Schicksalsbilder von vallendrael ================================================================================ Prolog: Auftakt --------------- Julien "Nachdem wir in den letzten zwei Wochen uns mit der richtigen Kameraeinstellung und ISO-Empfindlichkeit beschäftigt haben, möchte ich Sie bitten, nun das Gelernte umzusetzen", erklärte Herr Sausebrück, Professor für zeitgenössische Fotographie, "in den nächsten beiden Wochen, in denen wir uns um Perspektive und Deutungsmöglichkeiten von Linien im und durch das Bild zuwenden werden, ist es Ihre Aufgabe, eine oder mehrere Ideen zum Thema "bei Nacht" auszuarbeiten, die Sie dann bis zum Ende des Semesters fotographisch umsetzen sollen. Wenn Sie Fragen oder Probleme haben, wenden sie sich jederzeit tagsüber an mich, Sie kennen ja mein Büro, zur Not habe ich den Raum hier noch einmal auf die Folie geschrieben. Sollten Sie eine Person auf dem Bild ablichten wollen, lassen Sie diese bitte die Einverständniserklärung unterzeichnen, die Sie auf der Website finden. Ja, ich finde diese Regelung auch albern, aber rechtlich sind wir dazu verpflichtet, sie einzuhalten. Wenn Sie der Person ein Entgeld versprechen möchten, wenden Sie sich ebenfalls an mich, dann können wir sehen, ob wir das irgendwie über die Uni finanziert bekommen. Eines muss ich Ihnen allerdings gleich sagen: Professionelle Modells werden nicht über die Uni finanziert und versaute Bilder möchte ich hier auch nicht sehen." Als Herr Sausebrück nun zum wiederholten Male damit begann zu erklären, woran sich die Notengebung in diesem Projekt orientieren würde, schaltete Julien ab und gab sich Fantasien über Nachtbilder hin. Dabei zog er, wie immer, wenn er mit Gedanken irgendwo ganz wo anders war, unbewusst an seinen kurzen, haselnussbraunen Haaren. Nacht und Linien. Hm, das eine wäre sicherlich einfach und ja auch eine Vorraussetzung des Kurses: es musste eine Nachtaufnahme sein. Doch wenn Herr Sausebrück Linien in seinem Bild haben wollte, wusste Julien noch nicht so recht etwas damit anzufangen. Vielleicht Fäden, die sich von Baum zu Baum spannten und von einer Straßenlaterne beleuchtet wurden? Er hatte sofort ein Bild vor Augen, wie es aussehen würde: Ein zunehmender Mond rechts im Hintergrund, hinter der Krone des einen Baumes halb verborgen, auf der Linken Seite eine Doppelhaushälfte, ebenfalls hinter Bäumen verborgen. Zwischen diesen und noch zwei oder vielleicht drei weiteren Bäumen in der Mitte spannten sich die Fäden kreuz und quer durch das Bild, wie ein Spinnennetz. Die Straßenlaterne würde in ihrer Mitte sein, das Gespinst mit Licht erfüllen und ihm so eine außerweltlische Erscheinung verleihen. Oder ein Teich in der Nacht, auf dem sich Segelboote dahinzogen, deren Masten aus der Froschperspektive betrachtet das Firmament stützten. In seinen Gedanken wurden die Bahnen, die die Schiffe gezogen hatten, ebenfalls stark hervorgehoben, weitere Linien, die den Stützen Halt boten. Doch das war sehr schwierig umzusetzen und ältere Kommilitonen hatten ihm berichtet, dass Herr Sausebrück Computernachbearbeitung zwar duldete, sie aber für unter der Würde eines wirklich begabten Fotografen hielt. Dann doch lieber, wenn er das Teichmuster behalten wollte, ein Frosch im schilf, dessen lange Zunge nach einer Fliege schnappte. In der Mitte der Zunge der Mond, halb von Wolken verhangen, so als würde er ein