Sumus Non Dei: Wir sind keine Götter von 2034Arabella (Linkin Park im Jahre 2027) ================================================================================ Prolog: Prolog -------------- Sumus non Dei: Wir sind keine Götter Prolog Das Jahr 2027. Augmented Reality. Zeit der Humanoptimierung. Zeit der 2-Klassen-Gesellschaft. Zeit des Konflikts zwischen Befürwortern und Gegnern der umstrittenen Augmentierungen. Die Städte wuchern. Eine zu hohe Bevölkerungszahl sorgt dafür, dass der Platz knapp und wertvoll ist. Hochhäuser schießen in die Höhe. Die größten überragen schon lange die in der Vergangenheit geschaffenen Höchstleistungen der Architektur. Keine Kirche, kein Dom, kein alterwürdiges Denkmal ist mehr heraus zu kennen aus den Skylines der Megacitys. Alte, markante Gebäude, erinnerungswürdige Punkte der alten Horizontlinien der Städte verschwinden im Dschungel der neuen Superwolkenkratzer. Schöne, ehrwürdige und kulturträchtige Gebäude, die früher das Erscheinungsbild der jeweiligen Orte geprägt haben, sind abgerissen worden und durch höhere, effizientere ersetzt worden. Die Stadtkerne bestehen ausschließlich nur aus Skyscrapern. So auch Detroit. Eines der größten, ein wahrer Titan unter den Riesen ist die Zentrale von Sarif Industries. Sie sind einer der führenden Entwicklern von Augmentierungen - kybernetischen Körperteilen. Mithilfe dieser Entwicklungen sind Sarif zu einem der reichsten, erfolgreichsten Unternehmen geworden. Dank Sarif gehört Detroit zu einer der reichen, gepflegten Städte mit hohem Lebensstandart. Zumindest auf den ersten Blick sieht es so aus. Doch der Schein trügt - wie so oft. Für die wohlhabende Bevölkerungsschicht ist es vermutlich auch ein schönes Leben in Detroit. Doch wie immer gibt es zwei Seiten der Medaille. Und diese zweite Seite, die Schattenseite, sieht nicht so schön und gepflegt aus. Mit der Gesamtbevölkerung wächst auch das Elend. Und es wächst exponentiell. Landstreicher, Heimatlose, Punks, Arme, Bettler - all diese machen zusammen das Extrem zu der so glänzenden, goldenen Fassade Detroits aus. Und zwischen all der Armut und dem Elend existiert auch zusätzlich sehr viel Gewalt. Es gibt mehrere Gangs, Banden, die sich bekriegen. Ihre Kämpfe färben die schmutzigen Gehsteige und Straßen blutig. Mit hypermodernen Waffen lässt es sich genauso gut töten wie mit altmodischen Schrotflinten. Und das tun sie. Sie führen Kriege um Einflussgebiete, Drogenmärkte, Geldquellen und zum Teil nehmen sie auch den Konflikt zwischen Augmentierungs-Gegnern und Befürwortern als Grund für die Straßenschlachten in den Gettos, wo man nur hinkommen konnte, wenn man ebenfalls dieser ärmlichen Gesellschaftsschicht angehört. Dieser Konflikt - der Streit um die Augmentierung von Menschen - der Humanoptimierung - er zieht weite Kreise. Er ist Gegenstand der Nachrichten, allgemeines Diskussionsthema in der Öffentlichkeit und immer wieder Anlass für Demonstrationen, friedliche und gewaltsame. Alles beschäftigt sich mit Fragen aus dem scheinbar unerschöpflichen Depot des Weltentrennenden Themas der Augmentierung. Und das, obwohl diese Frage schon längst für die Öffentlichkeit entschieden ist. Augmentierungen sind legal. Für sich selbst musste jeder Mensch seine eigene Entscheidung treffen, ob er es ablehnt oder begrüßt. Und so teilt sich die Gesellschaft in Augmentierungs-Gegner und Augmentierungs-Befürworter. Letztere sind übrigens in der Überzahl. Trotzdem laufen nicht viele Menschen mit sichtbaren, größeren Augmentierungen herum. Man sieht wenig, denn die kybernetischen Körperteile sind teuer. Zu teurer für die Majorität. Augmentierungen sind unerreichbar für Normalsterbliche. Und normalsterblich ist jeder, der nicht durch Zufall Chef einer Firma war oder auf andere Art und Weise das große Geld scheffelt. Dies ist die Geschichte des einsamen, mit dem Leben unzufriedenen Studiomusikers Mike Shinoda. Normalsterblich, Augmentierungen gegenüber aufgeschlossen, Single. Doch das wird dies Schicksal ändern. Auf welche Art und Weise? Kapitel 1: Goldene Nacht ------------------------ Goldene Nacht Detroit bei Nacht war ein schöner, beruhigender und gleichzeitig aufputschender Anblick. Die Schwärze der Nacht und die erhellenden Lichter der Stadt prägten diesen Moment. Ein vollkommen in goldenes Licht getauchter Stadtkern, beschienen von einer Unzahl an Scheinwerfern, Leuchtreklamen und Straßenlampen. Das viele Licht sorgte fast für Tageshelle auf den nächtlichen Gehwegen und Straßen; nur wer in den engen Häuserschluchten nach oben sah, vorbei an den aufragenden Wolkenkratzern fand den nachtschwarzen Himmel, der aussah wie ein weit entferntes Satintuch mit eingelassenen Diamanten. Wunderschön. Festhaltenswert für die Zukunft. Wert, verewigt zu werden. Und scheinbar ewig während. Ganz im Gegenteil zu der schnelllebigen, vergänglichen Gegenwart. Die Menschen, die zu Massen noch unterwegs waren, hetzten an mir vorbei, beachteten den einsamen Mann nicht. Sie alle nutzen den Tag und die Nacht gleichsam und trotzdem schien die Zeit für sie nie auszureichen, weswegen sie zusätzlich auch noch eilten, nie verweilten. Ich kannte das auch von mir. Nie stand ich einen kurzen Augenblick still, blickte in den Himmel und genoss den Moment. Spürte den Moment. Nur jetzt tat ich das gerade. Eine Magnetschwebebahn donnerte über mir vorbei, zog meinen Blick und meine Aufmerksamkeit kurzzeitig auf sie. Und dann war er zerstört, der seltene, fast magische Moment. Ich lenkte meine Augen wieder auf die Betonplatten vor mir und setzte meinen Weg fort. Vorbei an den erleuchteten Schaufenstern inzwischen geschlossener Geschäfte, vorbei an dunklen Hauseingängen, vorbei an den freundlich einladenden, offen stehenden Portalen von Hotels und Clubs, die ungeachtet der späten Uhrzeit immer noch Menschen anlockten und einließen. Vorbei an übervollen Abfalleimern und darin kramenden Bettlern, vorbei an riesigen Werbetafeln, die die neusten Nachrichten von Picus TV zeigten, moderiert von der Werbeikone Eliza Cassan. Die Passanten, die ich passierte, ignorierten mich ebenso wie die über die Stadt verteilten Sicherheitsleute und Polizisten. Ich war eben unauffällig, stellte keine potentielle Gefahr dar. Normales Aussehen - schwarze, leicht verstrubbelte Haare und braune Augen - dazu eine helle Lederjacke und dunkle Baggies - so kleideten sich viele hart arbeitende Menschen in dieser Stadt, das war nichts Besonderes. Die Menschen mit mehr Einkommen kleideten sich extravaganter, einmaliger, stilsicherer. Schwarz und der wieder gelebte Stil der Renaissance waren prägend für Mode, Kunst und Architektur. Dass ich mich von diesem Stil durch Nichtbeachtung abhob, ließ mich aber dennoch nicht sonderlich auffällig erscheinen. Mein Stil war der der Praxistauglichkeit und Bequeme. Auch in meinen leicht asiatischen Gesichtszügen - ich war zur Hälfte Japaner - war nichts Gefährliches verborgen. Nahezu unscheinbar war mein Erscheinungsbild. Völlig gewöhnlich, fast schon langweilig - und diese Beschreibung traf auch auf mein Wesen zu. Ich war tatsächlich normal - sofern es in dieser Zeit überhaupt noch etwas Normales gab -, ein hart arbeitender Mann Mitte dreißig auf dem Heimweg. Endlich mit der stressigen Arbeit abgeschlossen und sämtliche durch sie bedingte Fehler ausgeblendet. Von frühmorgens bis spätabends arbeitete ich als Musiker und Komponist sowie Songtexter bei einem kleinen Studio, einer Zweigstelle des Musiklabels ‚Machine Shop’. In meinem Job war es oft notwendig, Überstunden zu machen, so wie auch heute, deshalb kam