Sternenkind von Anemia (The Sky is my Home) ================================================================================ Kapitel 1: The Sky is my Home ----------------------------- "Alles klar mit dir, Schatz? Du bist so still. Noch stiller als sonst immer." Erst jetzt fiel mir auf, dass ich noch keinen einzigen Bissen von Mamas leckeren, selbstgemachten Hamburgern herunterbekommen hatte und ich wahrscheinlich ungewöhnlich lang ins Leere starrte. Jetzt, als sie mich auf mein seltsames Verhalten hinwies, blickte ich auf, direkt in ihre Augen, die ihre Besorgnis preisgaben. Es war dieser Blick, der mich aus den Erinnerungen dieses Tages aufweckte. "Na ja, die Schule hat mich eben müde gemacht. Ich will nur noch ins Bett." "Aber vor deiner Nase befindet sich dein Lieblingsessen!", warf Mama ein und griff plötzlich nach meiner Hand, die ich wohl gedankenverloren auf dem Tisch liegen gelassen hatte, genau in der Position, wie ich mir den Teller an Land gezogen hatte. Ich zuckte zurück, als ihre warme, leicht feuchte Haut auf meine traf. Unangenehmes Schweigen. Sie wusste genau, dass ich Berührungen jeglicher Art hasste, dass ich sie nicht ertragen konnte, genau, wie ich sie nicht ertragen konnte. Diese Menschen, mit denen ich nicht viel oder besser gesagt gar nichts gemein hatte außer im Großen und Ganzen die Optik. Dies war auch der Grund, weshalb meine Mitschüler mir heute wieder diese Worte an den Kopf geworfen hatten. Von 'Weltfremder' bis 'Autistenheini' durfte ich mir die ganze Palette anhören und es hätte auch nur der Klang ihrer von Hohn erfüllten Stimmen genügt, damit sie meine Seele wie Nadeln zerstechen konnten. Sie wussten zu viel, obwohl ich nie etwas von mir erzählt hatte. Sie wussten, dass ich mich für Astronomie und Astrologie interessierte, für übersinnliche Phänomene und die letzten Dinosaurier auf dieser Erde und auch, dass ich an sie alle glaubte. Selbst Mom fand mich manchmal seltsam. Sie gab sich selbst die Schuld daran, dass ich als kleiner Junge niemals mit den Kindern der Nachbarn gespielt hatte, obwohl diese mich das ein oder andere Mal zu sich eingeladen hatten. Sie verurteilte sich selbst dafür, dass ich überzeugter Schwarzträger war, der sich die hellblonden Haare, die er unmöglich von seiner brünetten Mutter geerbt haben konnte, mit den düstersten Farben verfremdete und damit einen fast schon unheimlichen Kontrast zu meiner bleichen Haut herstellte. So unterschiedlich wie wir uns äußerlich waren, so unterschiedlich waren wir innerlich - nur pflegten wir trotzdem ein inniges Verhältnis zueinander, denn sie war der einzige Mensch, der für meinen Charakter Verständnis aufbringen konnte. Denn es gab diese Momente, in denen ich ganz in meine von Außenstehenden sogenannte 'Sternenguckerei' vertieft war und Moms Miene sich plötzlich zu einem wissenden Lächeln verwandelte, wenn sich unsere Blicke durch Zufall trafen. Ich versuchte einen Bissen des unberührten Hamburgers auf meinem Tisch. Er fühlte sich knochentrocken in meinem Mund an und quälte sich wie ein schwerer Brocken meine Speiseröhre hinunter. "Du hast was. Gibt es Probleme in der Schule?" Angespannt senkte ich meinen Blick auf das Brötchen hinunter und entschied mich dafür, ihr langsam und in gedämpfter, tiefer Tonlage von diesen Typen zu erzählen, die mir meine Astronomiebücher stahlen, mich schubsten und beschimpften - die mir einfach nur weh taten. Die ganze Zeit über lauschte sie meinem recht sachlich vorgetragenen Bericht, der manche Menschen Glauben ließ, ich wäre zu Gefühlsregungen nicht fähig; was natürlich nicht stimmte, im Gegenteil. Als ich geendet hatte, spürte ich den dicken Kloß in meinem Hals, der sich noch mehr verhärtete, als ich noch ein paar letzte Worte formulierte. "Ich bin eben nicht so wie sie, ich bin anders. Mom. Verstehst du das? Ich bin ein Außerirdischer, genau, wie sie immer sagen. Alle." Wieder Schweigen, welches ich fast in meinen Gliedern zu spüren glaubte, die sich auf einmal ganz weich anfühlten, während in meinem Kopf ein leichter Schwindel einsetzte. Dann - Ein