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Berlin macht das Leben auch nicht leichter

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Disclaimer: Orte, Menschen, Tiere alles frei erfunden. Außer Bela und Farin, aber die gehören nicht mir Komplett anzeigen

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1

Ein kaltes feuchtes Etwas traf mich mitten ins Gesicht und riss mich aus dem Schlaf. Ich versuchte meine Augen zu öffnen, doch die Lider waren schwer wie Blei. „Hey du!“ Die Stimme schien meilenweit weg. „Hey! Hallo!“ Der zweite feuchte Schlag lies mich ruckartig zusammenfahren und ich stieß mit dem Hinterkopf hart gegen die Wand. „Wat ist denn?“, murmelte ich genervt. Vor mir stand ein Typ, den ich im Traum noch nicht gesehen hatte und winkte mit einem Wischlappen gestresst hin und her. Das feuchte Etwas. Wo verdammt war ich hier? „Wir machen zu. Feierabend. Los raus hier!“ Nach einem Blick nach links und rechts fiel es mir wieder ein. Ballhaus Spandau, Mittwochabend. Und ich war auf dem Klo eingeschlafen. Verdammt.
 

„Hallo!“ Schon fast verzweifelt fuchtelte der Kerl mit seiner Hand vor meinem Gesicht rum. „Ja is ja gut.“ Eine Hand am Klodeckel, die andere am Toilettenpapierhalter versuchte ich mich auf die Beine zu ziehen. Hätte wohl auch funktioniert, wenn das Ding gehalten hätte. Mit einem lauten Knall landete ich zwischen dem Toilettensitz und der Klobürste auf dem Boden und stieß mir erneut den Hinterkopf. Diesmal richtig. „Autsch.“, brummelte ich vor mich hin und blickte verwirrt auf die Halterung in meiner Hand. „Mensch Junge! Wat solln der Mist! Komm steh auf jetzt!“ Immernoch das feuchte Etwas in der Hand packte er mich unter den Armen und zerrte mich unsanft nach oben. Plötzlich drehte sich die Welt um mich herum in ganz grausamer Weise. Ein unendlich mieses Gefühl. Schlechter hätte es mir wohl nicht gehen können.
 

Ich war eindeutig noch nicht nüchtern und fühlte auch gleich ein alamierendes Ziehen in der Magengegend. So dauerte es nicht lange, bis ich dem Typen entgegenschwankte und ihm zur Kröhnung seines wohl beschissenen Arbeitstages auf die Schuhe kotzte. „Ah Scheiße! Das ist ja widerlich!“ Das war es wirklich. Als er sich nach dem ersten Schock wieder gefangen hatte, packte er mich wenig gefühlvoll an den Oberarmen. Ich war noch immer mit Würgen beschäftigt. „Mach das du raus kommst! Verschwinde hier!“ Ich stolpterte und taumelte, als er mich aus der Toilettenkabine durch den ganzen Laden zerrte. Der scheinbar endlose Marathon endete mit einem heftigen Stoß in die Rippen, dann landete ich vor der Tür.
 

Mein Kopf suchte einen Moment lang nach der Orientierung, wurde dabei jedoch schnell von den kalten Regentropfen, die zahlreich wie hunderte kleine Nadelstiche meine Haut benetzten, abgelenkt. Schlechter konnte es doch kaum laufen. Regen, Kälte, Dunkelheit. Meine Stimmung war auf dem Nullpunkt und mir war immer noch übel. Wenigstens durchbohrte mich der Geistesblitz, welcher mich schon auf der Toilettenkabine heimgesucht hatte. Spandau. Da war ich. Und das war gut. Hier war ich aufgewachsen. Keine Ecke, die ich noch nicht gesehen hatte. Der Heimweg war also machbar, wenn auch ungemütlich. Wenigstens trug mein noch immer viel zu hoher Alkoholpegel dazu bei, dass ich nicht fror in dieser kalten Novembernacht. Schwankend setzte ich mich in Bewegung in Richtung SBahn.

2

Als ich endlich am Bahnhof ankam, hatte ich das Gefühl, stundenlang gelaufen zu sein. Meine Beine waren schwer wie Blei. Auf dem Weg hatte ich noch zwei Mal die Ameisen in meinem Mageninhalt ersäuft. Doch jetzt fühlte ich mich dafür wenigstens ein bisschen besser. Das schlimmste war definitiv überstanden. Es war mittlerweile halb 4. In Spandau war es nicht wie im Rest Berlins. Die Straßen waren ruhig um diese Uhrzeit mitten in der Woche. Hier standen die meisten Menschen tatsächlich morgens auf um arbeiten zu gehen. Nur ein paar wenige mehr oder minder lautstark Gröhlende irrten noch durch die Straßen.
 

