Federschwingen von RhapsodosGenesis ================================================================================ Als sich die massive Tür aus Wolkengewebe öffnete, erwachte Nathan langsam. Er öffnete die Augen und blinzelte. Man brauchte hier nicht zu schlafen, aber wenn einem vor lauter Langeweile nichts anderes mehr übrig blieb, tat man es eben gerne! Und es war bei ihm genau dieser Fall eingetreten. Wobei Schlaf an sich auch nichts Schlechtes war. Und ein guter Zeitvertreib. „Gut geschlafen, Schlafmütze?“, ertönte Acedias Stimme, als sie die Tür hinter sich schloss. Ihr glänzend rotes Haar war hinten durch eine weiße Schleife zusammengehalten und erweckte somit den Eindruck eines jungen, niedlichen Mädchens. Diese Frau war allerdings weder jung noch niedlich. Die Todsünde schritt langsam voran, dennoch wehte ihr Schleier, der an ihrem goldenen Rock haftete, fleißig, als stünde sie mitten in einem Tornado. So etwas hatte einfach Stil. Als sie ihren eigenen thronartigen Bürosessel erreichte, überschlug sie die weiß bestiefelten Beine und musterte Nathan geschäftsmäßig. „Ihr seid zwei … nein, drei Stunden zu spät“, merkte er mürrisch an und gähnte daraufhin übertrieben laut, „Was hätte ich sonst tun sollen, nachdem ich Eure Papiere nach dem Alphabet geordnet und sämtliche Neuheiten niedergeschrieben hatte?“ Dass er sich auch noch unterschiedliche Fälle durchgesehen und nach Priorität geordnet hatte, brauchte er gar nicht zu erwähnen. Er war eben ein Assistent - und das war seine Aufgabe. Und ihre wäre es eigentlich, ihn mit Arbeit zu versorgen. Und das pünktlich! Sie lächelte amüsiert. „Ich wusste, du würdest kein Fehlgriff sein.“ Ihr Schreibtisch war zwischen ihnen. Die Papierstapel, die darauf lagerten, waren fein säuberlich geordnet, sodass Acedia sogleich ihre Arme am Tisch verschränken und sich ein wenig nach vorne beugen konnte. Bei der Unordnung, die sonst auf ihrem Platz herrschte, wäre das wohl kaum möglich gewesen. „Ihr wirkt etwas bedrückt“, merkte Nathan an. Er war vermutlich diejenige Person, die Acedia am besten kannte, neben ihren Todsündenkollegen zumindest. Er bemerkte am Winkel ihres Mundes oder am Nichtsitzen ihrer Frisur, wenn etwas nicht stimmte. Und die Überraschung, die sich jetzt in ihren Augen zeigte, verdeutlichte ihm, dass sie wohl glaubte, zwanzig Jahre der Abwesenheit würden irgendetwas an dieser Verbindung ändern. Die Sechsundsechzig Jahre zuvor überwogen! Sie lachte kurz auf, antwortete ihm dann aber ernst: „Ganz recht. Mich bedrückt die Abwesenheit Luxurias. Sie ist bereits seit fünf Tagen nicht mehr auffindbar.“ „Fünf Tage bloß? Ihr wart manchmal doch selbst schon länger weg“, entgegnete Nathan, wobei er es sich auf seinem Sessel gemütlicher machte, indem er das Gewicht verlagerte und eine lässigere Haltung einnahm. Man wollte doch nicht weich wirken, wenn man mit einer starken Frau sprach! "Und öfter", fügte er noch sachlich hinzu. Sie rollte kurz mit den Augen und murmelte etwas Unverständliches, rechtfertigte sich dann aber laut: „Ja, ich.“ Die Betonung war eindeutig. „Aber Luxuria ist einfach nur bissig und korrekt.“ Sie schüttelte kaum merklich den Kopf. „Jemand wie sie verschwindet nicht so plötzlich und ohne etwas anzudeuten.