Unter den Apfelbäumen von maidlin (Prequel zu Drachenkind) ================================================================================ Kapitel 7: Die 5. Begegnung - Teil 1 ------------------------------------ Marys Mutter Clara wartete händeringend vor dem Dienstboteneingang. Als sie Jonathan und Mary sah, lief sie ihnen entgegen und schloss ihre Tochter erleichtert in die Arme. „Gott sei Dank bist du wieder da!“, rief sie erleichtert aus. „Geht es dir gut? Du hast ja geweint! Was ist passiert?“ Jonathan merkte, wie sie ihn dabei flüchtig ansah, als wüsste sie, dass er für Marys Tränen verantwortlich war. „Ich hatte nur Angst die Nacht im Wald verbringen zu müssen. Zum Glück hat mich der junge Herr gefunden. Es tut mir leid, dass du dir meinetwegen Sorgen gemacht hast“, antwortete Mary mit fester Stimme. „Schon gut, ich bin froh, dass du wieder da bist“, sagte ihre Mutter und umarmte sie noch einmal fest. „Ich wickel dich sofort in dicke Decken. Du bist schrecklich kalt. Vielen Dank, Sir.“, wandte sie sich nun direkt an Jonathan. Doch er schüttelte nur kurz den Kopf. „Es war meine Schuld. Vielmehr muss ich mich entschuldigen. Ich habe etwas gesagt, was Mary sehr aufgeregt hat und sie deshalb nicht aufpasste wo sie hinlief. Bitte verzeihen sie mir.“ Clara nickte kurz, dann legte sie die Arme um die Schultern ihrer Tochter und führte sie ins Haus. Jonathan sah ihnen noch einen Moment hinterher und ihm war, als würde mit jedem Schritt, den Mary sich von ihm entfernte ein neuer Stein auf sein Herz gelegt. Er würde sich an dieses Gefühl gewöhnen müssen, sagte er sich. So würde es nun immer sein. Er durfte sie nur aus der Ferne sehen. Ihr Kuss jedoch brannte noch auf seinen Lippen. Auch wenn sie sich der Aussichtslosigkeit ihrer Gefühle bewusst waren, so konnten es Jonathan und Mary dennoch nicht lassen sich zu treffen. Die Art wie sie miteinander umgingen veränderte sich jedoch deutlich. Sie waren sehr darauf bedacht sich bei diesen Treffen nicht doch ausversehen zu berühren, denn beide hatten sie Angst dann von ihren Gefühlen überwältigt zu werden. Ihre Unterhaltungen wurden weniger und steifer oder die Themen belangloser. Oftmals verbrachten sie die Zeit in einfachem Schweigen. Sowohl Jonathan als auch Mary waren mit der Situation unglücklich. Außerdem neigte sich der Sommer langsam seinem Ende und das bedeutete, dass sie sich nicht mehr im Garten würden treffen können. Allein der Gedanke daran stimmte Jonathan oft mürrisch und traurig zugleich. Nicht selten hatten die Dienstmädchen oder auch seine Eltern unter seiner schlechten Laune zu leiden. Jonathan machte weiterhin Skizzen von Mary und arbeitete an ihrem Portrait. Er war zufrieden mit seinem Bild, doch je näher er dem Tag der Fertigstellung kam, desto heftiger wuchs im ihn der Wunsch sie weiterhin zu malen. Er wollte sich nicht mit einem Bild zufrieden geben. Und vielleicht könnten sie so weiterhin Zeit miteinander verbringen. Deswegen machte er ihr eines Tages einen Vorschlag. „Mary, das Bild welches ich von dir gemalt habe ist fast fertig. Soll ich es dir zeigen?“ Ihre Augen leuchteten auf. „Schrecklich gern. Ich hoffe du hast mich nicht mit drei Augen gemalt“, sagte sie im Scherz. „Ich konnte mich gerade noch zusammenreisen“, lächelte auch er. „Aber wie soll das gehen? Du wirst es nicht mit nach draußen nehmen können.“ „Nein, du müsstest nach oben in das Zimmer kommen, in dem ich male.“ „Ich müsste mitkommen? Allein?“, fragte sie erschrocken. „Ja.“ Er wusste, was das bedeutete und wenn er daran dachte, spürte er kleine Wesen in seinem Magen flattern. Heftig schüttelte er den Kopf. Er durfte es sich nicht einmal vorstellen! „Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist“, sagte sie ehrlich. „Ich denke eher nicht.“ „Mary, es wird nichts passieren. Ich möchte es dir wirklich gern zeigen, aber ich erhoffe mir dennoch etwas.“ „Was?“ Ich Blick flatterte panisch auf. „Ich möchte, dass du richtig für mich Modell sitzt. Ich möchte ein Bild von dir malen, was nicht auf Skizzen basiert, sondern auf der Wirklichkeit.“ „Oh, Jonie, wie soll das gehen?“ „Das weiß ich noch nicht genau, aber mir wird schon etwas einfallen. Bitte, Mary, lass mich dich richtig malen.“ Mary zögerte und seufzte tief. „Ich weiß wirklich nicht, Jonie. Was wenn die anderen es bemerken, die Mädchen oder gar deine Eltern? Es müsste im geheimen stattfinden und ich kann mir nicht vorstellen, dass das wirklich möglich ist. Was würden sie dazu sagen?“ Sie stützte den Kopf in die Hände und schüttelt ihn. „Lass es uns wenigstens versuchen. Bitte, Mary.