Schluchzer. Wie vom Donner gerührt schaute ich auf, direkt auf Mom, die ruckartig ihre Hände vor ihr verzerrtes Gesicht schob und so verharrte. "Was...hast du?", wollte ich wissen, wusste aber im darauffolgenden Moment nicht mehr, ob die Frage richtig war. Die Gefühle, die diese noch nie erlebte Szene in mir wachrief, drangen so tief in meine Seele ein, dass sie kein Stück an die Oberfläche zu triften vermochten. Ich nahm sie nicht in den Arm. Ich konnte nicht. Ich hasste Berührungen. Und ich hasste meine zu starken Gefühle, die in mir brodelten, aber keinen Weg nach außen fanden. Auch wenn es mich fast zerriss, ich wartete so lange, bis Mom sich etwas gefangen hatte und sich in ihr Taschentuch schnäuzte. Ich tat derweil alles, um den Anblick ihrer geröteten Augen zu vermeiden, schaute also wieder auf meinen Hamburger, der jedoch ein Ekelgefühl in mir wachrief. "Sky", hörte ich Mom nun mit vibrierender Stimme sagen; sie löste Angst in mir aus. "Ich glaube, die Zeit ist endlich reif dafür. Du hast es verdient, die Wahrheit zu erfahren." "W-welche Wahrheit?", stammelte ich und sah zu, wie die Hand Moms angespannt das Taschentuch knetete und ihre Knöchel weiß zum Vorschein traten. Vor Erregung sprang ich auf, stützte mich auf den Tisch und starrte ihre Nase an, ihren Mund. "Welche Wahrheit?", wiederholte ich schon um einiges bestimmter und fühlte mich ganz überwältigt vom starken Klang meiner Stimme, die sonst eher einem Piepsen gleichkam. In meinem Magen brodelte es und mir war, als müsste ich mich jeden Moment auf dem Tisch übergeben, direkt auf meine eiskalten, leichenblassen Hände, aber ich musste mein letztes Stück Beherrschung bewahren. Ich spürte bereits, dass ich nun etwas erfahren würde, was mein komplettes Leben verändern könnte. Und ich behielt recht. ***** Wo hatte ich nur dieses Staubtuch hingelegt? Und wer hatte schon wieder die Taschenlampe entführt? Ob Mom es war? Beharrlich und vollkommen konzentriert durchsuchte ich jeden noch so kleinen Winkel meines Kleiderschrankes, sog den Geruch frisch gewaschener Wäsche ein, hielt mich aber nicht lange damit auf, denn ganz hinten, direkt neben meinem liebsten Kapuzenpullover, der bereits ein paar Löcher aufzuweisen hatte, sah ich etwas im durch das offene Fenster hineinfallende Mondlicht glänzen. Ein Lächeln weitete sich auf meinem Gesicht aus, noch während ich nach dem guten Stück griff und es zufrieden betrachtete. Ich testete, ob die Batterien noch ihren Dienst verrichteten und als sich dies als positiv herausstellte, setzte ich meine Suche nach dem Staubtuch fort. Schließlich entdeckte ich es auf meinem Schreibtisch und schüttelte über meine Blindheit erneut lächelnd den Kopf. Warum hatte ich es nicht gesehen, obwohl ich doch wusste, wo ich es hingelegt hatte? Tja, manche Dinge waren eben dermaßen offensichtlich, dass sie fast schon zu unglaublich schienen. Selbst für einen wie mich, der wusste, dass es da oben irgendwo Leben gab und all die Menschen Lügner strafte, die etwas anderes behaupten. Denn auch wenn ich die Gewissheit schon seit einigen Jahren besaß, so hatte ich nun den endgültigen Beweis. Ich wusste nicht, ob ich unendlich glücklich sein sollte oder mich vor Angst in meinem Zimmer verbarrikadieren sollte, als ich auf die Terrasse hinaustrat, den Blick auf meinen größten Schatz gerichtet. Das Teleskop. Seit ich es besaß, zeigte es wie ein menschlicher Arm in die blaue Ferne, wies mir förmlich den Weg zu meiner Heimat. Ich hatte ihn nie ignoriert. Denn wenn ich durchsah und die Sterne vor meinen Augen größer und größer wurden und ich sogar noch die einzelnen Strukturen der Mondoberfläche erkennen konnte, erfasste mich dieses tiefe Gefühl der Sehnsucht. Ich liebte sie, ich liebte sie alle, die Sterne. Sie waren meine Brüder, meine Schwestern und der Orion, welcher in manchen Nächten als der hellste Stern am Himmel zu mir hinabstrahlte, war mein Vater. "Papa", flüsterte ich ergriffen, als ich durch das kleine Loch des Teleskops blickte und diesen wunderschönen Stern betrachtete, der nur so funkelte, so wissend, mir so