Federschwingen von RhapsodosGenesis ================================================================================ Thierry hatte einen Witz erzählt, woraufhin Nathan einen blöden Spruch dazu gesagt hatte. Alle hatten gelacht. Kyrie war so voller Freude gewesen. So fröhlich und froh – Freunde! Das waren wirklich ihre Freunde geworden! Liana hatte sie angestoßen und sie dann mit ihrer lustigen Art noch mehr zum Lachen gebracht. Ihr Bauch hatte geschmerzt – seit wann hatte sie nicht mehr so gelacht?! „Tut mir leid“, entschuldigte sich Thierry. Er wirkte noch erschöpfter als zuvor. „Das Zurückziehen dauert immer ein wenig.“ Sooft wie er das bereits wiederholt hatte, wollte er es wohl sich selbst weismachen … Kyrie saß ans Geländer gelehnt da. Mittlerweile hatte sie ihre Flügel eingezogen, weil sie sich dadurch sicherer fühlte. Auch wenn Unsicherheit ihr im Moment wohl gut tun würde, doch … sie fühlte sich jetzt schon panisch genug. „Du weißt ja nicht, wann diese Kerle zuschlagen werden“, erinnerte Thi sie zum hundertsten Mal, „Also benimm dich natürlich – und schlag dann mit voller Kraft zu.“ … Sie wusste mittlerweile, dass er unerwähnt ließ, dass sie die Angst trotzdem immer bei sich tragen musste. Abrufbereit. … Aber nahm sie das nicht eigentlich alles auf sich, um keine Angst mehr fühlen zu müssen? Wie … wie sollte sie da denn jemals ihre Angst verlieren? Sich wohl befinden? Doch zumindest würde sie mit dem Leben davon kommen können … das war es doch wert … Wenn sie zu Ray zurückkehren konnte … Ja, wenn das möglich war, dann … dann würde es doch gehen. „Alles in Ordnung?“, prüfte Thi nach. Er wirkte geschockt. „Habe ich dich zu sehr verletzt?“ Er hatte nur wenige Schnitte getätigt – immer wieder auf dieselben Stellen. „Machen wir Pause? Gehen wir in den Himmel. Da kannst du dich ausruhen. Oder willst du gleich im Himmel weiterüben?“ Er wirkte richtig besorgt und etwas hilflos. „Da verletzt du dich dann nicht.“ Sie wusste, dass er immer Teile der Ängste gesehen hatte, die sie ihm zeigen wollte. Die Angst vor allem, was mit dem Himmel zu tun hatte. Die Angst davor, wieder verraten zu werden. Die Angst, dass jemandem, den sie liebte, etwas zu stieß … Und vor allem die Angst, dass ihr selbst wieder etwas zustieß. Denn wenn jemand angestrengt an etwas dachte, dann war es das Erste, was der Schwertschwinger vorfand. Doch wenn es nicht eindringlich und eindrucksvoll genug war, war es kein Blenden. Und damit nutzlos – nur Material, das gegen einen benutzt werden konnte. Und deshalb war Vorsicht geboten: All diese Angst musste immer da sein, doch irgendwo, wo nur sie sofort darauf zugreifen konnte. Wo sie den anderen mit all der Inbrunst ihrer Angst blenden konnte. Sie streckte die Flügel aus. Sie stießen gegen die Wand, was dazu führte, dass sich ziemlich viele von ihnen lösten. Schwanenfedern - wie Ray sie nennen würde … Ray … „Thi?“, murmelte sie, „Kann man jemandem vertrauen, der alles für sich behält?“ Er sah sie so überrascht an, wie sie sich fühlte. „Was? Wie meinst du das?“ Warum hatte sie ihn das jetzt so plötzlich gefragt? Sie … wollte das doch gar nicht! Sie schüttelte den Kopf und verschränkte die Arme. „Ich … ich … Die Menschen auf der Erde … Sie dürfen doch nichts vom Himmel erfahren, um den Frieden zu wahren …“, stotterte sie nervös herum. Was … wollte sie damit bezwecken? Warum gerade jetzt? War sie so fertig, dass sie nicht einmal mehr kontrollieren konnte, was sie sagte? Aber etwas in ihr drückte gegen sie. Vielleicht hatte Thierry mit seinen Angriffen unbewusst diese Frage hervorgerufen. Und jetzt … brauchte sie eine Antwort … einen Rat … Er nickte bekräftigend. „Ganz genau. Darum sollten wir jetzt auch gleich dorthin gehen.