“ „Ich kann dir keinen Wunsch abschlagen, weißt du das? Besonders dann nicht, wenn du so mit mir sprichst.“ „Wie spreche ich denn mit dir?“, fragte er verwundert. „Du hast gerade geklungen, wie damals als kleiner Junge.“ „Ich kann mich gar nicht erinnern, dich oft um etwas gebeten zu haben.“ „Nein, das nicht, aber deine Stimme war ganz ähnlich“, sagte sie lächelnd. „Ich werde es mir überlegen, doch zuerst will ich einen Eindruck von dem anderen Bild bekommen. Auch wenn ich keine drei Augen bekommen habe, will ich sicher sein, dass ich nicht vielleicht doch eine krumme Nase habe.“ „Dein Wunsch ist mir Befehl.“ Mary kicherte plötzlich leise auf. „Das könnte ich öfter von dir hören.“ „Wirst du aber nicht“, schoss er sofort zurück und Marys Kichern wurde lauter. Jonathan schüttelte den Kopf. Dieses Lachen löste den Knoten in seinem Inneren ein wenig. Trotzdem sehnte er sich umso mehr nach ihr, obwohl sie ihm doch gegenüber saß. Bis zu ihrem nächsten Treffen hatte Jonathan eine Idee ersonnen. Mary sollte bei ihrer Pause sagen, sie würde sich nicht wohl fühlen und sich in ihr Zimmer zurückziehen. Sollte ihre Mutter ihr folgen wollen, sollte sie nur sagen, dass sie lieber allein sein möchte. Er würde an ihrem Zimmer auf sie warten und sie dann nach oben führen. Jonathan hatte Mary nicht direkt gefragt, doch er vermutete, dass Clara sehr wohl ahnte, was an diesem Tag wirklich geschehen war. Bisher hatte sie sich jedoch nicht weiter dazu geäußert. Mary behagte es ganz und gar nicht ihre Mutter offen anzulügen, aber sie erklärte sich schließlich einverstanden, wollte sie das Bild doch unbedingt sehen, wie sie Jonathan gestand. Mit ihrer Neugier konnte er sie wirklich immer locken, dachte er. Nachdem Mary zugestimmt hatte, wollte sie das Vorhaben gleich am nächsten Tag umsetzen. Sie würde einfach nicht so lange mit der Aufregung leben können, erklärte sie ihm. Wie Mary Jonathan dann erzählte, hatte niemand genauer nachgefragt, als sie sich entschuldigte. Wie besprochen wartete Jonathan an Marys Tür und ging auf sie zu. „Ich bin da“, flüsterte er. „Ist wirklich niemand sonst da?“, wollte sie sich vergewissern. „Haben sie dich auch nicht gesehen?“ „Nein, ich bin allein.“ Dann griff er nach ihrer Hand und es reichte schon diese einfache Berührung aus, um die Blitze durch seinen Körper fahren zu lassen. Jonathan merkte, wie auch Mary neben ihm zusammenzuckte, doch er sagte nichts. Es war bereits alles gesagt worden. Langsam und vorsichtig führte er sie die Dienstbotentreppe in den ersten Stock hinauf, in dem sein Zimmer und Atelier lag. Das Haus hatte nur eine obere Etage, doch durch seine Länge und Breite genügte dies vollkommen. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Mary stumm die Lippen bewegte und es dauerte nicht lange, ehe er Begriff was sie tat: Sie zählte die Schritte und versuchte sich den Weg einzuprägen. „Von dieser Treppe aus gesehen ist es das dritte Zimmer auf der linken Seite. Mein Schlafzimmer ist ein Zimmer weiter. Von der Haupttreppe aus gesehen ist es das das zweite Zimmer auf der rechten Seite.“, sagte er leise. Schon blieben sie stehen und Jonathan legte ihre Hand auf den Türknopf, damit sie ein Gefühl dafür bekam. Mary drehte ihn sanft und die Tür sprang auf. Jonathan führte sie in das Zimmer und schloss die Tür hinter ihnen. „Normalerweise ist abgeschlossen. Ich will nicht, dass sich hier jemand ohne mein Wissen aufhält. Selbst zum Reinigen gebe ich erst meine Erlaubnis.“ „Warum?“, fragte sie neugierig, rührte sich aber nicht vom Fleck. „Ich will nicht, dass jemand etwas sieht, was ihn nichts angeht. Dein Bild zum Beispiel“, erwiderte er, nahm gleichzeitig aber wieder ihre Hand. Dann führte er sie langsam im Zimmer hin und her und machte sie darauf aufmerksam, wo der kleine Tisch stand das Sofa und zwei Sessel. Weiterhin befanden sich ein Buffet im Zimmer sowie eine Standuhr, die zu jeder vollen Stunde schlug. Jonathan führte sie zu den Bildern, die er angefertigt hatte und die unter großen Tüchern verborgen waren. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Jonathan drei große Gemälde gefertigt: Das Gemälde seiner Eltern und von sich selbst, das Gartenbild, welches sich seine Mutter so sehr gewünscht hatte und schließlich das Bild von Mary. Das Familienbild war fertig, ebenso das von Mary, nur an dem Gartenbild gab es noch ein paar Stellen, die er ausbessern wollte. Doch keines der Bilder hatte er seinen Eltern schon gezeigt. Zuerst wollte er sie Mary präsentieren. „Vor uns stehen drei Gemälde, die ich gemalt habe. Eines zeigt meine Familie, ein anderes den Garten meiner Mutter und das letzte dich. Welches soll ich dir als erstes zeigen?