Federschwingen von RhapsodosGenesis ================================================================================ Es war viel einfacher, aus dem Bett zu kommen, wenn man ausgeschlafen war. Das hatte sie mittlerweile erkannt – und zu diesem Zweck hatte sie sich gestern genauso früh schlafen gelegt, wie sie spät aufgestanden war. Vor ihren Eltern zuzugeben, dass sie tatsächlich das Frühstück verpasst hatte, hatte ihr einiges abverlangt – doch sie hatte ihren Stolz vergessen und es getan. Und dann gefrühstückt, während ihre Eltern zu Mittag gegessen hatten. Aber wegen der Snacks in der Nacht hatte sie sowieso bloß wenig Hunger gehabt. Sie seufzte lautlos. Vermutlich war es sehr peinlich, wenn man in ihrem Alter wegen ein wenig Schlafmangels so ein Theater abzog, aber sie fühlte sich einfach schlapp. Nie wieder würde sie so lange wach bleiben! Wenn sie 25 Jahre alt war, dann würde sie einfach ihre Fahrberechtigung machen und jeden Tag um Punkt zehn Uhr am Abend zu Hause sein – und schlafen. Schlafen bis zum Morgen, um dann fit und fröhlich den nächsten Tag beschreiten zu können. Wo auch immer sie in fünf Jahren dann stehen würde. Aber vermutlich wäre ihre Platz dann immer noch zuhause – immerhin würde sie noch immer studieren. Und weil sie in diesem ersten Jahr relativ wenig Auslastung hatte – sechs Stunden pro Tag waren wenig, andere blieben den ganzen Tag an der Uni -, würde sie in den nächsten Jahren dann mehr Zeit hier verbringen. Aber sie hatte damit schon von Anfang an gerechnet: Sie wollte bloß die Grundlagen beherrschen – und das schaffte sie, indem sie sich Zeit zum Lernen nahm. Natürlich hatte sie damals, als sie ihren Plan festgelegt hatte, keine Ahnung davon gehabt, dass sie die Zeit auch brauchen würde. Und zwar, um die Grundlagen des Engelsseins zu erlernen! Gestern war sie wieder bei Nathan gewesen. Er hatte ziemlich abgelenkt gewirkt, wollte sie aber nicht mit seinen Sorgen belasten. Sie hatte es akzeptieren müssen, da er sie einfach unvermittelt mit dem Schwert angegriffen hatte, um ihre eigene Konzentration zu steigern. Aber sie waren es langsam angegangen. Außerdem hatte sie ihn über den Sänger der Sieben Sünden befragt – er gab allerdings zu, dass er in all seiner Zeit als Mensch nichts davon bemerkt hatte und entsprechend auch nicht wusste, um welchen Engel es sich dabei handelte. Aber er hatte vorgeschlagen, dass sie diese Frage Liana stellen sollte. Noch dazu hatte die Zeit im Himmel ihrer Müdigkeit den Rest gegeben – und sie hatte gestern wieder entspannen können. Und weil sie aus Fehlern lernte, war sie auch zeitig schlafen gegangen. Doch darüber würde sie sich in den Ferien keine Gedanken mehr machen müssen – denn dann würde des Nachts ihre Zeit im Himmel wieder losgehen. Diese anstrengende, mühevolle Zeit … Aber … zumindest würde sie irgendwann ihre Großmutter besuchen! Das war doch positiv. Nathan durfte es bloß nicht vergessen haben. „Heute bist du aber früh dran“, kommentierte Ray, der plötzlich neben ihr aufgetaucht war, „Hast du etwa die Vorlesung sausen lassen?“ Er zwinkerte und setzte sich neben sie, wobei er seine Tasche ins Gras stellte. Das machte dem Gras nichts – bald würde die kalte Jahreszeit hereinbrechen, da würde es sowieso absterben. „Also bitte, wofür hältst du mich?“, empörte sie sich, „Denkst du wirklich, dass ich dazu fähig wäre?“, spielte sie theatralisch auf, wobei sie alles mit dem Blick eines Unschuldsengels und ungläubiger Gestik unterstrich. Er schüttelte den Kopf und lachte in sich hinein. „Nein, ich weiß doch, wie zuverlässig du bist.“ „Du hast mir nicht auf meine Nachricht geantwortet“, fiel Kyrie ein, „Ich habe dir gestern eine geschrieben.