ich oft erst sehr spät nach Hause. Doch mir gefiel meine Arbeit, ich liebte die Musik, spielte gerne auf dem Piano oder der Gitarre und mochte es, meine Ideen in Songtexten zu formulieren, feilte sehr gerne an den Songs herum bis sie nahezu perfekt waren. Diese von mir verfassten Texte und komponierten Songs spiegelten einen Teil von mir wieder - den düsteren, depressiven, rastlosen Teil, der nie mit sich zufrieden war und nach Erfüllung suchte. Die hatte ich noch nicht gefunden. Aber ich war mir sicher, dass sie in der Musik liegen musste. Durch sie fühlte ich mich lebendig, geerdet. Ich war Musiker mit Leib und Seele. Ein Künstler. Doch trotz m einer fordernden Arbeit verdiente ich nicht viel - es reichte gerade so für eines der besseren Appartements in Detroits Innenstadt und meine Lebenserhaltung. Ein Bekannter, der meine Songs einmal gehört hatte - und zwar so, wie ich sie interpretierte und nicht wie sie klangen, wenn sie von den Künstlern gesungen worden, für die ich sie schrieb - hatte zu mir gemeint, ich sei tatsächlich der geborene Musiker und es sei eine Vergeudung meines großartigen Talents, nur im Studio zu sitzen und dort für die Berühmtheit Anderer zu schuften. Ich sollte lieber meine Songs selbst veröffentlichen, da sei mir seiner Meinung nach durchschlagender Erfolg sicher. Vielleicht hatte er ja Recht - doch ich bezweifelte, dass ich mich allein, ohne Unterstützung als Künstler durchbeißen und erfolgreich sein könnte. Sicher, als Sänger und noch mehr als Rapper besaß ich gute Fähigkeiten. Und im Rampenlicht stehen stellte ich mir ebenfalls angenehm vor - doch ich brauchte Leute um mich herum, die mir halfen, mir ihre Meinung sagten und mit denen ich meine Träume realisieren konnte. Allein fehlte mir oftmals etwas, eine andere Idee, die mit meiner harmonierte und sie ergänzte, erweiterte. Außerdem konnte die Aufmerksamkeit auch ein Fluch sein. Wenn sich dann die Übermacht der Presse nur auf meine Person konzentrierte konnte ich gar nicht dagegen ankommen. Vermutlich würde ich zerbrechen oder zu einem verschlossenen Einzelgänger mutieren. Freilich wäre es etwas Anderes mit guten Freunden, die mir den Rücken freihalten würden. Doch dazu kannte ich zu wenige Musiker, mit denen ich mich annähernd gut verstand. Freundschaft würde ich diese oberflächlichen, einzig auf unsere Arbeit konzentrierten Beziehungen nicht nennen. Einen sehr guten Freund hatte ich den im Nachbarappartement lebenden Adam Jensen. Adam kannte ich seit ich hierher gezogen war, also gute fünf Jahre. In dieser Zeit hatten wir öfters nach der Arbeit zusammen gesessen und uns unterhalten, uns ausgetauscht und über Probleme und Ereignisse bei unserer jeweiligen Arbeitsstelle berichtet. Wir beide hatten eine Gemeinsamkeit: Wir waren die schlimmsten Workaholics, die es gab. Was für mich meine Musik war, war für Adam der Dienst für sein Land. Er war SWAT gewesen, bis sie ihn vor einem halben Jahr rausgeworfen hatten, weil er sich geweigert hatte, einen direkten Befehl auszuführen. Das ganze war als Mexicantown Massaker in den Nachrichten bekannt geworden, denn auf diesen Vorfall waren stadtweite Unruhen gefolgt. Ich kannte als einer der wenigen die richtige Version. In Fakt hatte Adam sich geweigert, einen als gewalttätig geltenden 15-jährigen Jungen zu erschießen, worauf das ein Kollege getan hatte. Nur, weil er seine Befehle in Frage gestellt hatte und kein eiskalter, hirnloser Soldat gewesen war, sondern ein Mann mit Moral und Vernunft, landete er in der Arbeitslosigkeit. Wieder mal ein Beweis dafür, dass die Welt hart und ungerecht war und nur Mistkerle und skrupellose Arschlöcher die Chance zu Überleben hatten. Adam litt sehr darunter, auch wenn er sich äußerlich nichts anmerken ließ und sich cool gab. Doch jemand wie er - der geborene Kämpfer, der auch in Ausnahmesituationen stets einen kühlen Kopf bewahren konnte und immer mitdachte - wollte und hatte es auch gar nicht verdient, einen der unterbezahlten Dreckjobs dieser Stadt anzunehmen. Doch eine bessere Arbeit zu finden als Rausschmeißer in einem Nachtclub würde schwer für ihn werden, da in seiner Akte dieses Fehlverhalten groß und breit und völlig überzogen dargestellt wurde. Fast so, als solle er niemals wieder eingestellt werden. Und ich bezweifelte auch, dass jemand einen Mann einstellen würde, der Befehle missachtete und seinen Höhergestellten keinerlei Respekt entgegenbrachte. Zumindest nicht in den Kreisen, die Adam bevorzugte. Außerdem war er nicht augmentiert, was seine Chancen auf eine gut bezahlte Arbeitsstelle zusätzlich minimierte. Er gehörte zu den normalen Menschen, die nicht so leistungsfähig waren wie kybernetisch verbesserte. Und natürlich war i der Wirtschaft größere Leistungsfähigkeit und mehr Perfektion lieber gesehen als ein normaler, manchmal Fehler machender Mensch. Ich vermutete, dass Adam Augmentierungen eher ablehnte. Denn er besaß das Geld dafür, hatte aber nie mit dem Gedanken gespielt, es zu nutzen. Er hatte sogar des Öfteren kritisiert, dass das Militär und die Reichsten der Reichen an diese Verbesserungen des menschlichen Körpers kamen, während sie Personen, deren Leben um einiges leichter sein würde mit Augs - Invalide, Körperbehinderte und Unfallopfer - verwehrt blieben. Auch beanstandete er die mit Augmentierungen einhergehende Abhängigkeit von Neoprozyn - das war seiner Meinung nach pure Ausbeuterei. Neoprozyn verhinderte, das der menschliche Körper die kybernetischen Körperteile wieder abstieß - was mit unmenschlichen Schmerzen und dem nahenden Tod verbunden war. Deshalb mussten augmentierte Menschen dieses Medikament ständig einnehmen. Und es war unglaublich teuer, da die Hersteller - niemand anderes als Sarif selbst - ein Monopol darauf hatten. Natürlich fand ich das auch nicht sonderlich gut, aber es war nun mal so und ich regte mich nicht darüber auf. Ich war ja nicht betroffen. Wer sich augmentieren ließ musste das alles vorher berechnen und abwägen, ob er sich das leisten konnte. Wenn nicht, war er ein Dummkopf oder ein Träumer. Ich war beides nicht und mir fehlte ohnehin das Geld für solche Gedanken. Ich würde niemals in die Lage kommen, mir Augmentierungen leisten zu können, wenn sich mein Einkommen nicht verzehnfachen würde. Ich lehnte es nicht ab, aber wenn es unerreichbar für einen ist, braucht man sich nicht den Kopf über unnütze Dinge zerbrechen. Meine Uhr zeigte mir an, dass es noch eine Stunde bis Mitternacht war. Reichlich spät, selbst für meine Verhältnisse. Eigentlich hatte ich auch gleich im Studio übernachten können, ich wäre sowieso allein dort gewesen. Um diese Uhrzeit sollte ich Adam nicht mehr antreffen, er schlief höchstwahrscheinlich schon. Umso erstaunter war ich, als ich einen hochgewachsenen Mann in einem langen schwarzen Mantel bemerkte, der mir entgegen kam und vor dem Eingang zu der Appartementanlage, in die ich ebenfalls einbiegen wollte, anhielt. „Mike?“, fragte er mich mit leiser, angenehmer Stimme. Es war tatsächlich Adam. Was suchte er so spät noch in der Stadt? Ich hielt vor ihm und betrachtete ihn. Seine hellgrauen Augen schimmerten leicht im schummrigen Licht. Sie musterten mich freundlich. „Jensen! Machst du jetzt nächtliche Patrouille oder warum bist du noch unterwegs?“, fragte ich ihn mit einem ironischen Unterton in der Stimme und boxte ihn leicht gegen den Arm. „Nein.“ Auch er grinste. „Ich komme von meiner neuen Arbeitsstelle.“ Ich schnappte erstaunt nach Luft. „Du hast ‘ne Arbeit gefunden? Was denn?