“ Mary seufzte tief. „Wieder einmal bringst du mich dazu mir zu wünschen, ich könnte sehen. Sonst ist der Wunsch nie so stark. Zeige mir zuerst, dass deiner Eltern und dann den Garten. Mein eigenes Bild will ich ehrlich gesagt immer noch nicht sehen.“ „Warum nicht? Obwohl ich gestehen muss, dass es nicht einmal annähernd so schön ist wie du.“ Mary schloss für einen Moment die Augen und Jonathan sah sie tief einatmen. „Zeige es mir bitte“, flüsterte sie bloß, dabei konnte er nur ahnen, was in ihrem Herzen vorgegangen war – und es tat ihm leid. Er wollte ihr nicht noch mehr Kummer bereiten. Anschließend nahm er ihre Hand und begann ihr das erste Gemälde zu beschreiben und die Konturen und Linien mit ihren Fingern nachzumalen. Das Bild zeigte seine Eltern, die zusammen auf dem Sofa im Salon saßen. Ein Kamin stand dahinter und ein Feuer glühte schwach darin. Der Raum war etwas abgedunkelt. Seiner Mutter lehnte sich leicht gegen seinen Vater, obwohl es nicht üblich war, ein Ehepaar so vertraut zu malen. Doch Jonathan wollte ihnen nicht die Steifheit geben, die er so auf anderen Gemälden verabscheut hatte. Beide berührten sich an den Händen und lächelten sanft. Seine Mutter trug ein zartrosafarbenes Kleid, eines ihrer Lieblingskleider, was sie mit ihren blonden Haaren, wie ein junges Mädchen erscheinen ließ. Als Schmuck genügten eine Perlenkette, sowie die passenden Ohrringe dazu und natürlich der goldene Ehering an ihrer Hand. Sein Vater trug einen für diese Zeit modern geschnittenen grauen Anzug. Sein strohblondes Haar bildet einen starken Kontrast dagegen. Rechts an der Seite, an die Lehne des nebenstehenden Sessels gelehnt, hatte sich Jonathan selbst gemalt. Sein Haar war länger, als nach seinen Auslandsaufenthalt und reichte ihm schon wieder bis über die Ohren. Er hatte ebenfalls ein grauen Anzug an, nach südländischer Mode geschnitten, dazu eine Fliege, die eine ähnliche Farbe hatte, wie das Kleid seiner Mutter. Es war ein eher lockeres Bild und zeigte die Familienzusammengehörigkeit recht gut. Jonathan beschrieb es Mary so gut er konnte und ihr stand wohl staunend der Mund offen. Anschließend zeigte er ihr den Garten. Da Mary diesen sehr gut kannte, konnte sie sich das Bild umso besser vorstellen. Zum Schluss beschrieb er ihr ihr eigenes Portrait. Immer wieder schüttelte sie den Kopf und runzelte die Stirn. Am Schluss fragte Jonathan sie unsicher: „Magst du es nicht?“ „Ich kann nicht glauben, dass ich das sein soll. Ich meine, wenn es so aussieht, wie ich es mir vorstelle, dann muss es schön sein. Das kann unmöglich ich sein.“ Erleichtert lachte Jonathan. „Doch das bist du, glaube mir.“ Er holte tief Luft, um ihr die nächste Frage zu stellen. „Also, darf ich doch noch einmal malen?“ „Wirst du es mir dann wieder zeigen?“ „Ja, natürlich.“ Mary zog die Augenbrauen nach oben und schien angestrengt über seine Frage nachdenken zu müssen. „Ich weiß nicht… Ich würde schon, glaube ich, aber ich schäme mich.“ Jetzt war er mehr als verwirrt. „Warum? Glaubst du es schickt sich nicht?“ „Nein… Doch, vielleicht ein bisschen. Aber viel mehr denke ich, dass ich nicht hübsch genug bin und…“ „Was? Sag es mir Mary?“ „Ich weiß es ist äußert eitel, aber ich schäme mich meiner Kleidung wegen. Die Vorstellung, dass du mich in diesem alten Ding malen willst ist… Ich fühle mich nicht wohl dabei“, flüsterte sie so leise, dass er Mühe hatte sie zu verstehen. „Oh, Mary…“, erwiderte Jonathan sanft. Er ging einen Schritt auf Mary zu und wollte am liebsten über ihre Wange streicheln. Stattdessen nahm er ihre Hand und drückte sie kurz. „Wenn du das nicht möchtest, dann wirst du dieses Kleid nicht tragen.“ „Wie meinst du das?“ „Lass das meine Sorge sein“, antwortete er nur geheimnisvoll. Mary runzelte kurz die Stirn, schien es aber erst einmal auf sich beruhen zu lassen. „Du hast mir immer noch nicht gesagt, wie es möglich sein soll? Ich kann nicht immer sagen, dass ich mich nicht wohl fühle.“ „Nein und mir ist auch nichts Besseres eingefallen, deswegen werde ich es meinen Eltern direkt sagen und auch bei Misses Collest dafür sorgen, dass genügend deiner Zeit für mich übrig bleibt.“ Mary wurde bei seinen Worten tiefrot. „Was ist?“ „Du weißt nicht, wie sich das gerade angehört hat. Aber, Jonie… die anderen und…“ „Mary, es ist Teil meines Studiums. Außerdem wollte mein Meister ein Gemälde von dir.“ „Was?“ Jonathan presste die Lippen zusammen. Er hatte vergessen, dass er ihr davon noch nichts erzählt hatte. „Ich habe ihm von dir erzählt und versucht dich zu beschreiben und da sagte er, er hätte gern ein Bild von dir.