Kalter Novemberwind kündigte den Winter an und drang durch bis zu meinen Knochen. Beschissen kalt. Vielleicht sollte ich auf dem Heimweg doch noch einen heben, um nicht zu erfrieren. Miese Idee. Schon bei dem Gedanken daran wurde mir wieder schlecht. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich keine Jacke dabei hatte. Nicht mehr. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Typ im Ballhaus damit jetzt gerade meine Kotze vom Boden aufwischte, war wohl ziemlich hoch. Ich war klitschnass. Shit. Nach Hause. Einfach nur nach Hause. Es nützte ja nichts. Meine Beine trugen mich widerwillig weiter bis zur Tür des Sbahnhofs. Bis vor ihre Füße. Dort, direkt vor den schweren Eingangstoren, saß eine Gestalt unter dem Schutz der Markise des noch geschlossenen Bäckerladens. Mitten in der erbarmungslosen Kälte dieser Nacht, nur mit einer dünnen Lederjacke bekleidet, hatte sie es sich auf einer Decke bequem gemacht und spielte Gitarre. Leise und wunderschön.
 

Ich hatte den Song noch nie zuvor gehört, doch die Melodie nahm mich voll und ganz ein. Sanft schlug sie die Saiten an und lies jeden Ton wie einen Zauber in der Dunkelheit verklingen. Die Dose vor ihren Füßen lud zur Spende ein und erst jetzt bereute ich den Verlust meiner Jacke richtig. Nicht mal einen Pfennig hatte ich dabei, obwohl ich ihr so gern diesen Gefallen getan hätte. Stattdessen lauschte ich nur fasziniert dem Klang ihres Instruments und wippte die Hände in den Hosentaschen im Takt vor und zurück. Die Musik durchfloss mich wie ein Strom und ich schloss die Augen, um den jeden Ton in mich aufzunehmen. Wenn man beschwipst war, funktionierte das. Richtig gut sogar.
 

Das Frösteln hatte aufgehört. Nachdem die letzten Töne erklungen waren, hatte sie mich noch nicht bemerkt. Vertieft in ihr Spiel, hatte sie stumm auf den Boden gestarrt und so ihr Gesicht hinter den langen braunen Haaren vor mir versteckt gehalten. Jetzt blickte sie auf und sah mich verwundert an. Immer noch fasziniert starrte ich sie an und merkte nicht, wie seltsam das wohl auf die Brünette wirken musste. Akute Bewegungslosigkeit in Kombination mit dümmlichem Gestarre machte wahrscheinlich keinen besonders guten Eindruck. Ich stand da wie ein Trottel. Skeptisch fragend hob sie eine Augenbraue. „Alles okay?“ Ihre Stimme riss mich aus meiner Starre. „Ähm...ja. Ick meine...“ Rumgetrukse. Ja, sie musste mich für einen Idioten halten. Eindeutig.
 

„Dat war echt spitze.“, brachte ich schließlich doch noch heraus. „Danke.“ Ein Grinsen stahl sich auf ihr Gesicht. „Wat warn dat fürn Song? Sollte man den kennen?“ „Nee. Hab ick selbst geschrieben.“ „Ehrlich?“ „Jup. Stammt ganz allein aus meiner Feder.“ Jetzt wurde ihr Grinsen noch breiter. Wäre es hell genug gewesen, hätte ich sicher Stolz in ihren Augen blitzen sehn. Ich wollte ihr nun noch ein paar Komplimente machen. Hatte man einmal damit angefangen, ging es ganz leicht von der Hand. „Echt ne klasse Nummer. Du ick würd dir ja echt gern bisschen Kohle da lassen, aber ich hab grad gar nix dabei. Hab meine Jacke liegen lassen und da war dat drin.“ „Macht nix. Vielleicht ja ein anderes Mal.“
 