“ Nathan zuckte mit den Schultern. „Hm“, machte er, „Da bin ich mir nicht so sicher … Vielleicht möchte sie euch bloß veralbern? Oder sich ein neues Image zulegen?" „Luxuria albert nicht“, klärte Acedia ihn hart auf, wobei sie dann ihre Augen niederschlug und seufzte, „Was rede ich da aber bloß mit einem Assistenten darüber? Du würdest es sowieso nicht verstehen. Und so jemand soll mein Nachfolger werden? Aber bitte …“ Sie erhob sich graziös und streckte sich daraufhin kurz, ehe sie sich wieder ihm zuwandte. Er überging ihr Murmeln einfach. Ja, er würde es einfach übergehen. Sein Mund bildete dennoch eine unbeeindruckte Linie. „Wie geht es unserem Sonderfall?“, wollte sie daraufhin wissen, wobei ihre Tonlage verdeutlichte, dass das nur Smalltalk war, um eine etwaige Stille zu unterdrücken „Dem Halbengel. Wie war ihr Name? Kira?“ „Kyrie“, verbesserte er seine Vorgesetzte, „Und es geht ihr gut. Sie versteht sich mit Vollwertigen und wird in den Grundlagen immer besser. Ich halte mich streng an Euren Plan. Bin ich eigentlich der erste, der ihn anwendet? Acedia nickte. „Ja“, antwortete sie ihm, fuhr dann aber ohne Pause fort: „Es hat doch keinen Ärger mit Aufsässigen gegeben?“ Sie wirkte nicht besorgt. „Nein, noch nicht. Kyrie hält sich eher im Hintergrund, da denke ich, dass sie weniger Gefahr läuft, einen Hasser zu erzürnen“, beantwortet Nathan ihre Frage aufrichtig. Ob der Plan dann geeignet war? Ihm erschien er relativ logisch, aber …Nun, er konnte den Aufbau nicht ganz verstehen und wusste auch nicht, ob Kyrie damit zufrieden war. Aber sie würde sich wohl melden, wenn etwas nicht stimmte. Oder? … Hätte Acedia das nicht im Vorhinein prüfen können? Es würde ihm Sorgen und Arbeit ersparen! ... Aber vermutlich war er so vollständiger, als wenn er ihn selbst angefertigt hätte. An einige Themen hätte er überhaupt keinen Gedanken verschwendet, wenn er sie nicht auf diesem Zettel gelesen hätte. „Weshalb habt Ihr eigentlich plötzlich einen Assistenten haben wollen?“, fragte Nathan daraufhin. Er hatte das schon öfters von ihr wissen wollen, doch meistens gab sie ihm irgendwelche nichts sagenden Antworten. Also versuchte er es immer und immer wieder. Irgendwann würde sie wohl mit der Sprache rausrücken! Sie war eine der jüngsten Todsünden und die Einzige der jungen, die bereits einen besaß. Die drei alten hatten natürlich schon welche, aber die Richtlinie besagte eigentlich, dass man einen Assistenten erst ein- bis zweihundert Jahre vor dem theoretischen Ableben benötigen würde. Und davon war Acedia wohl noch meilenweit entfernt! „Ich wollte schon von Anfang an einen haben. Aber keiner war annähernd stark genug.“ Plötzlich drehte sie sich wieder zu ihm um und schenkte ihm ein Grinsen. „Und dann ist mir einer in die Arme geflogen.