Schicksalsbilder von vallendrael ================================================================================ Kapitel 5: Heimweg ------------------ Julien Irgendwie war er in den Bus gekommen. Hier saß er nun, nahm kaum die ohnehin fast unsichtbare Strecke wahr und verweilte im Geiste bei dem Gespräch mit Leo. Und der Umarmung. Hatte das was zu bedeuten? Umarmte er seine Freunde? War es mehr? Er rief sich sämtliche Gespräche noch einmal ins Gedächtnis und suchte nach Anzeichen. Anzeichen dafür, dass Leo vielleicht an Julien interessiert sein könnte. Es waren einige da, das konnte er nicht leugnen. Wie er ihn manchmal angesehen hatte. Interessiert, neugierig und anerkennend. Oder bildete er sich das gerade nur ein? Bestimmt! Es konnte doch garantiert nicht sein, dass dieser gutaussehende, begabte, herzliche, wundervolle Tänzer ausgerechnet Julien interessant finden sollte. Bloß, weil er es sich wünschte, würde es noch lange nicht wahr werden. Bestimmt wartete auf ihn zu Hause eine hübsche Brünette, die das Bett warm gehalten hatte und ihn mit offenen Armen empfing. Julien schüttelte sich. Wahrscheinlich war es so. Auch, wenn er es nicht wahr haben wollte, sollte er sich doch der Realität stellen und keine Hoffnungen machen. Er versuchte geschlagene fünf Sekunden, an etwas anderes zu denken. Die Bilder mussten nun sortiert werden, die verwackelten darauf geprüft, ob man sie noch retten konnte und die übrigen auf Parallelität des Randes zum Boden. Schlimmstenfalls musste er das ein oder andere am Computer nachbearbeiten, um Leo in die Mitte zu rücken. Seine Arme waren so warm um seine Schultern gewesen. Und Leos muskulöser Körper hatte sich einen Moment an ihn geschmiegt, als sei er dafür geschaffen worden. Ob ihm aufgefallen war, dass Julien es gefallen hatte? Oh Gott, hoffentlich hatte er ihn dadurch nicht vor den Kopf gestoßen! Dann würde er ihn bestimmt nicht wieder sehen wollen. Aber er hatte doch gesagt, dass sie sich vielleicht mal sehen könnten? Und er war außerdem nicht gleich zur Bushaltestelle gegangen, sondern hatte riskiert, zu spät zu kommen, um noch mit Julien zu reden. Das musste doch irgendwas heißen. Zudem hatte er ihn für seine gute Imitation der Ballettstellungen gelobt. Das machte er doch nicht leichthin, oder? Immerhin war er Tanzlehrer. Da wusste er bestimmt, wann es angebracht war, Lob zu verteilen und wann Kritik. Ohnein, hatte er ihn am Ende nur gelobt, um ihn dazu zu bringen, sich mehr mit dem Thema auseinander zu setzen, sodass seine Haltung nicht mehr so grauenhaft sein sollte? Aber das hieße ja andererseits auch, dass Leo vielleicht wollte, dass Julien in seinen Tanzkurs kommen sollte. Oder etwa nicht? Genau, der Tanzkurs. Ob er mal vorbeischauen sollte? Männer waren in Tanzkursen doch immer Mangelware und daher gern gesehen? Vielleicht freute sich Leo ja, dass er mit dem Lob erreicht hatte, dass Julien kam? Und wenn nicht konnte er immer noch behaupten, Stefan habe ihn darum gebeten, damit Sabrine nicht mit einem x-beliebigen Kerl tanzte und am Ende noch dem verfiel. Andererseits wollte Leo Julien vielleicht auch nie wieder sehen? Was, wenn er nur so freundlich gewesen war, damit er möglichst bald weg kommen konnte und nie wieder etwas mit diesem seltsamen Fotographiestudenten zu tun haben