht euer Ernst.“, fauchte sie und stand auf. „Keiner von uns wird euch begleiten.“ Eine der Frauen keuchte auf und hielt ihren Arm fest. „Aber Shee, dort werden wir sicher sein. Kein Hunger mehr, keinen Durst. Und wir müssen nicht mehr fliehen.“ In ihren Augen standen Tränen, aber Sheena war unerbittlich. „Wollt ihr euch wirklich einpferchen lassen um wie Zuchtstuten die Kinder der Männer… Monster zu gebären, die fast die komplette Menschheit ausgerottet haben? Auf Befehl eines Gottes, der uns vernichten wollte?“ Sie wandte sich an die Engel. Der eisige Blick von Sem musterte sie nach wie vor unverhohlen und sie fühlte sich fast nackt und undurchsichtig. Daher versuchte sie ihn auszublenden. Die anderen sahen wenigstens etwas betreten aus. „Das werde ich nicht zulassen! Ihr solltet euch schämen, an so etwas auch nur zu denken.“ Plötzlich spürte sie ein Zupfen an ihrem zu weiten Oberteil. Eins der kleinsten Mädchen, Polly, starrte mit riesigen Augen zu ihr auf. Die Kleine sprach sehr wenig, seitdem sie hatte zusehen müssen, wie ihr Vater und ihr Bruder von zwei Gefallenen getötet worden waren. „Bitte Shee…ich möchte mit den Engeln gehen.“ Sheenas Zorn wich Überraschung. „Da sind auch noch andere Kinder und viel mehr Leute. Da ist es bestimmt schön.“ Sheena sah sich nach den anderen Kindern um und erkannte die gleiche Hoffnung in ihren Augen. Sie schluckte schwer. Bisher hatte nie jemand an ihren Entscheidungen gezweifelt, doch nun öffnete sich ihren Freunden eine Tür, die das Ende der Qualen bedeutete, die sie so viele Jahre über sich hatten ergehen lassen. Konnte sie sich davor verschließen? Ihr Herz wurde ihr schwer und wenn sie an die Knechtschaft dachte, die ihr bevor stand wurde ihr übel. Aber wenn sie dann wieder in die Gesichter jedes einzelnen der Gruppe schaute, wusste sie, dass sie überstimmt war. Die Frauen waren meistens so abgestumpft, dass sie alles erträglicher fanden, als ihr momentanes Leben. Sie richtete ihren Blick auf Japhet, der sie abschätzend musterte. „Lasst uns eine Nacht Zeit, darüber nach zu denken.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)