“ Er sah sie verwirrt an. „Sag bloß, dass du gestern wach warst.“ Unbehaglich schaute sie hin und her. „D- Doch? Ich war gestern wach?“ Er verschränkte die Arme, während er anerkennend nickte. „So eine bist du also. Das hätte ich nie von dir gedacht.“ Es klang enttäuscht, doch die Ironie war leicht zu erkennen. Sie fasste ihm an die Schulter und stieß ihn kurz an. „Idiot“, beleidigte sie ihn scherzhaft, „Hast du wirklich den ganzen Tag über geschlafen?“, wollte sie ungläubig wissen. „Meine Devise lautet: An Wochenenden so viel wie möglich, unter der Woche so wenig wie nötig!“, verkündete er fröhlich. Sie starrte ihn perplex an. „Und damit kommst du durch?“ Er lachte lediglich und wechselte dann das Thema: „Wie hat dir das Konzert gefallen?“ „Hättest du meine Nachricht gelesen, wüsstest du es“, klagte sie ihn an. „Verrätst du es mir?“ Er legte einen flehenden Blick auf, „Bitte?“, fügte er dramatisch lang gezogen hinzu. Kyrie konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. „Wenn du mich so fragst …“, gab sie nach, „Ja, es war ganz in Ordnung. Eine bessere Band hätte es nicht gegeben, die Begleitung entpuppte sich als ganz passabel.“ „Die Aktionen, die Ted abgezogen hat, waren wirklich nicht in meinem Interesse“, versicherte er erneut – todernst, „Er ist ein kindischer Vollidiot.“ Sie winkte ab. „Ich bitte dich – das weiß ich doch!“ Sie lächelte. „Ich fand den Abend hervorragend und habe nur selten etwas mehr genossen!“ … Sie hätte hinzufügen können, dass sie damit nicht den Teil über den Vollidioten meinte – aber … Was hier abgesprochen wurde, blieb bei ihnen. So gesehen, machte es also keinen Unterschied, ob sie ihn jetzt wirklich für einen ‚kindischen Vollidioten’ hielt oder eben nicht. Ein seltsames Glitzern trat in seine Augen – er wirkte überglücklich. Irgendwie fand Kyrie das erleichternd – als würde ihr ein Stein vom Herzen fallen. Sie war nicht schlecht drauf, keinesfalls, aber dennoch … fühlte es sich so an, als würde er sie aufmuntern. „Ich bedanke mich noch einmal dafür, dass du die Rolle meiner Begleitung angenommen hast“, sagte er mit hallender Stimme, wobei er zugleich aufstand und sich dann tief verbeugte, „Und für den Tanz, der folgte.“ Er sah sie erwartungsvoll an. Sie blinzelte verwirrt. Dann erhob sie sich genauso, streckte ihm die Hand entgegen und vollführte einen Knicks. „Die Ehre war ganz meinerseits.“ Er lächelte sie an – und sie lächelte zurück. Und ihr Herz schlug dabei ganz fest. Ray bog auf der Straße um die Ecke und blieb abrupt stehen – Kims Auto stand noch immer vor der Tür. Also war sie noch da. Das war unschön. Er wollte ihr nicht begegnen – nicht jetzt, wo er sich in Hochstimmung befand. Die Zeit, die er mit Kyrie verbrachte, führte bei ihm einfach zu Glück. Er fühlte sich erfüllt. Also zückte er sein Mobilfunkgerät, wobei er erkannte, dass er drei Nachrichten erhalten hatte – eine von Kyrie, eine von Diane und die letzte von Kylie. Er hätte es gestern doch einmal überprüfen sollen. Aber das machte ja nichts! Immerhin lief ihm die Zeit nicht davon – und egal wie spät er per Telefon antwortete: Er würde immer und immer wieder schneller sein, als würde er es persönlich tun. … Zumindest bei seiner Schwester und bei seiner besten Freundin. Bei Kyrie war es etwas komplizierter – aber diese hatte ihn nur gefragt, wie es ihm gefallen habe und ob er noch schliefe. Und das um zwei Uhr mittags! Das Mädchen war wohl wirklich ein Frühaufsteher. Diane hatte bloß die Bestätigung geschickt, dass es ihr und ihrer Mutter gut ginge – seine Schwester tat das öfter. Vor allem, wenn er sich die Mühe machte und eine lange Frage ausformulierte, kam von ihr eine knappe Antwort zurück. Also antwortete er gar nicht darauf. Aber zumindest schrieb sie. Aber er hatte sich bereits bei ihr beschwert – er wollte nie wieder eine Periode erleben, in der sie einfach tagelang nichts verlauten ließ! Kylie schrieb: „58 Tage noch, dann sehen wir uns wieder! Außer ich würde in der Zwischenzeit gekündigt werden.