vertraut. Eine Träne des unendlichen Glücks rollte über meine fahle Wange. "Ich wusste es. Ich wusste es schon immer. Und ich möchte dich so gern kennenlernen. Mama erzählt mir ja nichts Genaues über meine Zeugung. War sie natürlich? Oder setzt ihr Erdenbewohnern wirklich Föten ein, um zu testen, wie sich einer von euch auf der Erde verhält? Bin ich wirklich nur ein Experiment?" Man konnte die Fragen gar nicht zählen, so viele, wie durch meine Hirnwindungen rasten und mir keine Ruhe mehr lassen würde, ehe ich Antworten auf jede einzelne hatte. Und ich wollte ihn treffen. Den Mann - oder sollte ich eher sagen das Wesen? - welches meine Mom vor 16 Jahren entführte und mich ihr einpflanzte. Und ganz tief in mir drin war da noch ein Wunsch. Der Wunsch, von dieser Erde fliehen zu können, von den Menschen, die mich nicht verstehen konnten. Oh, wie groß war meine Sehnsucht, als ich meinen Blick ein letztes Mal gen Himmel richtete und den Orion über mir wusste. Meine angstvolle Sehnsucht vor dem mir Unbekannten, welches mir von einer Sekunde auf die andere so greifbar, so verdammt real vorkam. Ich hatte keine Ahnung, wie ich mit diesen Gedanken im Kopf einschlafen sollte. Denn ich wusste nun endlich, wer ich wirklich war, und dies kam einem Befreiungsschlag gleich. Dafür würde ich Mom immer lieben, auch wenn ich es ihr nur bedingt zeigen konnte. Selbst, wenn ich einmal nicht mehr bei ihr sein würde, wären diese Gefühle für sie noch immer da, dessen war ich mir sicher. ***** Es war taghell, als ich erwachte und mein schlaftrunkener Blick zu dem offenen Oberlicht des Terrassenfensters wanderte. Nein, taghell war untertrieben - draußen musste die Sonne vom Himmel knallen und alle Menschen mit ihrem grellen Licht erblinden lassen. Selbst ich musste die Augen zu schmalen Schlitzen zusammenkneifen, als ich nach meinem Wecker suchte und die Uhrzeit abzulesen versuchte. 3:04, erkannte ich und wunderte mich arg. Dies war ein Funkwecker, diese zeigten eigentlich immer die korrekte Uhrzeit an und blieben niemals stehen, also wie konnte es sein, dass es mitten in der Nacht dermaßen hell war, dass mir selbst im Bett war, als blickte ich mitten in unseren hellsten Himmelskörper? Ein unbehagliches Gefühl kroch über meinen Rücken, aber trotzdem erhob ich mich von der Matratze, leise, so leise wie möglich, denn ich hatte keine Ahnung, mit was wir es hier zu tun hatten. Theoretisch konnte es alles sein. Selbst der für die Menschheit größte Schwachfug. Ich erstarrte, als ich an das Terrassenfenster trat und nach draußen blickte, nachdem sich meine Augen etwas an dieses weiße Licht gewöhnt hatten, welches an seiner Quelle den Höhepunkt seiner Helligkeit erreichte. Direkt auf dem Rasen unseres hübschen Gartens befand sich etwas. Etwas Metallisches, wahrscheinlich zehn Meter lang und das Licht so stark reflektierend, dass ich meine tränenden Augen schloss und selbst somit der Helligkeit nicht entkommen konnte. Angst überfiel mich, lähmte mich, noch während ich gesteuert von irgendeiner höheren Macht nach draußen eilte, mich ein paar Mal an irgendwelchen spitzen Gegenständen stieß, aber trotzdem rannte ich. Rannte, bis ich die unwahrscheinliche, das Gras verbrennende Hitze spürte, die von dem riesigen, flachen Metallkörper ausging. Doch gerade, als ich meinte, es nicht mehr aushalten zu können, kam Stück für Stück die Nacht zurück, wie ich selbst durch meine von meinem Unterarm verdeckten Augen bemerkte. Ich blinzelte, sah zunächst gar nichts, doch plötzlich konnte ich die Konturen des Metallkörpers deutlicher erkennen, ließ sie nicht mehr aus den Augen, selbst dann nicht, als sich an seiner Unterseite etwas zu öffnen schien und etwas Weißes daraus schwebte. Eine Gestalt, stellte ich fest. Sie kam auf mich zu. Man konnte keinen ihrer Schritte vernehmen, obwohl sie ziemlich groß war; sie überragte mich sicher um zwei Köpfe und war etwas breiter als ich. Dieses weiße Leuchten um ihn herum, diesen Körper, der mir immer deutlicher erschien und schließlich vor mir stehen blieb, löste etwas in mir aus. Ich spürte in diesem