„Du sitzt wohl öfter hier rum was?“ „Mh. Ist doch gemütlich. Und vorallem trocken.“, schmunzelte sie mit einem Blick auf meine Haare, welche mir triefend ins Gesicht hingen. Es regnete immernoch wie aus Eimern. War inzwischen aber auch egal. Ich war sowieso schon nass bis auf die Knochen. Versucht lässig fuhr ich mir durch meine Matte. Hätte ich lassen sollen. Durch die Tonnen an Haarspray gemischt mit der Feuchtigkeit hatte ich nur noch ein fitziges Etwas auf dem Kopf. Meine Finger verhakten sich und ich brach die coole Geste ab. „Dat is halb so wild. Wollte sowieso grad nach hause.“ „Wo solls denn hingehn?“ „Charlottenburg.“ Die Brünette lachte kurz auf und widmete sich ihrer Blechbüchse. „Da wirste wohl noch ein bisschen brauchen wa? Die nächste Bahn fährt doch erst in ner halben Stunde, wenn ich mich nicht täusche.“ Oh nein, es war Mittwoch. Mittwochnacht. Sie hatte Recht. Ich versuchte mir auszurechnen, wann ich wohl zu Hause sein würde und kam zu dem Ergebnis, dass Berufsschule heute eindeutig nicht mehr drin war.
 

„Mach dir nix drauß. Mein Bus fährt auch erst um 4.“ „Können wer uns ja zusammen bisscken die Zeit vertreiben.“ Sie unterbrach die Geldzählerei und warf mir einen amüsierten Blick zu. „Soll dat ne Anmache sein?“ „Nee! Wieso denkt ihr Mädels immer gleich um die Ecke. Ick bin en anständiger Junge.“ „Dat habt ihr Männer euch schon selbst zuzuschreiben.“ „ Du hast doch damit angefangen. Dat sind deine unanständigen Gedanken.“ Mit einem herausfordernden Grinsen stand ich ihr gegenüber. „Na wenn dat so is, kannste dich gern zu mir setzen, wenn de dich traust.“ Das Angebot schlug ich nicht aus. Ein bisschen Unterhaltung würde die Wartezeit verkürzen. Außerdem minderte es die Gefahr, wieder einzuschlafen und die Bahn zu verpassen. Ich setzte mich neben die Brünette auf die Decke, lehnte mich gegen die Wand und streckte meine Beine aus. War sogar ganz bequem. Wer hätte das gedacht. „Schöne Gitarre.“, bestaunte ich das tiefschwarze Instrument in ihren Armen. „Is vom Flohmarkt. Ziemlich ramponiert, aber sie erfüllt ihren Zweck.“ Das tat sie allerdings. Davon hatte ich mich vor wenigen Minuten selbst noch überzeugen können. Mir fiel auf, dass die Straßen jetzt abgesehen von ein paar vorbeifahrenden Autos fast leer waren. Wie ihre Sammelbüchse. „Sag ma, wieso spielst du eigentlich hier mitten in der Nacht? Hier is doch kein Schwein. Meinste nich, da gibtet bessere Plätze für?“ „Na sicher. Bin hier eigentlich auch gar nich so richtig zum Geld machen. Eine schlaflose Nacht. War gerade in der Nähe und hab den letzten Bus verpasst. Ich hatte keine Lust im Regen zu laufen. Meine Gitarre hab ich eh fast immer dabei.“ „Und da haste dir gedacht, setz ich mich vorn Bäckerladen in Spandau und schau ma, ob die Straßenlaternen bisschen Kleingeld über haben.“ „Hey nich so sarkastisch. Schau, ich hab immerhin 10 Pfennig verdient. Hättest du deine Jacke nich liegen lassen, wäre es sogar noch mehr geworden.“
 

„Und wo spielste sonst so?“ „Manchmal fahr ich zum Kudamm. Is mir aber meistens zu weit. Außerdem dauert es da oft ne lange, bis se dich vertreiben, weil deine Musik scheinbar eine Belästigung der Schönen und Reichen is. Dann spiel ick lieber hier. Also nachmittags dann. Kann man ganz jut verdienen.“ „Dat Kudamm-Problem kenn ick. Die Ordnungsfuzis kennen uns mittlerweile schon beim Vornamen.“, grinste ich fast stolz über diesen kleinen Anflug von Rebellismus und bemerkte daher zunächst ihren überraschten Blick nicht. „Du machst auch Musik?“ „Mh. Ick spiel Schlagzeug in ner Band. Also jedenfalls so wat ähnliches wie ne Band. War

bis vor kurzem noch bei Soilent Grün. Weiß nich, ob de die kennst. Haben uns aufgelöst. Mein Kumpel Jan und icke sind gerade dabei, ne neue Band auf die Beine zu stellen.“ „Und wat spielt ihr so? Sing ma wat!“
 