“ Adam lächelte nur und schlug die schwere Tür auf. Ich folgte dem Braunhaarigen ins Foyer. Stark hochtemperierte Luft schlug mir entgegen sowie viel zu helles Licht. Geblendet kniff ich meine Augen zusammen. Mich an Adams Rücken orientierend folgte ich ihm zum Fahrstuhl. Erst als sich die Türen von diesem schlossen, antwortete er mir. „Ich hab eine lukrative Arbeitsstelle als Sicherheitschef bei Sarif Industries bekommen.“ „Du verarschst mich.“ Aufmerksam betrachtete ich Adam, der mir gegenüber an der Wand fläzte. Kein Muskel zuckte in seinem spitzen Gesicht, die schwarzen, leicht gebogenen Augenbrauen lagen glatt und kein Grinsen kräuselte seine dünnen Lippen. Auch sah Adam gepflegt aus, er hatte seinen Bart gestutzt auf das Erscheinungsbild eines Zwei-Wochen-Bartes. Vermutlich meinte er das tatsächlich ernst. Doch wie um alles in der Welt war dazu gekommen? „Das habe ich auch gedacht, als sie mich tatsächlich genommen haben“, murmelte Adam, fuhr sich dann durch sein aufwendig gestyltes und doch beinahe natürlich locker stehendes Haar und verließ den Fahrstuhl, der mit einem leisen Pling angehalten und die Türen geöffnet hatte. Neugierig auf weitere Erläuterungen seinerseits folgte ich ihm in sein Appartement, das sich öffnete, nachdem er den Zahlencode eingetippt hatte. Ich kannte den Code für seine Wohnung ebenfalls, genauso wie Adam den für mein Domizil kannte. Warum auch nicht? Wie ich meinen besten Freund kannte, würde der es sich auch nicht nehmen lassen, meine Tür zu hacken, um in Notfällen zu mir kommen zu können. Sowas konnte Adam gut. Das goldene Licht der Straßen strahlte unter den halb heruntergelassenen Jalousien ins Zimmer, die sich jetzt langsam noch oben bewegten als wir eintraten, beleuchtete den Fußboden, auf dem Briefe, Zeitungen, Bücher und technische Gerätschaften herumlagen. Auch an den Türpfosten, den Wänden, ja sogar an den Fensterscheiben hingen kleine Zettelchen mit Notizen, mit Zeichnungen und anderen wichtigen Inhalten. Dass Adam da nicht den Überblick verlor bei dieser schieren Menge an Informationen, die überall verteilt waren. Ja, bei Adam war es immer etwas chaotisch, daran hatte ich mich bereits gewöhnt. Ich verkniff es mir mittlerweile, etwas deswegen zu sagen, obwohl ich am liebsten den ganzen Kram zusammengeräumt hätte. Bei anderen Leuten für Ordnung zu sorgen zog ich dem Aufräumen meines Chaos‘ im Studio vor. Eine freundliche Frauenstimme begrüßte Adam und teilte ihm mit, dass das automatische Sicherheitssystem soeben abgeschaltet worden war. Ich hatte diese technischen Raffinessen abgestellt, da ich es nicht mochte, ständig von einem Computer zugetextet zu werden. Nein, da las ich lieber von einem Bildschirm ab, was mir der technische Helfer zu sagen hatte. Adam verschwand in seiner kleinen Küche, um etwas aus dem Kühlschrank zu nehmen. Ich stellte mich neben seinen Schreibtisch, der ebenfalls zugestellt war mit Büchern, Zeichnungen und mechanischen Bauteilen. Mein Blick fixierte den samtenen Nachthimmel Detroits, durch den kleine Flugzeuge und ein paar nachtaktive Flugwesen pflügten. Auch neben dem Schreibtisch lagen Bücher herum, zusammen mit ein paar Fotografien seiner Exfreundin Megan. Der riesige Flachbildschirm war ausgestellt, ich wusste, dass Adam ihn selten nutzte. Während der frischgebackene Sicherheitschef zwei Gläser auf den Couchtisch mitten im Zimmer stellte und mich fragte, was ich trinken wollte, wanderte mein Blick weiter durch das meinem so ähnliche und doch so andere Appartement. Eine Tür, mir gegenüber, führte in sein Schlafzimmer und ins Bad, das ebenso klein und platzsparend eingerichtet war wie die schmale Küche. Adams leise Stimme riss mich aus den Gedanken. „Warum hast du erst so spät Schluss gemacht im Studio?“ Keine Frage, ob ich irgendwo anders gewesen war, nein, Adam wusste, dass ich von der Arbeit gekommen war. Er kannte mich eben. „Ich arbeite lieber, wenn niemand sonst dort um mich herumwuselt. Da kann ich mich besser konzentrieren. Aber das weißt du doch.“ „Ja, allerdings, das weiß ich“, grinste Adam mit amüsierter Stimme. „Und was ist jetzt bei dir? Wie bist du an diese Stelle gekommen?“ Ungeduld schwang in meiner Stimme mit. „Du erinnerst dich an Megan?“ Ich nickte. „Sie arbeitet bei Sarif als eine der führenden Wissenschaftler. Ich schätze mal, sie wird auf David Sarif eingewirkt haben, mich zu nehmen.“ Die Weise, wie Adam sein Gesicht bei der Erwähnung von Megan verzog, erinnerte mich daran, dass er sie immer noch liebte. Er liebte sie so sehr, dass es mir fast schon wehtat, zu sehen, wie die sehnsüchtigen Gefühle über Adams Gesicht wanderten. „Sie hat echt David Sarif bequatscht?“, fragte ich, um Adam abzulenken. David Sarif war der Boss von Sarif Industries persönlich, also ein unglaublich einflussreicher Mensch Wer Verbindungen zu ihm hatte, musste auch recht weit oben in der Hierarchie stehen. Da hatte ich Megan wohl etwas unterschätzt. „Ja, ich nehme es an. Sonst wäre ich nie dort hingekommen. Aber ich bin ihr dankbar. Jetzt habe ich wenigstens eine Arbeitsstelle, die mir gefällt.“ „Klar…das ist die Hauptsache. Wirst du dich augmentieren lassen, wenn du schon dort arbeitest?“ Adam schüttelte den Kopf, verneinte. Dann fiel der Fokus unseres Gesprächs langsam auf mich und meine Arbeit. „Was gibt’s Neues? Sind die Songs für ‚No Regrets’ bald fertig?“ Adam kannte sämtliche Bands, für die ich Songs schrieb, und ‚No Regrets’ war die bis jetzt Erfolgreichste. Ich war gerade mit ihrem neuen Album beschäftigt. Eigentlich war meine Arbeit schon beendet. Eigentlich. Gäbe es da nicht ein paar Probleme. „Frag nicht. Ich hab alles fertig, die Songs sind eingespielt und aufgenommen. Das Einzige, was fehlt, sind die Vocals. Der verdammte Sänger hat es immer noch nicht geschafft, seine Grippe oder was auch immer er hat loszuwerden und seinen Arsch ins Studio zu schieben. Und Rick lässt seinen Zorn mal wieder an mir aus. Als könnte ich was dafür. Scheiße ist das“, erklärte ich wütend. Meine entspannte Stimmung war verschwunden. Die Probleme, die meine Arbeit in letzter Zeit mit sich brachte, regten mich auf. Ich reagierte viel zu aufbrausend in letzter Zeit, ein deutliches Zeichen für meine überbelasteten Nerven. Ich war nur noch auf Konfrontation aus. Am häufigsten mit Rick. Rick, der Manager der Band und im Moment mein Arbeitgeber war ein Arschloch und das kehrte er gerne mal raus. Ich konnte ihn eigentlich gut leiden, denn er war ehrlich und respektierte meine Arbeit. Nur leider hasste er Verzögerungen wie die Pest. Und eine gewaltige Verzögerung stellte dieser kranke Sänger dar. Kein Wunder, dass Rick saumäßig schlecht drauf war. „Er hat verlangt, dass ich die Demos einsinge! Damit er sich so lange eine bessere Vorstellung von den Songs machen kann. So eine vertane Arbeit. Er löscht meine Stimme doch sowieso wieder. Anstatt dass er wartet, verlangt er lieber von seinem Angestellten, dass sie erst mal den Platzhalter spielen. Also ehrlich mal, das hat mich vielleicht angekotzt“, machte ich meinem Ärger Luft. „Hmm… und wann kann der Sänger wieder ran?“, fragte Adam mich mit seiner tiefen, beruhigenden Stimme. „Keine Ahnung. Das ist es ja. Er kann jederzeit wiederkommen oder auch erst in einem Monat. Und ich wäre eigentlich schon längst fertig mit dem Projekt und könnte ein anderes anfangen. Aber nein, stattdessen muss ich jetzt noch einige Zeit aufwenden, um die ganzen Songs einzusingen.“ Adam lächelte mich an. „Und wie ich dich kenne, wird das einige Zeit dauern, da du, selbst wenn es nur Demos sind, natürlich perfekt klingen willst.