wollte? Der so komische Bilder mit Tütüs machte. Ohnein, was, wenn der Blick, als Julien gesagt hatte, das Tütü sehe gut aus, bedeutet hatte, dass Leo diesen Kommentar abscheulich fand? Was, wenn er nur gekommen war, weil er Mitleid gehabt hatte? Oder weil er auf Sabrine stand und daher zeigen wollte, dass er so gutherzig war, sogar einem entfernten Freund um ihretwillen zu helfen? War doch möglich, oder? Immerhin hatte Sabrine von seinem Körper und seinen guten Manieren geschwärmt? Was, wenn das mehr zu bedeuten gehabt hatte als bloße Anerkennung? Andererseits war sie mit Stefan zusammengekommmen, nachdem sie den Tanzkurs besucht hatte. Was hieß, dass Leo sie entweder abgelehnt hatte oder Sabrine gemerkt hatte, dass sie keine Chance hatte. Vielleicht bestand doch Hoffnung? Schließlich hatte Leo Julien seine Addresse gegeben. Wenn auch nur, um die Bilder... Entsetzt fuhr Julien auf und kramte wie ein wilder in seiner Tasche. Hatte Leo ihm wirklich seine Addresse gegeben? Wenn ja, wo war sie? Hatte er sie womöglich verloren und somit jede Kontaktchance zu ihm? Nachdem er die halbe Tasche auf dem leeren Sitz neben sich ausgebreitet hatte, fiel ihm ein, dass Leo gar keinen Stift dabei gehabt hatte. Und er hatte ihm keinen gegeben. Was bedeutete, dass er nun addresslos war. Er fühlte sich so elend, als würde die Welt untergehen. Doch dann durchdrang ein kleiner, zögerlicher Sonnenstrahl die grauen Wolken seiner Zweifel. Leo hatte ihn auf seinem Handy angerufen. Und er erinnerte sich, dass die Nummer nicht unterdrückt gewesen war. Was bedeutete, sie stand noch in seinem Anrufverzeichnis. Freudig und hastig packte er die verstreuten Dinge wieder ein. Trotz seines Gefühlstaumels achtete er allerdings darauf, dass seine Fotoausrüstung nicht beschädigt war. Sie war ihm beinahe genauso wichtig wie Leo. Moment. Was dachte er da? Seit wann rangierte Leo auf derselben Wichtigkeitsstufe wie seine Fotoausrüstung? Er hatte ihn doch nur so kurz gekannt und würde ihn wahrscheinlich nicht wieder sprechen, nachdem er ihm die Bilder geschickt hatte. Julien saß mit seiner Kamera in der Hand auf dem harten Busstuhl und starrte die vorbeiziehenden Straßenlaternen draußen an. Seine Hand strich unbewusst über die Fototasche und wanderte dann zu seinen Haaren, um daran zu ziehen. Mal nüchtern nachgedacht. Seine Fotoausrüstung war für ihn das wichtigste auf der Welt. Gut, kurz danach kamen Freunde, Eltern und Verwandte, aber die mal kurz beiseite geschoben. Leo kannte er seit wann? Vorgestern? Und sie hatten nun gerade zwei Gespräche hinter sich. Bei denen es auch sich noch hauptsächlich um Unikrams gehandelt hatte und sie einander gesiezt hatten. Sicher, Leo sah umwerfend aus. Und war ungemein charmant. Und hatte einen super Charakter. Und in jeder seiner Bewegungen sang Musik. Aber das kam doch noch lange nicht an die langjährigen Liebe zum Fotographieren heran, oder? Oder? Diesen Gefühlstaumel hatte er noch nie in solcher Intensität mitgemacht. Einmal, in der Oberstufe, war er in einen Jungen aus dem Jahrgang unter ihm verliebt gewesen. Damals hatte er sich ähnlich gefühlt. Allerdings hatte er gewusst, dass der Junge ihn nicht kannte und sich auch nicht für ihn interessieren würde, zumindest nicht auf dieselbe Art wie Julien für ihn. Immerhin