Trauertuch für die Fliege vor seine tränenden Augen halten. Die Studenten klopften anerkennend auf die Tische und rissen Julien aus seinen Gedanken. Ein wenig desorientiert und noch immer mit Bildern im Kopf sammelte er seine Unterlagen ein und schulterte seine Tasche. Stefan, der neben ihm gesessen hatte, lehnte sich zu ihm herüber. "Hey, hat unser Genie schon einen Plan, was er vor die Linse locken will?" "Ich bin kein Genie", wehrte Julien abwesend ab, vor seinem geistigen Auge sah er zwei Liebende auf der Kante eines Hochhauses sitzen, sich im Arm haltend und den Kopf zueinander geneigt, als würden sie sich Geheimnisse zuflüstern. Aus Vogelperspektive konnte man von der Hochhauskante hinunter sehen auf ein Baugerüst. Das Gebäude, auf das sich das Paar zurück gezogen hatte, war im Aufbau, wie ihre junge Liebe. Hm. Liebe war so ein abgedroschenes Thema. "Huhu, Erde an Julien!", rief Stefan und winkte mit seiner freien Hand vor Juliens braungrauen Augen. Julien verscheuchte die Hand wie eine Fliege, als er über einen Zaun nachdachte, hinter dem eine Fledermaus einer Eichel im Sturzflug nachjagte. Aus der Froschperspektive sah man in einen Park, der Himmel über und hinter der Fledermaus frei, doch ansonsten von Rosenbüschen umgeben. "Sieh mal, dort läuft Orlando Bloom!" "Was? Wo?" Eifrig sah Julien sich im Hof um, den er mittlerweile erreicht hatte. "Oh, Mann", lachte Stefan sich halb schlapp, "denkst du ernsthaft, ein so angesagter Schauspieler taucht in unserer Uni auf? Während sie "den Hobbit Teil 2" drehen?" Gekränkt von dem Gelächter seines Freundes errötete Julien. Natürlich dachte er nicht ernsthaft, dass der Schauspieler auftauchen könnte, doch allein der Name brachte seinen Körper zum Kribbeln. Ja, komisch, was? Er war ein Junge und hatte was für Orlando Bloom übrig. Doch er konnte sich nicht daran erinnern, jemals so ein Kribbeln für ein Mädchen empfunden zu haben. Nach Jahren des Kampfes dagegen hatte er sich eingestanden, dass er wohl "vom anderen Ufer" war. "Nicht wirklich", gab Julien nuschelnd zu. "Na, wenigstens hab ich nun deine Aufmerksamkeit, auch wenn ich kein so gewinnendes Lächeln habe", prahlte Stefan und grinste ihn mit seinem breiten Mund an. Stefans Lächeln war nicht zu verachten, doch der gehörte leider nicht auf dieselbe Seite des Flusses wie Julien. Hm. Ein Fluss in der Nacht gab sicher ein gutes Bild ab. Vielleicht fand er einen, der neben Bahnschienen verlief, oder diese sogar in einem spitzen Winkel kreuzte. Wenn dann in der Mitte ein junger Mann stand, die Arme Ausgebreitet, orthogonal zu der Kreuzung der beiden Geraden, Gesicht dem Himmel zugewandt. Das ergäbe zumindest eine schöne Metapher. Wenn man dann noch "kurz vor Morgengrauen" zu "bei Nacht" zählte, wäre es das Ideale Sinnbild für einen Übergang ins nächste Leben. Stefan schnippte mit den Fingern vor Juliens Augen. "Hey, das heißt nicht, dass du gleich wieder in deine seltsamen Fantasien abdriften musst", beschwerte er sich, "Was ist nun, hast du eine Idee für ein Bild?" Stefan lief rückwärts vor Julien über die Seitenstraße, die das Unigelände von den Wohnheimen trennte. Da sie Mitbewohner waren, den gleichen Studiengang belegten und meistens zufälligerweise auch noch dieselben Fächer wählten, gingen sie ihn oft gemeinsam. Zufällig deshalb, weil Stefan alles kurz auf knapp übers Knie brechen musste und Julien