“ Nathan erinnerte sich an diesen Tag, als wäre es gestern gewesen. Er hatte sich mit Joshua gestritten, weil dieser davon überzeugt war, dass Nathan stark genug wäre, zum Assistenten und damit zum Nachfolger eines Ranges zu werden. Sie hatten daraufhin sämtliche Assistenten, die nicht völlig abgehoben waren, aufgesucht und mit ihnen gesprochen. Jeder hatte ihm zu geschworen, dass er furchtbar stark wäre. Als Joshua ihn dann beinahe gezwungen hatte, sich zu bewerben – koste es, was es wolle -, hatte es ihm gereicht. Er wollte sein Leben damals nicht von Regeln bestimmen lassen, sondern von seinen Gefühlen Joshua gegenüber. Vor allem, da er um das unangenehme Verbot für Assistenten wusste – man musste sich das Recht, sein Leben leben zu dürfen, verdienen, nachdem man genug gelernt hatte, um leben zu können. Vor allem in einer hohen Position. Das traf auch auf andere Assistenten zu – sogar die der siebten Ränge. Doch je höher der Rang, desto mehr wurde darauf geachtet. Beziehungsweise ... desto weniger Zeit für irgendetwas blieb übrig! Assistenten hatten keine Freunde, keine Leidenschaft. Sie widmeten ihr Leben ihrer Arbeit. ... Wenn es doch so einfach wäre, wie es klang. Na ja – er war schleunigst weggeflogen, ehe der andere ihn gezerrt hatte, und hatte eine kleine Kollision angerichtet – er war voll in Acedia hineingedonnert, welche seine Stärke wahrgenommen und ihm das Angebot der Assistenz unterbreitet hatte. Und jetzt war er seit sechsundachtzig Jahren ihr Unterstützer. Verdammter Joshua. „Hör mir zu, wenn ich mit dir rede“, schalt sie ihn, wobei sie ihre Augenbrauen leicht zusammenzog, um wütend zu wirken. Aber sie war nicht zornig. Acedia war nie wirklich zornig - immerhin war sie eine Todsünde und somit besaß sie eine große Portion Selbstbeherrschung. Musste sie besitzen. Sie brauchte einen kühlen, sachlichen Kopf, der nicht von Gefühlen gelenkt war. „Tut mir leid – ich war im Gedanken“, entschuldigte er sich peinlich berührt. Blöd. Wie konnte ihm nur das wieder passieren? Er unterdrückte ein Seufzen. „Was habt Ihr gleich gesagt?“, wollte er höflich von ihr wissen, wobei er sein charmantestes Lächeln aufsetzte. „Ich habe gefragt, ob es irgendwelche annähernd interessanten Neuigkeiten gibt.“ Nathan durchstöberte seine Erinnerungen, doch ihm fiel nichts Nennenswertes ein. Er hatte alles aufgeschrieben. Sie konnte sich die unwichtigen Sachen dann später – oder in ihrem Fall: in ein paar Jahren – durchlesen. Aber eine Frage hatte er ihr stellen wollen. „Warum seid Ihr in letzter Zeit eigentlich häufiger und auffallend länger zu spät als noch vor zwanzig Jahren? Mir fehlt es an Hintergrundwissen.“ Oft hatte er sich seit seiner Rückkehr nicht mit ihr getroffen, doch auch er schnappte Gerüchte auf. Er fragte sich, wer diese in die Welt setzte. Die anderen Todsünden wohl eher nicht, aber sie konnten vor ihren Assistenten lamentieren, diese wendeten sich an den verbliebenen Rest ihrer Freunde, denen sie zu wenig Aufmerksamkeit schenkten, und diese plauderten dann aus dem Nähkästchen, weil sie sonst nichts zu tun hatten. Jedenfalls stellte er fest, dass Acedia ohne ihren gewissenhaften Assistenten völlig missriet! Sie kicherte und lächelte dann geheimnistuerisch. „Das geht einen kleinen Auszubildenden nichts an“, wies sie ihn ab, wobei sie mit der Hand wedelte, als wolle sie eine lästige Fliege loswerden. Nicht, dass es im Himmel Fliegen geben würde. Aber auf der Erde. Er konnte diese lästigen Tierchen nicht leiden! Er lächelte. „Verstehe.“ „Na dann – ich hoffe, ich habe dich nicht umsonst aufgeweckt.“ Sie wandte sich um und nahm den Türgriff in ihre zarte Hand. „Wenn ich dich wieder benötige, werde ich es dir zukommen lassen. Und falls du etwas von Luxuria aufschnappst – und sei es nur ein Gerücht -, dann melde dich unverzüglich bei mir.