hatte er an jeder Hand eine Freundin gehabt. Genau, wenn er Leo mit einer Freundin sehen würde, würden sich die Gefühle wieder legen. Ganz bestimmt. Julien bemerkte, dass er zwei Stationen zu weit gefahren war und stand panisch auf. Der Busfahrer sah überrascht zu ihm nach hinten und öffnete die Tür, als sie an der nächsten Haltestelle waren. Na super. Das hast du nun davon, wenn du über Männer nachdenkst, schalt sich Julien. Als er die Straße überquert hatte, musste er feststellen, dass der nächste Bus in einer Stunde kam. Bis dahin wäre er den Weg längst zurück gelaufen und läge im weichen Bett. Und könnte träumen von gelockten Tänzern. Den letzten Gedanken verscheuchte er schnell wieder und versuchte, sich auf den dunklen, nur vom Kegel seiner Taschenlampe hin und weider erhellten Fußgängerweg zu konzentrieren. Leo Keuchend erreichte er die Haltestelle. Keine Sekunde zu früh, wie ihm die Busfahrerin grimmig mitteilte. Leo ignorierte ihre schlechte Laune, hielt ihr seine Jahreskarte vor die Nase und suchte sich einen angenehmen Platz. Irgendwie bereute er nicht, beinahe den Bus verpasst zu haben. Vielleicht hätte er ihn absichtlich vorbeifahren lassen sollen und noch ein bisschen mit Julien reden. Dann wäre es viel entspannter gewesen. Seltsamerweise kam es ihm nicht in den Sinn, dass er auch eher hätte gehen können, um in Ruhe den Bus zu erwischen. Während er auf den vorbeirauschenden Zaun blickte, rief er sich die intensiven Augen des Studenten noch einmal in den Kopf. Er hatte ihn so angesehen, als könnte er seinen Blick nicht von ihm wenden und würde sich doch dazu zwingen. Beinahe hatte es so ausgesehen, als würde er ihm mehr Aufmerksamkeit schenken, weil er ihn einfach gerne betrachtete als weil er ein schönes Foto schießen wollte. Vielleicht war es das, was ihn dazu bewogen hatte, ihn am Ende zu umarmen. Selten hatte er sonst jemanden derart früh in ihrer Kennenlernphase in die Arme geschlossen. Und noch seltener hatte es sich so gut angefühlt. Julien bestand nicht nur aus Knochen und Muskeln, wie Leo, deshalb war es eine angenehme Mischung aus angespannten Muskeln und weicher Haut gewesen. Besser noch als bei einer Frau. Hm, hatte Julien angespannt gewirkt, als Leo ihn umarmt hatte? War wohl für den Studenten etwas zu plötzlich gekommen. Kein Wunder, sie kannten sich kaum. Ob er sich entschuldigen sollte? Vielleicht sah Julien ihn, trotz dass er anscheinend gerne mit ihm gesprochen hatte, bloß als ein Modell für seine Bilder. Leo stellte sich Fotographen, die Modells knipsten, immer so vor, als würden sie mit jedem der Mädels, die ihnen vor die Kamera kamen, flirten. Warum also bei Mädels halt machen? Was waren denn das für Gedanken? Julien hatte doch nicht mit ihm geflirtet. Warum fühlte es sich außerdem nicht verkehrt an, diese Idee? Leo grub in seinen Gedanken nach einer Antwort und betrachtete seine Erinnerungen an Julien von allen Seiten. Er war professionell vorgegangen, was definitiv ein Pluspunkt war. Naja, gehörte schließlich zu seinem Studium. Er war witzig gewesen und hatte Leo nicht ausgelacht, als er das Tütü getragen hatte. Wie häufig kam diese Kombination schon vor? Er hatte sogar gesagt, dass es gut aussehe. Trotz allem, was Leo von sich halten mochte, musste er sich doch eingestehen, dass