sich schon Wochen vor Vorlesungsbeginn sicher war, was er belegen würde. Stefan achtete zudem nicht auf die Ratschläge seines Freundes. Manchmal vermutete Julien, dass Stefan heimlich Juliens Stundenplan klaute, um eine Idee zu haben, was er machen könnte. "Eine ist gut", beschwichtigte Julien endlich Stefans Neugier, "ich kann mich zwischen mehreren nicht so wirklich entscheiden. Und wie ich mich kenne, werde ich im Laufe der nächsten beiden Wochen noch mindestens dreimal das Setting wechseln, bis ich mich entschieden habe." Julien seufzte. So ging ihm das jedes Mal. Sie bekamen eine künstlerische Aufgabe und sofort stürmten Ideen in seine Gedanken, verhinderten, dass er die Umgebung um sich herum wahr nahm und änderten sich von Minuten zu Minute. Und er musste sich ja erst zufrieden geben, wenn er sich sicher war, dass das Motiv dem entsprach, was der Dozent sehen wollte. Wodurch er zugegebener Maßen nicht selten eine 1 bekam. Mit oder ohne Kommastellen. "Du hasts gut", meinte Stefan und sah endlich nach vorne, als sie die kleinen Vorgärtchen passierten, die vor jedem Wohnheimgebäude angelegt worden waren, "Beim Thema "bei Nacht" hatte ich mir zuerst vorgestellt, wir könnten so richtig geile Etablissements besuchen, du weißt schon. Und uns dann von der Uni das Geld geben lassen, um uns ein süßes Mädel auszuleihen und sie allerlei Dinge tun zu lassen. Das wäre herrlich gewesen." "Dann hätte ich dieses Projekt wohl kaum gewählt, oder?", kanzelte Julien seinen Freund lächelnd ab, "hast du dir eigentlich die Beschreibung zu dem Kurs nicht durchgelesen, bevor du dich angemeldet hast?" Verblüfft blieb Stefan mit dem Schlüssel zur Eingangstür stehen. "Es gibt Beschreibungen zu den Kursen? Wo kann man DIE denn finden?" Julien war nach einem dieser berühmten Facepalms zumute. Sie studierten schon seit vier Semestern und Stefan hatte noch immer nicht bemerkt, dass es auf der Uniseite oder im Vorlesungsverzeichnis Beschreibungen zu den Kursen gab? Wie war er überhaupt so weit gekommen? Schweigend setzten sie ihren Weg durch das schmale Treppenhaus zu ihrer Zwei-Raum-Wohnung fort. Als sie die Tür öffneten, schlug ihnen als erstes das zweifelhafte Aroma eines wochenlang nicht abgewaschenen Geschirrberges entgegen. Den Müll hatten sie aber rausgebracht. Ehrlich. Wahrscheinlich. Hoffte Julien. "Wir sollten abwaschen", seufzte Stefan, warf seine Tasche in die Ecke und band sich die Schürze um. "Ehrlich, du bist mir eine tolle Schwuchtel, machst nicht mal den Haushalt." Julien streckte seinem Mitbewohner die Zunge heraus, schnappte sich ein Geschirrtuch und wartete auf die erste Tasse. Leo "Encore!", brüllte Ballettlehrer Müller erzürnt, "encore, encore, encore!" Leo schnitt eine schmerzverzerrte Grimasse. Tanzen machte ihm im Allgemeinen Spaß, doch Ballett... bisher hatte er es nur aus Pflichtgefühl gelernt. Sein Traum war es, eine Tanzschule zu eröffnen, in der alle Arten von Tänzen gelehrt werden sollten. Also eigentlich nichts besonderes. Dafür musste er sie, dachte er sich, allerdings ersteinmal alle selber gemeistert haben. Und das bedeutete, dass er mit einem Haufen seltsamer Blondinen, die ihn alle für schwul hielten, an einer Stange tanzen musste. "Non, non, non!", zischte der Ballettlehrer und kam zu ihm gerauscht. Sein möchtegern-französischer Akzent trieb Leo auf die Palme, doch verkniff er sich jeden