“ „Das werde ich“, versprach er. Sie öffnete die Tür und schritt hinaus – graziös und anmutig wie eine Königin. Nicht, dass er je eine Königin gesehen hätte. Ray musterte sein Handy und starrte auf das Display. Wollte sie sich nicht beeilen oder war ihre Pause schon vorbei? Na gut – er hatte nichts Wichtiges geschrieben, aber sie antwortete doch auf jeden Blödsinn sofort. Und es war doch nichts dabei, dass er vom Zustand seiner Mutter erfahren wollte! Einmal wieder. Wie jeden Tag. Plötzlich vibrierte das Mobilfunkgerät und eine Nachricht wurde angezeigt. „Du Schnarchnase, ein paar Leute haben – verdammt noch einmal! – zu tun! Stör später. Aber deiner Mutter geht es gut. Sie hat nach deinem Studium gefragt. Und lass mich jetzt arbeiten, du fauler Student!" Na gut, für so einen langen Text durfte man länger brauchen. Schnell tippte er eine Antwort: “Nenn mich nicht Schnarchnase", beantwortete er ihren ersten Vorwurf, dann fuhr er fort mit: "Grüße sie nett von mir und richte ihr aus, dass mein Studium super läuft." Bevor er den letzten Satz eintrug, dachte er kurz nach: "Nein, ich lasse dich nicht in Ruhe. Du bist ein toller Botenjunge!" Es war einfach abwechslungsreich mit seiner alten Freundin zu kommunizieren. Sie kannten sich schon seit sie klein waren. Kylie. Kylie Immenson. Die vermutlich blondeste Blondine der Welt. Sie war oft genervt, immer frech und vor allem seine beste Freundin, die er je haben würde. Und dazu noch freiwillige Betreuerin seiner Mutter, um seine Schwester und deren zukünftigen Ehemann abzulösen. Er sollte wirklich nicht so gemein zu ihr sein, nach dem, was sie bereits für ihn getan hatte, aber … Sie war seine beste Freundin. Sie pflegten das immer so zu tun - und auch eine komplette Zugstrecke zwischen ihnen konnte das nicht ändern. Sein Handy ertönte erneut und ein dummer Smiley war darauf zu sehen. Sehr witzig. Er steckte das Gerät wieder ein und ging weiter seines Weges. „Hallo!“, ertönte plötzlich hinter ihm. Er drehte sich um und erblickte Kyrie. Ihr langes, schwarzes, ungezähmtes Haar stand in dieser chaotischen Ordnung ab und rahmte ihr freundliches Gesicht mit diesen unfassbar dunklen Augen ein. „Hey, Kyrie“, begrüßte er sie, „Bist du heute später dran?“ „Ja. Der Dozent hat überzogen. Aber es war sehr interessant. Wir haben heute Gottesbeweise durchgenommen.“ Sie wirkte überaus amüsiert. Er konnte das nicht nachvollziehen. Es gab keinen Gott. Auch wenn es ihn beunruhigte, dass er, seit Kyrie ihm manchmal von ihren Studien erzählte, öfter gen Himmel blickte und stumme Fragen stellte. Er wusste selbst nicht, an wen genau er sie stellte. Immerhin gab es da oben keinen. Aber das war eine andere Geschichte. „Und – haben sie einen Beweis vorzubringen, der einen begeisterten Atheisten umstimmt?“ Er schaute sie interessiert an. Kyrie lachte daraufhin. Plötzlich stolperte sie nach vorne und ein genervter Mann drängelte sich murrend an ihr vorbei. Ray stützte sie sogleich, sodass sie das Gleichgewicht nicht verlor und sich sofort wieder fangen konnte. „Mitten in der Hauptstraße zu stehen, ist unklug“, verkündete er trocken und wandte sich um, um Richtung Mauer zu gehen, wo sie sonst immer saßen, „Hoffentlich hat keiner den Platz weggenommen.