Damit hatte ich nicht gerechnet. Doch es lag wohl am Alkohol, dass ich mich darauf einlies. Ich war einfach immer noch betrunken genug. Fröhlich stimmte ich zu Mr. Sexpistols ein. Der Song war gerade erst geboren und ich war nicht nüchtern genug, alle Textteile abrufen zu können. Lücken füllte ich mit begeistertem „Lala“. Als ich fertig war, blickte ich der Brünetten erwartungsvoll in ihre grünen Augen. „Is dat Popmusik, was ihr macht?“ „Kann schon sein. So genau wissen wer dat selber noch nich.“ Das fand sie scheinbar komisch. Ihr Lachen verunsicherte mich. „War dat jetzt so schlimm?“ Sie sah meinen überforderten Blick und legte mir eine Hand auf den Arm. „Nee keine Angst. Ick glaube sogar, dass du eine echt tolle Stimme hast.“ „Du glaubst?“ Ich sah, wie die Brünette kurz überlegte. „Lass uns mal bisscken zusammen spielen. Ist eh noch viel Zeit totzuschlagen. Ick spiel Gitarre und du singst.“ Ich wusste zwar nicht so wirklich, ob ich jetzt gekränkt sein sollte, weil sie mich ganz offensichtlich ausgelacht hatte, doch die Idee fand ich gut.
 

„Wat spielste?“ „Die Beatles? Let it be?“ „Wat! Oh gott nee bitte nich!“ Schon aus der Übung der heutigen Nacht heraus, machte ich ein perfektes Würgen nach. „Ick kann leider nich so viel. Die meisten Songs, die ick spiele, sind meine eigenen. Jetzt stell dich nich so an Mensch!“ Sie puffte mir mit dem Ellenbogen in die Seite. „Is kein Mensch auf der Straße. Ich erzähls auch keinem versprochen.“ Den letzten Satz flüsterte sie mir ins Ohr und ein Schauer zog meinen Rücken entlang und hinterlies eine Gänsehaut auf meinen nakten Armen. Wer konnte da schon nein sagen. „Najut. Aber dat bleibt ne einmalige Angelegenheit.“ Mit einem zufriedenen Lächeln auf dem Gesicht fing sie an zu spielen. Und ich sang. Natürlich nur den Refrain. Der Strophentext wäre beim besten Willen zu viel verlangt gewesen. Vor meinen Augen tauchte immer wieder Jans selbstzufriedenes Grinsen auf. Wie gut, dass ich heute ohne ihn unterwegs war. Das hätte der mir ewig unter die Nase gerieben.
 

Wir hatten gerade ein paar Songs gespielt, als sie plötzlich aufsprang, ihre Gitarre umhängte und hektisch ihren Kram zusammenpackte. „Scheiße!“ Ungläubig schaute ich mit großen Augen zu ihr auf. „Wat hattn dich gestochen?“ „Mein Bus!“ Und tatsächlich stand dieser wirklich schon an der Ampel vor der Bushaltestelle auf der anderen Straßenseite. „Oh.“, murmelte ich überfordert. „War lustig mit dir. Machs gut!“ Dann fing sie schon an, über die Straße zu rennen. „Ja aber...“. Fragend hielt ich eine Hand in die Luft, doch es war zu spät. Keine 10 Sekunden später war sie im Bus verschwunden. Vollkommen perplex saß ich plötzlich allein auf ihrer Decke. Die hatte sie vergessen. Ich kannte nicht mal ihren Namen. Einen Moment lang war ich mir nicht einmal sicher, ob das eben gerade wirklich passiert war. Dann kam mir ein Gedanke und ich sprang auf wie die Brünette wenige Augenblicke zuvor. Es war um 4. Meine Bahn. Schon auf dem Weg in die Eingangshalle machte ich noch einmal kehrt und kramte ihre Decke zusammen. Eigentlich ziemlich überflüssig. Ich würde sie wohl sowieso nicht wiedersehen. Ein wenig betrübt und doch voller Vorfreude auf mein Bett, rannte ich die Treppen nach oben, sprang in die Sbahn, als sich die Türen schon schlossen und lies Spandau hinter mir.

3

Das Gurgeln der Toilettenspülung vermischte sich mit dem lauten Pfeifen des Teekessels zu einem Geräuschkonzert, wie es schlimmer nicht hätte sein können. Es fühlte sich an, als würde jeder Laut bis ins Innerste meines angespannten Nervenkostüms vordringen. Mein Schädel dröhnte abartig. So schnell es mir möglich war, hastete ich zum Herd, wenn man diesen alten Kasten überhaupt noch so nennen konnte, und machte dem Gekreiche ein Ende. Ich war krank. Und zwar richtig. Und ich wusste auch genau, wem ich das zu verdanken hatte.
 