“ Ja, da kannte er mich gut. Ich würde selbstverständlich alles und noch mehr geben. „Du scheinst mich zu kennen“, grinste ich zurück. „Das scheint bei Freunden generell so zu sein.“ Kapitel 2: Blaue Dämmerung -------------------------- Blaue Dämmerung „Shinoda, was machen die Demos? Sind sie endlich fertig? Du weißt, ich warte darauf.“ Seufzend zog ich den In-Ear-Kopfhörer aus meinem rechten Ohr und richtete meine Aufmerksamkeit auf den neben mir stehenden Manager, Rick Rubin. Mit einer kurzen Berührung des interaktiven Bildschirms stoppte ich die Wiedergabe des Songs, an dem ich zuletzt gearbeitet hatte und den ich gerade zur Kontrolle nochmals anhörte. Es war noch früh am Abend, sodass ich noch einige Zeit hier verbringen würde. Ein wenig hatte es mich irritiert, dass Rick persönlich hier aufgekreuzt war, normalerweise gab er mir seine Aufträge und Ideen, die ich dann ausführen sollte, über die Möglichkeiten der modernen Kommunikation. Diese erlaubte es, sich fast ohne Abstriche mit dem Gesprächspartner zu unterhalten, als stünde er genau vor einem. Was manchmal positiv, oft aber auch negativ war. Notfalls konnte man immer noch den Strom abschalten, doch das sollte ich bei Rick lieber nie tun, denn er konnte wirklich ungemütlich werden. Vor allem, wenn es nicht wie erwartet vorwärts ging. Da fing er oft an zu toben und zeigte absolut keine Geduld. Leider tat er das bei mir relativ häufig, da ich mich schwer darin tat, Fristen einzuhalten. Einfach weil es sehr schwer war, zu einem bestimmten festgelegten Zeitpunkt alle Songs perfektioniert zu haben. Es kam immer mal wieder etwas Ungeplantes dazwischen, woran ich dann länger saß. Ich machte nun mal keine halben Sachen und ein Song musste erst richtig gut klingen, da durfte es nichts Störendes dran geben, ansonsten war er unfertig. Und nichts störte mich mehr als einen Song zu hören, der nicht vollkommen war, der einige ungeschliffene Ecken und Kanten besaß, die ich nicht beseitigt hatte. Wobei das mit den Ecken und Kanten eine Analogie war, bezogen darauf, den Song als Ganzes, Rundes zu sehen. Meine Songs waren in ihrem Charakter, ihrer Struktur, ihren Lyrics und ihrer Instrumentalisierung eher weniger rund, aber dennoch perfekt. Perfekt in dem Moment, in dem ich sie fertig stellte. Dass ich später am liebsten sämtliche Stücke nochmals überarbeiten wollte, war eine andere Sache. Das war unumgänglich, weshalb ich es auch vermied, mir meine Songs anzuhören, wenn es nicht unbedingt sein musste. Ich war eben zu perfektionistisch und ein Workaholic zudem. Rick konnte das nie so ganz verstehen, bei ihm musste alles schnell gehen, zumeist reichte ihm schon eine der ersten Demoversionen, er befand dann, dass sie gut genug waren, um sie zu veröffentlichen. Doch dieses ‚gut genug‘ war nie ausreichend gut genug für mich. Und so hatten Rick und ich öfters Differenzen diesbezüglich. Würde Ricks plötzliches Erscheinen hier im Studio wieder in einer Diskussion enden? Möglich war es. Ich hoffte es nicht, da diese Streitigkeiten meine Nerven und meine Zeit fraßen, beides brauchte ich jedoch gerade dringend zum Fertigstellen meiner Arbeiten. „Rick.“ Ich nickte dem aufgedrehten Manager zu und brachte meinen Bildschirmhintergrund auf die große Leinwand, die die gesamte Wand hinter Rick ausfüllte und deren unterer Bildrand zugestellt war mit mehreren Kartons mit Kabeln, allerhand Equipement und einigen Instrumenten wie E-Gitarren, E-Bässen und Einzelteilen eines Schlagzeugs. Nichts davon brauchte ich noch, weswegen es dort herumlag. Normalerweise räumte ich immer auf und hielt penibel Ordnung, doch in letzter Zeit war ich tatsächlich zu gestresst und zu sehr unter Druck gewesen, um diese Arbeiten zu erledigen. Das Chaos ging mir selber schon auf die Nerven, doch da es niemand von den anderen Studioarbeitern wegräumte, würde es auch noch eine Weile dort liegen bleiben. Ich zeigte Rick eine Liste mit zehn Titeln und meinte mit Unzufriedenheit in der Stimme: „Ich bin noch nicht fertig. Es fehlen noch einige, die zehn hier sind so gut wie fertig. Aber ob meine Stimme da immer passt, um das Richtige herauszuheben--“ Rick unterbrach mich jäh und wiegelte mit einer hektischen Handbewegung meine Erklärung ab. Mit ebenso hektischer Stimme äußerte er daraufhin seine Pläne, mit denen ich wie immer nicht so ganz einverstanden war. „Papperlapapp, ist doch egal, ob das die ‚Botschaft heraushebt’.“ Er parodierte diese zwei Wörter, zog sie ins Lächerliche, was mich verletzt hätte, wenn ich ihn nicht so gut kennen würde. „Was du dir wieder für unnütze Gedanken machst. Verkaufen tut sich’s so und so. Und diese zehn Demos… Das reicht doch, Mike. Mehr brauchen wir nicht. Wir haben noch ein paar nicht verwendete Songs von den letzten Alben.“ Rick ignorierte mein entsetztes Stöhnen und fuhr fort. „Ich kenne deine Meinung dazu, aber die zählt zum Glück nicht, Shinoda. Ich glaube da lieber meinen Marketing-Experten und die sagen mir, dass alles von dir geschaffene mit einer achtzig prozentigen Chance ein Hit werden wird. Egal, ob das miteinander harmoniert oder ob es ins Konzept passt. Es ist sowieso alles der Shinoda-Style, da wird es schon zusammenpassen. Und jetzt schick mir die Demos und mach Feierabend, ich brauch dich hier nicht mehr.“ Mit diesen Worten verschwand Rick aus dem Raum und ließ mich zurück, vor Wut kochend und aufs Äußerste gespannt. Um ihm nicht zu widersprechen hatte ich mich arg zusammenreißen müssen. Rick hatte mal wieder gnadenlos seine Auffassung kundgetan. Eine Auffassung, die ich gar nicht teilte, weil sie viel zu kapitalistisch gedacht war. Für Rick waren diese Songs nur ein Stück Konsumgut, von dem er möglichst viel verkaufen musste. Er sah darin überhaupt nichts Künstlerisches, Wertvolles, Kreatives. Doch es war Kunst, und Kunst konnte man doch nicht einfach unfertig verkaufen oder mit anderen Kunstwerken zusammenstecken. Er konnte doch nicht wirklich meine alten Songs, die sich noch viel stärker an dem Stil Nu Metal und Crossover orientierten mit den Neuen, thematisch aufeinander Abgestimmten mischen. Er würde das komplette Konzept zunichte machen. Meine ganze Arbeit zunichte machen. Das durfte doch nicht sein! Wütend und enttäuscht sprang ich auf, fuhr den Computer herunter und wollte gerade rausstürmen, als ich an der Tür mit Tanja, Ricks Assistentin zusammenstieß, die eilig um die Ecke gerauscht gekommen war. „Oh, Mister Shinoda, gut, dass ich Sie noch hier erwische. Sie müssen sofort zu Mister Rubin ins Büro kommen, es ist äußerst dringend“, rasselte sie ihren Befehl herunter und sah mich dabei abschätzend, gleichzeitig aber auch bewundernd und irgendwie ängstlich an. Ihr Blick war mir unangenehm, doch viel mehr störte mich die Tatsache, dass der Chef, der mich vor zwei Minuten noch in den Feierabend geschickt hatte, nach mir schickte und ich bei ihm anzutanzen hatte wie ein abgerichteter Köter. Aber so war nun mal die Hierarchie, er war der Boss und ich sein Angestellter. Und ich nahm mir schon genug Freiheiten heraus, ein paar mehr und jeder Manager würde mich feuern, ganz egal, was ich für einen künstlerischen Wert besaß. Und ich wollte meine Arbeit ja unbedingt behalten. Also schlug ich den Weg zum Raum des Managers ein, klopfte gegen den Türstock und betrat das offene, geräumige Büro, das hell erleuchtet war und durch eine komplett verglaste Seite einen atemberaubend schönen Blick auf den rot eingefärbten Himmel über der Skyline Detroits bot. Ein Anblick, der eigentlich beruhigen sollte. Tat er aber nicht. Jegliche Ruhe wurde fortgewischt durch den hektisch im Raum auf und ablaufenden