Moment - nichts. Wo war die Angst? Ich hatte keine Ahnung. Nur als der Schein dieses menschenähnlichen Wesens zu erlöschen schien, fühlte ich dasselbe Gefühl in mir aufsteigen, welches mich stets beim Betrachten des Orions überwältigte. Die Gestalt, die ich als Mann erkannte, besaß meine Naturhaarfarbe, ein helles Blond, ebenso wie ich schneeweiße Haut und trug einen hellen, nahtlosen Anzug. Als ich es wagte, ihm ins Gesicht zu schauen, die mich ruhig ansehenden Augen zu mustern, die schmalen Lippen mit der geraden Nase, sah ich darin mich selbst. Wie in einem Spiegel, den man mir vorhielt. Er war ich, ich war er. Er streckte die Arme aus, so, als wolle er mich umarmen und ich spürte, dass es rein mental war, nicht körperlich wie die Zuneigungsgesten der Menschen. Noch nie in meinem Leben hatte ich mich so beschützt gefühlt, so wohl in meiner Haut. So zu Hause. Tränen traten in meine Augen, Tränen des Glücks. "Papa", formten meine Lippen, während meine Arme die Geste des Mannes nachahmten und dieser zu lächeln begann. "Ich wollte nach dir sehen", hörte ich seine Stimme in meinem Kopf, wobei sein Mund sich seltsamer Weise nicht öffnete. "Dir geht es nicht gut hier. Ich möchte dich gern zu uns holen. Dorthin, wo du hingehörst." "Ja", schluchzte ich vor Freude und lief auf ihn zu, woraufhin er plötzlich abhob und in die Öffnung des Raumschiffes hineinschwebte. Ich tat es ihm gleich - das Gefühl abzuheben war unbeschreiblich. Wie alles. Wie einfach alles. ***** Das Piepsen des Weckers riss mich aus meinem Schlaf und ich war sofort hellwach. Mein erster Blick galt dem Terrassenfenster, welches aber keine Besonderheiten aufwies. Draußen dämmerte es und das Display zeigte 6:30 an. Als sich die Tür zu meinem Zimmer öffnete, spürte ich einen Adrenalinschub durch meinen Körper rasen, der etwas verebbte, als ich in das lächelnde Gesicht Moms sah. "Zeit, aufzustehen", säuselte sie und trat neben mein Bett, wo sie stehen blieb, während sich ihr fröhlicher Gesichtsausdruck etwas veränderte. Angespannt schluckte ich, noch immer ganz aufgewühlt von diesem Erlebnis, das sich zugetragen hatte. Ebenso war ich fassungslos, da ich wieder in meinem Bett erwacht war anstelle zu meinen Verwandten zu fliegen, so wie mein Vater es mir versprochen hatte. Es war kein Traum, sprach meine innere Stimme, es konnte kein Traum gewesen sein. Ich hatte es doch gesehen, dieses Licht und vor allen Dingen diesen Mann. Da war seine Stimme in meinem Kopf, klar und deutlich. Seine Gesichtszüge, die meinen glichen, der glatte Stoff seines Anzuges. Diese Hitze. Nein, das musste real gewesen sein. Oder...war ich verrückt? "Sieh mal, was ich im Garten gefunden habe", riss mich Mom plötzlich aus meinen Gedanken und hielt ein Metallteil in die Höhe, das selbst die winzige Menge des in der Dämmerung vorhandenen Sonnenlichtes unwahrscheinlich stark reflektierte. "Ich frage mich, wer das zu uns hinübergeworfen hat. Bestimmt die Fosters. Denen werde ich was erzählen. Wir sind schließlich keine Müllkippe." Mit geweiteten Augen schaute ich ihr dabei zu, wie sie kehrt machte und mich allein in meinem Zimmer ließ. Nein, eine Müllkippe sind wir nicht, dachte ich. Aber ein Landeplatz für UFOs. Ich schälte mich aus meiner Bettdeckte und tappte barfuß über die Dielen, um vor dem Terrassenfenster Halt zu machen und meinen Blick in den düsteren Himmel zu richten, den noch immer ein paar Sterne schmückten. "Wieso durfte ich nicht bei dir bleiben?", seufzte ich leise. "Du hast selbst gesagt, dass es mir hier bei den Menschen schlecht geht." Ich erhielt diesmal keine mentale Antwort. Doch ich spürte, dass Papa wieder die Arme ausbreitete und meine Seele umarmte. Er war bei mir und er würde mir von dort oben Kraft geben, um auf der Erde bestehen zu können. Und ich wusste, ich würde stark sein. Für ihn und meine tausend Brüder und Schwestern, die da oben auf mich warteten, bis sie mich endgültig zu sich holen durften. Bis dahin würde ich ihnen Nacht für Nacht mein sehnsüchtiges Hallo zusenden. 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