Kommentar. "Das muss höher!" Entschlossen griff er nach Leos Bein und zog es in die Position, die es haben sollte. Es schmerzte, doch ausnahmsweise versuchte Leo das nur durch den Schweiß auf seiner Stirn sehen zu lassen. "Seht ihr Täubschen, so muss das gehen", grummelte Herr Müller, ließ Leos Bein los und klatschte zweimal in die Hände. "Da ihr das immer noch nischt zu schaffen scheint, schlage isch vor, wir beginnen noch einmal bei den Aufwärmübungen!" Einige Seufzer und viel Gestöhne war die Antwort auf seine Ankündigung. Leo kam das willkommen. Die Aufwärmübungen absolvierte er täglich nach dem Aufstehen, diese und andere. Das hatte zur Folge, dass sein Körper gestählt war und sich durchaus sehen ließ. Seltsamerweise verließen ihn seine Freundinnen trotzdem regelmäßig nach wenigen Wochen. Während er sich anmutig in einen Herrenspagat sinken ließ und dabei seine Arme ebenso wie seine Beine zur Seite spreizte, kamen die meisten nicht halb so weit herunter wie er. Nun, sie machten dies hier ja auch zum Spaß. Er konnte es nicht leiden, wenn jemand Dinge nicht ernst genug nahm, um sich ihnen vollauf zu widmen. So wie der "Akzent" von Herrn Müller. Mal ehrlich, selbst ein Franzose würde erkennen, dass das kein Deutsch war, sondern irgendeine seltsame Mischung. Und das "non", das er ab und zu hervor stieß, klang eher wie eine verstümmelte Version von "Gong". Beim ersten Mal hatte Leo sich ernsthaft gefragt, ob Herr Müller die fehlende Musikuntermalung ersetzen wollte, bis ihm aufgegangen war, dass er "nein" sagte. Während er einer jungen Frau dabei half, ihren Rücken zu dehnen, konnte er nicht umhin, ihren und den Körper der übrigen Mädchen zu bewundern. Sie waren ästhetisch, die meisten zumindest. Selbst die dicklicheren Mädchen konnten in diesem Fortgeschrittenen-Kurs eine gewisse Anmut zeigen und trugen ihren Speck wie ein ergänzendes Kleid. Manchen hätte er allerdings geraten, eher Tango, Walzer oder Stepptanz zu lernen. Vor allem die Schmale in der hinteren Reihe bewegte sich wie eine feurige Tangotänzerin und nicht wie eine zierliche Balletttänzerin. Womit er sie nicht beleidigen wollte, aber so war es nunmal. Herr Müller ließ sie die Position zwischen Aufwärmübungen bis zum Ende der Stunde wiederholen. Mit dem Ergebnis, dass Leo sie noch mehr zu hassen begann als noch zu Anfang und zu allem Überfluss schmerzten seine Muskeln auch noch. Etwas, das ihm seit langem nicht mehr beim Tanzen geschehen war. Und wofür er sich ein klein wenig schämte. Die Herrenumkleide hatte er ganz für sich alleine, daher nahm er eine ausgedehnte Dusche und zog sich einen luftigen Jogginanzug über. Er hatte ursprünglich geplant, nach der Tanzstunde zur Uni hinüber zu joggen, wo er einer Mädchengruppe klassische Tänze beibringen sollte. Unisport nannten sie es und es war - anscheinend - nicht im Lehrplan aufgeführt. Das entnahm er der Tatsache, dass die Mädchen sich zwar Mühe gaben, aber keinerlei Talent oder Vorwissen was Körperhaltung anging, besaßen. Bei einigen vermutete er sogar, dass sie nur kamen, um ihm auf den Hintern zu starren. Ein Gedanke, der ihm nicht sonderlich missfiel. Nun jedoch wollte er seiner armen Beinmuskulatur nicht noch mehr zumuten, nächste Woche war auch noch Zeit zum Joggen. Daher nahm er einen heruntergekommenen Bus, der ihn zum Gelände führte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)