Gerd. Mein Lieblingskollege. Gerd der Vorzeigehamster. Der größte Arschkriecher, der mir in meinem Leben begegnet war. Die meißte Zeit seines Arbeitstages war er damit beschäftigt, dem Chef hinterher zu watscheln wie ein liebeskranker Pinguin. Dreimal hatte er es so schon in den abgetrennten Kantinenbereich der leitenden Köpfe der Firma geschafft. Immer dabei natürlich sein breites einnehmendes Grinsen, welches wohl selbst Polkappen zum Schmelzen gebracht hätte und seine nagetierartigen Schneidezähne hervorhob. Eben diesen hatte er auch seinen wenig schmeichelnden Spitznamen zu verdanken. Er verstand es als Kompliment. Doch er verstand im Allgemeinen auch nicht viel. So einer erschien natürlich an jedem Arbeitstag. Auch krank. Und wenn er noch so ansteckend war.
 

Und nun hatte ich den Salat. Beziehungsweise die Grippe. Meiner medizinischen Laienkenntnis nach hätte es aber auch das Hantavirus sein können. Mir tat alles weh. Heute Nacht hatte ich mich gefühlt, als wäre ich dem Tod nah. Mein angeschwollener Hals brannte wie Feuer und hatte mich alle 10 Minuten mit einem brüllendem Hustenkrampf aus dem Schlaf gerissen. Meine Fieber war so weit gestiegen, dass ich mir sicher war, innerlich zu kochen. Wie hoch genau meine Temperatur war, wusste ich nicht. Dirk und ich hatten das einzig vorhandene Fieberthermometer in einem Anflug von kindicher Albernheit beim dem Versuch, Zootiere aus Haushaltsgegenständen zu basteln, zerbrochen. Wir hatten die Idee, bei einem unserer Soilent Grün-Konzerte mit den Tierchen die Bühne zu verschönern. Hätte dem Rest der Band sicher weniger zugesagt. Doch das hat uns eigentlich noch nie abgehalten.
 

Unsere Begeisterung war nicht zu bremsen gewesen. Leider war Soilent Grün dann aber zu schnell Geschichte geworden. Und so stand jetzt auf dem Küchenregal ein halbfertiges Kamel, zusammengeschustert aus zwei Plastikgläsern, drei Gabeln und einem Eierbecher, angemalt mit Buntstiften. Dass es irgendwann noch einen Schwanz oder gar ein viertes Bein bekommen würde, hielt ich für unwahrscheinlich. Dirk hatte es eines Tages zur abstrakten Kunst und somit wohl auch die Produktionsphase endgültig für beendet erklärt. Die anderen Zooprojekte waren in ihrer Entstehung nicht so weit fortgeschritten gewesen und waren daher auch irgendwann im Müll gelandet.
 

Ich hatte mich gerade auf die Küchenbank gequält, als es an der Tür klingelte. Noch nie hatte mir dieses Geräusch so weh getan wie heute. Es war 5 Uhr morgens. Wer auch immer jetzt den Schneid hatte, hier zu klingeln, tat es umsonst. Aufstehen kam gar nicht in Frage. Auf keinen Fall. Nach reichlich Anstrengung hatte ich es endlich in eine halbwegs erträgliche Position geschafft, um meinen Tee zu trinken. Um nichts in der Welt würde ich jetzt zur Tür gehen. Wenn einem jeder Knochen weh tat, war das eine Weltreise. Einen Moment lang geschah nichts. Vielleicht hatte ich mir das Klingeln nur eingebildet. Ich zuckte umso mehr zusammen, als dieses grausame Geräusch erneut durch meine Gehörgänge schoss. Und nochmal. Und nochmal. Sturmklingeln. Früh um 5. Und mein Kopf drohte zu explodieren.
 

„Jan!“ Es war Dirk. Und er klopfte und klingelte wie ein Wahnsinniger. „Jan ich bins! Mach die Tür auf!“ Erschrocken zog ich mich auf die Beine. Ich dachte, er wäre längst zuhause. Es war normal, dass er mittwochs ins Ballhaus ging. Eigentlich taten wir das immer gemeinsam. Doch meistens waren wir nie später als 1 Uhr zuhause. Wir mussten beide morgens raus. Warum zum Teufel kam er jetzt erst? Und warum weckte er dabei die ganze Nachbarschaft? Er hatte doch einen Schlüssel. Irgendwie musste er ja auch ins Haus gekommen sein. Mit einer Mischung aus Wut, Neugier und Sorge zog ich mich am Küchentisch hoch und machte mich auf den Weg zur Tür. Schwarze Punkte flimmerten vor meinen Augen, weil ich zu schnell aufgestanden war. In meinen Kopf pochte es schmerzhaft und unaufhörlich gegen meine Schläfen. Am liebsten wäre ich einfach umgefallen.
 