“ „Dann schicke ihm das, was du schon von mir hast!“, sagte sie aufgebracht. Es war klar, dass er sie damit überrascht hat. „Mary, es tut mir leid, dass ich dir nichts davon gesagt habe, aber… soll ich ihm wirklich meinen ersten Versuch von dir schicken, das Bild auf dem du dieses alte Kleid anhast.“ Er war gemein, das wusste er und es war nicht sehr ehrenhaft, aber er wollte dieses Bild von ihr malen. So sehr! „Das ist nicht sehr nett“, sagte sie gerader heraus. Sie hatte ihn problemlos durchschaut. „Ich weiß, aber es tut mir nicht leid. Ich will dich unbedingt noch einmal malen, bitte Mary, bitte, erlaube es.“ „Jonie… Wir werden deswegen eine Menge Ärger bekommen, ist dir das klar?“ „Ja, aber es ist mir egal. Es ist ein Bild!“ Mary seufzte tief. „Also schön.“, gab sie schließlich nach. Noch einmal nahm er ihre Hand und drückte sie fest. „Danke!“, rief er erfreut. Mary sollte recht behalten. Weder seine Eltern noch Misses Collest waren von der Idee besonders angetan, doch dieses Mal ließ es sich Jonathan nicht ausreden oder von Drohungen einschüchtern. Er schaffte es ihnen das Vorhaben als Teil seines Kunststudiums glaubhaft zu machen – was es ja auch war, zumindest in kleinen Ansätzen. Es dauerte zwar fast zwei Wochen, aber nachdem seine Eltern zugestimmt hatten, musste auch Misses Collest klein beigeben. Später gab Jonathan zu, dass er vor der Konfrontation mit ihr mehr Angst hatte, als vor der mit seinen Eltern. Nachdem er die Erlaubnis hatte, nutzte Jonathan einen Tag, um in der nahegelegenen Stadt ein Kleid für Mary anfertigen zu lassen. Ich weiß nicht genau wie er es geschafft hat, aber er erwähnt, dass es gar nicht so einfach gewesen war, eines ihrer alten Kleider … auszuborgen. Misses Collest schimpfte Mary dafür aus, dass sie eines ihrer Kleider verloren hatten, was Mary selbstverständlich mehr als ungerecht empfand. Allerdings konnte ihr Jonathan auch nicht die Wahrheit sagen, das hätte wohl noch mehr Schwierigkeiten verursacht. Entgegen der Mode ließ er für sie ein leichtes Sommerkleid anfertigen, ohne einengendes Korsett und einem ausladenden Reifrock. Dafür besaß es dennoch feinste Spitze, war ärmellos und mit einem weiten Kragen versehen, der das Schlüsselbein sichtbar werden ließ. Der Verkäufer war wohl ein wenig verstört und versuchte immer wieder Jonathan zu anderen Schnitten zu überreden, aber er hörte ihm gar nicht zu. Außerdem achtete Jonathan darauf, dass sich die Knöpfe für das Kleid an der Seite befanden, so dass es Mary selbst schließen und öffnen konnte. Auch das empfand der Schneider als äußerst ungewöhnlich, gab es aber irgendwann auf Jonathan wohlgemeinte Ratschläge zu geben. Passend zu dem Kleid erstand Jonathan außerdem noch einen weißen Gürtel und Schuhe. Beim offiziellen ersten Mal an dem Mary für Jonathan Modell saß, holte er sie noch in der Küche ab. Aus den Augenwinkeln sah Jonathan, wie die anderen Mädchen augenblicklich die Köpfe zusammensteckten, achtete aber nicht weiter darauf. Mary hatte ihre Arbeit gerade beendet und Jonathan nahm ihre Hand, um sie nach oben zu führen. Auf Marys Wunsch hin nahmen sie wieder die Dienstbotentreppen, denn sie wollte den Weg die nächsten Male allein gehen. Sie schwieg die ganze Zeit und Jonathan konnte ihr Unwohlsein beinah spüren. Noch immer schien sie sich nicht wohl dabei zu fühlen. Beruhigend strich er ihr mit dem Daumen über den Handrücken. In seinem Atelier brannte bereits ein Feuer im Kamin und Jonathan hatte den Tisch und die Sessel zur Seite gerückt. Vor dem Sofa stand eine so große Leinwand, wie Jonathan sie noch nie zuvor benutzt hatte. Die Vorhänge waren weit geöffnet, so dass so viel Tageslicht wie möglich in das Zimmer fiel. Hinter sich schloss Jonathan die Tür wieder. „Jonie, ich glaube das war doch keine gute Idee“, begann Mary zu sprechen. „Ich sollte nicht hier sein, ich bin nicht-“ „Ich habe ein Kleid für dich gekauft“, unterbrach er sie. „Was!?“, fragte sie, als hätte sie ihn nicht gehört. „Warum hast du das getan? Das solltest du nicht.“ „Jetzt ist es zu spät, um sich darüber aufzuregen“, sagte er sogleich beschwichtigend. „Aber-“ „Mary… Einen Moment.“ Mary gab ein Schnauben von sich und Jonathan lachte leise. Das Kleid hatte er auf das Sofa gelegt und holte es nun. „Heb die Arme an“, sagte er. Mary tat, was er sagte und er legte das Kleid auf ihre Unterarme. „Ich hoffe es passt dir“, murmelte er. Mary berührte den Stoff mit ihren Fingern und öffnete staunend den Mund. „Was ist, wenn es schmutzig wird? Oder ich ausversehen darauf trete? Oder es zerreißt?