“ „Ich denke nicht, dass den jemand haben will“, wandte Kyrie ein. Er blickte kurz zurück, um sicherzugehen, dass sie ihm folgen konnte und als er zufrieden gestellt war, schritt er voran. „Natürlich“, widersprach er ihr, „Immerhin sind wir dort gewesen. In hundert Jahren wird da ein Denkmal stehen, darauf wette ich!“ Er grinste – wohl wissend, dass sie es nicht sehen konnte. Sie lachte amüsiert über seinen Einwand und setzte sich auf die Mauer, wobei sie ihn nachdenklich anschaute. Er platzierte sich neben sie, sodass er sie wieder um mindestens vier Köpfe überragte, und musterte sie. Heute trug sie wieder einen kurzen, schwarzen Rock und eine dazu passende, weiße Bluse, wodurch sie noch mehr wie ein Schulmädchen wirkte. Sie vermittelte so schon den Eindruck, als wäre sie ziemlich jünger, als sie eigentlich sein konnte, doch ihre Kleidung unterstrich das heute besonders. „Um mit dem tollsten Thema anzufangen“, sagte sie und blinzelte ihm kurz zu, „Nahtoderfahrene berichten von einem paradiesähnlichen Zustand im Moment des Todes …“ Sie pausierte. Tod … der verdammte Mistkerl war tot … Hoffentlich war er in die verfluchte Hölle gekommen! „Kommen alle ins Paradies?“, wollte Ray von ihr wissen, wobei er sich gezwungen an Selbstbeherrschung erinnerte und dadurch ein Knurren unterbrach. Allein der Gedanke an den Kerl machte ihn rasend! Der Kerl inklusive Paradies brachte ihn zum Ausflippen! Warum ... Warum musste all das geschehen sein? „Ja“, antwortete sie ohne Umschweife, „Gott nimmt alle auf – Menschen, En…" Sie stockte kurz. "Enten … Katzen …“ „Mörder? Verbrecher?“, informierte er sich so kühl wie möglich. Es war ihm klar, wie kalt und mürrisch er wirken musste, doch dieses Thema … Allein das ständige Wissen um seinen Arm verhinderte es, es jemals zu vergessen. Und seine Anwesenheit in dieser Stadt. Seine Mutter im Roten Dorf. „Ich denke … Gott nimmt sie auf, aber er wird ihnen eine Moralpredigt halten. Immerhin sollten sie sich auch an die Gebote halten, die er uns im Laufe der Schöpfung vermacht hat", antwortete Kyrie, "Ich bin mir sicher, dass er jedem noch eine zweite Chance gibt." Ray nickte. Sie konnte nichts dafür. Sie konnte nichts dafür, dass Gott so unfair war. Dass er Unfaires zuließ. … Aber sie war so überzeugt davon, dass es diesen gerechten Gott gab. Würde er ihn auch jemals so sehen können wie sie? Oder würde er sie davon abbringen können, an dieser Geschichte hängen zu bleiben? Er hatte ihr einen Teil seiner Geschichte erzählt. Immerhin hatte er es versprochen. Sie wäre seit … seit Jahren die erste gewesen, der er das Geschehene wiedergegeben hätte, doch … er hatte es nicht übers Herz gebracht, sie damit zu belasten. Oder sich selbst allzu detailliert daran zu erinnern. Er wollte vergessen. Verdrängen. Nicht daran denken ... Er hatte es ziemlich zusammengekürzt. Aber irgendwann würde er ihr mehr erzählen … Sie hatte ihm im Gegenzug dafür von ihrer damaligen Freundschaft zu Nathan Princeton, dem Über-Drüber-Studenten, erzählt. Ray hätte nicht gedacht, dass Kyrie mit einer solchen Persönlichkeit zu tun gehabt hätte. Nathan war scheinbar vor vierzehn Tagen ins Blaue Dorf gezogen – was auch immer man genau dort wollte. Sie brauchten dringend ein anderes Thema. „Hast du wieder einmal etwas von Nathan gehört?