“ Das freute ihn! Sie würde wohl die ewig lange Zugstrecke zurücklegen, aber dafür hatten sie dann wieder Zeit für sich! Und sie konnten sich wie alte Freunde benehmen, er würde ihr die Stadt zeigen, die Universität – Kyrie! „Diese Woche übernehme ich wieder deine Mutter. Ich habe heute schon im Schach gegen sie verloren. Bei ihr kann man einfach nicht schummeln! Die Frau ist ein Genie. Man merkt, dass du nichts von ihr geerbt hast.“ Ein Smiley, der die Zunge hinaus streckte, folgte ihren Worten. Kylies Nachrichten waren immer so viel lebhafter als die von Diane. Wenn er mit Kylie schrieb, fühlte er, dass es seiner Mutter gut ging – bei Diane war es einfach das Wort, das sie ihm gab. „Ich arbeite dann mal weiter! Und, wehe dir, du enttäuscht mich dann. Ich erwarte Luxus, schließlich bin ich dann zum ersten Mal in einer Stadt!“ Er lachte über ihre Worte. „Und das für eine ganze, lange Woche, mein Freund! Samstag bis Samstag!“ Aber sie schnitt damit ein wichtiges Thema an: Er würde mit Kim sprechen müssen – wegen dem Essen und dergleichen. Aber … das hatte Zeit. Das musste nicht hier und heute sein. Und sein Vater würde es sowieso von seiner Kim erfahren – da hatte er keine Sorge. Also stand er dort, hinter der Kreuzung, und wartete, bis Kim das Haus verließ. Aber es dauerte und dauerte ewig. Er hätte sich eintausend spannendere Tätigkeiten ausdenken können, die er jetzt betreiben hätte können, anstatt einfach hier herumzulungern und zu warten – vermutlich würde sie sowieso noch in diese Richtung fahren. Ihm gegenüber saß eine dicke Katze, die ihn gelangweilt betrachtete – wenn er bloß untätig herumstand, wurde er das Gefühl nicht los, dieser faulen Katze ähnlich zu sein. Aber wenn Kim nicht heraus kam … Vielleicht war sie krank? Vielleicht schlief sie? Vielleicht würde er hier bis morgen warten? Nein – er musste jetzt wohl einfach reingehen, auch auf die Gefahr hin, dass er mit dieser Frau kommunizieren müsste. Also schlenderte er den Rest des Weges entlang, öffnete das große Gartentor und durchquerte den ordentlich gemähten Garten. Er hatte wirklich seit seiner Ankunft hier noch nie etwas für den Haushalt getan. Aber … er wurde weder dazu aufgefordert, noch hatte er großartige Lust, seine Zeit in etwas hineinzuinvestieren, das er hasste. Er öffnete die Tür einen Spalt breit und hörte für einen kurzen Moment hin. Ruhe. Vielleicht schlief sie wirklich. Er trat ein und schloss die Tür hinter sich, wobei sie mit einem kaum hörbaren Klacken ins Schloss fiel. Er schlich in die Küche und betrachtete das Essen, welches auf der Mikrowelle stand. Und erschrocken stellte er fest, dass Kim auf der Eckbank lag und schlief. … Entweder er war jetzt laut und weckte sie auf die Gefahr hin, dass sie mit ihm sprach … oder er würde einfach später vorbeischauen, um sein Essen zu holen. Und er entschied sich für Letzteres, so machte er sofort kehrt und wandte sich den Treppen zu, die in den ersten Stück führten, wo sein Zimmer wohl bereits auf ihn warten würde. „Ray?