“ „Mach dir keine Gedanken. Es ist nur ein Kleid und jetzt gehört es dir.“ „Was?!“ Noch einmal stand Mary der Mund vor Überraschung offen. Jonathan war über diese Reaktion etwas irritiert. Für ihn war es selbstverständlich, dass er ihr das Kleid schenkte. „Das Kleid gehört dir, ich schenke es dir“, wiederholte er noch einmal. „Nein! Das kann ich nicht annehmen! Du kannst mir doch nicht einfach etwas schenken. Ich habe nicht einmal Geburtstag“, erwiderte sie aufgebracht. „Mary, ich habe es extra für dich gekauft!“, argumentierte er dagegen und wurde unbeabsichtigt selbst etwas laut. „Aber Jonathan, ich kann das nicht-“ Aus Erfahrung wusste Jonathan, dass es noch lange so weiter gehen konnte. Mary gab niemals einfach so nach. Deswegen - und weil er ihr nicht mehr wiederstehen konnte - vergaß Jonathan seine Vorsätze und zog Mary rasch in seine Arme. Sofort versteifte sie sich, schob ihn aber nicht von sich. „Bitte, lass mich dir das Kleid schenken. Es ist das Einzige, was ich dir wohl jemals geben kann“, wisperte er in ihr Ohr und spürte, wie sie leicht erzitterte. Mary atmete aus und nickte dann schließlich. Er hielt sie noch einen Moment länger im Arm als nötig und ließ sie dann auch nur sehr wiederstrebend los. „Ich lasse dich allein, damit du dich umziehen kannst. Die Knöpfe gehören auf die rechte Seite. Die Tür ist gerade aus, klopfe und ich weiß, dass du fertig bist“, sagte er und verließ dann das Zimmer. Ungeduldig wartete er davor und lief nervös hin und her. Er hoffte, dass Kleid würde passen. Er hoffte, dass das, was sie mit ihren Fingern wahrnahm, ihr gefiel. Er hoffte, dass sie darin genauso aussah, wie er es sich vorgestellt hatte. Und er hoffte, er würde sich während ihrer gemeinsamen Zeit zusammenreisen können. Er hätte sie schon nicht umarmen sollen. Es klopfte von innen an der Tür und Jonathan riss sie sofort auf. Als er Mary sah, stockte ihm der Atem. Sie war noch schöner, als er es sich vorgestellt hatte. Das Kleid harmonierte perfekt mit ihrer Haut und den rotbraunen, schweren Locken. Der leichte Stoff umschmeichelte ihren Körper. Der Ausschnitt gab nicht nur ihre Schlüsselbeine frei, sondern ließ ihren Hals länger wirken – und einladender. Oben war das Kleid etwas enger geschnitten, so dass es ihren Kurven betonte. Und Kurven hatte sie, wie Jonathan schluckend feststellte. Unter dem braunen Leinenkleid war ihm das bisher nie richtig bewusst geworden. Ab der Taille fiel das Material wie ein Wasserfall ihren Körper herab und wurde immer breiter. Das Kleid reichte ihr bis zu den Füßen, gerade so weit, dass man ihre Zehnspitzen sehen konnte. „Was ist?“, fragte sie nervös, nachdem er nichts gesagt hatte. „Du siehst…“ Ängstlich verzog Mary das Gesicht und schlug die Hände dann davor. „Ich wusste es! So etwas passt einfach nicht zu mir.“ „Was? Nein!“ Jonathan berührte sie sanft am Arm und zog ihr die Hände vom Gesicht. „Ich wollte sagen, dass du wundschön aussiehst.“ „Was?“ „Wunderschön. Ich buchstabiere es dir auch gern“, neckte er sie. Sofort wurde sie rot und Jonathan hatte Mühe, sie nicht auf der Stelle zu küssen. „Danke“, hauchte sie schließlich verlegen. „Ich… Ich habe die Schuhe noch nicht angezogen“, fügte sie nach einem Moment des Schweigens an, um die Spannung, die sich zwischen ihnen aufgebaut hatte zu brechen. „Ist dir kalt?“ „Nein, eigentlich ein wenig zu warm.“ „Ich würde dich gern ohne Schuhe malen, wenn es dir nichts ausmacht. Ich glaube, das wirkt natürlicher bei dir.“ „Oh, wenn du meinst. Welche Farbe hat das Kleid eigentlich?“ „Ich dachte Farben spielen für dich keine Rolle?“ Mary zuckte mit den Schultern. „Tun sie auch nicht, aber du hast mir so viel über Farbsymbolik erzählt, dass ich schon gern wissen möchte, welche du für mich ausgewählt hast.“ „Es ist weiß“, antwortete er schlicht. Er beobachtete Mary sehr genau und sah wie ihr Gesicht von Erkennen und Verständnis durchzogen wurde. Sie erwiderte auch nichts darauf, sondern nickte nur knapp. Jonathan sah jedoch, wie ihre Augen feucht wurden und glänzten. Hätte sie sich nicht von ihm weggedreht, hätte er sie wohl doch endlich geküsst. „Und jetzt?“, fragte sie ihn mit zugewandtem Rücken. Erneut nahm Jonathan ihre Hand und führte sie jetzt dem Sofa, das einen reichlich verzierten dunklen Holzrahmen hatte. Der Rahmen war mit einen komplizierten Blumenmuster versehen. Der Stoff war ein dunkles Rot und hatte ebenfalls ein Blumenmuster. Das weiße, schlichte Kleid bildete einen fabelhaften Kontrast dazu. „Wie soll ich mich setzen?“ „Noch gar nicht, erst möchte ich dir die Haar bürsten.