“ Er hielt ihr die Hand hin. Sie nahm sie dankend an. Und in dem Moment, in dem sie seine Hand entgegen nahm, wurde ihr klar, dass er sie nicht im Stich lassen würde. Dass er ihr bei ihr bleiben würde, egal, wer da kommen mochte. Sie waren umhüllt vom goldenen Glanz des Himmels. Sie spürte, wie seine heilende Kraft auf sie einwirkte und die äußerlichen Narben verschwanden – doch die seelischen Kratzer blieben. Sie hatte Details über den Schwertkampf erfahren, die Nathan ausgespart hatte: Dass es wichtig war, die Erinnerungen der anderen löschen zu lassen, weil man ansonsten immer einen Teil der Person in sich trug – und zwar der Persönlichkeit. Es war also so ähnlich wie beim Ruf – nur schlimmer. Denn je mehr Erinnerungen man hatte, desto schlimmer wurde es scheinbar. Die Technik war geschaffen worden, um die Wahrheit über die Ziele der Dämonen herauszufinden. Diese Erinnerungen hatte man dann weiter- und abgegeben, sodass die bösen Gedanken nicht in einem Engel haften blieben. Und das geschah auch heute noch, wenn ein Engel einen Dämon besiegte. Deshalb war eine gute Vorbereitung so wichtig … Und sie bereitete sich darauf vor, gegen Engel zu kämpfen – was nicht erlaubt war. Sie fühlte sich elendig, wenn sie daran dachte, was sie eigentlich tat … Was war nur aus ihr geworden? „Aber … um auf deine Frage zurückzukommen …“, riss Thierry sie aus den Gedanken, „Ich denke schon.“ Sie sah ihn überrascht an. „Also – das mit dem Vertrauen.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich vertraue den Todsünden vollends, obwohl ich ganz genau weiß, dass sie uns sehr viel vorenthalten.“ Dadurch, dass sie seine Hand noch immer hielt, bemerkte sie, dass ein Zittern ihn durchfuhr. „Durch Gulas Erinnerungen …“ Er schüttelte schnell den Kopf. „Nein, das … soll nicht in die Öffentlichkeit …“ Sein Blick war von Trauer durchtränkt. „Aber wir sollten uns im Klaren sein, dass alle Engel Angst haben können.“ Sie sah betroffen auf den Boden. So viele Geheimnisse, die er nicht wollte, trug er in sich … Sie selbst hatte abgelehnt, das Blenden auszuprobieren. … Sie konnte ihn doch nicht verletzen! … Außerdem ... wollte sie seine Ängste nicht kennenlernen. Sie würde es nicht ertragen, sie zu kennen. Sie war nicht stark. Aber ihre Freunde waren es. Die Leute in ihrer Umgebung waren stark. Diejenigen … denen sie vertraute … Stille umgab sie, bis Kyrie sie durchbrach. „Und … kann man jemanden lieben, der einem nicht alles anvertraut?“ Als sie die Frage stellte, hüpfte ihr Herz eine Stufe höher. Hatte sie das gerade wirklich laut gesagt? „Ich hoffe, du redest nicht von Nathan, sonst hast du ein Problem.“ Als sie ihn ansah, bemerkte sie, dass er sanft lächelte. „Aber … ja – wenn ich mir Liana oder Joshua so ansehe … Natürlich. Manche Dinge sind einfach nicht für jedes Ohr bestimmt.“ Sie nickte. Die Antwort war … nichts sagend … Das … konnte doch nicht funktionieren … wie man bei Nathan und Joshua sah. Nein – da durfte es nicht funktionieren. „Aber … es muss wirklich schwer sein, sich zu … trennen … als Assistent. Von dem, was man liebt …“ Er nickte. „Wenn man mich vom Spielfeld holen würde – oh, weh, das wäre unschön.“ Er schüttelte den Kopf. „Darum sollten starke Engel am besten sofort weglaufen, wenn sie nicht bereit dazu sind, Verantwortung zu übernehmen.“ Kyrie sah ihn fragend an. „Wie … meinst du das?“ „Als Nathan in Acedia geflogen ist, hatte er keine reale Chance mehr, kein Assistent zu sein.“ Thi ließ ihre Hand los und schaute sich um. Seine Stimme hielt er gesenkt. „Sie brauchen starke Engel – und deshalb werden sie so oder anders irgendwo in die Ränge eingesetzt, wo gerade Platz ist. Die Frage, ob man möchte, geschieht aus reiner Höflichkeit.“ Er verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. „Ich habe schon oft gehört, dass plötzlich ein riesiger Haufen Ränge vor einem Ablehner gestanden hat, um ihn doch noch zu überreden, einen Job zu machen.“ Ihre Augen weiteten sich. „Was? Nathan ist also … gezwungen worden?