“, wollte er von ihr ins Schweigen hinein wissen, „Immerhin sollte man sich um alte Freunde kümmern.“ Er selbst hielt sich daran zwar nicht, da er wirklich nur noch mit Kylie den Kontakt aufrecht erhielt, aber es klang immer gut, irgendwelche Weisheiten von sich zu geben. „Nathan?“, fragte sie überrascht. Ein seltsames Glitzern machte sich in ihren Augen breit, danach schüttelte sie den Kopf. „Nein – ich sagte doch, dass wir keine Freunde mehr waren. Er wird sich bestimmt nicht bei mir melden … Wenn ich ein Autogramm von ihm hätte, würde ich es dir wirklich geben!“ Sie sah ihn flehend an – nach dem Motto „Bitte glaube mir doch endlich!“. Er lachte kurz. „Natürlich glaube ich dir! Als könntest du lügen.“ Er grinste. „Ich habe Nathan zwar nur das eine Mal getroffen, aber er hatte einfach etwas Beeindruckendes und Anziehendes an sich. Aber … ohne dich würde ich ja nicht einmal wissen, dass er Nathan heißt!“ Sie nickte, wirkte aber, als wolle sie nicht bei diesem Thema bleiben. Na gut – verständlich. Immerhin waren ihre Wege auseinander gegangen. „Hast du eigentlich noch Freunde aus deiner alten Heimat?“, wollte sie dann interessiert von ihm wissen. „Freunde? Hm – ja“, antwortete er dann, wobei er so tat, als müsste er darüber nachdenken, „Auf Anhieb fällt mit da Kylie ein. Sie ist ein wenig verrückt, aber ansonsten ganz nett.“ Man sah Kyrie an, dass sie die Informationen verarbeitete, ehe sie darauf einging: „Was macht diese Kylie so? Studiert sie auch?“ „Nein, sie ist im Dorf geblieben. Sie arbeitet jetzt als Krankenschwester. Beziehungsweise - sie macht die Ausbildung dazu. Unter anderem pflegt sie meine Mutter.“ Er hatte durchsickern lassen, dass seine Mutter pflegebedürftig war. Aber mehr auch nicht. Es war einfach nicht leicht, über seine Mutter zu reden – im Wissen, dass er hier war und sein Leben lebte und sie weit weg im Stich ließ … „Deine Schwester schafft das. Und wenn sie dann noch Hilfe von Kylie hat, werden sie es schon hinbekommen!“, meinte Kyrie aufmunternd und lächelte ihn freundlich an. Er blinzelte überrascht. Woher wusste sie …? „Jetzt lächle bitte wieder … Sonst macht mich das traurig …“, bat sie ihn daraufhin und sah ihn mit ihren tiefbraunen Augen besorgt an. Er strich sich kurz durchs braune Haar und schüttelte danach den Kopf. „Vor Frauen kann man einfach nichts geheim halten …“ Er lächelte. „Und im Gegenzug dafür lassen sie einen immer lächeln.“ Jetzt war es für Kyrie an der Zeit, überrumpelt dreinzuschauen, doch sie tat die Überraschung mit einem hellen Lachen ab. „Du bist einfach herrlich“, lobte sie ihn fröhlich. Ein Hupen ertönte. Beide schauten zum kleinen Auto, das ungeduldig am Parkplatz stand und auf eine Mitfahrerin wartete. „Die Zeit hier vergeht eindeutig zu schnell!“, befand Ray. Kyrie nickte bekräftigend. „Viel zu schnell.“ Sie schob sich von der Mauer, Ray tat es ihr gleich. Er hob seine Hand zum Gruß. „Bis morgen, Kyrie! Kommt gut nach Hause.“ Sie lächelte. „Danke, bis morgen." Dann ging sie los. "Du auch.