“ „Du willst was?“ Bei ihrem erstaunten Gesichtsausdruck musste er lächeln. „Warum?“ Sie fasste sich in die Haare und fuhr mit den Fingern hindurch. „Weil ich es möchte.“ „Jonathan, ich habe das Gefühl, dass du mich für das Bild verändern willst. So bin ich nicht.“ „Mary, es ist nur die Kleidung. Was du trägst, verändert nicht dein Wesen.“ Sie zog eine Augenbraue nach oben. „Warum schaust du denn jetzt schon wieder so skeptisch?“ Gleichzeitig erhob er sich und holte die feine Haarbürste, die er schon auf dem Tischchen bereit gelegt hatte. „Das waren weise Worte, vergiss sie nicht.“ „Werde ich nicht. Man könnte meinen, du hättest mir das gar nicht zugetraut“, sagte er mit einem Schmunzeln in der Stimme. Er setzte sich neben sie. „Dreh dich in die andere Richtung.“ Mary gehorchte dieses Mal ohne zu wiedersprechen. Vorsichtig fuhr Jonathan mit den Fingern durch ihr Haar, dann teilte er es in Strähnen auf und begann es vorsichtig durchzubürsten. „Tue ich dir weh?“, fragte er nach einigen Bürstenstrichen. „Nein, das ist sehr schön. Du überrascht mich schon wieder.“ „Ich gewinne langsam den Eindruck, dass du mich wirklich nur für einen verwöhnten Jungen hältst, der nicht mehr kann.“ Mary kicherte kurz und Jonathans Herz machte einen freudigen Sprung. „Das stimmt nicht, ich hätte nur nicht gedacht, dass du so was machst und das sehr gut. Es war einfach nichts, was ich von dir erwartet habe“, sagte sie schulterzuckend. „Genauso wie deine Anmerkung vorhin. Aber es zeigt, dass du mich immer noch überraschen kannst und das ist wunderbar – auch, wenn es das Ganze nicht leichter macht“, fügte sie flüsternd an. Jonathan schwieg. Erst nach einer Weile sagte er: „Ich habe so etwas auch noch nie gemacht. Das ist das erste Mal.“ Er sah von der Seite ein Lächeln an Marys Mundwinkel. „Es ist sehr schön. Es ist schon lange her, dass mir jemand die Haare so sorgsam gebürstet hat und schon gar nicht mit solch einer weichen Bürste.“ „Dann genieße es umso mehr. Wenn du erlaubst, würde ich es jedes Mal machen, bevor ich anfange zu malen.“ Leicht errötend nickte Mary. Nachdem er fertig war, platzierte er Mary auf dem Sofa. Sie sollte sich entspannt hinsetzten. Eine Hand legte sie in ihren Schoß, die andere neben ihren Körper auf das Sofa. Sie wunderte sich zwar ein wenig, aber Jonathan hatte dabei etwas ganz bestimmtes im Sinn. Als sie so da saß, konnte Jonathan nicht umhin das Kleid zu bewundern. Es schien ihren Körper zu liebkosen. Anschließend begann er mit einem Kohlestück ihre Umrissen auf die Leinwand zu übertragen. Dabei musste er aufpassen, dass er nicht zu viele Striche machte. Es musste gleich stimmen, denn auch wenn er die Ölfarbe dick auftragen würde, wollte er keine unnötigen Striche machen. Jonathan wollte Mary in Lebensgröße malen und dementsprechend groß, war auch die Leinwand. Es war die größte Leinwand, die er je angefertigt hatte. Er wusste nicht, ob ihm das Bild gelingen würde, aber er war fest entschlossen sein bestes zu geben. An diesem ersten Tag schaffte er nicht mehr als die Umrisse von Marys Körpers und die des Sofas zu zeichnen. Danach musste Mary zurück an ihre Arbeit gehen. Zum Umziehen ließ Jonathan sie wieder allein, dann brachte er sie in die Küche zurück, wo Misses Collest sie schon erwartet hatte. Misses Collest warf Jonathan einen strengen Blick zu, den er versuchte zu ignorieren. Sie hatten nichts Verbotenes getan, dachte er und verspürte doch Bedauern dabei. Wie der erste Tag, so liefen auch die kommenden ab. Jonathan holte Mary in der Küche ab und sie gingen gemeinsam in das Zimmer – oder sie ging den Weg allein. Im Atelier ließ er sie allein, damit sie sich umziehen konnte, dann bürstete er ihr die Haare. Nie hätte Jonathan erwartete, dass er einmal freiwillig einer Frau die Haare bürsten würde und noch weniger, dass es ihm gefallen könnte. Aber er genoss es regelrecht das zu tun. Sie hatte weiches, volles Haare und er wusste nicht, ob er es sich nicht nur einbildete, aber manchmal glaubte er den Geruch von Äpfeln wahrzunehmen. Dann malte er sie. Wenn Mary das Zimmer wieder verlassen hatte, arbeitet er weiter an dem Bild. Er malte sich selbst direkt neben Mary. Das war schon weitaus schwieriger. Jonathan rückte dann jedes Mal einen Spiegel – eine sehe teure Anfertigung - direkt vor das Sofa, nahm Pergament und Kohlstück in die Hand und setzte sich. So portraitierte er sich selbst. Es ging eins oder zwei Wochen recht gut und Jonathan genoss die Zeit mit Mary allein, ohne mit der Angst leben zu müssen, dass ihre Gefühle entdeckt werden könnten Doch dann sollte Jonathan mit der Realität konfrontiert werden. Eines Tages trug Mary einen Verband am rechten Arm. Sobald er es sah, fragte er sie nach der Ursache. „Ich war nur unaufmerksam“, erklärte sie. „Ich habe die Wäsche mit einem Plätteisen bearbeitet und war nicht richtig konzentriert. So habe ich vergessen, wo ich es hingestellt hatte und bin dann mit dem Arm dran gekommen.