“ Thierry nickte. „Und dann noch Todsünde. Er tut es zwar immer als amüsanten Vorfall ab, aber … in Wirklichkeit war das ein Schicksalsschlag … vor allem für ihn und Joshua. Immerhin brauchen die Todsünden scheinbar absolute Gleichgültigkeit – na gut, nicht nur scheinbar.“ Auch er verschränkte die Arme. „Stell dir vor, Nathan wäre schon Acedia und ich stünde dann vor ihm mit der Bitte, mir meine Erinnerungen zu rauben …“ … er würde das nicht tun können. Kyrie wusste zwar nicht, was genau da geschah oder wie es sich anfühlte, aber sie war sich sicher, dass Nathan ablehnen würde. Der Nathan, den sie jetzt kannte. … Wie sich der gleichgültige Nathan entscheiden würde, war allerdings eine andere Frage. Eine, auf die sie Antwort ebenfalls kannte – auf die sie aber keineswegs stolz war … Sie hoffte, dass sie Zeit ihres Lebens den alten Nathan genießen durfte. Egoistisch, aber … es war ihr Wunsch. „Oder wenn er einen Ausfall hätte, weil Joshua etwas passierte …“ Er schüttelte den Kopf. „So etwas kann man sich in einer hohen Position nicht leisten. Er muss unantastbar sein.“ Erneut erschauderte er. „Darum nimmt mich das mit Gula auch so mit, dass er so … verletzlich …“ Er schüttelte wieder den Kopf. „Nein, ich muss das schnell vergessen.“ Er schaute flehend zu Kyrie. „Aber hast du das mit dem Blenden jetzt begriffen?“ Sie starrte ihn an. Das mit den Blenden nicht. Aber sie glaubte, jetzt endlich in etwa das Ausmaß seines Leidens zu verstehen. Es ging ihm nicht wirklich darum, etwas Verbotenes zu tun. … Aber mit der Aktion war sein Weltbild zerstört worden. Sie hatte ihrem Freund das angetan, wovor sie den Rest ihrer Freunde beschützen wollte: Etwas zu zerstören, woran sie glaubten. Dasselbe zu fühlen wie sie, als die Engel sie attackiert hatten. Den Verlust aller Hoffnung … Ehe sie sich versah, umarmte sie Thierry. „Es tut mir so leid …“ Er erwiderte die Umarmung. „Für dich nehme ich das in Kauf …“ Dann schob er sie von sich. „Aber … machen wir weiter? Geht es mit deinen Erinnerungen?“ Sie nickte. „Wenn es dir mit deinen geht.“ Er brachte ein Lächeln zustande. „Gehen wir zum Schwertübungsplatz.“ Thierry und sie erschienen direkt in ihrem Zimmer. Kyrie war froh darum. Sie konnte das Zittern nicht mehr unterdrücken. Ängstlich klammerte sie sich an Thierry, der aber nicht wirklich besser aussah und sie ebenfalls fester hielt, als es sein musste. „Keine … Sorge“, stieß er leise hervor, „Es geht …“ Sie ließ sich auf ihr Bett sinken und schaute schuldbewusst zu Thi, der die Tür im Auge behielt, als würde er damit rechnen, dass jemand gleich hindurch gehen und ihn umbringen wollen würde. Er verschränkte die Arme. „Bis Mittwoch muss ich … die Erinnerungen los sein“, murmelte er vor sich hin, „Sonst …“ „Es tut mir so leid …“, gab Kyrie erneut hinzu. Sie hatte sich immer wieder entschuldigt. Je gehetzter Thierry wurde, desto schlimmer fühlte sie sich. Er hatte das Schwert überstrapaziert. Ihr zu viele Erinnerungen gestohlen. Frohe wie auch schreckliche. Weil sie eine Versagerin war. Eine schlimme, ängstliche Versagerin … Er schüttelte den Kopf. „Ich … komme alleine raus …“ „Sollen wir wirklich nicht Nathan rufen?“, fragte sie kleinlaut, wobei ihr ein Schauer über den Rücken lief. … Dann würde Nathan auch von dieser Aktion erfahren. Wollte sie das wirklich? … In welche Gefahr würde sie ihn bringen … Was für Nachwirkungen das alles nach sich ziehen konnte. Sie fiel zurück in ihren Polster und umarmte diesen fest. Drückte zu. Wollte, dass das Zittern verschwand. Ein Blick zur Uhr verriet ihr, dass es bereits Mitternacht war. Also würde sie zur Eingangstür mitkommen müssen. … Nach unten gehen … Wo jeder sie erwarten konnte … Wenn Xenon herausfand, wo sie lebte, konnte er auch ihren Eltern etwas antun, um sie zu verletzen. Jeff … würde das bestimmt tun … Sein Grinsen, der Hass in seinen Augen … Alles lebte vor ihr auf, als würde sie es im Moment erneut erleben. Die Angst. Die schreckliche Angst. Alles schien zu schmerzen, sie konnte sich nicht bewegen, ihre Flügel … Plötzlich realisierte sie, dass ihre Flügel ausgestreckt waren. … Sie … Sie war in ihrem Zimmer. Thi schien von dem kurzen Anfall nichts mitbekommen zu haben, sondern mit seinen eigenen Gefühlen Probleme zu haben. „Eine Woche …“, murmelte er, „das … überstehe ich nicht …“ „Morgen“, löste sich ein Versprechen von ihren Lippen, „Morgen … werde ich das Blenden beherrschen.