Rick, der wüste Flüche murmelte, die ich zum Glück nicht verstehen konnte. Es gingen ein paar Gerüchte herum, ob Rick augmentiert war oder nicht. Obwohl es mich gar nicht interessierte, bekam ich von dem Klatsch doch hin und wieder etwas mit, und seien es nur im Hintergrund laufende Gespräche zwischen Rob und Brad, zwei der Musiker von ‚No Regrets’ mit Joseph, genannt Joe oder einfach Mr. Hahn, in denen wieder mal der gesamte Tratsch, angefangen von Politik über das Showbiz bis zu Ricks neuesten Ausrastern und meinen Marotten thematisiert wurde. Und so war ich bestens informiert über die verschiedenen Varianten die über den Manager kursierten. Vermutlich besaß er ein paar Neurooptimierungen, mehr glaubte ich bei ihm nicht. Alles Andere war meiner Meinung nach nur Gerede von gelangweilten oder neidischen Personen. Davon gab es immer genug. Joe war auch so ein gelangweilter Mensch. Seine Arbeit im Studio war ihm nie aufregend genug. Er war für sämtliche ‚Special Effects’ zuständig und arbeitete eng mit mir zusammen. Und er liebte es zuweilen, über die unsinnigsten Dinge zu diskutieren. Was ich nie richtig verstehen konnte. Er wusste höchstwahrscheinlich auch, dass er mich damit aufbrachte und reizte und es amüsierte ihn. Hin und wieder bekamen wir uns deswegen in die Haare, aber unsere Streits blieben auf einer freundschaftlichen Ebene. In diesem Moment wünschte ich, Joe wäre auch mit hier, denn er schaffte es so gut wie immer, Rick herunterzubringen, wenn er so drauf war wie in diesem Moment. Kaum hatte ich diesen Gedanken gehabt, schämte ich mich auch schon wieder dafür. Wer war ich denn, dass ich mich vor einem Gespräch mit dem wütenden Rick fürchtete? Da musste ich mich alleine durchkämpfen. Nur keine Schwäche zeigen, dann würde das schon klappen. „Was ist los… Rick?“, fragte ich ihn vorsichtig, wurde aber durch eine abrupte Handbewegung seinerseits unterbrochen. Mein Blick folgte ihm, wie er weiter auf und ab lief bis er schließlich „Eine Katastrophe“ herauswürgte. „Wird das auch noch etwas genauer?“ „Shinoda, verarsch mich nicht. Es ist eine Katastrophe! Eine richtige, furchtbare, unser Ende besiegelnde Katastrophe!“, kam es vom rasenden Manager, der mit hochroten Kopf immer weiter seine Bahnen zog. „Übertreibst du da nicht ein bisschen?“ Meine Stimme klang noch leiser und zaghafter als vorhin. Wenn Rick so raste, sollte ich ihn nicht zu sehr reizen, sondern mich etwas zurücknehmen. „Nein!“, klang es laut durch den Raum. Im Nachhinein gesehen war es tatsächlich eine Katastrophe - für Rick und für ein paar andere Personen. Nicht aber für mich. Ich war ja nur der Songschreiber und hatte mit Problemen der Band nicht allzu viel zu tun. Rick dagegen war wirklich ausgerastet, da er sich hoffnungslos überfordert fühlte. Was kein großes Wunder war. Die Demos waren fertig, sie mussten nur noch eingesungen werden, das Albumrelease schon festgelegt auf den Tag genau, und dann machte ihm der Sänger von ‚No Regrets’ einen Strich durch die sorgfältig durchkalkulierte Rechnung. Mark Wakefield, schon einige Zeit im Urlaub um sich zu Kurieren, hatte es endgültig geschafft, sich bei einer Operation an den Stimmbändern seine bereits angeschlagene Singstimme vollends zu ruinieren. Irgendetwas war bei der komplizierten OP schief gelaufen und es sah schlecht aus für Mark. Vermutlich würde er, wenn er seine Stimme überhaupt zurückbekam, auf alle Fälle nicht mehr so singen können wie jetzt und wie er es musste als Sänger von ‚No Regrets’. Dass so etwas passieren konnte, war schon mehr als seltsam. Rick war natürlich sofort argwöhnisch gewesen und hatte eine externe Untersuchung der Umstände beantragt. Vermutlich wollte er der Klinik Pfusch nachweisen. Doch all das holte Marks Stimme nicht zurück. Und das war das Dilemma. Mark war das Zugpferd der Band, er war das dominierende Gesicht von ‚No Regrets’. Keiner der Anderen - weder Brad, der virtuose Gitarrist, noch der zurückhaltende Drummer Rob zeigten ähnlich viel Präsenz. Mark machte die Band aus. Und der fehlende Sänger war ja noch nicht einmal das einzige Problem. Erst vor zwei Monaten war der Bassist Sebastian bei einem Zugunfall ums Leben gekommen. Wirklich tragisch, was die Band alles aushalten musste. Der Verlust des Bassisten, jetzt der Verlust des Sängers… Denn Mark würde gehen müssen. Er konnte nicht mehr singen. Unmöglich. Rick war außer sich darüber. Und das, was ihn am meisten ärgerte, war wohl noch etwas Anderes. Ich kannte mich mit Verträgen nicht sonderlich gut aus, doch Brad hatte mir einmal erzählt, dass Mark sich den Namen ‚No Regrets’ gesichert hatte und nur er allen entscheiden konnte, wer ihn nutzen durfte. Und Rick hatte die Befürchtung, dass Mark es nicht akzeptieren würde, wenn man ihn einfach aus der Band warf und ersetzte. Er besaß ja ein Druckmittel. Und Rick wollte den Riesenerfolg nicht einfach so aufgeben. Er hatte mit dieser Band seinen größten Zustrom an Geldern. Der Name ‚No Regrets’ besaß einen Status des Widererkennens in der Konsumgesellschaft, der allein schon zu massigen Verkäufen von Musik der Band führte. Er war mit ihnen erfolgreich. Und den Erfolg wollte er nicht aufgeben. Logisch. Mich selbst bestürzte das eher weniger. Ich konnte matürlich nachvollziehen, das Rick sauer war. Ich konnte auch nachvollziehen, wie er sich fühlen musste, doch diese Emotionen erwidern konnte ich nicht. Und so wie Rick im Moment seine Mitarbeiter behandelte, hatte ich keine Lust gehabt, mich noch länger dort von ihm schikanieren zu lassen. Also hatte ich mir Urlaub genommen. Für vier Tage. Vielleicht war das Chaos danach nicht mehr ganz so katastrophal. Während ich in Gedanken schweifend auf einer Bank saß und auf den Zug wartete, der in einer halben Stunde hier ankommen würde, beobachtete ich die Menschen um mich herum. Die weiß und blau geflieste Unterführung war Treffpunkt vieler Personen - die meisten warteten hier auf den Zug. Von hier ging es mit der blauen Linie über einige andere Stationen, an denen ich umsteigen müsste, bis nach Southfield, wo meine Eltern wohnten. Ich hatte vor, sie zu besuchen, da es lange her war, dass ich sie das letzte Mal gesehen hatte. Insofern waren diese vier Tage doch ganz praktisch. Eine Gruppe Jungendlicher hatte sich an einer Ecke versammelt, sie hatten Zeitungen und Pappe auf den schmutzigen Fliesen ausgebreitet und versuchten von den Schaulustigen etwas Geld zu erbetteln. Sie hatten ein kleines Radio auf den Boden gestellt und ein Junge mit grünen Irokesen tanzte auf der Pappe herum. Oder er versuchte es, denn sonderlich interessant sah es nicht aus. Die Musik war auch nicht schön. Ich versuchte den Krawall zu ignorieren und schaffte es auch. Einige Leute fanden die Musik wohl doch nicht so schlecht denn sie standen um den tanzenden Punk herum und sahen zu. Vielleicht wollten sie so aber auch nur ihre Zeit totschlagen. Irgendwann wechselte die Musik von blechernen Technoklängen zu den ruhigen Klängen einer etwas schief gestimmten Gitarre. Ich sah auf und betrachtete das Bild, das sich mir bot. Der Junge mit dem grünen Schopf lehnte in der nähe der Rolltreppen, das kleine, unzeitgemäße Radio unter den Arm geklemmt. Sein missbilligender Blick war auf die Menschen gerichtet, die sich um den Gitarrespieler drängten. Es waren immer noch nicht viele, höchstens zehn, aber bedeutend mehr als vor noch einem Moment. Wo kamen die alle nur her? Einige von ihnen gehörten wohl zu den Jungendlichen, sie alle verband nachlässige Kleidung und kunstvolle, farbenfrohe Frisuren sowie zum Teil breite Sonnenbrillen