“ „Du hast dich verbrannt?“ „Ja, aber es ist nicht schlimm.“ „Warst du bei einem Arzt?“ „Nein, es ist wirklich nichts, Jonie. Nur ein dummer Unfall. Male bitte weiter, du weißt, dass wir nicht viel Zeit haben.“ „Tut es weh? Lass mich sehen!“, verlangte Jonathan stattdessen. Ohne auf ihre Antwort zu warten, nahm er ihren rechten Arm und legte ihn sich auf den Schoß. Dann begann er vorsichtig den notdürftigen Verband abzumachen. Darunter kam eine fingerlange Brandwunde zum Vorschein. Sie war dunkelrot und nässte. Jonathan sog bei dem Anblick scharf die Luft ein. Selbst er als Leihe wusste, wie hoch die Gefahr war, dass sie sich entzündete. „Wann ist das passiert?“ „Heute Morgen erst. Mach dir nicht so viele Gedanken. In letzter Zeit passieren mir häufig Missgeschicke. Ich bin einfach nicht richtig bei der Sache.“ Behutsam fuhr er mit dem Daumen darüber, doch er hatte sie kaum berührt, da zuckte sie schon zusammen und Tränen traten ihr sofort in die Augen. Jonathan wurde klar, dass sie sich die ganze Zeit mit Mühe und Not zusammengerissen hatte. „Ich lass Doktor Storm kommen“, sagte er entschlossen und erhob sich bereits. „Jonie, nicht! Ich will nicht, dass meinetwegen-“ „Nein, darüber brauchst du nicht mit mir zu diskutieren!“, sagte er entschieden und verschwand aus dem Zimmer. Er schickte einen Boten und eine Kutsche zu mir. Dann ging er in die Küche und suchte nach Clara. Etwas in Marys Worten hatte ihn aufhorchen lassen. In der Küche wurde bereits das Abendessen vorbereitet. „Bring mir eine Schüssel mit kaltem Wasser, frisch vom Brunnen und ein Handtuch“, wies er zuvor eine Dienstmagd an. Diese starrte ihn mit großen Augen an. „Jetzt!“, wurde er laut. „Clara, ich will mit dir sprechen.“ „Stimmt etwas mit Mary nicht?!“, fragte diese sofort. Jonathan deutete ihr ihm nach draußen zu folgen. Sie gingen gemeinsam in den Salon. „Mary hat eine Brandwunde am rechten Arm. Sie sagt, sie sei unaufmerksam gewesen. Stimmt das?“, kam er sofort zur Sache. „Uhm…“, Clara wich seinem Blick aus und sah nach unten. „Clara! Ich verlange eine Antwort!“ „Es stimmt, dass sie in letzter Zeit etwas ungeschickter ist.“ „Aber?“ „Sie hat es mir nicht direkt gesagt und ich habe es auch selbst nicht gesehen, aber ich glaube, dass die anderen Mädchen etwas damit zu tun haben. Sie sind eifersüchtig, dass sie Mary malen“, gab sie schließlich zu. Jonathan atmete scharf ein. Wut stieg in ihm auf. „Sir, ihr Wasser“, sagte eine Stimme neben ihm und er drehte sich unwirsch um. Er betrachtete die Dienstmagd so genau, wie noch nie zuvor. War sie es?, fragte er sich. Oder eine der anderen? Später würde er sich darum kümmern. Sie würden es bereuen. Er nahm ihr die Schüssel und das Handtuch aus der Hand. „Komm mit“, sagte er an Clara gewandt. Zusammen gingen sie in das Atelier. Mary hatte sich inzwischen schon wieder umgezogen und blieb erstarrt stehen, als sie ihr entgegen kamen. „Wo willst du hin?“, fragte Jonathan leicht wütend. „Jonathan, dass musst du wirklich nicht tun. Es war nur ein Unfall.“ „Keine Widerworte! Deine Mutter ist bei mir.“ Er nahm sie bei der Hand und führte sie in das Zimmer zurück. Das weiße Kleid lag sauber gefaltet auf dem Sofa. „Mutter?“ „Mary, ich denke du solltest es dem jungen Herrn sagen.“ „Sag, es mir! War es wirklich ein Versehen? Clara mach das Tuch nass.“ Gleichzeitig öffnete Jonathan einen Knopf an Marys Ärmel und schob den Ärmel dann sacht nach oben. Schon allein dabei zuckte sie zusammen. „Doktor Storm wird so bald wie möglich hier sein“, sagte er zwischen zusammengepressten Zähnen. Clara reicht ihm das nun feuchte Tuch und so behutsam wie möglich, legte er es auf die Wunde. Mary seufzte erleichtert auf. „Was ist also passiert?“, fragte er sie noch einmal, bemühte sich aber um einen ruhigeren Ton. „Bitte sag mir dir Wahrheit.“ „Versprich, dass du dich nicht aufregen wirst“, verlangte sie von ihm. Jonathan schüttelte den Kopf, was sie natürlich nicht sehen konnte. „Das kann ich nicht“, sagte er deswegen laut. „Versprich es, sonst sage ich gar nichts.“ Jetzt war es Jonathan der frustriert seufzte. „Also schön, ich verspreche es.