“ Erlösung trat in seine Augen. „Wirklich?“ Sie nickte. „Und … ich werde mich für dich an das Training erinnern … Ich werde dir ewig dankbar sein …“ „Ich danke dir ... auch wenn ich uns beiden wünschen würde, dass das nicht sein müsste …“ Trauer beschlich seine Augen. Er verschränkte die muskulösen Arme und schien sein Zittern vertuschen zu wollen. „Und …“ „Ja?“, hakte Kyrie nach. Sie war nicht neugierig. Mehr nervös. Was würde er sagen? Was von ihr wollen? Was, wenn er plötzlich zu den Bösen … Nein. Er würde ihr nichts tun … Sie … sie musste ihren Freunden vertrauen … Vertrauen … Das … brauchte sie jetzt … „Darf ich hier bleiben, bis du morgen mit mir das Haus verlässt?“, fragte er schnell – dabei schaute er sich noch einmal kurz panisch um. Es war ihm sichtlich unangenehm, diese Frage zu stellen. Sie sah ihn überrascht an. Aber insgeheim fiel ihr ein Stein vom Herzen. Sie … war nicht allein. Sie brauchte nicht zur Tür zu gehen … Kyrie erhob sich, wobei sie sich am Kasten stützte, um ihren zitternden Knien Halt zu geben. „Du schläfst im Bett“, bot sie ihm an, „Ich … ich … hole mir eine Decke und die Liege …“ „Musst du dafür weit weg?“ Er schaute immernoch vorsichtig hin und her. Sie schüttelte den Kopf. „Nein … grad ins Nachbarzimmer …“ Als sie die Tür öffnete, schluckte sie schwer. Sie ließ die Flügel ausgestreckt. Falls Xenon … Der Flur war leer. Also zwang sie sich, ihre Schwingen einzuziehen. Hier … in ihrem Haus … hier brauchte sie keine Angst zu haben … „Kyrie, bist du das?“, erklang die Stimme ihres Vaters von unten. Also waren ihre Eltern noch wach und schauten fern. Sie war erleichtert, dass sie nicht nachschauen musste, ob sie noch lebten. Sie lebten … Sie lebten! „Ja“, rief sie erleichtert, „Gute Nacht!“ Und damit holte sie schnell, was sie brauchte und schlug die Tür zu. Das leise Vibrieren seines Handys ließ Ray hochfahren. Er blinzelte sich den Schlaf aus den Augen und blickte zur Uhr. Halb eins. Wer wollte um die Zeit noch etwas von ihm? Kyrie? Oder war es Diane? War etwas mit seiner Mutter? Schnell – und plötzlich hellwach - griff er nach dem Gerät, wobei er immernoch das leise Geräusch vernahm, das Kylie verursachte, wenn sie schlief. „Es ist schon spät, es tut mir leid. Aber … ich wollte mich noch einmal dafür entschuldigen, dass ich heute nicht gekommen bin. Ich hoffe, dass du einen schönen Tag hattest. Ich bin froh, dass ich dich kennen gelernt habe. Und ich bete, dass wir uns noch oft sehen werden. Schlaf gut.“ Kyrie. Er las sich die Nachricht noch einmal durch, nur um sicherzugehen, dass er sie auch richtig verstanden hatte. Schnell tippte er noch eine Antwort: „Schlaf jetzt, du Dummerchen. Deshalb brauchst du dich doch nicht so lange wach zu halten! Am Montag sehen wir uns, versprochen. Bis dann. Und danke.“, schrieb er. Er schickte ab, ohne noch einmal drüber zu lesen. Er wusste, dass er noch etwas abgeändert hätte, wenn er das getan hätte. Aber … es war spät. Da sollte man seinen Gefühlen freien Lauf lassen. Selbstzufrieden legte er sich wieder zurück. Aber ja … es war ein erfolgreicher Tag gewesen. Er wusste wieder, was er wirklich wollte. Auch wenn Kyries Nachricht in ihm noch einen anderen Wunsch aufsteigen hatte lassen … sie zu umarmen. Jetzt … Aber … das musste er sich jetzt wohl noch für seine Träume aufsparen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)