“, erklang plötzlich ihre Stimme aus der Küche. Er zögerte einen kurzen Moment. Dann besann er sich und nahm die Treppen. „Ich muss dir etwas erzählen, in …“, verklang die leise Stimme im Schnallen seiner Tür. Nichts konnte wichtig genug sein, dass er mit ihr sprechen würde. Und wenn sie ihm das Essen persönlich hochbringen würde. Er setzte sich an den Schreibtisch und packte seine Unterlagen aus. Langsam und einprägend besah er, was er heute alles aufgeschrieben hatte. „Und los geht es“, munterte er sich selbst auf. Ira saß in seinem Büro. Wie alles andere im Himmel war es von Licht durchflutet, mit bedeutungslosen Zeichen versehen und wunderschön hell eingerichtet. In seiner Zeit als Assistent hatte er einen Holztisch gesehen, welchen er hier nachbilden hatte lassen. Natürlich wären seine Kräfte stark genug gewesen, um das selbst zu machen – doch die Ränge, die Einrichtungsgegenstände dank ihrer Berufung produzierten, waren sehr viel geschickter darin. Ordentliche Stapel lagen am Tisch. Unterlagen, Protokolle, Aufgaben. Er kümmerte sich darum alleine. Ihm war noch nicht der perfekte Assistent über den Weg gelaufen, doch er sehnte sich danach, seine Wahl so schnell wie möglich treffen zu können. Seit Luxurias Verschwinden wurden ihre Aufträge auf die Verbliebenen aufgeteilt – er hatte jetzt noch mehr zu tun. Und dazu wollte er noch so viel wie möglich über ihren Aufenthalt erfahren – aber er hatte keine Zeit zu ermitteln. Das musste er wohl wirklich den Assistenten der anderen überlassen. Alleine … hatte er da keine Chance. Er nahm einen Zettel und las, was darauf stand. Es war eine Bitte. Ein Engel wollte seine Erinnerungen löschen lassen. Die Aufgabe kam auf den dafür vorgesehenen Stapel. Das waren die Aufträge der Todsünden. Sie konnten Dinge verändern. Diese Belange gingen bloß sie etwas an – die Assistenten erfuhren davon nichts. Denn die geheimsten Hoffnungen, Wünsche und Gedanken der Engel durfte nur Gott erfahren – und die Todsünden waren die nächsten Stellvertreter dafür. Plötzlich ertönte ein Klopfen an der Tür. „Ira?“, erklang die Stimme von Superbias Assistenten dahinter, „Ein Auftrag.“ „Komm rein“, lud er ihn ein, behielt seine Augen aber am Papier. Der Engel tat wie geheißen. „Ein weiterer Halbengel ist gesichtet worden. Heute Nacht ist die Auswahl“ „Sie vermehren sich“, murmelte Ira. Seit Luxurias Verschwinden, wie es ihm erschien. Es gab immer einige Ausnahmejahre – in etwa alle zwanzig Jahre, wie er sich notiert hatte, doch die Gründe dafür hatte er irgendwie nicht … erforscht. Was unüblich für ihn war. Doch etwas in ihm verriet ihm, dass es seine Richtigkeit hatte. Aber es gab natürlich auch hier Ausnahmejahre – vermutlich war es doch alles bloß reiner Zufall. „Bitte?“, fragte der Assistent höflich nach. „Danke, du darfst gehen“, empfahl er ihm, ohne sich auch nur einmal umzuwenden. Falls Superbia je sterben würde, würde er den Mann oft genug zu Gesicht bekommen. Heute war ausnahmsweise keine Konferenz – da war es doch klar, dass etwas anderes zwischen ihn und seine Arbeit rücken müsste. Derzeit hatten sie einen Halbengel in Ausbildung, den von Acedias Assistenten, und noch einen, der aber erst in zwanzig Jahren seinen besonderen Auftritt bekommen würde. Vielleicht würden diese Eltern heute Nacht ja den Mut entwickeln, das Kind selbst entscheiden zu lassen. Er hatte es ja selbst gesehen, dass es sehr wohl Spaß bereiten konnte, auf so einen Halbwüchsigen aufzupassen. Leider hatte sich sein Mensch dagegen entschieden. Er konnte sich kaum mehr an den Namen erinnern. Aber es war schade, dass er so früh hatte wieder gehen müssen. Er hatte viele Freunde gehabt. Er selbst war seither nicht mehr auf der Erde gewesen. Seine Pflichten als Assistent hatten ihn abgehalten, dann war er auch noch recht schnell zur Todsünde gekürt worden … Er bereute es nicht. Aber jetzt sollte er sich wieder den Bittstellungen zuwenden. Immerhin war sein heutiger Tag erneut begrenzt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)