„Oh man.“ Vor mir stand ein nasser Sack. Sein Kajal war verlaufen, die stundenlang tupierten Haare waren jämmerlich in sich zusammengefallen und hingen leblos an seinem Kopf. Er trug keine Jacke . Stattdessen hatte er einen nassen schlammigen Lumpen um die Schultern, den er wohl irgendwo auf der Straße aufgegabelt hatte. Er sah erbärmlich aus. Und all meine Wut war verflogen. Dieses Bild war einfach zu komisch. Doch noch wollte ich meinen Gefühlen keinen freien Lauf lassen. Ich wusste ja nicht, ob es ihm gut ging. „Morgen Jan. Tut mir leid, dass“. Ich lies ihn nicht ausreden. Es ging einfach nicht. Ich brach in Lachen aus. Dirk blickte mich entgeistert an. „Wasn jetzt so komisch?“ „“Du!“, brachte ich atemlos hervor. Der Schwarzhaarige verzog genervt das Gesicht und klopfte mir anschließend kräftig auf den Rücken, weil mein Lachen ohne Vorwarnung in einen erneuten Hustenanfall übergegangen war. „Ja ja Herr Vetter. Dat kommt davon. Jetzt beruhigen wer uns erstmal wieder.“
 

Nachdem ich auch diesen Ausbruch überlebt hatte, schaute mich der Kleine mit verschwommenen Augen müde an. „Tut mir leid Felse, aber du siehst aus wie en Komondor.“ „En wat?“ „Dat is ne Hunderasse. Die sehn aus wie, naja wie du eben.“ Mein Grinsen konnte ich immer noch nicht runterschlucken. „Sehr witzig. Ich seh schon, du hast dir echt Sorgen gemacht, weil ick nich nach Hause gekommen bin.“ „Hab ick nich mitbekommen. Wie du siehst bin ick immer noch krank.“ Scheinbar fiel ihm das jetzt auch wieder ein und er legte mir beruhigend die Hand auf den Rücken. „Ja Mist. Tut mir leid, dass ick dich geweckt hab.“ „Haste nich.“ „Nich?“ „Nee. Wollte mir grad nen Tee machen.“ „Na wenn dat so is, ab ins Bett Herr Vetter. Dr. Bela bringt Ihnen deinen Tee.“
 

„Dr. Bela sollte lieber erstmal seinen Rausch ausschlafen. Oder willste morgen wieder blau machen?“ Die Frage gekonnt ignorierend, legte Dirk seinen Arm um meine Schulter und schob mich zu meiner Zimmertür. „Keine Diskussionen. Sie reden wirres Zeug Herr Vetter. Ab jetzt. Schließlich bin ick der beste in meinem Fach.“ Dann schwankte er in Richtung Küche, während ich mich wieder ins Bett bewegte. Die Decke war erfrischend kühl, würde sie aber wohl nicht lange bleiben. Es dauerte nicht lange, da tauchte die schwarzhaarige Elendsgestalt mit meiner Teetasse vor meinem Bett auf. „So bitte der Herr.“ Er tatschte mir mit seiner kalten, nassen Hand auf der Stirn herum. Ein Segen.
 

„Viel zu warm Jan. Schlafen jetzt. Wehe ick erwisch dich nochmal in der Küche, bevor die Sonne aufgegangen is.“ „Dat würdest du in deinem komatösen Schlafzustand eh nich merken.“ „Sein se sich da mal nich so sicher.“ Nachdem der Kleine beim Aufstehen kurz das Gleichgewicht zu verlieren drohte, trällerte er ein fröhliches „Jute Nacht!“ und schloss die Tür hinter sich. Ich musste immer noch Grinsen und freute mich schon darauf, die Geschichte zu seinem seltsamen Auftritt zu hören. Ich rechnete nicht wirklich damit, dass er am nächsten Tag das Haus verlassen würde. Er schaffte es immer wieder, Abende auf die unkonventionelle Art und Weise zu beenden. Leider brachte er sich dabei oft genug in Schwierigkeiten, doch im Nachhinein war es meistens urkomisch. Wenn auch nicht immer für ihn. Mir fielen die Augen zu. Ich nippte noch ein paar mal an dem heißen Tee, bevor ich schließlich erneut in einen fiebrigen Traum versank.