und andere, auffällige Accessoires. Ein Polizist stand ebenfalls dabei und schaute interessiert zu dem Musiker hin, die leichte Laserwaffe hatte er nach unten gerichtet. Ich wunderte mich wirklich, warum sie alle zu dem Musiker hingelaufen waren wie die Motten zum Licht. Durch die Menschenmenge erkannte ich nicht, wer da Gitarre spielte, konzentrierte mich nur auf den Klang. Und dann verstand ich, warum die Menschen dort standen und lauschten. Denn als ein Mann einsetzte und sang, überfuhr mich kurz eine Gänsehaut. Nicht, weil es schlecht klang. Auch nicht, weil es perfekt klang. Denn das tat es nicht. Keine Software-korrigierte Studioaufnahmestimme, sondern live und dementsprechend hin und wieder etwas dissonant zum Klang der Gitarre. Vielleicht war es ja Absicht? Glaubte ich aber nicht. Ich bezweifelte sogar, dass der Sänger es hörte, dass er manche Töne wie im typischen und inzwischen ausgestorbenen Bluesstil nach unten zog. Als er den Refrain wiederholte, bemerkte ich auch, dass die Melodie an wenigen Stellen etwas abwich, kaum merklich. Es sei denn man war auf einer Musikhochschule gewesen wie ich. Mir fiel es natürlich auf, besonders, weil ich mich jetzt auf diese besondere Stimme konzentrierte. Denn sie hatte mich in ihren Bann gezogen mit ihrer Kraft, der geballten Ladung Emotionen in ihr und ganz besonders als der Sänger anfing zu schreien. Ich kannte nicht viele Sänger, die das so gut beherrschten, das Schreien, das nicht zu Grölen oder Kreischen verkam. Nein, es passte zum Song, es machte ihn intensiver, verdeutlichte die Botschaft, verstärkte die Emotionen. Die Stimme hatte das gewisse Etwas. Das, was mir immer gefehlt hatte um sie in gewünschter Weise rüber zu bringen. Ich musste den Sänger sehen, musste ihn mit eigenen Augen beobachten können und ihn mustern. Ihn einschätzen können. Wer er war interessierte mich plötzlich. Ich stand energisch auf und näherte mich der Menschenansammlung, um mich an ihnen vorbei zu schieben und mir einen Blick auf den Sänger zu erlauben. Er spielte die Gitarre selber, war das Erste, das mir auffiel. Er stand da, umringt von zwei Mädchen und einem Jungen, die die Menge wachsam beobachteten und hin und wieder aufforderten, etwas Geld zu geben. Beide hatten ausgefallene Haarfarben, Neonblau, Pink und Feuerrot. Der Sänger selbst, der eine Brille mit dickem, eckigem Rahmen trug, hatte einen rot gefärbten Iro, der weit herausgewachsene Ansatz war dunkelbraun. Alle drei waren in lockere, bequeme Kleidung gehüllt, mit Piercings versehen und machten einen rebellischen Eindruck. Punks. Diese Undergrundbewegung war in Detroit schon seit einiger Zeit wieder aufgelebt. Einige Gruppen hatten sich dem Kampf gegen Augmentierungen verschrieben, andere kämpften für ihre Freiheit. Gegen Gesetze und Regeln, für Anarchie. Die einzige Gemeinsamkeit, die diese Gruppen hatten, war ihr auffälliges und zuweilen abschreckendes Äußeres. Da waren diese hier vor mir relativ harmlos. Geradezu unscheinbar erschien der Sänger, die Brille lenkte den Blick auf sich und verbarg so geschickt das Gesicht, da der Blick sofort darauf fixiert wurde. Für die Anderen hatte ich keinen Blick. Nur den Musiker beobachtete ich. Lauschte und dachte nach. Mein Zug war vergessen. Die Zeit auch. War es Schicksal, dass ich ihn hier traf? In einem solchen Augenblick? Ich fasste einen Entschluss. Kapitel 3: Silberne Funken -------------------------- Silberne Funken Wie begann man ein Gespräch mit einem Fremden? Einem Mann, der sich als Straßenmusiker durchschlug? Der, nachdem er seine Gitarre unter den Arm geklemmt und das verdiente Geld - auch, wenn es nicht viel war - aufgesammelt hatte, mit hektischen Schritten gehen wollte? Ich hatte keine Ahnung, doch mein Entschluss stand fest und mein Wille setzte sich gegen die Angst, albern dazustehen, durch. Also folgte ich dem Mann, dessen Alter ich nicht schätzen konnte, da er etwas Zeitloses an sich hatte. Vielleicht war er 20, vielleicht 40? Beides schien möglich zu sein. Seine Brille verbarg seine Gesichtszüge, machte ihn fast unsichtbar. Seine unscheinbare Kleidung ließ ihn in zwischen den anderen Menschen verschwinden, verblassen. Sein schneller Gang brachte rasch Abstand zwischen ihn und seine Bewunderer. Nur einer ließ sich nicht abschütteln. Auch meine Geschwindigkeit beschleunigte sich, ich erhöhte die Frequenz meiner Schritte. Der schlanke Sänger steuerte auf einen einfahrenden Zug zu, wartete ungeduldig darauf, dass sich die Türen öffneten. Ich hielt mich noch ein wenig zurück, wollte nicht zu aufdringlich erscheinen. Doch die Mühe hatte ich mir auch sparen können, der Mann sah weder nach links noch nach rechts und schien auch nicht zu bemerken, dass ihm jemand hinterher lief. Als er in den silbrig glänzenden Zug einstieg, hatte ich eine schnelle Entscheidung zu treffen. Wollte ich ihm tatsächlich hinterher in den Zug steigen, der womöglich dorthin fuhr, wo ich überhaupt nicht hin wollte? Sollte ich meinen eigentlichen Tagesplan deswegen verwerfen? Immerhin hatte ich mit meiner Mutter versprochen, vorbeizukommen, und sie wäre sicherlich enttäuscht, wenn ich dieses Versprechen nun nicht einlöste. Andererseits konnte ich auch noch später zu ihr fahren, der Tag war lang und diesen ausdrucksstarken Sänger würde ich sonst vielleicht nie wieder sehen und hören. Dann hätte ich meine Chance, mit ihm zu sprechen, vertan. Eilig überflog ich meine Möglichkeiten, wägte ab und entschied mich dazu, ein wenig mit dem Zug zu fahren. Ich kannte das Ziel zwar nicht, aber zurückfahren würde ich immer können. Überall hingen Pläne und meine Universalkarte galt den ganzen Tag lang. Als sich die automatischen Glastüren hinter uns schlossen, wagte ich es, ihn anzusprechen. Da mir nichts Besseres einfiel, sprach ich das Erstbeste aus, was mir durch den Kopf ging, keine Gedanken daran verschwendend, ob das ein guter Start für ein Gespräch war. Vielleicht hätte ich das tun sollen. „Ich habe Ihnen vorhin zugehört. Sie haben wirklich eine außergewöhnliche Stimme. Die Performance hatte was. Würde aber besser klingen, wenn Sie ihre Gitarre stimmen würden.“ „Was?“, kam es vom Angeredeten, der sich zu mir herumdrehte und genauer musterte. Sein Gesichtsausdruck wurde missbilligend, als sein Blick an mit herunter und wieder hochfuhr. Seine braunen Augen bohrten sich geradezu in meine, ich konnte einen leichten Anflug von Aggression in ihnen erkennen. Ich ließ mich davon nicht beeinflussen, ruhig und um Freundlichkeit bemüht, wiederholte ich das soeben Gesagte. Allerdings erreichte ich bei dem Sänger keinerlei Sympathie, im Gegenteil, mir schlug noch mehr Aggressivität entgegen. Ich wankte ein wenig, als ich diese blitzenden Augen sah, als ich die Wut in ihnen wahrnahm. Warum war dieser Mann nur so verärgert, ohne Grund? Eben noch hatte er über eine solche Ausstrahlung verfügt, mit seiner Stimme die Menschen in einen Bann gezogen. Und nun schien dieser Zauber komplett verflogen zu sein, die kaschierende Schönheit seiner Musik war verstummt und dahinter entdeckte ich nichts Besonderes mehr. Ganz im Gegenteil, sein Verhalten verstärkte eher den negativen Eindruck, den ich von ihm bekam. Ich konnte ihn nicht verstehen… „Ach, bloß weil du verdammter Opti so super Ohren hast, bilde dir ja nicht ein, was von Musik zu verstehen! Dazu braucht man eine Seele und die hast du Maschine nicht!