es ihn immer wieder verletzte, wenn jemand über eine Tanztracht lachte, die er trug. So, als würde der andere nicht verstehen, dass Tanz etwas ernstes, ästhetisches und freies war. Vielleicht, dachte er, war es andererseits auch bloße Selbstbeherrschung gewesen. Immerhin hatte er sich für dieses seltsame Fotothema entschieden, da konnte er doch dann nicht sein Modell vor den Kopf stoßen. Ja, wahrscheinlich war die Aussage bloß dazu da gewesen, Leo sich wohlfühlen zu lassen, sodass die Posen nicht zu gekünstelt wirkten. Soweit das bei Ballett überhaupt möglich sein sollte. A propos, Julien hatte behauptet, er habe sich die Stellungen nur im Internet angesehen. Wie er bereits gesagt hatte, war es eine erstaunliche Leistung, sie nach Bildern halbwegs ordentlich nachzuahmen. Sicher, das ein oder andere war Julien natürlich falsch in Erinnerung oder er wusste nicht, wie er es umsetzen konnte. Ob er es auch mal versuchen sollte, sich Bilder anzusehen, um Ballett angenehmer zu finden? Bei seiner Haltestelle stieg er aus und winkte der mürrischen Busfahrerin zum Dank für den Transport. Als er in der Tasche nach seinem Wohnungsschlüssel suchte, stieß seine Hand gegen die zwanzig Euro, die Julien ihm gegeben hatte. Irgendwie kam es ihm nicht richtig vor, dass er Geld verlangt hatte. Was sollte er denn nun mit diesem Gefühl und dem Geld machen? Die Suche nach einer Antwort verschob er und stieg das Treppenhaus hinauf. Er wurde mit Maunzen begrüßt. Ohje. War das Katzenklo voll? Ansonsten kümmerte es Tinker und Peter nämlich nicht, dass er nach Hause kam. Oder wann. Also schloss er schleunigst auf, sah nach und bereinigte dann den Grund des Gezeters. Nachdem das erledigt war, kramte er aus seiner Tasche den Tüllrock, um ihn aufzuhängen um weiteren Falten vorzubeugen. Was konnte er tun, das sich einerseits für eine Entschuldigung für die Umarmung eignete und andererseits sein schlechtes Gewissen wegen der Geldannahme aufbessern konnte? Peter rieb sein Gesicht an Leos Bein und er kraulte abwesend dessen Rücken. Der Kater bog sich unter seinen Fingern, was deutlich machte, dass er grad nicht gekrault werden wollte, sondern wohl eher Futter forderte. Also ging Leo in die Küche, um nachzusehen, ob die Näpfe leer waren. Was der Fall war. Er griff ins Regal, um die Packung Katzenfutter hervor zu holen. Essen. Könnte es das sein? Sollte er den Studenten in ein Cafee einladen? Oder würde ihn das noch mehr vor den Kopf stoßen? Leo dachte darüber nach, während Peter seinen Kopf unter das fallende Trockenfutter steckte und die ersten Krümel aufknabberte. "Pass doch auf!", schmipfte Leo, schob den Katzenkopf beiseite und füllte den Napf zuende. Peter schien das nicht zu stören. Daraufhin seufzte Leo und meinte, sich an diverse Seufzer zu erinnern, die er erst kürzlich am Rande des Bewusstseins wahrgenommen hatte. War das Julien gewesen? Er konnte sich nicht genau entsinnen und schob es schließlich damit beiseite, dass ein junger Mann wohl kaum so häufig seufzen würde. Als er wieder zu seiner Frage, ob er Julien einladen sollte, zurück kam, fiel sein Blick auf die Uhr. Zwei Uhr neununddreißig. Zeit, schlafen zu gehen, wahrscheinlich würde er sich morgen darüber ein klareres Bild machen können. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)