4

„...können wir mit Glück heute Nachmittag noch ein paar Sonnenstrahlen einfangen, während gegen Abend eine Schlechtwetterfront aufzieht und dann auch gebietsweise das erste Mal mit Schnee zu rechnen ist. Die Temperaturen liegen derzeit bei einem Grad, es kühlt im Laufe des Tages jedoch immer weiter ab.“ Erstaunt folgte ich der Stimme der Radiowetterfee in die Küche. Entweder das Ding hatte ein Eigenleben entwickelt oder Dirk war ausnahmsweise vor mir wach. Tatsächlich stand er mir den Rücken zugewandt am Herd und bruzelte irgendwas. Es roch verdächtig angebrannt. So lange konnte der Kleine jedoch noch nicht auf den Beinen sein. Zu mehr als Boxershorts hatte er es noch nicht geschafft. Neugierig, was er dort bis aufs letzte zu Kohle verarbeitete, gesellte ich mich neben ihn. Hoch konzentriert blickte er auf sein Werk in der Pfanne.
 

„Solln dat Fischstäbchen sein?“, versuchte ich das laute Zischen der dunkelbraunen Glötze zu übertönen. Neben mir zuckte es. Dirk blickte erschrocken auf. „Mensch erschreck mich doch nich so!“ „Hab ick doch gar nich!“ „Doch haste.“ Er hatte ja Recht. Das sah ich in seinen Augen. Doch übel nehmen durfte er mir das wirklich nicht. Dieser Kerl war von Natur aus unglaublich schreckhaft, weil er ständig vor sich hin träumte. Da konnte man nun wirklich keinem einen Vorwurf machen. „Wat machstn du eigentlich schon hier? Bist doch sonst nich so früh wach?“, lenkte ich vom Thema ab. „Es is um 12 Jan.“ „Ja, ick weeß. Deswegen ja. Wenn es kein Fiebertraum war, biste heute morgen 5 Uhr sturzbetrunken hier aufgetaucht. Vorm späten nachmittag seh ick dick dann nie. Ich glaube, du kannst die Fischstäbchen langsam runternehmen.“
 

Ich wollte gerade zwei Teller aus dem Schrank holen. „Nee nee Finger weg. Ick mach dat schon. Schließlich biste ja krank.“ „Auch gut.“ Ich machte es mir auf der Küchenbank bequem. Das klappte schon sehr viel besser als gestern. „Also erstens war ick nich sturzbetrunken. Und zweitens musste ick mich ja heute vormittag in der Schule abmelden. Und als ick schon mal wach war, dachte ick mir, ick mach uns wat zu essen. Dann kannste dich ausruhn.“ Fröhlich grinsend schob er mir den Teller mit den verkohlten Fischstäbchen unter die Nase. Lecker. Gesund war das sicher nicht. „Jetzt guck nich so. Sin nurn bisscken angebrannt. Kann man schon noch essen.“ „En bisscken?“ Vorsichtig stocherte ich in meinem Essen rum. „Du olle Mimose. Jetzt sei nich so wählerisch, wenn ick uns schon mal wat zu Futtern mache. Musste mich ja nebenbei auch noch um deinen Tee kümmern.“ Schnell sprang er auf und holte meine Tasse. „Bitte der Herr.“ Was war denn mit dem los?
 

Ich kannte Dirk jetzt schon eine ganze Weile, seitdem wir zusammenwohnten auch fast alle seine Macken und Charakterzüge. Er war ein ziemlich einfühlsamer Mensch und ich konnte mich in fast jeder Lebenslage auf ihn verlassen. So war es auch nichts Neues, dass er sich kümmerte, wenn es mir nicht gut ging. Aber diese befremdliche, schon fast gruselige gute Laune, die er heute an den Tag legte, trotz der für seine Verhältnisse kurzen Nacht, war mir neu. So blieb ich auch skeptisch. Da musste irgendwas im Busch sein. Und ich war neugierig. Auch um ihn zum Reden zu animieren, fing ich an, das verbrannte Essen Stück für Stück in mich reinzustopfen.
 

„Wie gehtsn dir? Siehst schon besser aus als gestern.“ „Geht auch schon besser. Ick glaub, dat Schlimmste hab ick überstanden.“ Ich hatte heute Nacht wohl alle Keime erfolgreich aus mir herausgeschwitzt. Die Bettdecke bedurfte jedenfalls dringend einer Wäsche. Meine Nase war zwar immer noch zu und ich musste aufpassen, beim Essen nicht zu ersticken, aber wenigstens waren die Kopfschmerzen weg. Wie Fieber fühlte ich mich auch nicht mehr. Wohl doch nicht das Hantavirus.
 