“, fauchte er mir streitlustig zu. Ich trat reflexartig einen Schritt zurück, stand damit an der Wand des Wagons. Der heftige Kommentar hatte mir einiges klar werden lassen. Der vor Hass sprühende Punk war ohne Zweifel Anhänger dieser Untergrundbewegung, die sämtliche Technik verteufelten und darauf verzichteten, wo es nur möglich war. Diese Bewegung hatte vor allem in letzter Zeit in Detroit viel Zulauf erhalten, seit sich mit dem Firmensitz von Sarif Industries ein Feind manifestiert hatte, den man angreifen konnte. Den Augmentierungen - technische Verbesserungen am Menschen - wurden von dieser Gruppe am krassesten abgelehnt. Und so ließ das Schimpfwort, mit dem mich der Mann bedacht hatte - Opti für optimierten Menschen - auf eine Verbindung zu dieser Szene schließen. Es war dort ein gebräuchliches Wort, soweit ich gehört hatte. Dass er mich selber so bezeichnete, verletzte mich schon ein wenig, gehörte ich doch nicht zu den Menschen, die augmentiert waren. Wie kam er überhaupt darauf? Ich sah doch ganz normal aus, nichts an mir deutete auf Reichtum hin. Bloß weil ich bemerkt hatte, dass seine Gitarre nicht gestimmt war? Das wäre doch jedem musikalischen Menschen aufgefallen, oder nicht? Waren meine Ohren besonders auf Musik getrimmt, so dass es nur mir aufgefallen war, dem Berufsmusiker? Wahrscheinlich. Doch der Sänger konnte das nicht wissen, er nahm an, meine technischen Verbesserungen, Implantate und Neuroprozessoren hätten mir dies gemeldet. Die Fehler der Kunst korrigiert durch die Technik. Allerdings lag er mit dieser Annahme falsch, ja, sie war sogar recht an den Haaren herbeigezogen. Reagierte er immer so aggressiv auf Kritik oder nutze er einfach jede Chance, seine technikfeindliche Meinung raus zu lassen? Und dann duzte er mich sogleich, ungeachtet meiner höflichen Anrede. Er zeigte nicht die Spur von auch nur einer geringen Menge an Respekt. „Ich brauche keine Augmentierungen, um schiefe Töne zu erkennen. Da reicht auch ein Studium an einer Musikhochschule. Und zusätzlich spiele ich auch Gitarre und kenne ihren Klang“, meinte ich leicht indigniert. Der Sänger hielt kurz inne, Unsicherheit flackerte über sein Gesicht, doch dann machte sich wieder diese mich verurteilende Entschlossenheit darauf breit. Er glaubte mir wohl nicht. Er hielt lieber an seiner Theorie fest, nach der ich ein superreicher augmentierter Mann war, der mithilfe der in seinen Körper eingesetzter Chips seine künstlerisch wertvolle Arbeit kritisierte, von der ich eigentlich überhaupt keine Ahnung haben müsste. Doch wie sollte ich ihn vom Gegenteil überzeugen? Unter normalen Umständen wäre ich vielleicht schon längst umgedreht und hätte diesen vor Hass strotzenden Sänger mit seiner Schwarz-Weiß-Weltanschauung allein gelassen. Aber jetzt hatte mich der Ehrgeiz gepackt, ich konnte diese Erwiderung nicht auf mir sitzen lassen. Ich war kein Opti, mein musikalisches Können rührte von Talent und erworbenen Fähigkeiten her. Und das würde ich dem Sänger auch beweisen. Und vielleicht wollte ich ihm auch beweisen, dass ich MEHR konnte als er, das ich besser war als er mit seiner verstimmten Gitarre. Doch die Stimme in mir, die mir das zuflüsterte, ignorierte ich trotzig. „Soll ich die Gitarre für Sie stimmen und zeigen, dass ich sie spielen kann?“, fragte ich ihn leicht amüsiert. Ich war neugierig, ob er auf mein Angebot eingehen würde. Vielleicht war er ja so verblendet, dass er es nicht tun würde. Der Sänger beäugte mich misstrauisch, überlegte. Musterte mich mit starrem Blick. Ich bemühte mich darum, mir nicht anmerken zu lassen, dass ich die Skepsis in seinen Augen durchaus bemerkte. „Was bringt dir das?“, wollte er schließlich wissen. Ich zuckte mit den Schultern, hatte ja schon mit Widerstand gerechnet. „Nichts. Außer ein paar aus der Welt geräumte Vorurteile.“ „Und die sind dir so wichtig?“, hakte er nach, noch immer zweifelnd. Seine formlose Anrede störte und irritierte mich immer noch ein wenig. Auch wenn es in die Mode gekommen war, alle Menschen, die man näher kannte, zu duzen, hielt ich es für unhöflich, einen Wildfremden so anzupöbeln. Doch vermutlich legte der Mann nicht so viel Wert auf gutes Benehmen. Ich kam mir in diesem Aspekt sowieso fast wie der Vertreter einer ausgestorbenen Rasse vor. Natürlich duzte ich die Menschen, mit denen ich zusammenarbeitete oder mit denen ich befreundet war. Doch bei Fremden würde ich das nicht machen. Das war auch der Grund, warum ich bei Ricks häufig wechselnden Assistenten bisher immer bei der förmlichen Anrede geblieben war. „Ja. Ich kann Vorurteile nicht ausstehen.“ Meine Stimme klang kalt, stahlhart. Ich ließ keinen Zweifel an meiner Glaubwürdigkeit aufkommen, dazu war mit das Thema zu ernst. Zu viele Erfahrungen hatte ich diesbezüglich schon machen müssen. Der Sänger ließ sich wenigstens ein bisschen davon beeindrucken, wechselte einen unsicheren Blick mit mir, ließ aber nicht ab von seiner Fragerei. Sein Misstrauen schien endlos zu sein. Aber ich würde ihn schon noch von mir überzeugen können. „Willst du dir jetzt noch ein paar Gründe dafür ausdenken, wie du mir ins Gesicht spucken und mich fortjagen kannst?“, zürnte ich, jetzt an sein Sprachlevel angepasst, um die Distanz zu verkleinern. Zusätzlich wollte ich ihm zeigen, dass ich auch so Sprechen konnte wie er, wenn ich es wollte. Ich war leicht verbittert. Es gelang mir, dessen ungeachtet, Groll aus meiner Stimme zu verbannen und ließ stattdessen heftigen Sarkasmus mitklingen. Sarkasmus schien die Sprache zu sein, die der argwöhnische Musiker verstehen konnte. Denn sogleich huschte ein leichtes Lächeln über sein Gesicht, das er jedoch weder einfing, kaum das es sich richtig verbreiten konnte. Der zweifelnde Ausdruck kehrte ein weiteres Mal ein, diesmal in abgeschwächter Form. „Mir fallen gerade keine Weiteren ein. Nenn’ du mir doch ein paar.“ Das Ganze kippte plötzlich zugunsten von mir in die Richtung einer Schauspielshow. Der unbekannte Sänger hatte soeben die Rolle gewechselt, jetzt lag es an mir, sie ihm abzukaufen und auf ihn zu reagieren. Und ich reagierte, ich spielte sein Spiel mit - teilweise aus Amüsement. „Ich würde zumindest noch hervorbringen, dass ich einem Kerl, von dem ich noch nicht mal den Namen kenne, meine Gitarre niemals anvertrauen würde“, grinste ich leicht, hoffte, dass ich damit die Wirkung meines schlechten Schauspiels nicht sogleich wieder zerstörte. Doch der Sänger taute bei diesen Worten merklich auf, seine angespannte Haltung lockerte sich, er hielt mir seine Hand hin und stellte sich vor: „Na schön, ich bin Chester.“ „Freut mich.“ Ich ergriff seine warme, blasse Hand, drückte sie kurz und kräftig. Und ich freute mich wirklich, erkannte ich doch jetzt zumindest zum Teil wieder diese besondere Ausstrahlung, die der Sänger nur gezeigt hatte, als er seine Gitarre spielend und singend seine Botschaft, seine Gefühle in der Unterführung erschallen lassen hatte. „Ich bin Mike.“ Erneutes Grinsen von meiner Seite. Ich hatte nicht vor, ihm meinen vollen Namen zu offenbaren, wenn er seinen nicht ebenfalls nannte. Und so würde es halt bei Mike und Chester bleiben. Das störte nicht. Sogar das ‚Du’ passte mir jetzt. „Und? Ein kleines Ständchen gefällig?“, kam ich auf das Hauptproblem zurück, spürbar besser gelaunt. Den Tiefpunkt des Gesprächs hatte ich überwunden. Ein letzter warnender Blick. „Wehe, du fasst meine Gitarre auch nur falsch an!