“ Danach eilte sie winkend an ihm vorbei und schlüpfte ins Automobil, nachdem sie dieses erreicht hatte. Ihre Mutter winkte ihm ebenfalls zu. Er winkte zurück. Und dabei fragte er sich, ob seine Mutter jemals wieder so winken können würde. Ray lehnte sich gegen die Mauer. Irgendwann bestimmt. Er würde einen Weg finden, alles zu heilen. „Ray … So heißt dieser junge Mann, oder?“, fragte John Kingston, als er in der Küche hockte und seiner Frau beim Geschirrspülen zuschaute. Er hatte seinen Teil der Arbeit bereits erledigt. Kyrie war auch schon wieder im Himmel. Magdalena wandte sich zu ihm um und zog eine Augenbraue mahnend nach oben. „Du hast doch nicht vor, dich einzumischen, oder?“, wollte sie schnippisch wissen. Sofort hob er abwehrend die Hände. „Keinesfalls! Nie im Leben! Es war nur … Interesse …“, erläuterte er ihr, „Wobei ich es bemerkenswert finde, dass sie jeden Wochentag lächelnd ins Auto steigt, während sie sonntags einfach ausgelaugt und weniger glücklich wirkt und sonntags …“ „Sonntags steht sie um sechs Uhr auf, um mit dir zur Kirche zu gehen“, entgegnete seine Frau, „Und wenn nicht, dann geht sie frühmorgens bereits in den Himmel mit Nathan! Erwarte nicht, dass Ray ihr gleich einen Ring schenkt.“ „Es wäre das Schlimmste“, kommentierte John und grummelte vor sich hin. Kyrie – seine Tochter, ein Engel! – hatte eindeutig einen Engel verdient. Nathan zum Beispiel. Er kannte ihn, sie kannte ihn, Nathan kannte sie … Die beiden waren doch schon vor zwanzig Jahren füreinander geschaffen! Es schockierte ihn zwar, dass er bereits über hundert Jahre alt war, aber … „Mische dich nicht zu sehr in ihr Leben ein, John“, ermahnte Magdalena ihn, „Sie fängt an zu erwachen.“ Sie hielt in ihrer Tätigkeit, einen Topf sauber zu bekommen, inne und starrte scheinbar ins Leere. „Es wundert mich auch nicht … Sie hat zwanzig Jahre lang ihr wahres Wesen unterdrücken müssen …“ Dann lächelte sie. „Ich bin stolz auf meine Kleine.“ „Und ich erst“, stimmte John zu. Und das war er. Er war verdammt stolz auf sie. Aber von diesem Ray sollte sie dennoch die Finger lassen. Oder lieber andersherum. Nathan saß ihr gegenüber. Er wirkte relativ gut gelaunt, doch irgendetwas schien an ihm zu nagen. Aber er wollte ihr nicht sagen, was. In dieser Hinsicht erinnerte er sie irgendwie an Ray. Beide waren immerzu versucht, ihre Gefühle vor ihr zu verbergen, um ihr ja keinen Grund zur Sorge um die beiden zu verschaffen … Sie fragte sich, ob sie wussten, dass sie in diesen Fällen immer dreinschauten, als wäre ihre Lieblingskatze vor ein Auto gesprungen. Und ob ihnen klar war, dass sie ihr dadurch das seichte Gefühl gaben, dass sie des Geheimnisses nicht wert war, aber … „Also leben Engel sozusagen dreimal?“, fasste sie das Gehörte zusammen. Sie saß am Wolkenboden, während Nathan wieder auf der Treppe Platz genommen hatte. Er schien mehr herumzulungern, als zu sitzen, doch Kyrie störte sich daran nicht. Auf der Erde hätte er sie damit vermutlich gestört. Immerhin wären zwanzig Chaoten gekommen, die es ihm nachgetan hätten, und vermutlich noch jeden, der es nicht nachahmen wollte, beschimpft hätten. Er nickte. „Genau – also – wie lautet der Zyklus?“ „Ein Engel wird geboren … Wie eigentlich?“, wollte sie von ihm wissen. Sofort verschränkte er ernst die Arme. „Was haben wir zu dem Thema gesagt?