„Würd mich aber eigentlich mehr interessieren, wat du heute Nacht gemacht hast. Hast ganz schön komisch ausgesehn.“ „Wie komisch?“ Dirk schaufelte das Essen in sich rein, ohne sich an dem eigenwilligen Geschmack zu stören. „Na du warst klitschnass und hast irgendnen Lumpen mit dir rumgeschleppt. Außerdem waret auch schon um 5. Haste dich abschleppen lassen oder wat?“ Wäre nicht das erste Mal gewesen. „Schön wärs. Bin aufm Klo eingepennt.“ „Schon wieder?“ Empört schaute er auf. „Ey komm, dat war einmal und dat war ne Geburtstagsfeier.“ „Ja meine.“ Dirk hatte damals gefeiert, als wäre es seine gewesen. „Is doch auch Wurscht jetze. Es hat geregnet und ick musste auf die erste Sbahn warten. Mehr is nich passiert.“
 

„Und deine Jacke.“ „Vergessen.“ „Und dein Schlüssel?“ „In der Jacke.“ „Und wie biste dann ins Haus reingekommen?“ Er hielt kurz inne und schien zu überlegen. Dann zuckte er mit den Schultern. „Keene Ahnung. War bestimmt die Tür auf.“ Die Geschichte war weit weniger spektakulär, als ich sie mir vorgestellt hatte. Ein bisschen enttäuscht stopfte ich das letzte Stückchen Fischstäbchen in mich rein. Ich sollte ihn nie wieder an den Herd lassen. Jetzt hatte ich meine Gesundheit für nichts aufs Spiel gesetzt.
 

Aber halt. Da war doch noch was. „Und wat hast du da gestern für nen Lumpen mit dir rumgeschleppt?“ Den letzten Brocken gerade heruntergeschluckt schaute er auf und grinste. „Dat is kein Lumpen sondern ne Decke.“ Er stand auf und räumte den Tisch ab. Das konnte doch nicht wahr sein. Ich musste ihm alles aus der Nase ziehn. „Man Dirk! Und wo haste die her?“, antwortete ich übertrieben genervt, denn ich wusste, dass er mich mit Absicht auf dem Trockenen sitzen lies. „Nich so neugierig Herr Vetter.“
 

Vollidiot. So sehr interessierte es mich auch nicht. Ich war krank und musste mich auf seine Sticheleien nicht einlassen. Bockig stand ich auf. „Dann eben nich. Mir auch egal.“ Lachend hielt der Schwarzhaarige mich am Arm fest. „Man Jan! Du bist aber auch ne olle Zicke.“ „Bin ich nich.“, brummelte ich. „Die Decke gehört nem Mädel, dass ick gestern am Sbahnhof in Spandau getroffen hab.“ Also doch. Meine Missstimmung wich wieder der Neugier und ich grinste ihn fragend an. „Also doch abgeschleppt.“ „Nix da. Sie hat aufn Bus gewartet, icke auf die Bahn. Da haben wer uns zusammen bisscken die Zeit vertrieben. Mehr nich. Die Decke hat sie vergessen.“
 

„Kannst se ihr ja wieder bringen. Sah se gut?“ Dirk wandte sich dem Aufwasch zu und ich bildete mir ein, einen Moment lang Enttäuschung in seinen Augen zu sehen. „Kann schon sein. Is aber egal. Ick weeß weder wie se heißt, noch wo se wohnt.“ „Wieson das?“ „Weeß nich. Ging dann alles irgendwie zu schnell. Is auch egal jetzt.“ Damit war das Thema dann wohl beendet. Dass er sich ärgerte war offensichtlich. Aber helfen konnte ich ihm da jetzt leider auch nicht. Ohne Adresse geschweige denn ohne Namen in Berlin jemanden zu finden, war fast unmöglich.
 

„Die Wetterhexe hat vorhin gesagt, soll noch ma ganz nett werden heut.“ „Und?“ Ich ahnte es schon. „Frische Luft hilft bei der Genesung.“ „Vergisset Felse. Es is arschkalt draußen.“ „Dann musste dich eben warm anziehn. Dr. Bela sagt Spaziergang is angesagt.“ „Aber...“ „Nix da. Schwing deinen hübschen Hintern ins Bad und pack dich ein. Nurn paar Runden um den Block. Da stirbste schon nich dran.“ „Ick...“ „Keine Widerrede.“ Er könnte mich bei seinem altklugen Ansagen ja wenigstens mal anschauen. Ein Spaziergang war das letzte, worauf ich Lust hatte. „Man...“ „Aus!“ Es gab Tage, da könnte ich ihm den Hals um drehen. Heute war definitiv so einer.



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