“, und er gab mir das gute Stück. Eine Akustikgitarre der einfachsten Art. Sehr billig zu bekommen, ich besaß bedeutend Wertvollere. Aber ein gutes, solides Instrument, das ich schnell ordentlich stimmen konnte. Auch wenn es bei der Geräuschkulisse etwas schwerer werden würde. Wir waren nun mal nicht allein im Zug, dessen Motorgeräusch leise und dumpf dröhnte. Im Nachbarabteil saßen ungefähr ein halbes Dutzend Menschen unterschiedlichen Alters, die uns allerdings nicht erfassten. Doch auch in unserem Abteil befanden sich noch drei weitere Personen. Ein schlafender Mann, eine in ein E-Book vertiefte Frau sowie ein älterer Mann, der uns aufmerksam betrachtete. Unser Gespräch schien eine willkommene Abwechslung zu der aufziehenden Dunkelheit, die er auf der anderen Seite der sich durch das Abteil durchziehenden Zugfenster erkennen konnte. „Etwa hier? Im Zug?“, fragte ich etwas verunsichert. „Natürlich. Warum nicht? Hast du Angst, du verspielst dich und es wird peinlich?“, kam die hämische Erwiderung von Chester. Jetzt hätte ich natürlich fies sein und im kontra geben können, doch würde ich ihn damit bestimmt wieder verscheuchen, also schwieg ich und begann, die Gitarre zu stimmen, während ich mein PDA zu Hilfe nahm, um die richtigen Töne erklingen zu lassen und die Saiten darauf einzustimmen. Diese nützliche Funktion in dem kleinen Minicomputer in Handflächengröße hatte mir Joe irgendwie einprogrammiert. Wie er das hinbekommen hatte, war mir nebulös, vermutlich hatte er ein mir unbekanntes Programm installiert. Doch es funktionierte erstklassig. Auch wenn mich der Sänger schief ansah. Mein PDA mochte er also auch nicht. Seine aggressive Haltung erschien mir immer übertriebender. Doch seine aufziehende schlechte Laune vertrieb ich auf der Stelle wieder. Ich spielte ein paar Akkorde, versicherte mich, dass die Gitarre jetzt harmonisch klang und zupfte dann die Saiten, zog die Akkorde auseinander, spielte in Arpeggien. Ordnete sie zum Intro eines berühmten Liedes an, das Ende des letzten Jahrhunderts komponiert worden war. Ein wahrer Jahrtausendsong. Von einer ebenfalls namenhaften Band, die sogar jetzt noch Vielen geläufig war. Natürlich kannte Chester den Song. Es hätte mich auch wirklich stark gewundert, wenn nicht. Das Lächeln und Funkeln in seinen Augen registrierend, ließ ich den letzten aufgelösten Akkord ausklingen und wählte dann instinktiv einen der Songs aus, an denen ich erst vor kurzem gearbeitet hatte, schlug in die Saiten und begann, mit leiser Stimme zu singen. „Standing alone with no direction How did I fall so far behind? Why am I searching for perfection? Knowing it’s something I won’t find“ Der Song hatte einen recht einprägsamen Rhythmus und ich ertappte Chester dabei, wie er im Takt mitnickte. Ein Lächeln stahl sich auf meine Lippen, als ich es wahrnahm. Meine Unsicherheit, die mich dazu bewogen hatte, relativ leise zu spielen, verringerte sich, ich gewann an neuen Erfahrungen, die mir gefielen. Chester schien den Song bisher nicht allzu schlecht zu finden, und er würde seine Meinung über mich garantiert sehr, sehr schnell ändern, wenn ich ihm eröffnen würde, dass der Song aus meiner Feder stammte. Im Pre-Chorus gab ich dann alles. Ich war mir der emotionalen Wirkung dieser Stelle bewusst, deshalb steigerte ich die Lautstärke meiner Stimme, um einen maximalen Effekt zu erzielen. Tatsächlich wandelte sich Chesters Gesichtsausdruck nun völlig, er schaute mich interessiert an, beobachtete mein Spielen und Singen. Auch zwei weitere von den anwesenden Personen hörten mir zu. “In my fear and flaws I let myself down again All because” Der Refrain bestand zum Teil aus sehr lange ausgehaltenen Tönen, über die sich Mark in meinen Songs immer aufgeregt hatte und sie bei Konzerten verkürzte. Mich störten sie nicht, ich hatte genug Puste, um sie vollenden zu können. Und so schlug ich in die Saiten, vergaß die Zuschauer, die schon aus dem Nachbarabteil zu uns herüber schauten, vergaß Chester, der mich zufrieden beobachtete und den Rhythmus mit seinen zerfetzten Chucks mit klopfte. Vergaß alles, außer meiner Stimme und der Gitarre. “I run ‘Til the silence splits me open I run ‘Til it puts me underground ‘Til I have no breath And no roads left but one” In der zweiten Strophe veränderten sie die Akkorde ein wenig, doch jetzt hatte ich jede Scheu abgelegt, es fühlte sich sogar sehr gut an, einfach loszuspielen und zu singen. Und so steigerte ich meine Stimme nochmals in Lautstärke, um den dritten Refrain und die sich anschließende Bridge scharf vom darauf folgenden, leisen und dürftiger begleiteten vierten, abzusetzen. Ein hartes Crescendo der Gitarre beendete den Song, beendete meinen Flug, mein Vergessen in die Musik. Ich landete wieder im Zug, in der Wirklichkeit. Neben dem Sänger mit den euphorisch leuchtenden Augen, der ein begeistertes „wow“ hören ließ. „Das war wahnsinnig gut. Fantastisch. Hätte ich dir gar nicht zugetraut. Was war das für ein Song, den habe ich noch nie gehört.“ „Ähm…“, druckste ich herum, reichte ihm seine Gitarre und bemerkte jetzt erst die Leute, die um uns standen und mich auffordernd ansahen. Wo kamen die den alle her? Etwa aus dem Nachbarabteil? Hatte mein kleines Ständchen sie angelockt? So außergewöhnlich war das doch nun auch nicht, es spielten doch öfter Musiker im Zug um sich ein wenig Geld zu verdienen. Und dann gab es selten so einen Ansturm, die Menschen waren gewöhnt und Alltägliches rief keine besondere Aufmerksamkeit mehr hervor. Was war an meinem simplen Spiel so anders? Dass der Song als ein ‚No Regrets’ Song erkannt worden war, konnte nicht sein, denn er war nie von der Band veröffentlicht worden. Was war es also? „Den Song habe ich selber geschriebnen. Ich arbeite… als Komponist und Texter bei Machine Shop.“ „Aha. Und für wen schreibst du deine Songs?“, bohrte Chester weiter. „Für verschiedene Bands. Je nach dem. Das war mal für ‚No Regrets’, kam aber nie auf ein Album“, erklärte ich, etwas außer Atem. Vom Singen? Konnte eigentlich nicht sein. Angestrengt versuchte ich, meinen Atem unter Kontrolle zu bringen, bemühte mich um tiefe, gleichmäßige Atemzüge. „No Regrets? Für die schreibst DU die Songs? Ach du Scheiße…“, entfuhr es Chester, dem beinahe die Kinnlade herunterfiel. Er sah echt perplex aus. Ich hatte meine Arbeit nie als so große Sache gesehen, daher wusste ich nicht, was ich von der Reaktion des Sängers halten sollte. „Ja, ich weiß, du denkst bestimmt, das sind nur so gecastete Nichtskönner, aber da hast du Unrecht. Ich verstehe mich wirklich gut mit ihnen und ich kenne niemanden, der meine Songs besser interpretieren könnte“, verteidigte ich sie, da ich die vorherrschende Meinung über erfolgreiche Bands kannte. Doch Chester wollte gar nicht darauf aus. „Doch, du! Du solltest sie interpretieren und niemand anderes. Aber darum geht’s doch gar nicht. Oh Mann, es tut mir echt Leid, das ich dich so angeschnauzt habe. Du hattest Recht. Ich hab dich völlig falsch eingeschätzt. Sorry.“ Der Sänger wirkte zerknirscht, genierte sich. Ich winkte ab, großzügig vergab ich ihm. „Vergiss es. Deine Reaktion war nachvollziehbar. Ich hätte bestimmt ähnlich reagiert.“ Ohne den technikverachtenden Teil, fügte ich in Gedanken an. „Aber...“ Ein Gedankenblitz zauberte ein Lächeln auf mein Gesicht. „Du könntest mir einen Gefallen tun. Und nebenbei vielleicht ein paar wichtige Leute kennen lernen. Ich bin mir sicher, das könnte dir gefallen. So als Musiker“, erklärte ich verworren. Chester sah mich konfus an. „Na ja, du könntest mal bei Rick Rubin vorsingen. Ich kann dir einen Termin besorgen. ‚No Regrets’ haben höchst wahrscheinlich keinen Sänger mehr und deine Stimme ist wirklich außergewöhnlich, sodass ich mir durchaus vorstellen kann, dass du Marks Part in der Band übernehmen könntest. Also, was sagst du?“ „Bist du verrückt?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)