“ „Ehrlich gesagt, weiß ich gar nicht, was genau passiert ist, weil ich ja nichts sehen kann. Ich bin mir sicher, dass ich mich umdrehte um das Plätteisen wieder auf den Ofen zu stellen, so wie ich es immer mache, die flache Seite nach unten und den Griff nach oben. Irgendwann kam eines der Mädchen herein und brachte weitere Wäsche. Ich habe mich ein wenig gewundert, weil sie gar nichts sagten. Als sie ging, drehte ich mich wieder um und wollte nach dem Eisen greifen, doch da war es aufgerichtet und ich bin mit dem Arm daran gekommen.“ „Und die anderen Male?“ Zorn wuchs in seinem Inneren. Jonathan wusste bereits zu diesem Zeitpunkt, dass er sein Versprechen nicht würde halten können. Abermals seufzte Mary, doch sie fuhr fort, ohne, dass er sie weiter drängen musste. „Ich stolperte über einen Wäschekorb, der plötzlich vor meinen Füßen stand oder über etwas anderes, ganz egal ob hier im Haus oder draußen. Manchmal steht der Korb auch ganz wo anders oder Misses Collest schimpft mich aus, wenn ich ein Wäschestück angeblich auf der Leine oder dem Bleichplatz vergessen habe. Dabei achte ich immer sehr darauf, wirklich alles einzusammeln, schließlich weiß ich wo es hängt oder liegt, weil es ja meine Aufgabe ist mich darum zu kümmern. Wenn meine Mutter beim Essen nicht mit am Tisch sitzt, verschwindet auch schon mal mein Besteck – zumindest liegt es nicht neben meinen Teller, wie sonst. Manchmal verschwinden auch andere Dinge, die ich zum Arbeite brauche. Sie liegen nie weit entfernt, aber da ich sie nicht sehen kann, muss ich jedes Mal jemand anderen um Hilfe bitten. Ich komme mir dabei immer so nutzlos und hilflos vor. Dann laufen sie manchmal absichtlich so nah an mir vorbei, dass sie mich anstoßen und ich aus dem Gleichgewicht gerate oder sie ziehen an meiner Kleidung. Da ist es mir fast noch lieber sie benutzen nur ihren Mu-“ Abrupt brach Mary ab, als hatte sie das letzte gar nicht sagen wollen „Was? Als benutzten sie nur ihren Mund?“, riet Jonathan. „Beleidigen sie dich?“ Mary stieß den Atem aus und nickte schließlich. „Ja, aber das stört mich nicht einmal. Das andere finde ich… störender. Ich kann mir ja nicht selber helfen und bin dann immer wieder auf sie angewiesen“, sagte sie frustriert. Jonathan sah Clara an und diese nickte bestätigend. „Bleiben sie bei ihr“, sagte er kurz und lief schnellen Schrittes wieder nach unten. „Alle in die Küche!“, wies er die Mädchen, die ihm entgegen kamen, scharf an. Nur ein paar Augenblicke später hatte sich beinah das gesamte Hauspersonal in der Küche versammelt. Sie alle sahen ihn erwartungsvoll und gleichzeitig fragend an. Jonathan hatte Mühe seinen Zorn unter Kontrolle zu halten. Doch er wusste, dass er seine Gefühle für Mary nicht so offensichtlich darlegen konnte. Wenn sie allein deswegen schon so viele Scherereien hatte, weil er sie malte, wollte er nicht wissen, was sich diese Biester einfallen ließen, wenn sie von seinen wahren Gefühlen wüssten. „Jonathan was soll das Ganze? Warum sollten wir uns hier versammeln?“, fragte Misses Collest aufgebracht. Sie war die einzige unter den Angestellten, außer Mary, die ihn mit Namen ansprach. Sie hatte in die Hände in die Hüften gestemmt und sah ihn äußerst ungeduldig an. „Sollte es auch nur einer von euch wagen, Mary in irgendeiner Weise zu schaden – ganz egal wie – werde ich denjenigen sofort aus seinem Dienst entlassen, ohne den letzten Lohn und ohne Empfehlungsschreiben!“ Obwohl er sich bemühte, konnte Jonathan nicht verhindern, dass seine Stimme wie ein Zischen klang. „Jonathan!“, hob Misses Collest erschrocken die Arme. „Das ist mein voller Ernst und wenn ich nicht herausbekommen sollte, wer es gewesen war, werden eben alle gehen!“ Seine Stimme Zitterte vor Wut. Am liebsten würde er sie sofort alle entlassen, aber er wusste, dass er das nicht tun konnte – nicht nur weil seine Eltern das niemals akzeptieren würden und er sich somit blamieren würde, sondern auch weil Mary dann wahrscheinlich nie wieder ein Wort mit ihm wechseln würde. „Und sie-“, deutete er mit dem Finger auf Misses Collest, die daraufhin erschrocken zusammenzuckte, „sorgen sie dafür, dass alle ausreichend beschäftigt sind. Wenn sie noch Gelegenheit haben anderen absichtliche wehzutun, haben sie offenbar noch nicht genug zu tun. Haben wir uns verstanden!?“ „Ja, Jonathan, Sir…“, sagte Misses Collest mit immer noch weit aufgerissenen Augen. Dann verließ er die Küche wieder, mit dem festen Vorsatz in Zukunft sehr genau auf die Unterhaltung der Dienstmädchen zu achten. Er wollte wissen, wer von ihnen Mary geschadet hat und dann würde er ihnen eine Lektion erteilen, die sie nicht vergessen würden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)