“ Sie seufzte und rollte mit den Augen, um ihrer Genervtheit Ausdruck zu verleihen. „Erst die Antwort, dann die Fragen …“ Er nickte zufrieden. „Ein Engel wird geboren und hundert Jahre alt. Dieser erste Zyklus wird ‚menschlich’ genannt, da die Engel eigentlich denselben Weg, altersmäßig, wie Menschen gehen. Der zweite ist dann der verdrehte. Sie werden von einem hundertjährigen Greis wieder zu einem neugeborenen Kleinkind. Damit sind ihre Kräfte vollendet und sie leben noch etwa sechs- bis siebenhundert Jahre in der Altersgruppe und Gestalt, die sie sich von ihren vorherigen Zyklen ausgesucht hatten.“ Nathan nickte. „Wenn du kein Mensch wärst, könntest du dir nach dem Rückwärtsgang auch aussuchen, wie gut aussehend du sein möchtest!“ Er machte eine kurze Pause. „Wenn du gut aussehend bist, heißt das – was du bist.“ Er grinste, wobei sie kurz errötete und einen Dank murmelte. Dieser Schleimbeutel! Doch der Ernst der Lage nahm in ihrem Kopf wieder die Überhand. „Jetzt ist mir noch eine Frage eingefallen …“, bemerkte Kyrie, „Aber zuerst die andere …“ „Über Geburten reden wir später“, unterbrach Nathan sie barsch, „Nächste Frage?“ „Du bist mit mir aufgewachsen … Wie geht das? Du hast erwähnt, dass man sich nach den ersten zweihundert Jahren für den Rest seines Lebens entscheiden muss, welches Erscheinungsbild man annehmen möchte.“ Nathan grinste. „Todsünden. Todsünden sind so stark, dass sie einem diese Entscheidung abnehmen und einen Zyklus rückkehren können. Sie haben mich also wieder in den ersten Zyklus gesteckt.“ Er überlegte kurz. „Das war auch der Grund, weshalb ich den Himmel zwanzig Jahre lang nicht betreten durfte. Im Himmel hätte ihre Magie gegen die Natürlichkeit und das Alter meiner Flügel versagt und ich hätte meine ursprüngliche Gestalt angenommen – die Zyklen wären also an mir vorbeigezogen und es wäre Zeit- und Energieverschwendung für die Todsünden gewesen. Und so etwas hassen sie.“ Kyrie nickte. Kompliziert … Aber es musste sein. Sie wollte alles über Engel erfahren! Sie waren so tolle und komplexe Wesen … Dass sie ihr eigenes Alter und Aussehen bestimmen konnten, die Magie, die sie über ihre Flügel lenken konnten. Nur der Fakt, dass sie auch Waffen schwingen konnten, schockierte sie ... Aber wenn sie diese nutzten, um für das Gute und für Gerechtigkeit zu kämpfen, war es wohl legitim ... Obwohl es immernoch so ein komisches Gefühl in ihr zurückließ. Waffen waren schlecht, sie verletzten. „Ich denke, das war das Letzte, was ich dir verraten musste“, eröffnete ihr Nathan dann. Er schaute unberührt drein. Kyrie hingegen war sich des Schocks, der sich auf ihrem Gesicht abzeichnete, bloß zu bewusst. Ließ er sie wieder allein? Musste sie sich ab jetzt alleine durch den Himmel kämpfen? „Beruhige dich!“ Er grinste sie feixend an. „Aber schön, dass es seinen Effekt hatte.“ Daraufhin lachte er kurz laut auf. „Jedenfalls – jetzt gehen wir zu praktischeren Dingen. Ich werde dir beibringen, wie man Magie benutzt.“ Und während sie zum Trainingsplatz aufbrachen, erinnerte sich Kyrie daran, dass er ihr den zweiten Teil der Schöpfungsgeschichte vorenthalten hatte. Und das mit den Geburten - und, wie sie ihn kannte, noch zeitausend andere Sachen. War das beabsichtigt? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)